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1878
Schulen (denn auf diese kommt es vor den Universitäten an) sind vor allen Dingen keine Bildungsanstalten, vorausgesetzt, daß man bei dem Worte »bilden« etwas bestimmtes denkt. Ich verstehe unter Bildung mindestens das nicht, was die Gebildeten darunter verstehn, von allem Möglichen einmal gehört haben.
Allerdings dürften Schulen Bildungsanstalten in dem Sinne sein, in welchem man von Militärbildungsanstalten redet. So wie das Zeitwort »bilden« ein bestimmtes Objekt bei sich hat, ist die von ihm bezeichnete Handlung menschlichen Einrichtungen zu erreichen möglich. Man kann Offiziere bilden, das heißt, man kann Menschen in den Zustand bringen, daß sie als Offiziere verwendet werden können. So vermöchten Schulen Kaufleute, Seemänner, Landwirte, Mechaniker und manches andere zu bilden.
Man kann nicht Menschen bilden, da diese nur das Leben bildet, und zu seinem Bildungsgeschäfte nicht den Cornel und den Sophokles, nicht die Mathematik und sonstige Schulwissenschaften, sondern die lebendigen Menschen braucht, welche es dem zu Bildenden in den Weg wirft, meinethalben auch Lehrer, falls diese lebendige Menschen sind: da das Leben Krankheit und Tod, Glück, Amt, alles vernutzt was dem Menschen begegnet, und das ihm, wenn er es als Gymnasiast erlebt, nicht als Gymnasiasten begegnet. Dem Leben in das Handwerk zu pfuschen wird ein weiser Gesetzgeber schon deshalb unterlassen, weil ihm die Zeit nicht zu Gebote steht, über welche das Leben verfügt – wer wird fertig gebildet, da selbst in der Ewigkeit die Bildung fortgeht? –, weil er die Bildungsmittel, welche ich oben aufzuzählen angefangen, nicht einmal auf den Lektionsplan setzen, geschweige denn beschaffen kann, am allerwenigsten für Knaben beschaffen kann, denen Krankheit und Tod meistens eine unverständliche Sprache reden, denen gegenüber Amt, Ehre, Glück und Unglück und vieles andere, was älteren Menschen gegenüber laut spricht, kaum zum Worte kommen werden –, endlich drittens, weil er gar nicht zu ermessen versteht, welches Bild denn als das Gottgewollte in jeder der ihm überwiesenen Seelen liegt, und er doch, wenn er wirklich bilden will, nicht zufrieden sein darf, daß männiglich sein Sedanfest feiert, sein gutgesinntes Blättchen liest und sich genau wie sein Nachbar benimmt.
Schulen sind nicht Erziehungsanstalten, wenigstens öffentliche Schulen der zurzeit beliebten und allein bekannten Art sind dies nicht.
Allerdings darf man das nur unter Vorbehalt behaupten. Der Unterricht – und unterrichten sollen ja die Schulen auf alle Fälle – erzieht diejenigen, an welche er sich wendet. Niemand kann zu irgend welcher Fertigkeit zugerüstet werden, ohne wenigstens tatsächlich eine Reihe von ethischen Eigenschaften nebenher zu gewinnen. Er wird Methode, Gründlichkeit, regelrechtes Fortschreiten würdigen lernen: er wird am Ende seiner Lernzeit auf jeden Fall in dem Fache, in welchem er unterwiesen worden, das echte vom unechten, Sicherheit von Unsicherheit, vollendetes von unvollendetem zu unterscheiden verstehn, und dadurch praktisch die Kategorien in einzelnem Vorkommnisse kennen gelernt haben, mit denen ein wirklich erzogener Mensch überall, nicht bloß in seinem eigentlichen engsten Berufe arbeitet. Insoferne also sind alle Schulen Erziehungsanstalten.
Nicht aber sind sie Erziehungsanstalten in dem Sinne, daß sie die Aufgabe hätten, die Herrschaft eines bestimmten Ideales sittlicher Vollkommenheit in den ihnen anvertrauten jungen Menschen anzubahnen, nicht einmal in dem Sinne sind sie es, daß sie verpflichtet wären, ein solches Ideal theoretisch ihrer Jugend bekannt zu machen.
Wäre Deutschland einig, während es nur in seiner größeren Hälfte politisch geeint ist, so würde möglich sein, ein solches Ideal in den Schulen aufzustellen und zu empfehlen. Denn jenes Ideal wäre eben das, wodurch Deutschland einig wäre: jeder Vater, jede Mutter, jeder Lehrer würde es im Herzen tragen: es flösse wie Sonnenglanz und laue Luft belebend und erfreuend durch alle Herzen.
Deutschland ist aber nicht einig: es hat ein solches Ideal nicht, und darum ist die Aufstellung eines solchen – wäre dasselbe objektiv das denkbar reinste und richtigste – in Staatsanstalten – man verstehe mich recht, in öffentlichen, aus dem allgemeinen Säckel erhaltenen Schulen – eine Unmöglichkeit, weil eine Vergewaltigung der Gewissen. Was ich vor zwanzig Jahren gesagt, muß ich trotz 1866 und 1870 wiederholen: wir leben mitten im Bürgerkriege. Schmach der blöden Einsicht derer, welche Krieg nur da finden, wo es nach Pulver riecht, und wo Kugeln fliegen. Unser Bürgerkrieg wird nur giftiger, wenn man ihn durch die als Schulzwang auftretende Gewalt ersticken will: er ist ein Kampf der Geister, und auf geistigem Gebiete, durch die Familie und die Kirche, muß er ausgetragen werden.
Überall in der zivilisierten Welt dürfen heutzutage die Menschen das Recht ausüben, für ihre Ideen und Anschauungen, vorausgesetzt, daß diese sich nicht selbst mit dem ihren Herren gegenüber zuständigen Strafrechte in Widerspruch befinden, um Anerkennung zu werben: aber nur in ihren eigenen Familien, das heißt, bei ihren leiblichen Kindern und bei denen, für welche sie auf ordnungsmäßigem Wege die volle Sorge übernommen haben, dürfen sie diese Ideen und Anschauungen durch die Erziehung verbreiten: überall sonst stehn ihnen keine anderen Mittel der Propaganda zu Gebote, als erstens die Beweisführung durch Schlüsse, und zweitens ihr durch jene Ideen und Anschauungen zu dem Verstande einleuchtender und die Herzen gewinnender Vollendung ausgearbeitetes Leben. Der preußische Staat besitzt nicht einmal so weitgehende Befugnis wie jedes ihm angehörende Individuum: denn die Kinder, welche er etwa ganz zu versorgen sich anschickte, würde er aus den Mitteln aller versorgen, und darum nur dann in dem Sinne einzelner erziehen dürfen, wenn ihm jene Zahlenden alle ausdrückliche Vollmacht dazu erteilt hätten dies zu tun, ganz abgesehen davon, daß die durch das Naturrecht legitimierten Vertreter so zu versorgender Kinder auch ihrerseits den Staat geflissentlich beauftragen müßten, ihre Pflegebefohlenen in eine bestimmte Willensrichtung und in einen bestimmten Gedanken- und Anschauungskreis hineinzugewöhnen. Wenn der preußische Staat vermeint, die seinen augenblicklichen Leitern genehmen Grundsätze allen preußischen Kindern, auch den Kindern oppositionell denkender Eltern, durch einen im Sinne dieser Leiter erteilten Unterricht einflößen zu dürfen, so will ich zunächst an die ungeheuerliche, freilich dem protestantischen cuius regio, eius religio völlig gemäße Folge dieser Lehre erinnern, kraft welcher dann je mit dem Wechseln des Ministeriums auch die Ideale wechseln und die Gewissen umlernen: die Unfehlbarkeit des Staates und sein göttliches Recht kann nicht schlimmer lächerlich gemacht werden. Ich bitte zweitens zu erwägen, daß mit einem Erziehungszwange der preußische Staat sich nur dem Grade nach vom Kirchenstaate unterscheiden würde, welcher den Judenknaben Mortara wider den Willen von dessen Eltern taufen ließ, nur dem Grade nach von dem Rußland, welches die von schurkischen Popen en passant gechrisamten Knaben und Mädchen baltischer Lutheraner griechisch-katholisch zu bleiben zwang. In allen diesen Fällen hängt das Ideal an der Säbelkoppel der Polizeidiener: und an der soll und kann es doch ganz gewiß nicht hangen.
Christentum und Protestantenverein, Vatikanismus und Katholizismus, Thomas von Aquino und Theodor Keim oder Julius Pfleiderer Keim † 1878, Pfleiderer † 1908, angesehene evangelische Theologen., D. F. Straußens neuer Glaube, Haeckels Pithekoidenentwickelung und die Vermittelungstheologie irgend eines hochamtlichen Byzantinismus, die urwüchsige Palästinenserschaft, welche, weil zu gut dafür, nicht mit uns ißt und nicht mit uns betet, das neue Judentum, das stolz ist Judentum zu sein, und es übelnimmt, sowie es als Judentum behandelt wird – das alles hat seine Vertreter unter den Vätern und Müttern der Jugend, welche da vor uns sitzt, und welcher vom Ideale nur sprechen kann, wer sich darauf gefaßt hält, von hundert Familien, in welche er durch Verkündigung des Ideals den Kampf hineinwirft, als Friedensbrecher zerrissen zu werden, da die Götzendiener wohl sich untereinander, aber nie den Anbeter Gottes zu dulden imstande sind.
Unter den Kollegen des Erziehers derselbe Zwiespalt: Hinz tadelnd was Kunz lobt, eine Erziehung nur möglich um den Preis des Hochmuts und des Unfriedens, weil nur möglich, wenn man zunichte macht, was von hundert Amtsgenossen neunundneunzig, jeder in seiner Art, aufbauen, wenn man aufbaut, was der allerdings nicht einstimmige, sondern polyphone, aber in dieser Polyphonie rücksichtslos energische Chor der nächsten Mitarbeiter auf alle Fälle am Boden liegen haben will.
Und nun wir selbst, denen die Aufgabe zufallen würde, zu erziehen. Gezwungen modern zu sein, auch wann wir nicht wollen, auch wann wir hassen modern zu sein. Geboren dann und dann, aber jetzt schon meistens nach dem unseligen 1848, beim Standesamte angemeldet, geimpft, schulpflichtig, revakziniert, einjährig Freiwillige beim siebenhundertneunzigsten Regimente, Vizefeldwebel da und da, noch nicht bestraft, aber der Reichsfeindschaft verdächtig, weil wir Woden lieber haben als Jahwe, Siegfried lieber als David, Gudrun lieber als Rebekka, Erwin lieber als Schinkel, durch alle möglichen Listen geschleppt, Landwehrlisten, Steuerlisten, statistische Listen, nie wir selbst, nie Einfluß nehmend auf die Welt um uns, sondern beeinflußt von ihr, und darum außerstande, auf diese Welt zu wirken: denn wer am Hebel drücken, oder wer als Hebelunterlage dienen will, muß von dem zu bewegenden Gegenstande verschieden sein.
Eine Sprache, welche schon nicht mehr spricht, sondern schreit, welche nicht schön sagt, sondern reizend, nicht groß, sondern kolossal: welche das rechte Wort nicht mehr findet, weil das Wort nicht mehr die Bezeichnung der Sache, sondern das Echo irgend welchen Geredes über die Sache ist: welche nicht darstellen kann, weil der Geist der sie Redenden nicht mehr beobachtet und aus dem Beobachteten Schlüsse zieht, sondern in aller Hast nicht für Hörende, sondern für aus Höflichkeit stille Haltende seine Eindrücke andeutet, Eindrücke, zu deren Hervorbringung die doch zu solchem Geschäfte allein berechtigten Dinge sich mit den Neigungen des Sprechenden und den Mienen seiner Umgebung vereinigen.
Dabei der Raum unbegrenzt, in welchen hineinzureden ist. Die Wohnungen der Familien alljährlich gewechselt, damit ja keine Beobachtung sittlicher Verhältnisse die junge Seele reif mache, ein jene Verhältnisse auslegendes Wort zu verstehn. Der Horizont der echolose graue Dunst einer Bierhöhle, in welche die Familie allabendlich untertaucht, oder die schwüle, gasheiße Atmosphäre eines Theaters, in welchem der Münchener-Bilderbogenstil von Giroflé-Girofla noch eine Erquickung, Iphigenie eine Anomalie, und Viktorien Sardou oder gar Offenbach das Paradigma ist, nach welchem alles abgewandelt wird. Und was mit zagender Stimme im Angesichte Gottes der Mensch beschämt darüber bezeugen soll, daß er, der arme Staub, so Großes in den Mund nehmen darf, das mit der grellen Stimme einer Signaltrompete hinausgeschmettert in eine Welt, welche nur Trompeten noch hört, und in dem trompeteten Ideale nur die Trompete vernimmt, weil die Trompete das Ideal tot geblasen hat. Was wie der Widerschein einer ahnungsvoll langsam heraufdämmernden ewigen Welt die höchsten Spitzen der jungen Seelen leise röten müßte, um mählich mählich sie in vollem Tage zu baden, das in elektrischem Lichte so grell und eilig den aus dem Nichts auftauchenden Augen zugeworfen, daß sie geblendet und voll Schmerz für immer sich abwenden.
Wenn es sich endlich sogar um ein speziell deutsches Ideal handelt, was ist denn deutsch im Deutschen Reiche? Was ist denn das Ideal der Mehrzahl der gebildeten Deutschen als jene unbestimmbare Gemütlichkeit, welche als Motto in manchen Fällen ein paar bekannte Zeilen aus dem Liede in Auerbachs Keller hat, und welcher mit Ekel jeder den Rücken kehrt, der Deutschland, das alte Deutschland lieb hat, ein Alpenland voll ewigen Schnees und tiefer Abgründe, voll grüner Matten und dunkler Wälder und Gletscherbäche?
Wir können in den Schulen Deutschlands nicht erziehen, weil die Eltern der vor uns sitzenden Kinder nicht erzogen sind, und weil darum jeder Versuch, diese Kinder zu erziehen, sie in Konflikt mit ihren Eltern und Angehörigen und dadurch mit uns Lehrern setzen würde: weil erziehen nichts ist als den Menschen gewöhnen sich in das übermächtige und kein Verhandeln, keinen Kompromiß duldende Gute willig und mit dem Bewußtsein zu fügen, daß dadurch das Beste der eigenen Natur nur gewinnen kann, und die Eltern ein solches Gute schlechterdings nicht anerkennen. Wir können nicht erziehen, weil alle Erziehung auf die Ewigkeit gehn muß, und die Eltern der vor uns sitzenden Jugend nicht die Ewigkeit wollen, sondern ganz ausdrücklich das, was zeitgemäß ist.
Die Schulen und Universitäten sind auch nicht Versorgungsanstalten.
Sie sind dies nicht für Leute, welche ihre Prüfungen bestanden haben, und infolge irgend welcher Zufälligkeiten angestellt sind, ohne lehren zu können. Das Heer entledigt sich der ihren Pflichten nicht gewachsenen Offiziere: es zwingt sie sogar dann dem Dienste Lebewohl zu sagen, wenn sie dem nächst höheren Posten nicht Genüge leisten würden. Ich sehe schlechthin keinen Grund, weshalb ein Schullehrer oder ein Universitätsprofessor berechtigt sein soll, auf den Lorbeeren eines guten Examens und dem Polster irgend eines Mißverständnisses ein halbes Jahrhundert lang zu faulen, wenn er das zu leisten nicht imstande ist, wofür er bezahlt wird. Es wird bei den von mir geforderten Beseitigungen kein Ruhegehalt setzen, wenn der zu Beseitigende noch nicht lange genug im Amte war, um ein solches verdient zu haben: es wird ein kleines Ruhegehalt geben, wenn er wenige Jahre gedient hat: und es wird gestattet sein, um die Einnahme des zu Beseitigenden zu erhöhen, ihn in andern Zweigen des Staatsdienstes zu beschäftigen – die Standesämter bieten ja jetzt ein vortreffliches Auskunftsmittel, wie vordem für die Offiziere die Postmeisterstellen ein solches boten –, wenn er sich dafür eignet, so beschäftigt zu werden. Das alles ist, so lebhafte Entrüstung die Forderung in den beteiligten Kreisen hervorrufen dürfte, so einfach, daß kein Unbefangener es bestreiten wird. Ganz genau wie jemand ein Paar Stiefel nicht bezahlt, welche ihm nicht passen, ganz genau so wenig bezahlt der Staat einen Lehrer oder Professor, der das nicht leistet oder nicht mehr leistet, wofür er angestellt worden: tut er es gleichwohl, so beeinträchtigt er seine Auftraggeber, aus deren Besitztume und Erwerbe die Lehrer und Professoren erhalten werden.
Weiter sind Schulen und Universitäten nicht dazu da, um Gelehrte zu ernähren. Lehrer an Schulen und Universitäten sollen lehren, Gelehrte sollen Material für wissenschaftliche Untersuchungen zusammentragen, und wissenschaftliche Untersuchungen selbst in die Hand nehmen. Lehrer und Professoren stellen die Ergebnisse der Wissenschaft für diejenigen zusammen, welche sie kennen zu lernen wünschen: Gelehrte gewinnen diese Ergebnisse. Nun soll sicherlich – ich bin durchaus bereit, dies anzuerkennen – derjenige, welcher lehren will, in irgend einer Weise selbst wissenschaftlich tätig sein. Er wird dies aber nur in ganz beschränkter Weise vermögen, wenn er nebenbei das gesamte Gebiet seiner Wissenschaft so überschauen will, daß er andere in dasselbe einzuführen vermag – man hat nicht bloß in den Hauptstraßen, sondern auch in Nebenwegen zu orientieren, und diese Nebenwege oder jene Hauptstraßen (je nachdem) betritt ein Gelehrter nicht –, er wird es erst recht nicht vermögen, wenn er Schüler zu ziehen, das heißt mit ihnen umzugehn und sie zu üben für seine Pflicht ansieht.
Schulen sind nicht da, um den sie Besuchenden äußerliche Vorteile zu verschaffen.
Endlich noch Eins. Schulen sind keine Brutstätten für sogenannten Patriotismus. Solon hat kein Gesetz gegen den Elternmord gegeben, weil er Elternmord für undenkbar erklärte, und wenn er ja vorkommen sollte, ihn mit ewiger Nacht bedeckt zu sehen wünschte. Sich um Erzeugung patriotischer Gesinnung bemühen, heißt annehmen, daß es überhaupt möglich sei, nicht patriotisch zu sein. Sollte man aber meinen (und man meint es fast durchgängig), daß Patriotismus mit der Billigung bestimmter Parteigrundsätze und historischer Anschauungen identisch sei, dann ist es brutale Gewalt, Knaben und Mädchen in diese, von den Eltern durchaus nicht immer geteilten Anschauungen hineinzuzwängen: man erinnere sich nur, daß nationalliberale und ultramontane Wähler der Zahl nach gleich sind, und gestatte die Bemerkung, daß ein Volk, welches vor 1866 elf Vertreter Bismarckscher Farbe im Landtage hatte, und nach 1866 dorthinein so viele Anhänger der noch eben verdammten Politik sandte, daß der Gefeierte sich vor der ihm entgegengebrachten Liebe nicht zu lassen wußte, daß ein solches Volk gut tun wird, seine dermaligen Ansichten nicht für unabänderlich anzusehen, also seine Parteiliebhabereien der Jugend schon darum ersparen sollte, um sich im Laufe der Jahre oder gar Monate nicht selbst vor ihr als wetterwendisch bloßzustellen. Was die eine Partei zu fordern berechtigt ist, darf auch die andere beanspruchen. Der jetzt unter dem Namen Patriotismus gepflegte Vertrieb gewisser politischer und historischer Ansichten ist geradezu Vergiftung der jungen Seelen, da alles Parteiwesen giftig ist, weil es die Fähigkeit wahr und gewissenhaft zu sein ertötet, und Sklaven-, wenn man lieber will, Bedientensinn erzeugt. Zu bedenken wird auch sein, daß Knaben für Patriotismus gar nicht fähig sind, weil sie mit dem Worte Vaterland einen Begriff, eine Empfindung, eine Anschauung zu verbinden nicht vermögen.
Es folgt die ausführliche Erörterung von Einzelfragen des Unterrichts- und Bildungswesens. Die Abhandlung schließt mit einer Betrachtung allgemeinen Charakters.
Man hat gesehen, daß ich zwischen Unterrichten und Bilden einen Unterschied mache, und daß ich dem Staate das Recht zuschreibe, Unterrichtsanstalten und Bildungsanstalten zu begründen und zu unterhalten, vorausgesetzt, daß die von ihm beförderte Bildung eine Bildung zu einem bestimmten Berufe ist, endlich, daß ich einen gewissen Wert für die Erziehung der Jugend sowohl jenen Unterrichts- als diesen Bildungsanstalten zuerkenne.
Einen Menschen erziehen heißt seinen Willen bestimmen: ihn gut erziehen heißt seinen Willen gewöhnen, stets nur das Gute zu erstreben. Soferne nur das Gute zweckdienlich ist, erziehen wir in einem gewissen Maße jedesmal, wo wir bilden. Jemand, der zum Steuermanne, zum Offizier, zum Kaufmann gebildet wird, muß das für einen Steuermann, einen Offizier, einen Kaufmann Gute wollen. Wir erziehen auch in einem gewissen Maße jedesmal, wo wir unterrichten, soferne niemand wirklich lernen kann ohne den Willen zu lernen – jedes andere Lernen ist ein mechanisches, ein bloßes Ankleben –, und jeder dem Willen angetane und auf etwas Gutes gerichtete Zwang ein Erziehen ist. Allein das Gute an sich kann auf Fachschulen und Unterrichtsanstalten dem Menschen nicht als Ziel gesetzt werden, da diese stets nur ein einzelnes Gute erwerben helfen.
Was an sich gut ist, bestimmt jeder Mensch nach religiösen Vorstellungen. Gut an sich ist, was Gott will, oder was Gott will, ist gut: beide Fassungen kommen vor: für mich ist hier gleichgültig, welche die richtige, da mir jetzt nur am Herzen liegt, festzustellen, daß Gut ein in das Gebiet der Religion gehöriger Begriff ist.
Ist er das aber, so entzieht er sich den Anordnungen des gegenwärtigen deutschen Staates: denn der Staat hat keinen andern Zweck als den, dasjenige, was allen seinen Angehörigen gleich notwendig und gleich wünschenswert, aber durch die Kraft des einzelnen nicht zu erwerben ist, mit den Beiträgen aller für alle zu erreichen: es fehlt aber so viel, daß alle Angehörigen des deutschen Staates dieselben Vorstellungen von Gott und seinem Willen hätten, daß viele unter ihnen gar keine haben, andere überhaupt leugnen, daß man darüber Vorstellungen haben könne, solle und dürfe.
Gäbe es eine nationale Religion in Deutschland, so würde auch der deutsche Staat als Beauftragter der deutschen Nation zu erziehen befugt sein. Man würde ihm auch ohne Sorge eine Tyrannei zu empfehlen, die Erziehung übertragen können, da er in der allgemeinen Religion das innere Maß für seine Forderungen und Ansprüche fände. Daraus, daß es eine solche nationale Religion nicht gibt, folgt nicht, daß in Deutschland überhaupt nicht erzogen werden darf, sondern daß der Staat verpflichtet ist, jeder zulässigen Religionsgemeinschaft und jedem Ansatze zu einer solchen Gemeinschaft das Recht zur Erziehung einzuräumen.
Der Staat ist nicht befugt, Männer und Frauen zu dulden, und ohne Strafe zu dulden, und diesen Männern und Frauen, welche er duldet, zu wehren, den Willen ihrer Kinder nach dem Ziele zu richten, welchem sie selbst mit Zustimmung des Staates zustreben.
Hier geht der einzige Weg, auf welchem wir zu einer nationalen Religion, und so zur Einheit zu kommen vermögen. Menschen, welche von den verschiedensten Punkten nach demselben Ziele streben – und das Ziel ist hier, dem Willen Gottes gemäß zu leben –, nähern sich einander in demselben Maße, in welchem sie sich dem Ziele nähern. Jede ernsthafte Erziehung wird uns einigen, wenn auch zunächst die Ideale, welche uns vorschweben, sehr verschieden zu sein scheinen. Je mehr wir die Ideale verwirklichen, desto gewisser wird es uns werden, daß sie nur verschiedene Seiten einer und derselben Sache sind.
Das Ziel steht nicht fest, nach welchem wir streben, und darum ist unumgänglich, es so bald wie möglich festzustellen, und bis dies geschehen, unsere Zustände als nur provisorische anzusehen, welche nur dann getragen werden dürfen, wenn sie als die Ermöglichung zu einem Definitivum zu gelangen gelten, und als solche behandelt werden.
Je mehr die verschiedenen – ich muß wohl sagen Parteien – bemüht sind, ihr Ideal ernsthaft zu verwirklichen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß wir aus dem Provisorium in ein Definitivum übergehn, und darum ist die unbedingte Erziehungsfreiheit, das heißt, die unbedingte Freiheit aller Eltern eine unabweisliche Forderung, auf ihr Ideal, welches der Staat und die Nation selbst als zulässig anerkennen, dadurch die Probe zu machen, daß sie junge Willen nach ihm hin richten. Mag der Staat daher unterrichten und bilden, so viel er will und so gut er kann, das Heil der Nation liegt darin, daß die verschiedenen in ihrer Mitte vorhandenen Religionsgemeinschaften – fertige und werdende, zahlreiche und wenig zahlreiche – ihre Jugend so ernst und so rücksichtslos ehrlich und so sehr ohne Nebengedanken wie möglich erziehen. Die eine wird da immer die andere sowohl anfeuern wie in den Schranken halten.
Und dies Recht nehme ich auch in Anspruch gegen die jedesmalige Regierung, soferne diese nicht eine rein technische, sondern eine politische, das heißt eine Parteiregierung ist.
Verlasse man sich darauf: auch die jetzige Jugend, so nahe sie den Schwindelzeiten von 1872 steht, und obwohl sie allen den lasterhaften Gewohnheiten einer auf Schein und Betäubung ausgehenden Epoche ohne Schutz ausgesetzt ist, auch sie ist zum Höchsten willig und fähig, aber nur unter der Bedingung, daß ganzer Ernst mit dem Höchsten gemacht werde. Jeder Offizier weiß, daß die Soldaten schlechterdings zu allem zu bringen und zu brauchen sind, was ihnen als Pflicht und als notwendig dargestellt wird. Laßt einen eifrigen Mathematiker, einen begeisterten Freund des Griechischen an eine Schule kommen, so lernt die ganze junge Gesellschaft ohne eine Spur von Zwang und Ermüdung Mathematik und Griechisch. So wird auch der Student arbeiten und werden, sowie er Krieg oder Sturm, sowie er Begeisterung merkt. Aber er merkt jetzt von Krieg, Sturm, Begeisterung nichts. Er ist arm, und was er merkt, ist, daß er auch ohne innerliche, von Herzen kommende Arbeit eine gesicherte Existenz erhält, wenn er – ich schreibe nicht fertig. Glaubt man ihm Vorwürfe über diese Gesinnung machen zu dürfen? Die Vorwürfe gehören an eine ganz andere Adresse als die seine. Wenn man das jetzige System fortsetzen läßt, von allem ein wenig, hineinriechen in alles, beherrschen nichts, human examiniert und dann bequem ins Brot gebracht werden, ohne Zucht und Aufsicht in die höheren Stellen emporfaulen, dann geht der Unterricht und mit ihm ein gutes Stück Deutschland zugrunde.