Selma Lagerlöf
Die Prinzessin von Babylonien und andere Erzählungen
Selma Lagerlöf

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Stimmungen aus den Kriegsjahren

Rahels Weinen

August 1914

Mitten in der Mittagsstille, während ich und ein paar andere Hausgenossen auf der Veranda saßen und plauderten, hörten wir einen sonderbaren Laut die Luft durchschneiden. Er war sehr stark und wild, voll Angst, Schmerz und Raserei, und zugleich so fremd und ungewohnt, daß wir einander im ersten Augenblick erstaunt ansahen ohne zu verstehen, was es war oder woher er kam.

Hastig durchliefen unsere Gedanken alle Möglichkeiten. Das konnte nicht der so seltsam und unheimlich klingende Schrei eines Pferdes sein, das angebunden steht und vor Durst vergeht. Auch war es keiner der zornigen Schreihälse des Waldes, weder Fuchs noch Uhu war imstande, einen solchen Laut zu entsenden, so gewaltsam und rauh, daß er wie ein Widerhall aus vergessener Urzeit schien.

Es war nicht ganz unmöglich, daß der Schrei oder das Brüllen, oder wie man es nun nennen wollte, von irgendeinem Menschen ausgegangen war, der sich verletzt hatte. Aber es war die Stunde des Tages, wo die Arbeitsleute Mittagsrast hielten. Die Mähmaschinen rasselten nicht draußen auf dem Acker, und keine schwerbeladenen Wagen bewegten sich zwischen Feld und Hof. Es konnte kaum ein Unglück in dieser Stunde geschehen sein, die der Ruhe gewidmet war.

Die furchtbare Hitze, die in diesem Sommer lähmend über der Erde brütete, herrschte auch an diesem Tag. Sie verbrannte noch immer das Gras auf dem Boden und die Blätter auf den Bäumen, sie sog das Wasser der Bäche und Quellen an sich und drohte den ganzen Talkessel vor uns in eine braungebrannte Wüste zu verwandeln. Der rauhe, mächtige Ruf, den ich eben gehört hatte, war mir so unerklärlich, daß es mir in den Sinn kam, es sei die Klage der großen Natur, der vereinte Jammerschrei der Scholle und der Pflanzen über ihr unerträgliches Leiden.

Während wir noch vor Staunen und Verwunderung still blieben, ließ sich der furchtbare Laut noch einmal hören. Mit unbarmherzigem, unerträglichem Grimm erschütterte er die Luft und schnitt in die Ohren, schmerzhaft wie ein Folterwerkzeug.

Als er nun zum zweiten Male ertönte, stürzten alle, die rings um mich saßen, fort, um zu ergründen, was dies war. Ich allein blieb sitzen. Ich hatte das unklare Gefühl, daß ich etwas Ähnliches schon einmal gehört hatte. Ich neigte den Kopf und legte die Hand über die Augen, um besser in den verborgenen Raum meiner Erinnerungen forschen zu können.

Sogleich wurde ich in Gedanken in große, offene Gefilde versetzt. Ein grauweißer, steiniger Boden wogte in wohlgeformten Hügeln auf und nieder.

Hin und her, wie ein Falke, der in wolkenhohem Flug Beute sucht, schwebte die Erinnerung über diese Gegenden, die sie noch nicht beim Namen nennen konnte. Auf einem Abhang wuchsen feuerrote Anemonen, und auf der Spitze eines Hügels stand ein kleiner Hain von bleichen, schattenlosen Oliven. Ich wußte nun, an diesem Orte, wo ich einen Laut gehört hatte, ähnlich dem, der soeben in meinem Ohr erklungen war, hatte ich auch feuerrote Frühlingsblumen gesehen, und immergrüne Laubbäume. Er mußte also sehr weit weg in der Welt liegen, sehr fern von Värmland und Schweden.

Die Erinnerung spähte und forschte, um Dunkel und Vergessenheit durchdringen zu können, und ganz plötzlich, durch eine unerhörte Anstrengung, brach sie zur Klarheit durch. Ich sah mich selbst und meine Reisegenossin in einem großen alten Landauer fahren, der einmal, vor sehr langer Zeit, als Galawagen in irgendeiner Großstadt gedient haben mochte. Wir fuhren an Unmengen von roten Anemonen vorbei, über eine breite, prächtige Landstraße einer mauerumkränzten Stadt zu. Ich erkannte den Wagen. Es war eines jener ausgedienten Fuhrwerke, wie sie von den Droschkenkutschern in Palästina vermietet werden. Ich erkannte den Weg wieder, die Umgebung, die mauerumkränzte Stadt. Ich hatte all dies gesehen, als ich vor vielen Jahren von Jerusalem nach Bethlehem reiste.

Auf dem Rücksitz des Wagens sitzt unser syrischer Dragoman, braun im Gesicht, einen roten Fes auf dem Kopfe. Er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ein kleines, weißes, von einer niedrigen Kuppel überwölbtes Haus, das ganz einsam in einiger Entfernung vom Wege liegt. Es ist ohne Fenster und gleicht diesen allgemein vorkommenden Grabkammern, die die Einwohner des Morgenlandes ihren vielen Heiligen zu errichten pflegen und die wir an den verschiedensten Orten gefunden haben, bald weit weg in der Wüste, bald mitten in einer Stadt oder einem Dorfe, bald wie hier an einem Wege, auf dem eine Menge Menschen vorbeiziehen.

Der Dragoman erzählt nun, daß dieses kleine Häuschen Rahels Grab ist, und zugleich beteuert er uns, daß dies keine leere Vermutung ist, sondern eine wirklich bewiesene Wahrheit. Gelehrte Männer haben über die Echtheit fast aller heiligen Stätten Palästinas gestritten, nie aber über diese. Es ist kein Zweifel, das ist die Stelle, wo Jakob, der auch Israel genannt wird, seine Lieblingsfrau begraben hat, kurz nachdem sie ihm seinen Sohn Benjamin gebar, gleichsam zum Ersatz für einen anderen Sohn, den er auf der Wanderung durch die Wüste von wilden Tieren zerrissen wähnte.

Wir werden beide ein bißchen atemlos bei dem Gedanken, was dies bedeutet. Hier hatte eine schöne Nomadenfrau ihre Ruhestatt durch eine Reihe von Jahren gehabt, deren Zahl niemand anzugeben wußte. Hier ruhte sie, lange bevor ihr Sohn Josef ein mächtiger Mann im Lande Ägypten geworden war, lange bevor eine Königsburg in Mykene aufgerichtet wurde oder eine griechische Flotte über das Meer gezogen war, um Troja zu erobern, und hier schlief sie noch, ohne daß das Grab in Vergessenheit gehüllt oder von Zerstörungssucht gekränkt worden wäre.

Der Dragoman erzählt uns, daß in früheren Zeiten, ja bis in unsere Tage, wie der eine oder andere zu berichten weiß, jedesmal, wenn ein Unglück über Israel hereinbrechen sollte, Weinen und Klagen aus diesem Grabe ertönte. Hier hatte die Stammutter der Juden in der Nacht vor jenem Tage, wo die kleinen Schuldlosen in Bethlehem ermordet wurden, ihre Jammerrufe erhoben. Von hier hörte man ihre Klage über das Tal hinausströmen, an jenem Abend, bevor Jerusalem zerstört wurde und das unermeßliche Tal Hinnom sich bis zum Rande mit den Leichen seiner Söhne und Töchter füllte. Und viele Male seither haben sowohl die Einwohner Bethlehems wie die Beduinen der Felder ihre unheilverkündenden Rufe an dunklen Abenden und Nächten durch die Täler unterhalb von Bethlehem erklingen hören. Selten sind lange Zeiten verflossen, ohne daß sie sich aus dem Schlummer des Todes losreißen mußte, um über die Unglücksschicksale zu trauern, die ihrem Volke drohten. Nicht ein Wort spricht Rahel, aber ihr Weinen klingt unheimlich durch die Stille, die ihr Grab umgibt. Es wird von langgedehnten Schreien begleitet, wilder und schrecklicher als ein jetzt lebendes Wesen ausstoßen kann.

Als wir dies hören, sagen wir zwei Reisegenossinnen zueinander, es sei nicht zu verwundern, daß Rahels Grab bis auf unsere Tage bewacht wurde. Da alles Volk an sie als an die große Mutter glaubt, deren Liebe zu ihren Sprößlingen nie sterben kann, konnte sie nie vergessen werden, und kein vom Weibe Geborener hat gewagt, die Hand gegen ihre Ruhestatt zu erheben.

Wir sprechen von diesem, als der Wagen an dem weißen Grabhaus vorbeifährt. Im selben Augenblick zucken wir heftig zusammen. Es ist jetzt nicht Abend, sondern hellichter Vormittag, aber dessen ungeachtet hört man vom Grabe einen langen, unheimlichen, gedehnten Schrei und gleich darauf noch einen und noch einen.

Das ganze Tal ist wie erfüllt von diesen Lauten, die unser Trommelfell zerreißen. Es liegt nichts Menschliches in ihnen, ja kaum etwas Tierisches. Es war nichts, das in dieser Welt daheim war, in der wir nun lebten. Es waren solche Schreie, wie das wilde Weibtier sie am Morgen der Zeiten ausgestoßen haben mag. So hatte Eva gejammert, als Kain Abel bedrohte, so hatte Hagar über Israel geweint. So mußte Rahel, die durch alle Zeiten Geliebte und Liebende über ihr Volk wehklagen und jammern.

Der Dragoman gibt in aller Eile dem Kutscher ein Zeichen zu halten. Er springt aus dem Wagen und geht in die Grabkammer. Nach einer kleinen Weile kommt er zurück.

Er erklärt uns, daß die furchtbaren Schreie von einer Beduinenfrau ausgestoßen werden, die in der Gruft steht und Rahel um Hilfe für einen kranken Sohn anruft.

Wir sind halb und halb enttäuscht. Wir haben uns beinahe vorgespiegelt, daß es die Klage der großen Stammutter ist, die wir hören. Wir sagen zueinander, daß diese Beduinenfrau von Rahel selbst klagen gelernt haben muß. Diese Urzeitlaute mußte sie in irgendeiner dunklen Nacht aus dem Grabe dringen gehört haben, und nun wiederholte sie sie, so gut sie es verstand, um die Teilnahme der schlummernden Toten zu erwecken.

Wir sagen auch, daß solche Laute nicht in der Kehle einer europäischen Frau wohnen können. Wir sagen, daß wir in unserem Weltteil nie etwas Ähnliches hören werden.

Wir sagen viel dergleichen, aber trotz alledem hatte ich an diesem Sommertage, dem letzten Tage im August 1914 denselben wilden Laut dicht vor meinem eigenen Haus gehört. Ich hatte den Schrei der wilden Mutter wieder erkannt, wenn ihrem Kinde Gefahr droht, wie jeder, der ihn einmal gehört hat, sich für alle Zeiten daran erinnern muß und ihn nie verkennen kann.

Die fortgewesen waren, um die Sache zu untersuchen, kamen jetzt zurück. Sie sagten, die Rufende sei eine arme Frau, deren einziger Sohn sie eben verlassen sollte, um in den Kriegsdienst zu gehen. Es handelte sich um nichts anderes als eine gewöhnliche Waffenübung, aber sie glaubte, daß er nie zurückkommen würde, da doch jetzt an allen Ecken und Enden Krieg war. Sie hatten ihr Vorwürfe gemacht, weil sie so wie eine Wahnsinnige geschrien und das ganze Haus erschreckt hatte. Aber sie hatte zur Antwort gegeben, daß sie so schreien mußte. Sie konnte nicht anders, da ihr Sohn nun in den Krieg sollte, um getötet zu werden.

Ich dachte bei mir selbst, daß der harte Zwang der Zeit den Laut aus der Urzeit, Rahels, der trauernden Mutter Weinen, in ihre Kehle gelegt hatte. Es war lange her, daß man ihn in diesen Gegenden gehört hatte, so lange, daß niemand hätte sagen können, von welchem Wesen er herrührte. Aber nun, da der Krieg über die Welt losgelassen war, war er aus der Tiefe der Menschennatur auferweckt, und nun würde er nicht so bald vergessen werden.

Vielleicht würden wir ihn jetzt so oft zu hören bekommen, daß alle auch in unserer weltfernen Gegend lernen würden, ihn wiederzuerkennen. Glückliche, ruhige Mütter, die nie geahnt hatten, das es einen solchen Laut gäbe, würden vielleicht lernen müssen, daß er auch in ihrer Kehle wohnte.

 


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