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Ein Versuch, Nicht-Theologen zu orientieren
1873
1.
Jeder, der die Wissenschaft kennt, weiß, daß sie ihren Zweck lediglich in sich hat, darum ihre Methode sich selbst sucht, und von keiner Macht im Himmel und auf Erden Vorschriften, Gesetze, Zielpunkte annimmt. Sie will wissen, nichts als wissen, und zwar nur um zu wissen. Sie weiß, daß sie nichts weiß, wo sie nicht bewiesen hat. Es ist jedem Manne der Wissenschaft vollständig gleichgültig, was bei seinen Untersuchungen herauskommt, wenn nur etwas dabei herauskommt, das heißt, wenn nur neue Wahrheiten entdeckt werden. Die Wissenschaft gestattet jedem, die von ihr gefundenen Ergebnisse aufs neue zu prüfen, und wirft rückhaltlos fort, was eine solche Prüfung nicht besteht. Sie fordert von jedem, der die zum Urteilen nötigen Vorkenntnisse hat, daß er das ihm Bewiesene annehme und anerkenne, oder auf den Namen eines ehrlichen Mannes verzichte.
Man kann sich leicht überzeugen, daß diese Beschreibung der Wissenschaft auf die Disziplin, welche wir in Deutschland Theologie nennen, unanwendbar, daß mithin die tatsächlich vorhandene Theologie eine Wissenschaft nicht ist.
Es gibt in Deutschland fünfundzwanzig Fakultäten der Theologie, von diesen sind acht katholisch, drei lutherisch, vierzehn uniert.
Aus dieser Lage der Dinge erhellt, daß von den genannten drei Gruppen entweder nur Eine Wissenschaft lehrt oder gar keine.
Die Wissenschaft leidet kein Entweder-Oder und kein Nebenher. Wird ihr die Wahl zwischen katholischer, lutherischer und unierter Theologie gelassen, so entscheidet sie sich für Eine der drei, oder erklärt, sie sei nicht in der Lage ein Urteil abzugeben. Würde sie zu der Einsicht kommen, daß sowohl in der katholischen als in der lutherischen als in der unierten Theologie Wahrheitsmomente enthalten sind, so würde sie ein viertes, höheres System zu bilden suchen, welches die Wahrheitsmomente aus den bisherigen Systemen vereinigte.
Das friedliche Nebeneinanderbestehn von Fakultäten der katholischen, lutherischen und unierten Theologie und die lange Dauer dieses Nebeneinanderbestehens beweist, daß sie alle drei zur Wissenschaft kein Verhältnis haben. Hätten sie es, so würden sie sich untereinander die Existenzberechtigung absprechen, wie die Kopernikaner den Anhängern des Ptolemäus die Existenzberechtigung absprechen. Sie würden sich auf Eine Form vermindern, wie Ptolemäus und Tycho Brahe dem Kopernikus endgültig haben weichen müssen.
Wäre die Friedfertigkeit der drei Gruppen vielleicht als eine Wirkung des Strafgesetzbuches anzusehen, den wissenschaftlichen Beweis und dessen Folgen hemmt kein Strafgesetzbuch. Wenn der Staat erzwingen kann, daß Kopernikus und Tycho Brahe sich nicht die Ehre abschneiden, das kann er nicht verhindern, daß ersterer den letzteren mit Gründen widerlegt, und alle Urteilsfähigen auf seine Seite zieht.
Die Professoren der Theologie sind samt und sonders durch den von ihnen bei Erwerbung der Lizentiatur geleisteten Eid und die Verpflichtung auf die Statuten ihrer Fakultät, falls sie Katholiken sind, auch noch durch den Priestereid, in betreff der Methode ihrer Untersuchung und das schließliche Resultat derselben, gleichviel ob in milderer oder strengerer Weise, gebunden. Lassen nicht selten die Statuten von Fakultäten der protestantischen Theologie, und an einigen Universitäten auch, wenngleich in geringerem Maße, die bei der Promotion von Lizentiaten üblichen Eidesformeln durch ihre Unklarheit und vermutlich absichtlich vieldeutige Fassung der Auslegung einen gewissen Spielraum, so werden wenigstens in den Fällen, wo jene Vieldeutigkeit nicht eingestandenermaßen von den Gesetzgebern beabsichtigt ist, nur die weniger empfindlichen Gewissen von dieser, übrigens auch nur sehr mäßigen, Freiheit Gebrauch machen, und immer noch mindestens gezwungen sein, lutherisches oder uniertes Christentum zu lehren.
Die Wissenschaft weiß am Anfange ihrer Untersuchungen nie, wo dieselben enden werden: sie lehnt durchaus ab, sich im voraus die Flügel binden, und den Zielort ihres Fluges angeben zu lassen. Theologen, welche irgendwie in betreff der Resultate und der Methode ihrer Arbeiten Verpflichtungen eingegangen sind, haben kein Recht sich als Diener der Wissenschaft anzusehen.
Schließlich haben alle theologischen Fakultäten Deutschlands rechtlich oder tatsächlich die Bestimmung, Geistliche für die Konfession auszubilden, der sie angehören: sie sind mithin durch die Bedingungen selbst gebunden, unter denen die Priesterweihe oder die Ordination erteilt wird. Sie dürfen nur Ansichten vertreten, welche den bei ihnen Studierenden gestatten, das Glaubensbekenntnis von Trient oder die Ordinationsgelübde abzulegen. Würde diese Vorbedingung der Weihung zum Priester oder der Ordination durch das von den Fakultäten Vorgetragene unmöglich, so würden sie ihre Bestimmung nicht erfüllen, Geistliche bestimmter Konfessionen auszubilden.
Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die theologischen Fakultäten unsres Vaterlandes Anstalten sind, welche das Wissen um die katholische, lutherische, unierte Religion mitzuteilen haben: sie berichten. Wo mehr geschieht, ist das System an diesem Mehr unschuldig.
Der objektive Wert dieser Fakultäten wird darum in dem Werte der Konfessionen beruhen, denen sie sich verpflichten, und für welche sie arbeiten.
Daraus folgt für uns die Nötigung, uns mit diesen Konfessionen zu beschäftigen, wenn wir uns ein Urteil über die jetzt vorhandene Theologie sollen erlauben dürfen.
2.
Der Protestantismus ist eine historische Bildung, welche nur aus dem Studium des sechzehnten, nicht aus der öffentlichen Meinung des auf die Neige gehenden neunzehnten Jahrhunderts richtig beurteilt werden kann.
Es ergibt sich aus den Schriften der Reformatoren und den symbolischen Büchern der lutherischen wie der reformierten Kirche unwiderleglich, daß der Protestantismus das sein wollte, als was wir ihn auch heute noch bezeichnen, eine Reformation: daß er also die katholische Kirche im wesentlichen anerkannte und bestehn ließ, und nur Mißbräuche abstellte.
Die katholische Kirchenlehre blieb in allem, was sie von Gott, Christo und dem heiligen Geiste aussagte, also in allem, was dem modernen Bewußtsein am anstößigsten ist, von der Reformation unangetastet. Der Streit zwischen den Protestanten und der Kirche drehte sich lediglich um die Art und Weise, in welcher die durch Jesum Christum, den eingeborenen Sohn Gottes, vollzogene Erlösung des Menschengeschlechts von der Sünde und deren Strafen angeeignet wird, und um gewisse Einrichtungen, durch welche die den Reformatoren für die richtige geltende Aneignung dieser Erlösung erschwert wurde, und die man daher protestantischerseits abzuschaffen sich gedrungen fühlte.
Wer diese Sätze glaubt beanstanden zu müssen, möge nur die in aller Händen befindlichen beiden wichtigsten Katechismen der Reformation, den kleinen Lutherschen und den Heidelberger, ansehen, außerdem die Schlußworte des ersten Teiles der Augsburgischen Konfession lesen, und bedenken, daß die drei ältesten Symbole der katholischen Kirche, das apostolische, nikänische und athanasische Glaubensbekenntnis, von den Reformatoren und ihren Kirchen ausdrücklich als das eigene Bekenntnis anerkannt wurden. Aus dem Zusammenhange gerissene, für bestimmte Veranlassungen berechnete, noch dazu beliebig aus jeder Epoche der Bewegung ausgewählte Privatäußerungen der einzelnen Reformatoren beweisen für gewissenhafte Menschen gar nichts, wo mit vollem Bedachte, unter Beirat der hauptsächlich Beteiligten abgefaßte Urkunden vorliegen, die entweder dem Kaiser zur Kenntnisnahme überreicht, oder den Gemeinden zur Belehrung und zum Unterrichte in die Hand gegeben worden sind, also jedenfalls das enthalten, was die Reformatoren selbst als den Durchschnitt des von ihnen und ihren Anhängern Gelehrten und Geforderten ansahen.
Einige weitere Betrachtungen mögen das Gesagte bestätigen.
Für Deutschland ist Luther der Träger und Typus der Reformation. Von ihm wird daher im folgenden ausschließlich die Rede sein. Zwingli und vollends Calvin sind völlig von Luther verschieden, und ihre Kirchen in den für die Reformation in Deutschland eigentlich entscheidenden Zeiten ohne Einfluß, und zwar so sehr ohne Einfluß, daß der gebildete Mittelstand unsrer Tage vermutlich in Verlegenheit sein würde, wenn man ihm zumutete, reformierte Landschaften unsres Vaterlandes aufzuzählen.
Soviel ist außer Frage, daß zunächst Gewissensnöte Luther zu dem getrieben haben, was er getan. Der Ablaßkram legte ihm als Beichtiger und als Seelsorger die Pflicht auf, so zu handeln, wie er gehandelt.
Jedes Gewissen nun erhält seine Bestimmtheit durch sein Verhältnis zu der sittlichen Anschauung einer Gemeinschaft. Das der Chinesen und Botokuden ist ein anderes, als das der Franzosen, und unter den Franzosen hatten Arnauld und Pascal ein anderes, als die roués am Hofe des Regenten. Das Gewissen steht nie und nirgends auf Einer Stufe mit der Fähigkeit zu essen, zu trinken und zu verdauen, welche jeder Mensch von Natur mit sich hat: das Gewissen ist nur da in geschichtlich gewordenen Zuständen, unter dem Einflusse des Geistes der Epoche, den es eben dadurch im ganzen anerkennt, daß es ihn in einzelnen Punkten bekämpft. Gewissensbedenken empfindet der Mensch stets nur bei einem Konflikte, in welchem ihm heilige Pflichten mit andern ebenso heiligen in Kampf geraten: das Gewissen ist nichts als die Fähigkeit zu solchem Konflikte. Daraus folgt, daß vom Gewissen und seiner Freiheit stets nur da die Rede sein kann, wo Pflichten, und zwar in ein System zusammengefaßte Pflichten anerkannt werden. Luthers Auflehnung gegen seine Kirche im Punkte des Ablasses, des Mönchtums, des Meßopfers hatte die Anerkennung der Kirche und der Kirchenlehre in allen übrigen Stücken zur Voraussetzung und zur Bedingung. Gerade darum lag ein Konflikt vor, weil eine Gemeinschaft, welcher man sich sonst beugte, bekämpft werden mußte. Weil Luther seine Pfarrkinder, welche er im Auftrage der Kirche und im Einverständnisse mit ihr zu Gott zu leiten angestellt war, durch die Schuld der Kirche selbst zu Gott zu leiten verhindert wurde, darum lehnte er sich auf. Es ist der Reformation in keinem ihrer anerkannten Vertreter eingefallen, aus dem Rahmen des Christentumes, und zwar des in geschichtlicher Entwickelung bestimmt gestalteten Christentumes herauszutreten: sie bekämpften, was sie bekämpften, als Entstellung einer zu Recht bestehenden, unbedingt anerkannten Bildung.
Der Protestantismus hat mit seiner 1648 durch den westfälischen Frieden erfolgten endgültigen Anerkennung als berechtigte Religionsform die letzte Spur innerer Kraft, welche nur durch den Gegensatz zur herrschenden Kirche bis dahin erhalten worden war, verloren: dadurch, daß ihm die feierliche Erlaubnis zu leben gegeben wurde, ward ihm der letzte Vorwand zu leben genommen. Der Zersetzungsprozeß aber, welchem er seitdem verfiel, hat bewirkt, daß das sich protestantisch nennende Deutschland von allen den in dem katholischen Systeme und dessen vom Protestantismus erhaltenen Teilen in großer Menge aufgehäuften Hindernissen seiner natürlichen Entwickelung befreit wurde. Diese Befreiung beruht mithin nicht in der Vortrefflichkeit, sondern in der inneren Unhaltbarkeit und der durch diese bedingten Löslichkeit des Protestantismus. Alle die Anschauungen aber, welche die öffentliche Meinung jetzt dem Protestantismus zu verdanken meint, sind einmal in der deutschen, entweder wirklich bekannten oder zusammenphantasierten Persönlichkeit der Reformatoren (welche heutzutage als Menschen, nicht als Reformatoren auf das Volk wirken), andererseits darin begründet, daß der Protestantismus, eben weil er mehr und mehr zerfiel, in dem räumlich ihm anheimgegebenen Gebiete Momenten der Kulturgeschichte Zutritt verstattete, welche in den geschlossenen Organismus der katholischen Kirche nur viel schwerer Eingang finden konnten. Was jetzt noch an Resten des wirklichen Protestantismus in Deutschland vorhanden ist, verdankt sein Dasein nicht einer ununterbrochen von Luther bis auf uns fortgehenden Entwicklung, sondern ist künstlich aus der Rumpelkammer hervorgeholt, und zwar nur darum hervorgeholt, weil man über die eigene Unfähigkeit, das der Zeit Nötige zu finden, klar war.
Wem diese Anschauung der Sache befremdlich vorkommen sollte, den bitte ich folgende Tatsachen zu bedenken.
Das Wort Religion ist im entschiedensten Gegensatze gegen das in der lutherischen, reformierten und katholischen Kirche geltende Wort Glauben eingeführt und setzt überall die deistische Kritik des allgemein christlichen Offenbarungsbegriffes voraus. Wollen wir da noch behaupten, daß wir uns im Kreise der Reformation befinden? Unser Mittelstand, der von religiösen Menschen durchgehends mit Achtung spricht, will von gläubigen sehr entschieden nichts wissen.
Daß zweitens die Reformation die Neugestaltung Deutschlands in keiner Weise veranlaßt hat, daß vielmehr alles, was wir an politischem Leben haben, allein dem Umstande zuzuschreiben ist, daß durch die Hohenzollern in Brandenburg und Preußen ein auf eigenen Füßen stehender Staat entstand, wer wagte das zu leugnen? Ist es aber wohl vernünftig zu behaupten, daß ein angeblich die gesamte Menschheit auf neue Fundamente stellendes Ereignis wie die Reformation, auf das Land, in welchem sie vollzogen wurde, politisch gar keinen Einfluß als einen schädlichen hatte, und dies Land allen Segen einer von der Reformation völlig unabhängigen, vor ihr schon arbeitenden und nach ihr in ihrem energischsten Träger herzlich wenig protestantischen Macht verdankt?
Man denkt weiter an die Theologie und die Religion selbst. Wer einen Blick in die theologische Literatur Deutschlands geworfen hat, weiß, daß mit dem sechzehnten Jahrhundert jede selbständige Tätigkeit aufhört, daß, was in der ersten Hälfte des siebzehnten auf diesem Gebiete noch geleistet wird, Nachwirkung früherer Zeiten ist, und die Dogmatiker wie die Exegeten der lutherischen Kirche wenig mehr sind als Registratoren, welche anstatt Akten Dogmen und exegetische Grillen zu Buche tragen. Kirchen- und Dogmengeschichte versiegen ganz: die Ethik ist infolge der Lutherischen Rechtfertigungslehre so in Mißachtung, daß Arbeiten auf ihrem Gebiete sofort mit dem Verdachte der Ketzerei behaftet sind, und darum womöglich unterlassen werden. Was die Religion angeht, so hat ein völlig unverdächtiger Zeuge, August Tholuck, in mehreren mühsamen Sammlungen hinreichenden Bericht über ihren Zustand gegeben: es ist gut, daß der Dreißigjährige Krieg die Möglichkeit offen läßt, wenigstens einen Teil der Verwüstungen, die sich im religiösen Leben Deutschlands zeigen, auf andere Schultern als die der anerkannten Kirchen abzuladen: die Epoche, in welcher das Luthertum in den ihm zugesprochenen Landschaften unbeschränkt geherrscht hat, ist von so dunkler Färbung, daß sie der herrschenden Religion wenig Ehre macht.
Wie es mit dem Protestantismus in der Zeit seiner uneingeschränkten Macht stand, erhellt weiter aus den Versuchen, Leben in diese dürren Gebeine zu bringen. Arndt, Spener, Franke haben dogmatisch sich allerdings keiner Abweichung von der lutherischen Orthodoxie schuldig gemacht, die Orthodoxie hat aber mit richtigem Instinkte gemerkt, daß die Bemühungen dieser Männer tatsächlich in der Einsicht wurzelten, daß das amtlich anerkannte Leben der protestantischen Kirche nichts als galvanisierter Tod war, und diesem Instinkte entsprechend sind Arndt, Spener und Franke von der offiziellen Kirche behandelt worden. Namentlich Franke knüpft meines Erachtens mit seiner Methodisierung der Erweckung ganz eigentlich an Luther und dessen Erfahrungen an, vermeint auch wohl, die Rechtfertigungslehre der lutherischen Kirche recht in Fleisch und Blut zu verwandeln.
Endlich unsre Klassiker. Ich leugne rund heraus, daß Lessing, Goethe, Herder, Kant, Winckelmann vom protestantischen Systeme und der protestantischen Kirche irgend wesentlich beeinflußt sind, und verschärfe das Gewicht dieser Leugnung noch dadurch, daß ich mich ausdrücklich der amtlichen Stellung Herders zu erinnern erkläre. Wer der Meinung ist, daß diese Leugnung den Tatsachen Gewalt antut, wird den Beweis für seine Meinung zu führen haben: kann er diesen Beweis nicht erbringen, so dürfte bei der für die jetzt herrschende Weltanschauung grundlegenden Stellung der genannten fünf Männer feststehn, daß wir uns des Protestantismus in Deutschland tatsächlich entledigt haben: mit Worten zu spielen kann Liebhabern erlaubt werden, nur wird es nicht angemessen sein, Personen, die Liebhabereien nachgehn, im Rate der Nation irgend welches Stimmrecht zu erteilen.
3.
Dieselben Elemente, welche den lose gefügten Protestantismus zersetzten, und es möglich machten, daß auf seinen Trümmern ein neues, nur allerdings nicht religiöses, Leben emporwuchs, haben den Katholizismus, den sie als geschlossenes Ganze antrafen, verhärtet.
Der Katholizismus, mit welchem die Reformatoren kämpften, ist seit mehr als viertehalb Jahrhunderten tot, oder, wenn man lieber will, im Sterben: was jetzt Katholizismus heißt, ist eine durch den Protestantismus, aber keineswegs durch ihn allein veranlaßte Neubildung, welche die katholischen Formeln und Formen behalten, den Inhalt derselben in einigen, aber durchgreifend wichtigen Fällen prinzipiell geändert hat, welche durch das, was sie behielt, ihren Gläubigen und den Staaten gegenüber ihre Identität konstatieren zu können meinte, durch das, was sie änderte, ihre Unverträglichkeit mit den geschichtlichen Neubildungen konstatiert hat. Das vatikanische Konzil des Jahres 1870 ist durchaus nicht eine Episode in der katholischen, sondern der Schlußakt in der Gründungsperiode der neukatholischen Religion: es verhält sich zum Neukatholizismus, wie die Versammlung von Nikäa zum Katholizismus.
Der Protestantismus selbst hat – und das ist ein neuer Beweis seiner Unbedeutendheit – eine durchgreifende Veränderung des Katholizismus nicht hervorgebracht. Die Lehrsätze der Kirche sind den Neuerern gegenüber vorsichtiger und schärfer gefaßt, der Klerus ist einer genaueren Aufsicht unterworfen worden, sonst ist alles geblieben wie es war.
Ganz anders haben andere Momente gewirkt.
Durch den Abschluß der Staatenbildung in Europa wurde der positive Begriff Katholizismus zu einem negativen, durch das Aufblühen der exakten Wissenschaften die Forderung der Unterordnung unter das Dogma zur Forderung der Verleugnung der Wissenschaft in deren Konsequenzen, durch das Bekanntwerden des Begriffs Entwickelung die Lehre von einer einst einmal mitgeteilten dogmatischen Offenbarung zur Lehre von der Allgenugsamkeit dieser Offenbarung.
So wurde der Katholizismus zum Feinde der Nationen, der Gewissen, der Vermehrung des geistigen Besitzes.
Der Träger dieses neuen Katholizismus ist der Jesuitenorden, welcher den Protestantismus durch den Nachweis der Inkonsequenzen des Protestantismus, die Feindschaft der wesentlich auf den Monarchien ruhenden Nationen durch die Lehre von der Souveränität des Volkes, die exakten Wissenschaften dadurch, daß er sie auf den von ihm gegründeten Realschulen in seiner Weise in die Hand nahm, das heißt, als ein gegen den Geist sich indifferent verhaltendes Aggregat von Kenntnissen ansehen lehrte, endlich die Einsicht in die Gesetze der Geschichte durch die Behauptung von der Wertlosigkeit dieser Geschichte bekämpfte.
Da die Nationen Europas und die Wissenschaft nicht wie aus der Pistole geschossen ins Dasein getreten sind, da sie sich allmählich und durch die Arbeit vieler im Mittelalter herangebildet haben, so ist auch Roms Gegensatz gegen sie schon im Mittelalter vorhanden. Es gibt meines Erachtens keine Reformatoren vor der Reformation, aber wohl Jesuiten vor dem Jesuitismus.
Rom war im Mittelalter die einzige Macht, welche Politik trieb, weil es die einzige fertige Macht war: überall sonst bereitete man nur die Möglichkeit vor, dereinst Politik zu treiben. Wie es im Mittelalter keine Historiker gab, sondern nur Chronisten, gab es auch keine Geschichte, sondern nur Präliminarien zur Geschichte: der Mangel an Historikern beweist das Nichtvorhandensein der Historie. Rom hat damals den richtigen Instinkt gehabt, die Staatenbildung in Europa nach Kräften zu verhindern und zu verzögern: gleichwohl war am Ende des Mittelalters diese Bildung im wesentlichen vollendet.
Rom erklärte und erklärt die Nationalität für ein Massenprinzip, um mit dem Pöbel gegen die Intelligenz, mit der Demokratie gegen die Kronen operieren zu können: Nationen vergehn von selbst, wenn ihre Zentren vergehn, und was eine Nation ohne Mittelpunkt und ohne Inhalt ist, zeigt Paraguay, die Musterschöpfung der Jesuiten.
Charakteristisch ist, daß Ignaz Loyola und Franz Xavier Basken waren: die Basken sind gar keine Nation, sondern eine aus vorhistorischer Zeit in die historische herübergerettete Kuriosität, ein lebendiges Fossil.
Was an Kopernikus und Galilei hängt, weiß jeder nachdenkende Mensch. Die ganze kirchliche Mythologie ist hinfällig, wenn die Erde aus einem im Mittelpunkte des Weltalls stehenden Körper zu einem um eine Nebensonne kreisenden, höchstens mittelgroßen Planeten wird. Um das gesamte orthodoxe System, nicht um die alberne Judenmär von Josues Sonne handelte es sich, als die Kirche das e pur si muove zu hören bekam. Und sie wußten und wissen es, wenigstens Secchi weiß es, daß die Erde sich bewegt, aber sie behandeln jetzt diese Tatsache als für die Wissenschaft vom Geiste unbedeutend: sie wissen nichts mehr von dem Gesamtbilde der Wissenschaft, das vor Plato, Aristoteles und allen den großen Scholastikern des Mittelalters gestanden hatte: sie lassen den Schluß nicht zu von dem physischen auf das ethische Gebiet. Die Folge ist eine geistlose Natur und ein unnatürlicher Geist: die Folge ist ein vollständiger Mangel an Harmonie in der Weltanschauung: die Folge ist, daß, wenn der übernatürliche Gott einmal nicht mehr geglaubt wird, in der Welt nichts übrig bleibt als Materie: der Materialismus ist das notwendige Korrelat des Jesuitismus: das Wasser in diesen kommunizierenden Röhren steht stets gleich hoch. Staatsmänner werden aus dem Abnehmen des Materialismus auf das Abnehmen des Jesuitismus schließen, und so lange ersterer auf dem alten Flecke ist, wissen, daß ihre Maßregeln gegen den letzteren einen Erfolg nicht gehabt haben.
Buchstaben haben Wert nur im Worte, und Wörter nur im Satze: wem die Elemente und Gesetze der Natur nicht in ein philosophisches System gehören, dessen Lehren auf dem ethischen Gebiete in Einklang mit den auf dem physischen geltenden sind, der versteht weder vom Geiste noch von der Natur etwas.
Rom hat sich klüglich gehütet, sich die Hintertüren nach der alten Kirche zu versperren. Je nach Bedarf beweist es aus den Vätern der ersten Jahrhunderte seine Harmlosigkeit, oder ereifert es sich mit den Kaiser- und Königsfeinden des Mittelalters gegen die neuesten Ereignisse: es mutet der Welt zu, sowohl Clemens den Vierzehnten, der den Jesuitenorden aufhob, als Pius den Siebenten, der ihn wiederherstellte, für unfehlbar zu halten. Natürlich ist, wo solch ein Janustempel offen steht, der Krieg niemals zu Ende.
Aber die neukatholische Kirche ist den Staaten gegenüber in der günstigen Lage, ihre Identität mit der altkatholischen nicht angefochten zu sehen, und nicht angefochten sehen zu können. Das Konzil von Trient gehört schon – das hat man bisher verkannt, und in diesem Verkennen liegt die Wurzel des Übels – nicht der altkatholischen, sondern der neukatholischen Entwickelung an: es ist nicht ein Abschluß, sondern ein Anfang.
Was nun das vatikanische Konzil angeht, so scheinen zuerst die Gründe gegen dasselbe, welche aus der mangelnden Freiheit der Beratungen und der nicht ohne Nachhilfe zustande gekommenen Zustimmung der Bischöfe hergenommen werden, unberechtigt. Wenigstens würden durch diese Gründe auch die Beschlüsse anderer Konzilien, welche man nicht bemängelt, und die Rechtsgültigkeit von Abstimmungen politischer Versammlungen, auf welche man großen Wert legt, mit angefochten.
Und wenn geltend gemacht wird, daß ein großer Teil der Bischöfe wider seine Überzeugung gestimmt hat, so wäre freilich eine solche Abstimmung etwas, über das man vom Standpunkte der Moral ein durchaus feststehendes Urteil hätte: nur sollte man sich klar sein, daß die Art, wie ein formell gesetzmäßiges Votum zustande gekommen ist, juristisch die Wirkung der Abstimmung nicht beeinträchtigt.
Was sodann die auf dem Vatikanum beschlossene angebliche Änderung des katholischen Dogmas anlangt, so beschränkt sich diese doch wohl nur darauf, daß ein Gewohnheitsrecht zum geschriebenen Rechte geworden ist. Hat der Papst tatsächlich stets als der Nachfolger des Petrus gegolten, und ist Petrus tatsächlich stets in der Lage gewesen, auf Grund von Matthäus 16, 18 für den Stellvertreter Christi zu gelten, so scheint auch nicht beanstandet werden zu können, daß der Nachfolger dieses Petrus so gut ohne Konzil regiere, wie Petrus ohne Apostelkonvent regiert haben soll. Läßt man endlich die Bischöfe den Eid der Treue an den Papst schwören, den man zu schwören erlaubt, so ist es nicht von wesentlicher Bedeutung, ob man sagt, die Bischöfe müssen dem Papste in allem gehorchen was er befiehlt, oder der Papst kann alles befehlen was er will.
Nach dem Gesagten ist wenigstens mir völlig klar, daß die neukatholische Kirche der geborene Widersacher jedes Staates und jeder Nation ist: sie ist dies wegen ihres materiellen Inhalts und wegen der formellen Unmöglichkeit, in welcher sich schlechthin jeder Staat befindet, neben der ihm zustehenden ausschließlichen, das heißt nur diskutierbare Einflüsse wie die der Wissenschaft neben sich duldenden Macht eine andere, nicht allein nicht diskutierbare, sondern auch in keiner Weise zu beeinflussende, weil durch angebliche Leitung der Vorsehung arbeitende Gewalt in seinem Bereiche zu Einfluß gelangen zu lassen.
4.
Ich wende mich zu der dem Katholizismus und Protestantismus gemeinsamen Grundanschauung, und zwar absichtlich nicht zu einer dogmatischen, sondern zu einer historischen Kritik derselben.
Die unleugbare Tatsache, daß es kurze Zeit nach Jesu Auftreten schon unmöglich war, über ihn historische Wahrheit im Sinne der Wissenschaft zu treffen, hat für uns einen hohen Wert, der noch nicht erkannt ist: sie zeigt, daß Jesu Wort und Leben wirklich ein die Zeit änderndes Element gewesen sind. Geschichtliche Ereignisse sind, wenn man das recht verstehn will, gar nicht da, um gewußt zu werden. Sie geben der Nation, in welcher sie sich zutragen, die Basis einer neuen Existenz oder die Möglichkeit einer neuen Epoche ihres Lebens. Sie werden durch Berechnung der Bahnstörungen, welche sie verursachen, und durch den Umstand, daß nach ihnen in der Weltgeschichte ein unauflösbares x sich findet, das früher nicht da war, viel sicherer und erschöpfender erkannt als durch die Anschauungsberichte ihrer Zeitgenossen. Und mit großen Männern ist es ebenso. Ihre Größe besteht darin, daß sie umgestalten: und sie gestalten nicht bloß da und dann um, wo und wann sie es beabsichtigen, sondern auch ohne daß sie es beabsichtigen. Aber indem sie verschieden gearteten Menschen gegenüber stehn, gestalten sie verschiedentlich um und die Ausgleichung der vielen Wirkungen, welche sie haben, ist der historische Mythus. Die historische Mythologie ist die Inventarisierung der Neugestaltungen, welche durch historische Personen in dem Zustande der Umgebung der historischen Personen hervorgerufen sind. Verlangen, daß die Apostel über Jesus Tagebücher haben führen sollen, wie Varnhagen von Ense über seine Zeit Tagebuch geführt hat, heißt nichts anderes, als erklären, daß Jesus nicht wert gewesen, daß auch nur ein einziges Wort über ihn aufgeschrieben wurde. Eingestehn, daß jeder, der ihn sah, den Mann nur in einzelnem richtig, in den meisten Punkten falsch oder gar nicht verstand, daß wir keine Photographie seines Wesens haben, heißt anerkennen, daß seine Persönlichkeit so gewaltig war, daß wenn die Menschen sich auf ihn besannen, sie ohne es zu wissen, schon durch ihn anders geworden waren und Teile seines Wesens in sich fanden und darum auch Teile ihres Wesens, die mit den Neubildungen in ihnen nahe zusammenhingen, in ihn versetzten, obwohl dort nie etwas diesen Kleinigkeiten ähnliches vorhanden gewesen war. Aber alle diese Erwägungen helfen uns nicht über die Tatsachen hinweg, daß von Jesu Person historisch sehr wenig gewußt wird, daß von seiner Lehre nur ein Teil und auch dieser erst nach gründlicher kritischer Arbeit bekannt heißen kann und daß seine Apostel unfähig gewesen sind von ihm zu berichten.
Nur daraus, daß die von Jesus selbst erwählten Jünger, dank zu gleicher Zeit dem niedrigen, verkommenen Zustande des Volkes, aus dem sie hervorgegangen, und der Erhabenheit ihres Meisters, nicht imstande waren anders, als nur höchst kümmerlich, einseitig, karikierend das große Bild aufzufassen, das vor ihnen gestanden hatte, nur daraus ist es zu erklären, daß ein völlig Unberufener Einfluß auf die Kirche erhielt.
Paulus – denn er ist dieser Unberufene –, der richtige Nachkomme Abrahams und auch nach seinem Übertritte Pharisäer vom Scheitel bis zur Sohle, hat acht bis zehn Jahre nach Jesu Tode, nachdem er die Nazarener eine Zeitlang nach Kräften verfolgt hatte, durch eine Vision auf der Reise nach Damaskus die Überzeugung gewonnen, daß er in Jesu Lehre die Wahrheit verfolge. Man kann das psychologisch denkbar finden und ich bezweifle nicht im mindesten, daß ein so fanatischer Kopf infolge einer Halluzination in das Gegenteil von dem umschlug, was er bislang gewesen war. Unerhört aber ist, daß historisch gebildete Männer auf diesen Paulus irgendwelches Gewicht legen. Im ersten Kapitel der Apostelgeschichte wird als selbstverständlich angesehen, daß wer Apostel werden wolle, mit Jesu gelebt habe, um so Zeuge von Jesus sein zu können. Paulus hat Jesum nie gesehen, geschweige daß er mit ihm umgegangen wäre: seine Beziehungen zu Jesus sind durch seinen Haß gegen Jesu Jünger und danach durch eine Vision, gewiß die schlechtesten Quellen historischer Erkenntnis, die es gibt, vermittelt worden.
Aber noch mehr. In einem Berichte über sein Leben, welchen dieser Paulus selbst in seinen Brief an die Galater eingeschaltet hat, rühmt er sich ausdrücklich, nach seiner Bekehrung nicht nach Jerusalem zu den Aposteln gegangen zu sein: er sei nach (dem römischen, östlich und nordöstlich vom Toten Meere gelegenen) Arabien gezogen, dort drei Jahre geblieben, dann auf nur vierzehn Tage zu Petrus nach Jerusalem gereist: außer Petrus habe er damals keinen Apostel gesehen, an sonst bedeutenden Männern nur Jakobus, den Bruder Jesu: erst vierzehn Jahre nach diesem ersten kurzen Besuche sei er ein zweites Mal nach seiner Bekehrung nach Jerusalem gekommen, und habe sich mit Jakobus, Petrus und Johannes auseinandergesetzt.
Das heißt in ehrliches Deutsch übertragen: Alles was Paulus von Jesu und dem Evangelium sagt, hat gar keine Gewähr der Zuverlässigkeit. Denke man sich, irgend jemand, der Gotfrids von Bouillon Leben und Wirken schildern und Gotfrids politische Tätigkeit fortsetzen wollte, wäre ähnlich verfahren und hätte mit derselben Offenheit eingestanden, daß er Gotfrid nie gekannt habe, allen Freunden Gotfrids geflissentlich aus dem Wege gegangen sei und was er von Gotfrid wisse, einer in möglichster Unabhängigkeit von Gotfrids Genossen ausgesponnenen himmlischen Erscheinung verdanke, so würde von einem solchen Menschen in irgend einer historischen Schrift gar nicht die Rede sein: er wäre unrettbar der Psychologie verfallen.
Wie kommen wir denn dazu, uns überhaupt mit einer Kirche noch einzulassen, die auf solchem Grunde gebaut ist? Mißverstand, Unverstand, ein Zwitterding aus Pharisäismus und Phantasterei, sind das die Fundamente einer Gemeinschaft, die auf ein Ereignis der Geschichte zurückgehn will?
Und wenn Paulus uns etwa paßt, wie er Luthern gepaßt hat, so wollen wir ehrlich gestehn, daß nicht Jesus, sondern Paulus unser Heiland und wollen zu gleicher Zeit gestehn, daß der Maßstab unsrer Zustimmung nicht Wissenschaft, sondern unser Bedürfnis und unsere Neigung ist, daß wir nicht der Geschichte folgen, die nun einmal unwiderruflich den Anfang der neuen Zeit an Jesum knüpft, sondern unserm subjektiven Ermessen, daß also alle unsere Unterordnung unter eine Offenbarung keinen andern Namen verdient als den der Spiegelfechterei, weil wir uns in Tat und Wahrheit nur uns selbst unterordnen, weil wir uns wie weiland Herr von Münchhausen an unserm eignen Zopfe selbst aus dem Sumpfe ziehen. Man kann, wenn man vorsichtig verfährt, aus den drei ersten Evangelien mit einiger Sicherheit auf die Tatsachen schließen, welche den Berichten derselben zugrunde liegen: man kann von Johannes den Hintergrund, das klimatische Kolorit und die richtige Farbenabtönung in der Beleuchtung der Szene gewinnen, auf der Jesus aufgetreten: von Paulus aus hat keine Wissenschaft eine Brücke rückwärts zu dem hohen Meister, weil psychologische Zustände für jeden unberechenbar sind, der nicht die Umgebung des zu beurteilenden genau kennt, und wir diese in dem vorliegenden Falle nicht kennen und nie kennen werden.
Paulus hat uns das Alte Testament in die Kirche gebracht, an dessen Einflusse das Evangelium, soweit dies möglich, zugrunde gegangen ist: Paulus hat uns mit der pharisäischen Exegese beglückt, die alles aus allem beweist, den Inhalt, der im Texte gefunden werden soll, fertig in der Tasche mitbringt, und dann sich rühmt, nur dem Worte zu folgen: Paulus hat uns die jüdische Opfertheorie und alles, was daran hängt, in das Haus getragen: die ganze unten noch mit einigen Worten zu besprechende jüdische Ansicht von der Geschichte ist uns von ihm aufgebunden. Er hat das getan unter dem lebhaften Widerspruche der Urgemeinde, die, so jüdisch sie war, weniger jüdisch dachte als Paulus, die wenigstens nicht raffinierten Israelitismus für ein von Gott gesandtes Evangelium hielt. Paulus hat sich endlich gegen alle Einwürfe gepanzert mit der aus dem zweiten Buche des Gesetzes herübergeholten Verstockungstheorie, die es freilich so leicht macht zu disputieren, wie es leicht ist, einen Menschen, der Gründe bringt und Gegengründe hören will, damit abzufertigen, daß man ihn für verhärtet erklärt.
Es ist Theologenlogik zu sagen, obwohl Israel in Jesus den Messias nicht erkannte, ist Jesus doch der Messias Israels, und obwohl die eigentliche Gemeinde des Evangeliums den Paulus als Verderber haßte, ist dennoch Paulus der wahre Vertreter des Evangeliums. Wenn irgend welche Kirche diese Art Logik weiter treiben will, mag sie es tun: Jeder, der von Wissenschaft das mindeste weiß, verbittet sich sie und alle die, welche ihr huldigen.
Nun ein Drittes.
Die Juden, wenigstens diejenigen unter ihnen, welche ein judainfreies Judentum als die geeignetste Weltreligion anpreisen, pflegen sich jetzt zu rühmen, ihre Konfession sei mit darum so vorzüglich, weil sie keine Dogmatik habe. Bei verständigen Leuten würde dieses Nicht-Haben als Beweis einer hochgradigen geistigen Verkrüppelung gelten: es zeigt sehr deutlich, daß das Bedürfnis nach einer zusammenhängenden Weltanschauung in diesen Köpfen und Herzen nicht existiert. Insoferne das Evangelium die Idee vom Reiche Gottes an die Spitze alles dessen stellt, was es lehrt, und die Forderung vollkommen zu sein an die Spitze alles dessen, was es fordert, ist es von selbst darauf gewiesen, seine Anhänger eine Gesamtansicht der Welt suchen zu lassen, und wer entschlossen ist, dem Evangelium zu folgen, hat schon darum allen Grund, die Dogmatik als eine sittliche Notwendigkeit anzusehen.
Aber die dogmatische Entwickelung des Christentumes in der eigentlich schöpferischen Periode der Dogmatik, in der Periode, in welcher die im Katholizismus und Protestantismus gleichmäßig gültigen Grundlehren der Kirche festgestellt wurden, ist wesentlich beeinflußt von dem aus der Geschichte der Philosophie hinlänglich bekannten Regierungswechsel auf dem Gebiete der Philosophie, welcher gegen Ende des alten römischen Reiches Aristoteles an die Stelle setzte, an der so lange Plato gestanden hatte. Alle die dogmatischen Begriffe, welche unsern jungen Leuten so hart eingehn, sind platonisch oder aristotelisch und die dogmatische Arbeit hat hauptsächlich darin bestanden, die Anschauungen, welche in der Kirche umliefen, mit den hellenischen Systemen auseinanderzusetzen. Darum sind alle diese Dogmen völlig unverbindlich und Kirchen, welche sie für verbindlich erklären, haben erst den Beweis zu liefern, daß die zur Bildung dieser Dogmen benutzten Lehren des Plato und Aristoteles objektiv gültig sind und daß die kirchlichen Anschauungen, welche anderenteils in dem Dogma stecken, lediglich auf dem Evangelium beruhen.
Endlich das letzte Bedenken, welches ich gegen das Christentum geltend zu machen habe: der Religionsbegriff des Christentums ist falsch.
Religion ist überall da, wo sie anerkanntermaßen vorhanden ist, nicht Vorstellung von, nicht Gedanke über, sondern persönliche Beziehung des Frommen auf Gott, Leben mit ihm. Sie ist unbedingt Gegenwart, Hoffnung auf die Zukunft nur insoferne, als der Umgang mit dem Ewigen jedem, der ihn übt, unumstößliche Gewißheit gibt, daß auch er selbst ewig ist. Mit dieser Einsicht völlig unverträglich ist es, historische Ereignisse in wesentliche Beziehung zur Frömmigkeit zu setzen. Man kann sehr wohl sagen, daß zu einer bestimmten Zeit zum ersten Male die und die objektive Tatsache der idealen Welt religiös erfaßt worden ist: der Hauptakzent wird aber für überlegte Menschen stets auf der Tatsache und dem Mächtigwerden derselben, nicht aber auf dem Kalenderdatum dieses Mächtigwerdens liegen: wir haben als Individuen nur das Interesse nach solcher Epoche zu leben und den Dank dafür, daß wir es tun: nicht aber ist es von Wert, alle Einzelheiten des Vorganges zu kennen, der in Gottes Augen nur Mittel zum Zwecke ist und deshalb auch in unsern Augen ein Mehreres nicht sein soll: und darum muß nicht Straußens Werk über das Leben Jesu David Friedrich Strauß (1808-1874), protestantischer Theologe, hat in seinem Werke »Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet« (2 Bde. 1835) einen großen Teil dessen, was die Evangelien von Jesus berichten, für Mythus erklärt., welches aus ehrlichem Wissensdrange hervorgegangen ist, sondern die Anschauung als Teufelswerk gelten, daß es überhaupt auf eine Biographie Jesu und nicht vielmehr auf Jesum und sein Evangelium ankomme. Die orthodox-christliche Anschauung von der Geschichte ist Fetischismus, nur daß dieser sich statt auf das natürliche Einzelding auf die historische Tatsache richtet.
Daß unsre Zeitgenossen dem Nachdenken großer Gedanken möglichst aus dem Wege gehn, dafür aber biographischen Untersuchungen vielen Fleiß widmen, kommt wohl daher, daß die Möglichkeit, altgedachte Gedanken bei uns neu einzubürgern, infolge der durch das Parteitreiben und durch die Zustände unsrer Schulen und Universitäten hervorgerufenen Entnervung der Nation außerordentlich gering, darum der Versuch, solche Gedanken neu in Umlauf zu setzen, nicht sehr praktisch und dabei doch noch das Bewußtsein vorhanden ist, daß man an jenen alten Schätzen nicht so ganz vorbeigehn dürfe. Große Männer sind unbequem, weil sie kleine Menschen zwingen, sie anzuerkennen (welche Anerkennung durch Haß ebenso füglich bezeugt wird, wie durch Liebe) und sich infolge dieser Anerkennung irgendwie und irgendwieweit nach ihnen zu ändern: von großen Männern wissen ist sehr bequem, weil es erlaubt, sich an dem eigenen, jenen Größen gewidmeten Fleiße zu weiden und zu spiegeln und doch ganz so jämmerlich zu bleiben wie man ist. Bekanntlich unternimmt der Mensch zehnmal lieber eine Wallfahrt, die er mit den Beinen abmachen kann, als er sich entschließt die geringste üble Gewohnheit abzulegen, wozu Willen gehört und nicht bloß motorische Nerven. Und so ist es auch, wenn dieser Weg von irgend jemandem gezeigt worden, viel unverfänglicher, an den ausschließlichen Wert irgend welcher altersgrauen Begebenheit zu glauben, als sich von der Kraft, welche in jener Begebenheit zur Geltung gekommen ist, innerlich umgestalten zu lassen. Jesus hat auf seinen Tod den Akzent nicht gelegt, welchen die Kirche auf ihn legt. Dies erhellt daraus, daß er sofort bei seinem Auftreten vom Evangelium und vom Reiche Gottes redet, er also ersteres nur in dem, was er selbst sagte, letzteres in sich selbst als der Urzelle der neuen Bildung erblickt hat, mithin sein Leben, aber nicht sein Tod die Grundlage des Reiches Gottes war. Wir haben auch hier wieder Paulus als den Begründer der jetzt geltenden Ansichten zu nennen. Paulus war als Pharisäer gewöhnt, das Heil seines Volkes von dem Tage zu datieren, an welchem auf dem Sinai das Gesetz verkündet worden war: mehr noch als das, er war gelehrt, daß Israel die Blüte der Menschheit sei und die Menschheit nur in und durch Israel beglückt werden könne. Er betrachtete also die Gedenktage seiner Nation als Epochen des Heils für alle Welt. Pascha, Pfingsten, Gesetzesfreude, Laubhütten, Tempelweihe, Purim und die kleinen Festtage, welche die sogenannte Fastenrolle aufzählt, sind samt und sonders nationale Gedenktage, fast möchte ich sagen Familienfeste, welche religiösen Charakter nur dadurch erhalten, daß die sie feiernde Nation eine Bedeutung für die Menschheit zu haben sich einbildet und deren Freude völlig ausblaßt, wenn man keinen Wert mehr auf die Erhaltung der israelitischen Erstgeborenen in Ägypten und das weiter Gefeierte legt. Die Anschauung des Paulus von der Geschichte verband sich mit seiner Idee vom Opfer und dessen Kraft, und dies um so mehr, als dem langjährigen Verfolger des Evangeliums durch seine eigene Lebensgeschichte der Begriff Sünde in ganz anderer Weise nahe gerückt war, als den armen Fischern und Handwerkern in Jesu Umgebung. Diese hatten in ihren engen Verhältnissen und ihrem gleichförmig abrollenden Leben schwerlich Gelegenheit grob zu sündigen und besaßen für das peinigende Gefühl, nie vollkommen zu sein und unaufhörlich andere zu hemmen oder nicht zu fördern, schwerlich besondere Empfänglichkeit. So kamen Paulus und der ihm nahe stehende Verfasser des Briefes an die Hebräer, der Levit Barnabas, zu der Feier des Todes Christi und seiner Auferstehung, welche für den Protestantismus vollständig verhängnisvoll geworden ist. Zwar hat die gesamte christliche Kirche das jüdische Prinzip aufgenommen, einmal Geschehenes statt des immer von neuem Geschehenden, Vergangenes statt des Gegenwärtigen als Objekt religiöser Gefühle anzusehen, aber in ihrer älteren Gestalt hat sie es mit bewundernswert richtigem Instinkte verbessert, indem sie dem einmaligen blutigen ein immer sich wiederholendes unblutiges Opfer zur Seite setzte, indem sie überhaupt alles tat, was das Vergangene gegenwärtig zu machen geeignet schien. Das Meßopfer ist die Stärke des Katholizismus, weil erst durch das Meßopfer das Christentum (ich sage nicht: das Evangelium) Religion wird und Religion, nicht aber Surrogat der Religion, Menschenherzen an sich fesseln kann. Der ewige Menschengeist wird von einmal Geschehenem nicht befriedigt. Es ist nicht Religion, sondern Sentimentalität, sich in Gewesenes zu versenken, und das Bewußtsein von dem immanenten Leben ewiger Gewalten in der Zeit schwindet in dem Maße, in welchem die von Jahr zu Jahr schwächer werdende Erinnerung an uralte, sich nicht erneuernde Tatsachen als Religion angepriesen wird. Daher ist uns die Religion ein Meinen, ein Dafürhalten, ein Glauben, ein Vorstellen, statt ein Leben zu sein, und ehe wir diese grundgiftige Anschauung nicht aufgeben, ist irgend eine Besserung unsrer Zustände gar nicht möglich. Wir brauchen die Gegenwart Gottes und des Göttlichen, nicht seine Vergangenheit, und darum kann vom Protestantismus und, bei der Unannehmbarkeit der katholischen Meßopferlehre, auch vom Katholizismus, darum kann vom Christentume für uns nicht mehr die Rede sein.
5.
Es dürfte nachgewiesen sein, daß das Christentum, also Katholizismus und Protestantismus, eine Entstellung des Evangeliums ist. Ich habe nur noch einem Einwurfe zu begegnen, der ohne Zweifel von vielen gemacht werden wird, dem Einwurfe, wie es sich mit der göttlichen Vorsehung vertrage, ein eben der Menschheit gemachtes Geschenk sofort in dieser Weise verunstalten und seiner Wirksamkeit berauben zu lassen. Die Sache steht aber für jeden aus der Beobachtung seines eigenen Lebens hinlänglich zu erläutern.
Es ist nicht die Art der Vorsehung, einem Kinde, welches durch Schuld der Wärterin in jungen Jahren verkrüppelt, seine lahm geworbenen Glieder durch vollkräftige neue zu ersetzen. Die Vorsehung verlangt – und wem, der von ihr betroffen ist, würde diese Aufgabe zu lösen nicht schwer? –, daß der physische Mangel in irgend einer, durch die Verhältnisse angezeigten Weise zu einem geistigen Gute umgewandelt werde: es ist ihr Geheimnis, warum sie handelt wie sie handelt: sie zürnt schwerlich dem, der sich in solchen Mangel anfangs nur mit Murren fügt, und vielleicht auch in späteren Jahren in dies Murren zurückfällt.
Noch mehr als das. Wir sehen es, so wie wir uns selbst oder uns wirklich nahe Stehende genau beobachten, daß stets der Sohn Gottes für den Menschensohn leidet, das heißt, daß auch die Sünden des Menschen darum, daß sie abgetan und vergeben sind, nicht aufhören ihre Folgen zu haben. Von der Unvorsichtigkeit an, die einen leiblichen Schaden zuwege gebracht hat, über die albernen Streiche der Jugend hin zu den schwereren Sünden des reiferen Alters – überall dasselbe Gesetz: auch das schwerste Leiden, das den Menschen treffen kann, um seiner Sünde willen, die er längst begraben hat, Gutes nicht tun oder nicht so tun zu können, wie er es gerne wollte, – nichts von den natürlichen Folgen der Sünde bleibt dem erspart, der gesündigt hat. Was durch die Versöhnung, das geistige neue Leben des Sünders, aufgehoben wird, das ist nur die geistige Folge der Sünde: für den Versöhnten, Neugeborenen hängt an der Sünde nicht, daß sie neue Sünde gebiert.
Wir dürfen bei der Gleichartigkeit des ethischen Lebens annehmen, daß in der Geschichte des Menschengeschlechtes dieselben Gesetze herrschen, die in der Geschichte des einzelnen Menschen erkennbar sind. Die Gesetze der natürlichen Entwickelung bleiben auch für das größeste Neue, das in die Entwickelung eintritt, unverändert. Die Ideen treten in das irdische Leben unter keiner andern Bedingung ein als derjenigen, unter welcher die Sünde in dasselbe eintritt. Sie sind ebenso ein Fortschritt wie die Sünde ein Fortschritt ist, ein Neues. Aber wie die Vorsehung dafür gesorgt hat, daß in dem Sünder, der ein neuer Mensch wird, die Fähigkeit der Sünde, neue Sünde hervorzurufen, erlischt, obwohl alle anderen Folgen der Sünde bleiben, so sorgt sie dafür, daß der Idee das Vermögen neue Ideen zu zeugen bleibt, auch wenn sie von allen möglichen Zutaten entstellt wird, vorausgesetzt auch hier wieder, daß ein Wiedergeborener ihr gegenüber steht: denn nur dem, der hat, wird gegeben.
Gott scheint das so geordnet zu haben, weil er erziehen will. Er gibt nicht magisch, sondern er gibt, indem er fordert. Er fordert die Perle im Schutte zu suchen, statt sie in die Hand gleiten zu lassen: er vergibt, indem er stets erinnert, daß die Versöhnung nötig war. So macht er fleißig und demütig und Fleiß und Demut sind besser als Faulheit und Stolz.
6.
Die bisherigen Auseinandersetzungen haben den Weg hinreichend gebahnt, um zu einer Verständigung über das zu kommen, was bei dieser Lage der Sache geschehen muß.
Ich verstehe unter Staat die Anstalt, welche allen notwendige oder selbst nur allen wünschenswerte, aber durch die Anstrengungen eines oder mehrerer einzelner nicht erreichbare Ziele im Auftrage aller und mit den von allen dargebotenen Mitteln zu erreichen sucht. Damit ist gegeben, daß der Staat nichts zu leisten hat, wo der einzelne oder die einzelnen leisten können: daß er nur zu leisten hat, was allen notwendig ist und dabei seinem Wesen nach nur durch eine gemeinschaftliche Anstrengung aller geleistet werden kann: daß sein Recht, seine Macht und seine Pflicht soweit gehn wie die Allgemeinnotwendigkeit der Ziele, welche er sich steckt. Der Staat darf ihm anvertraute Gelder der Nation nur dann ausgeben, wenn er überzeugt ist, daß das, wofür er diese Gelder ausgibt, Gemeingut der Nation ist oder werden kann. Er wird zum Beispiel für das Heer, für Schulen, für Kanäle, für Landstraßen, für Forsten Geld anzuweisen berechtigt sein, weil alle diese Dinge dem nationalen Leben nötig sind, das einzelne Mitglied der Nation oder eine Gemeinschaft von einzelnen Mitgliedern derselben diese Dinge aber entweder gar nicht oder nur unvollkommen pflegen kann, auch nicht verpflichtet ist, was allen zugute kommt, aus Privatmitteln zu beschaffen.
Wenden wir dies auf die Kirchen an, so darf der Staat Staatsgelder für sie nur ausgeben, wenn er überzeugt ist, daß sie ein notwendiges Besitztum der Nation und von Gliedern der Nation nicht zu erhalten sind. Damit dürften wir schon zu der Einsicht gelangen, daß Kirchen im Plurale nur insoferne den Staat angehn, als sie etwa verschiedene Seiten derselben Sache zum Ausdrucke brächten, als sie sich gegenseitig ergänzten und endlich in einer vollkommenen Harmonie zu vereinigen vorhätten. Daß dies von den vorhandenen Kirchen nicht in Aussicht genommen werden darf, ist zweifellos gewiß und darum aus der Existenz sich einander anfeindender und ausschließender Kirchen von vorneherein sicher, daß der Staat nicht berechtigt ist, ihnen ersteuertes Geld zugute kommen zu lassen: dies dürfte er nur an eine nationale Kirche wenden. Mithin ist die erste Forderung, welche wir zu stellen haben, die, unter gesetzmäßiger Lösung der Verbindlichkeiten, welche frühere Vertreter der Nation im Staate gegen bestimmte religiöse Gemeinschaften etwa eingegangen sein sollten, von jetzt ab alle zurzeit bestehenden religiösen Gemeinschaften Deutschlands, den Katholizismus und Protestantismus eingeschlossen, für Sekten zu erklären, durch welche Erklärung selbstverständlich den Rechten des Staates an die Individuen, aus welchen diese Sekten zurzeit gebildet werden, in nichts präjudiziert wird. Alle jetzt vorhandenen religiösen Gemeinschaften ohne eine einzige Ausnahme stehn dem Staate gegenüber auf dem Aussterbeetat: je früher man sie auf denselben setzt, desto eher werden sie aussterben, denn ihr Leben ist durchaus, wenn auch in verschiedener Art, ein künstliches, durch die Beachtung, die man ihnen widmet, und durch ihren Gegensatz unter einander erhaltenes.
Das wirkliche Leben, welches die verschiedenen religiösen Gemeinschaften etwa besitzen, wird durch eine solche Maßregel nicht beeinträchtigt, im Gegenteile, es wird vermehrt werden und so der Nation in ganz anderer Weise zugute kommen als jetzt. Es wird sich auch, wenn die Maßregel eine allgemeine und mit gleichmäßiger Gerechtigkeit durchgeführte ist, niemand durch sie verletzt finden dürfen. Vertreten die Kirchen wirklich ideale Anschauungen des Lebens, so müssen sie überzeugt sein, daß sogar Verfolgung – und von dieser ist nicht die Rede – ihre Wirksamkeit nur steigern würde: sie müssen überzeugt sein, daß sie auf eigenen Füßen werden stehn und gehn können. Jede Klage über die Lösung des jetzigen Verhältnisses zwischen dem Staate und den Kirchen würde ein unbedingtes Eingeständnis der eigenen Schwäche und der Unfähigkeit sein, anders als mit Unterstützung der weltlichen Macht zu existieren.
Die Sache dürfte dem noch klarer sein, welcher das vorher über Katholizismus, Protestantismus und Christentum Gesagte für richtig oder doch in seinen Hauptzügen richtig hält. In diesen Religionen ist, soferne sie unter vielen andern Bestandteilen auch das Evangelium und auch Wirkungen der Person Jesu enthalten, an Lebenselementen kein Mangel, diese Lebenselemente sind aber mit so vielen Todeskeimen und so vieler Verwesung verbunden, daß Katholizismus und Protestantismus als Ganze, auch abgesehen davon, daß sie als zum Teile sich bekämpfend nicht zu gleicher Zeit Anspruch auf Pflege durch den nationalen Staat haben, unmöglich vom Staate irgend welchen Vorschub aus Staatsmitteln beanspruchen können. Ohne Zweifel ist die Luntenflinte einmal eine wertvolle Waffe gewesen: aber ebenso zweifellos ist, daß man einen Kriegsminister, der jetzt ein Heer mit Luntenflinten bewaffnen wollte, in ein Irrenhaus stecken würde.
7.
Eine selbstverständliche Folge davon, daß der Staat die historischen Kirchen zu Sekten erklärt, ist es, daß er die Anstalten, auf denen diese Kirchen ihre Priester und Geistlichen für den Kirchendienst vorbereiten, aufhebt oder, was dasselbe ist, als Seminare den Kirchen übergibt. Die jetzt bestehenden theologischen Fakultäten sind unhaltbar.
Eine Reorganisation des Unterrichtswesens ist so dringend notwendig wie es unwahrscheinlich ist, daß sie in Bälde werde vorgenommen werden: sie muß viel durchgreifender sein, als man sich vorzustellen pflegt und wird, wenn sie zweckentsprechend ist, wesentlich anders ausfallen, als die öffentliche Meinung sie sich denkt, also schwerlich ohne Kampf durchgeführt werden können: bis auf sie mit der Aufhebung der theologischen Fakultäten zu warten, möchte, wie die Sachen liegen, kaum ratsam sein, weil den Massen Ernst zu zeigen angebracht scheint und darum verständliche Maßregeln zu ergreifen sind.
8.
Wie steht es nun aber um die Frage, ob der Staat darum, weil er historisch bestehende Religionsgemeinschaften mit gleichgültigen Augen ansieht, auch die Religion an sich nicht in den Kreis seiner Wirksamkeit ziehen soll? Aus dem oben Gesagten dürfte erhellen, daß der Staat sich dann um die Religion zu kümmern hat, wenn die Religion etwas ist, dessen die Nation als solche bedarf und das doch von ihren Gliedern nicht beschafft werden kann.
Daß die Religion der Nation als solcher, das heißt, daß jeder Nation eine nationale Religion notwendig ist, ergibt sich aus folgenden Erwägungen.
Nationen entstehn nicht durch physische Zeugung, sondern durch historische Ereignisse: historische Ereignisse aber unterliegen dem Walten der Vorsehung, welche ihnen ihre Wege und Ziele weist. Darum sind Nationen göttlicher Einsetzung: sie werden geschaffen. Sind sie das, sind sie also nicht durch den regelmäßigen Gang der Natur, nicht durch Zufall ins Dasein getreten, so hat ihr Schöpfer mit ihrer Erschaffung einen Zweck verbunden und dieser Zweck ist ihr Lebensprinzip: die Anerkennung dieses Zweckes eine Anerkennung des göttlichen Willens, welcher diesen Zweck erreicht haben will: ohne sie ein Leben der Nation und die Nation selbst nicht denkbar. Immer von neuem die Mission seiner Nation erkennen, heißt sie in den Brunnen tauchen, der ewige Jugend gibt: immer dieser Mission dienen, heißt höhere Zwecke erwerben und mit ihnen höheres Leben.
Dieser Sachverhalt macht die Religion zu einer Notwendigkeit für jedes Volk.
Allein es geht weiter, wenn auch nicht der Sache, so doch der Entfaltung der Sache nach.
Nationen können frei nur sein, solange innere Zusammengehörigkeit, also die Idee, die Teile zu Gliedern macht. Nur Gliedern läßt man zu, sich zu bewegen, wie sie wollen, weil sie als Glieder sich nie vom Ganzen trennen und nie etwas wider das Ganze tun.
Frei ist nicht, wer tun kann, was er will, sondern wer werden kann, was er soll. Frei ist, wer seinem anerschaffenen Lebensprinzipe zu folgen imstande ist. Frei ist, wer die von Gott in ihn gelegte Idee erkennt und zu voller Wirksamkeit verstattet und entwickelt.
Überall die Idee die erforderte Bedingung! Und von wem stammt die Idee als von Gott?
Ich hätte nach der Folge der Erörterung, nachdem gezeigt worden, daß die Nation als solche der Religion nicht entraten kann, hier auseinanderzusetzen, daß die einzelnen Glieder der Nation nicht imstande sind die nationale Religion hervorzurufen. Ich muß viel weiter gehn: ich muß nicht nur den einzelnen Deutschen, sondern auch dem deutschen Staate diese Kraft absprechen.
Religion ist nie ein Werk menschlicher Gedanken, menschlicher Sehnsucht, menschlicher Tätigkeit. Eben weil sie bindet, erzieht, leitet, tröstet, ist sie ihrem Begriffe nach göttlichen Ursprunges oder sie wäre eine Einbildung übelberatener Narren, herrschsüchtiger Zeloten. Der Staat kann Kenntnisse durch seine Schulen verbreiten, er kann aber Ideen nicht einleuchten machen. Nur der Genius bringt die Ideen, nur der religiöse Genius die religiösen Ideen und auch der Staat hat es nicht in seiner Gewalt, den Genius zu rufen.
Aber eins kann der Staat. Er kann der Religion den Weg bereiten. Und er muß es.
9.
Hier bin ich an dem Punkte angelangt, wo ausgesprochen werden kann und muß, was die Theologie sein soll: die Pfadfinderin der deutschen Religion.
Theologie ist das Wissen um die Religion überhaupt, nicht, wie sich die meisten einbilden, die von ihr reden, ein Wissen um den Protestantismus oder den Katholizismus. Religion ist überall, wo übermenschliche, sie ist sogar schon, wo außermenschliche Mächte eine Einwirkung auf das Gemüt von Menschen haben, reale Mächte eine reale Einwirkung, das heißt, eine Einwirkung, die den Beeinflußten zu Gedanken und Handlungen veranlaßt, welche er ohne diese Einwirkung nicht gedacht und nicht getan hätte. Darum ist, weil die Religion dies ist, auch die Theologie überall auf der Erde zu Hause, auf die leisen Gebete der Herzen lauschend und auf das Besserwerden derer merkend, die so beten, weil sie daraus schließt, daß Gott an dieser Stelle gegenwärtig gewesen ist.
Solche Theologie gehört unbedingt auf die Universitäten und der Staat hat für sie und ihre Hilfswissenschaften Lehrstühle zu errichten: denn Religion ist eine Realität und alles Reale fällt in den Bereich der Wissenschaft.
Durch die Theologie lernt der Forscher die Religion überhaupt und lernt er die Gesetze kennen, nach welchen die Religion sich darlebt: er tut dies durch Beobachtung aller Religionen, von denen er überhaupt sichere Kunde erlangen kann.
Absichtlich sage ich zuerst über den zweiten dieser beiden Punkte ein Wort.
Was in allen Religionen oder in vielen von ihnen vorkommt, muß ein Erscheinungssymptom der Religion an sich, kann nicht Merkmal einer einzelnen Religion sein. Um einen Punkt herauszugreifen, der am verständlichsten sein wird: zeigen viele Religionen Wunderglauben, so ist das Wunder nicht ein Beweis für die Kräftigkeit und Göttlichkeit der Religion, welcher zuliebe die Wunder erzählt werden: es ist Symptom davon, daß das religiöse Leben auf einer bestimmten Stufe angekommen ist. Jedes Wunder des Buddhismus beweist dem Theologen, der sein Fach versteht, gegen die Beweiskraft der christlichen Wunder: denn daß die urkundliche Bezeugung buddhistischer Wunder, wie nicht besser, so auch nicht schlechter ist, als die der Wunder des Christentums, bedarf kaum noch der Versicherung. Durch dieses Studium der Religionen wird die Theologie das deutsche Volk die Gesetze kennen lehren, unter denen die Religion lebt und sie wird so die abscheuliche Verwechselung der Symptome der Sache mit der Sache abschaffen, welche eine Hauptveranlassung der Verachtung der Religion ist und ein Hauptmittel derer, welche auf diesem Gebiete fälschen wollen.
Theologie kann also klar erkennen lehren, was an den Religionen ewig, was zeitlich ist, was Inhalt und was Form und kann darum über das Wesen der Religion überhaupt aufklären. Sie ist nicht eine philosophische, sie ist ausschließlich eine historische Disziplin: sie gibt ein Wissen von der Religion, soferne sie eine Geschichte der Religionen gibt. Ahne ich aber recht, so kann sie aus der bisherigen Bahn dieses segensreichen Sternes die Kurve berechnen, in welcher er weiter gehn wird. Denn so frei Gott waltet, er tut nichts von ungefähr und wer ihn im Schweren gefunden, der weiß, daß er nun nicht im Leichteren, sondern im Schwereren zu finden sein wird.
Theologie kann weiter die Substanz der verschiedenen Religionen mit denen sie sich zu beschäftigen hat, klar darlegen: es ist völlig unmöglich, daß das Bekanntwerden dieser Substanz nicht die Liebe derer nach sich ziehen sollte, die sich mit ihrer Erforschung, sei es als Lehrer, sei es als Schüler, beschäftigen. An dieser Auffassung der Sache hängt ein gewisser Polytheismus, die freudige Anerkennung des der Orthodoxie aller Religionen so verhaßten Faktums, daß Gott neidlos zu allen Zeiten und bei allen Völkern sich Menschen offenbart hat: gütige und feinfühlige Gemüter werden diese Offenbarungen alle anerkennen und reicher sein in dieser Besitz vermittelnden Anerkennung als diejenigen, welche nur auf Einem Flecke der Zeit eine solche Offenbarung zugeben und ihre Liebe auf diese beschränken.
Ich wünsche aber hier keine Unklarheit darüber bestehn zu lassen, daß mit der Forderung, Lehrstühle für Theologie zu errichten, nicht verlangt wird, daß die Personen, welche vorhaben, Geistliche bestimmter Konfessionen zu werden, gezwungen sein sollen, die Vorlesungen dieser neuen Professoren der Theologie zu hören. Damit würde man, ganz abgesehen davon, daß es um jeden Zwang ein außerordentlich garstiges Ding ist, nichts ausrichten, oder nur die jetzt schon unerträglich schlimmen Zustände noch verschlimmern.
Um letzteres zuerst zu besprechen, so ist die Unreinlichkeit der Überzeugungen auf protestantischem Gebiete durch das auf ihm nun schon über ein Jahrhundert lang betriebene Ineinandermanschen wissenschaftlicher Velleitäten und konfessioneller Anwandelungen in einem Grade gewachsen, daß Grund in diese schmutzige Wäsche zu bringen gar nicht mehr möglich ist und jeder, der die Verhältnisse wirklich aus dem Leben kennt, ein Grauen davor empfindet, das Sammelsurium von Standpunkten und Standpünktchen, mit dem wir jetzt zu kämpfen haben, durch Zumischung katholischer Anschauungen noch weiter zu vermehren und noch undurchdringlicher zu machen.
Katholiken, Protestanten, Juden zwingen wissenschaftliche Vorlesungen über Theologie zu hören, heißt ihnen erklären, daß man sie zwingen will, ihren religiösen Standpunkt aufzugeben.
Zwischen Wissenschaft und jeder historisch gewordenen religiösen Gemeinschaft ist ein Abgrund.
Jede religiöse Gemeinschaft muß im ausschließlichen Besitze der Wahrheit und zwar der ganzen Wahrheit, zu sein glauben: glaubt sie das nicht, so hat sie kein gutes Gewissen und ihre Diener werden für Heuchler auch bei denen gelten, welche über die Gründe dieser ihrer Anschauung sich Rechenschaft abzulegen gar nicht imstande sind: diese Diener werden anbrüchige Ware sein, welche der Nation zur Unehre und zum Schaden gereicht.
Die Theologie, wie ich sie fasse, sieht im besten Falle die Religion jeder der bestehenden religiösen Gemeinschaften als eine der vielen Seiten der Religion und als der Ergänzung – und das will sagen: der Berichtigung – durch die übrigen bedürftig an: diese Theologie erlaubt sich eine freie Kritik der Entwickelung, welche die einzelnen Religionen gehabt haben und scheut sich durchaus nicht, die Fehler dieser Entwickelung aufzudecken unter gleichzeitiger Angabe der Ursachen, aus denen diese Fehler entsprungen sind: sie darf über alle diese Dinge gar nicht schweigen. Es wäre den künftigen Dienern des Katholizismus, des Protestantismus und des Judentums in ihrem eigenen Interesse sehr zu wünschen, daß sie solche Theologie hörten und beherzigten, aber man soll sich, wenn man dies wünscht, nur darüber ja keinen Täuschungen hingeben, daß diese Leute in dem Maße, in welchem sie Wissenschaft in sich aufnähmen, zum Dienste in ihren religiösen Gemeinschaften unfähig würden. Die protestantische Kirche wenigstens (soweit überhaupt von ihrer Existenz noch gesprochen werden kann) ist durch das aufrichtig gut gemeinte Bestreben der Regierungen, für die wissenschaftliche Ausbildung ihrer Geistlichen zu sorgen, dahin gebracht, daß sie bald keine Geistlichen mehr haben wird. Denn so schweren Bedenken die Wissenschaftlichkeit der protestantischen Fakultäten unterliegt, das haben sie doch mit dem Minimum von Kritik, das in ihnen zu finden ist, bewirkt, daß eine Menge junger Leute, die bei ihnen eingeschrieben gewesen sind – und nicht die schlechtesten –, wenn sie vor die Frage gestellt werden, ob sie das Ordinationsgelübde ablegen und in den Dienst einer bestimmt verfaßten und geordneten Kirche treten wollen, von der Theologie ganz abspringen und lieber noch Philologie oder Medizin studieren, um nicht vor sich selbst zu Lügnern zu werden. Das haben sie bewirkt, daß der Talar nur ein Domino ist, unter dessen Schutze so viele Protestantismen und Christentümer in die protestantische Kirche eingedrungen sind als es protestantische Kanzeln gibt. Ob man aber dem Katholizismus in dieser Weise wird Abbruch tun können, wie man dem Protestantismus, ohne es zu beabsichtigen, Abbruch getan hat, ist sehr die Frage. Katholiken, welche Priester werden wollen, gehn von einer ganz bestimmten Weltanschauung aus, von einer Weltanschauung, wie sie in ähnlicher Schärfe und Folgerichtigkeit im orthodoxesten Protestantenhause nicht gefunden wird und solch eine Weltanschauung erschüttert man nicht durch die Wissenschaft, sondern man bestärkt sie. Der Kern des Menschen ist nicht der Verstand, sondern der Wille: wer nicht sehen will, sieht nicht und wenn alle Professoren der Welt auf ihn los bewiesen. Selbst wenn man einen Kollegienzwang mit einem Examenzwange krönen wollte, würde man nur erreichen, daß einzelne abbröckelten, und vielleicht erst in Jahrhunderten würde der Auflösungsprozeß so weit gediehen sein, daß man die historische Kirche als verschwunden betrachten könnte. Denn es ist ein öffentliches Geheimnis, daß die Examinanden stets das antworten, was der Examinator zu hören wünscht und dabei ihre Privatansicht ruhig in petto behalten. Jeder junge Mann sieht ein Examen als eine Schlacht an und im Kriege ist alles erlaubt. Und vollends, wie man sich die Katholiken vorzustellen liebt, muß man doch sagen, daß sie imstande sein würden, alle Examenfragen so zu beantworten, daß man sie nicht durchfallen lassen könnte und doch ihre eigene Überzeugung im Herzen zu bewahren.
Theologische Vorlesungen, wie ich sie oben skizziert habe, können durchaus nur für die bestimmt sein, welche aus eigenem Antriebe sie zu hören sich entschließen. Es ist keine Frage, daß diese Vorlesungen, wie jetzt die Sachen stehn, zunächst nur für wenige sein werden: aber man sollte doch endlich die Vorstellung aufgeben, daß auf dem Gebiete des Geistes die Kategorien der Quantität und der Zahl irgend etwas zu suchen haben. In der idealen Welt wird nicht addiert, sondern multipliziert: ist eine geistige Bewegung nur erst im Gange, so wächst ihre Schnelligkeit und Wucht im Quadrat: es ist daher nur nötig anzufangen, alles andere findet sich. Denke man doch, daß Schleswig-Holstein von Dänemark loszulösen zuerst der hart angefochtene Gedanke Eines Mannes gewesen, daß die Einheit Deutschlands von wenigen und sogar nichts weniger als klaren Köpfen gefordert und die Durchführung dieser Forderung schließlich den Regierungen von der ganzen Nation aufgezwungen worden ist. Und wie nur Freiwillige die Wahrheit suchen, so hilft auch gegen die Lüge und Unwahrheit kein Zwang, sondern nur einmal das ernsthafte eigene Streben Wahrheit zu finden, von welchem die – allein die Lüge wirklich tötende – Wahrheit stets gefunden wird und zweitens das entschlossene Isolieren der Unwahrheit: man muß alle Lebenselemente, welche dieser aus der allgemeinen Entwickelung zufließen und welche sie verlogenerweise als aus ihr selbst entsprungen darstellt, ihr unzugänglich machen, damit sie nur auf sich selbst angewiesen sei. Das ist keine Vergewaltigung: denn alle Lüge behauptet, Wahrheit zu sein und aus eigner Kraft zu leben: sie darf sich also nicht beklagen, wenn man sie beim Worte nimmt und auf eignen Füßen stehn heißt.
Aber der Staat kann und soll für die nationale Religion noch mehr tun als über die Religion aufklären.
Jeder Arzt weiß, daß es einen Unterschied macht, ob eine Krankheit einen kräftigen oder einen schwachen Organismus ergreift: nach der Widerstandsfähigkeit, welche ein Körper überhaupt besitzt, richtet sich im allgemeinen der Ausgang oder wenigstens der Verlauf der speziellen Krankheit.
Analog weiß jeder Pädagoge, daß eine gesunde Entwickelung nur der Knabe haben kann, der in gesunden häuslichen Verhältnissen lebt: daß es außerordentlich schwer ist, jemandem ein Verständnis für Dinge zu verschaffen, die gänzlich außer dem Bereiche seiner Anschauungen, seines Lebens liegen: daß, wenn jemand Kenntnisse über solche über seinen Horizont hinausliegende, für ihn nirgends mit dem realen Leben in Beziehung stehende Dinge erwirbt, diese meistens auf Kosten seines Charakters erworben werden.
Alle diese Erscheinungen weisen darauf hin, daß Bildung abhängt von der Umgebung, in welcher der zu bildende lebt, daß in gewissen Kreisen Bildung gar nicht oder nur in beschränkter Weise verbreitet werden kann.
Wenden wir dies auf die vorliegende Frage an, so hat der Staat sich zu sagen, daß auch Religion – so unangenehm dies dem orthodoxen wie dem liberalen Bewußtsein sein wird, muß es doch heraus – nicht überall gedeiht, daß sie eine ihr zusagende Atmosphäre braucht. Es ist daher die Aufgabe des Staates, zu fragen, ob, wenn er die Religion selbst nicht hervorrufen kann, er wenigstens die Atmosphäre zu schaffen vermag, welche auf das Wachstum der Religion, falls diese aus anderen Ursachen entsprossen ist, günstigen Einfluß hat.
Diese Frage muß bejaht werden.
Der Staat muß überhaupt das Leben in allen Fällen von der idealen Seite ansehen lehren, wenn er will, daß das Volk religionsfähig bleiben oder werden soll: er darf vor allen Dingen nicht unter dem Scheine der Idealität dem gemeinen Egoismus des natürlichen Menschen Vorschub leisten.
Und das tut er jetzt, indem er den Besuch seiner Schulen durch auf ihn gesetzte Belohnungen befördert, indem er also das beste, was er geben kann, Erziehung, auf eine Linie mit Köln-Mindenern und Rumäniern Damit sind Wertpapiere gemeint. stellt, welche nach dem Zinsengenusse beurteilt werden.
Die Monotonie in unsrer Jugend ist schon jetzt erschreckend groß: wer mit der allgemeinen Bildung in diese jungen Leute hineindividiert, erhält fast nie einen Rest. Der Universitätsunterricht muß von Jahr zu Jahr heruntergestimmt werden. Bei der durch die Berechtigungen und durch sie allein hervorgerufenen Gründung von immer neuen Schulen wächst das Bedürfnis nach Lehrern: die gemeinste Mittelmäßigkeit wird infolge dieses Bedürfnisses jetzt sofort angestellt und vergiftet die schon vergifteten Zustände noch mehr.
Geht das so nur noch kurze Zeit fort, so wird Deutschland bald jeder Idealität bar sein, wenn auch der äußere Schein, daß es anders stehe, noch eine Weile aufrecht erhalten werden kann.
In dieser Atmosphäre gedeiht Religion nicht und wenn sie ein Engel vom Himmel predigte. Diese Atmosphäre kann aber durch ein einziges Reichsgesetz verbessert werden, welches alle Berechtigungen ohne Ausnahme aufhebt oder – was nahezu dasselbe ist – an das Abiturientenexamen der betreffenden Anstalten knüpft. Würde die verhängnisvollste dieser Berechtigungen, die zum einjährigen Dienste im Heere, den Abiturienten der in völlig unverantwortlicher Weise hintangesetzten Bürgerschulen so gut zu Teil wie den Abiturienten der Realschulen und Gymnasien, so würde damit allerdings der Besuch der sämtlichen höheren Schulen auf ein Viertel seiner jetzigen Höhe beschränkt werden, aber wir würden, ganz abgesehen von andern Vorteilen, in der Wahrheit leben, während wir jetzt in der Lüge sterben.
Die Grundlage, auf der die jetzige Gesetzgebung ruht, ist eine falsche Ansicht von der Bildung, näher von dem Werte der allgemeinen Bildung. Allgemeine Bildung ist die spezifisch deutsche Gestalt der Zivilisation, Zivilisation aber ist nicht viel mehr als die Anerkennung, welche die Menge den Momenten der Kultur zu zollen sich darum gedrungen fühlt, weil sie wünscht, um den Preis der äußeren Anerkennung derselben von diesen Momenten innerlich unberührt zu bleiben: Zivilisation ist mithin wesentlich Schein und Lüge und darum der grimmigste Feind aller Religion.
Dadurch, daß einerseits traurige politische Verhältnisse die Mehrzahl der Deutschen von der Teilnahme an der Geschichte ihres Vaterlandes ganz ausschlossen und darum verdumpfen ließen, daß andererseits immer von neuem fremde Stoffe – Religion, Recht, Kunst – eindrangen und nur von wenigen einigermaßen verarbeitet werden konnten, ist Deutschland dahin gekommen, unter Bildung die Aufnahme eines bereits fertigen Bildungsstoffes, wie man zu sagen pflegt, zu verstehn, also in betreff des einzelnen Menschen genau in den Fehler zu verfallen, welchen das Christentum mit seiner Anschauung von der Geschichte und dem ausschließlichen Werte einmal geschehener Tatsachen in betreff des ganzen Menschengeschlechtes begangen hatte. Daraus ergab sich, daß man Bildung von oben her verbreiten konnte, daß sie sich in Schulen mitteilen ließ und daß man den Menschen nach dem beurteilte, was er wußte, statt ihn nach dem zu beurteilen, was er war, daß mit einem Worte Bildung mit Reichtum an Kenntnissen und Artigkeiten gleichbedeutend wurde.
Diese Ansicht ist, obgleich sie für liberal gilt, in der widerlichsten Weise junkerhaft: denn sie schließt die Armen, die Handwerker, von der Bildung aus oder verurteilt sie zu einem Papageientume, das sehr komisch wirken würde, wenn es nicht so tief traurig wäre.
Jeder Mensch ist einzig in seiner Art, denn er ist das Resultat eines nie wieder vorkommenden Prozesses einziger Art: darum ist schlechthin jeder Mensch, der geboren wird, der Anlage nach eine Bereicherung seines Geschlechtes und seiner Nation und darum gibt es für jeden Menschen nur Eine Bildung, die ganz speziell auf ihn berechnet und deren Aufgabe sein muß, aus ihm das zu machen, was irgend aus ihm gemacht werden kann. So gefaßt ist Bildung eine fortwährende Vermehrung des geistigen Wohlstandes der Nation. Auf sie hat jeder ein Recht, der geboren wird: ein Volk im wahren Sinne des Wortes ist nur denkbar als die Gemeinschaft so gebildeter Menschen, deren jeder an seinem Platze zufrieden sein wird, weil er sein Leben darauf einrichtet, ihn auszufüllen und weil er darum ihn liebt, eine Gemeinschaft von Menschen, welche nicht in Stände zerfallen, weil sie gar nicht nach dem Materiale, mit dem sie arbeiten und dem äußerlichen Ergebnisse ihrer Tätigkeit, sondern nur nach der Treue beurteilt werden, mit der sie an dem ihnen zuerteilten Stoffe das selbst werden, was sie werden können. Bildung ist jedem zugänglich, der den einzigen Satz festhält, daß er jeden Abend besser zu Bette gehn muß, als er morgens aufgestanden ist.
Diese Anschauung der Sache setzt fortdauernde geistige Arbeit voraus und darum hat sie keine Aussicht auf weitere Verbreitung. Aber Nationen bestehn nicht – die entgegengesetzte Ansicht ist freilich die herrschende – aus Millionen: sie bestehn aus den Menschen, welche sich der Aufgabe der Nation bewußt und darum imstande sind, vor die Nullen zu treten und sie zur wirkenden Zahl zu machen: aus diesem Grunde genügt es, wenn die Besten des deutschen Volkes die eben ausgesprochene Ansicht von der Bildung haben und wenn der Staat, der doch nur in den Händen der Besten sein soll, sie zur Richtschnur seiner Einrichtungen nimmt.
10.
Der Staat kann es mit aller Neigung, der Religion Vorschub zu leisten, nur bis zur Mitteilung von Kenntnissen darüber bringen, was die Religion ist und nicht ist, er kann außerdem auf nichtreligiösem Gebiete die Idealität fördern und dadurch im Volke einen Bestand an Personen erhalten, welche religionsfähig sind. Das ist viel: der einzelne Deutsche kann mehr als dies Viele und darüber mögen zum Schlusse anhangsweise einige wenige Worte gestattet sein.
Hier ist der Ort vom Evangelium zu reden und von dessen Stellung zur Religion. Es muß versucht werden, durch eine Analogie Nicht-Theologen klar zu machen, worauf es ankommt.
Es gab eine Zeit, ja sie ist sogar noch nicht allzu lange verschwunden, in der man meinte, durch mehr oder weniger heftiges Nachdenken sich über die Schönheit, poetische, musikalische, plastische Schönheit, verständigen zu können. Diesen Standpunkt hat man aufgegeben, oft ohne sich über die Gründe dieses Aufgebens hinlänglich klar zu sein.
Wir lassen jetzt diejenigen, welchen wir über das musikalisch Schöne Einsicht verschaffen wollen, Bach, Mozart, Beethoven hören und spielen und gewöhnen sie so an die konkrete Gestalt des musikalisch Schönen, überzeugt, daß, wenn in dem Gemüte der so Behandelten eine Stelle ist, welche von musikalischer Schönheit getroffen werden kann, Bachs, Mozarts, Beethovens Musik sie treffen und so im eigentlichen Sinne des Wortes eine Bekanntschaft mit dem musikalisch Schönen vermittelt werden wird, das für uns stets nur als konkretes, abstrakt – als Idee – nie vorhanden ist. Ähnlich verfährt man jetzt in analogen Fällen überall und es ist nur billig einzugestehn, daß diese Art des Unterrichts im Altertume und im Mittelalter, woferne man nur auf das Wesen der Sache sieht, die allein herrschende war und daß wir ihr alles verdanken, was wir aus früheren Zeiten zu uns herübergerettet finden. Am letzten Ende ist dies Verfahren von der Art abstrahiert, wie wir unsere Muttersprache lernen. Die Eltern setzen sich nicht an die wiege und deklinieren »der Vater, des Vaters«, sondern sie sprechen mit dem Kinde und weil das Kind desselben Geschlechtes wie die Eltern ist, lernt es sprechen.
Ganz genau ebenso wie mit dem Schönen, der Sprache und allem ähnlichen verhält es sich mit der Religion. Sie ist irgend einmal da – wie sie ins Dasein getreten, ist uns ebenso unfindbar, wie uns unfindbar ist, warum Bach das »Ach komm, Herr Jesu, komm« oder Beethoven den Allegrettosatz in der A-dur-Symphonie geschrieben hat –: sie ist da und weil wir derselben Art sind, wie der, bei dem sie da ist (das ist der springende Punkt), erzeugt sie sich in uns durch den Umgang mit dem, in welchem sie vorhanden ist, neu.
Idealer Besitz ist einmal in seiner Entstehung stets unerkennbar, er haftet zweitens stets an einer Person und er pflanzt sich drittens nur fort in einer Lebensgemeinschaft.
Das Evangelium hat zuerst und zuletzt unter allen Religionen die Religion in inniger unzertrennbarer Verbindung mit einer Person gebracht, zuerst und zuletzt unter ihnen die Einsicht von der Notwendigkeit einer Gemeinschaft, einer Kirche, gehabt. Am nächsten kommt ihm der Buddhismus: Zoroaster und Moses sind Gesetzgeber, aber sie sind nicht was sie lehren, sie fordern: Jesus verkündet und stellt dar: das Evangelium fällt in gewissem Sinne mit seiner Person zusammen. Daraus folgt, daß ein Hinausgehn über das Evangelium undenkbar ist. Aber es ergibt sich daraus auch, daß ein Zurückgehn auf das Evangelium nur möglich ist durch ein Sichhinwenden zu einem Träger des Evangeliums und daß wir es nur erfassen können in einem Kreise, der es erfaßt hat.
Dem Staate und der Nation fehlt Jesus als der Träger des Evangeliums, der allein es zu einem Lebenskeime gemacht hat, fehlt die Gemeinschaft evangelisch Gesinnter, die evangelische Kirche, welche allein das in einzelnen hier und da verstreut vorhandene Leben sammeln und durch die Sammlung erhalten und wirksam machen kann.
Diese Mängel aber sind, wie alle Mängel im Menschenleben, keine Veranlassung zu weinerlicher Klage, sondern eine Aufgabe.
Es bleibt uns nichts übrig als, so gut es geht, das Evangelium in uns persönlich – ich möchte noch lieber sagen: Person – werden zu lassen und, so gut es geht, eine Gemeinschaft mit allen Gleichgesinnten herzustellen. Mit dieser Arbeit kann jeder in dem Augenblicke anfangen, in dem ihm einleuchtet, daß sie nötig ist.
Nur muß er sich dabei dreierlei klar machen.
Jeder, der Gott folgen und Gottes Leben leben will, entsagt damit der Welt und allem, was sie bietet und fordert. Nicht, daß irgend ein Geschaffenes an sich schlecht wäre: es ist schlecht nur, soferne es sich gegen den Willen seines Schöpfers geltend machen will oder an einer Stelle herrscht, wo es nur zu dienen berufen ist. Sklaven irgend eines Geschaffenen zählt das Reich Gottes nicht zu seinen Bürgern: wo Gott Herr ist, gebietet kein andrer Herr. Kein Genuß, keine Gewohnheit, kein Verlangen ist für die Kinder des Reiches da, nichts als der Dienst ihres Gottes: alles, was zu diesem nicht indirekt, als Mittel physische und geistige Leistungsfähigkeit zu erhalten, oder direkt, als Arbeit zur Realisierung jener Zwecke am eigenen Herzen und an andern, in Beziehung steht, ist Sünde.
Zweitens: jede Arbeit am Reiche Gottes setzt voraus, daß der sie Treibende alle seinen Überzeugungen entgegenstehenden Ansichten für falsch hält. Er würde einen Verrat an der Wahrheit begehn, wenn er andern zugäbe, daß sie ohne das auskommen können, was er selbst als unumgänglich kennt. Er würde sich selbst berauben, wenn er das, was andere an geistigem Leben haben und er entbehrt, nicht in sich verpflanzen wollte. Geduldete Ansichten gibt es im Reiche Gottes so wenig wie erlaubte Handlungen: es ist alles Pflicht oder Sünde und alles in den eigenen Gedankenkreis aufzunehmen oder auch in andern zu verwerfen. Toleranz hat nur dann einen Sinn, wenn man sie als die Zuversicht versteht, daß das in jedem Menschen als vorhanden vorauszusetzende Gute sich als einen Leim bewähren werde, aus welchem irgendwo- und -wann auch das Gute ersprießen wird, das zurzeit in diesem Menschen zu vermissen nicht Intoleranz und nicht zu vermissen ein Hohn auf die Echtheit der eignen Überzeugung ist.
Drittens: wer wirken will, muß sich Rechenschaft geben, ob das Objekt, auf welches er zu wirken vorhat, überhaupt die beabsichtigte Wirkung zuläßt. In morsches Holz nagelt niemand: die Nägel brächen aus. Es ist Unsinn, einen Blinden vor ein Mikroskop, einen Einäugigen vor ein Stereoskop zu stellen, einem Tauben Beethoven vorzuspielen. Jeder Reichsgenosse hat die heilige Pflicht, sich nicht auf die Verbreitung der Frömmigkeit zu beschränken, sondern jedes Gute zu verbreiten, jedes Böse zu bekämpfen: kein geistiges Interesse darf ihm fremd sein, weil bei der Solidarität alles Guten und der nicht minder starken Solidarität alles Schlechten nichts auf geistigem Gebiete nicht im Zusammenhange mit allem übrigen ist und seine Folgen allemal früher oder später auch die Sphäre erreichen, die dem Frommen hauptsächlich am Herzen liegt: weil er mindestens die Fähigkeit zur Idealität im Volke erhält, wenn er Einem idealen Gute Anerkennung verschafft und weil in dieser Fähigkeit des Volkes allein die Gewähr dafür liegt, daß seine Anstrengungen, dem Evangelium Eingang zu verschaffen, Erfolg haben werden.
Deutsche haben wie andere Tugenden, so andere Fehler, als andere Volker: es ist natürlich, daß, wenn eine größere Anzahl Deutscher sich ernstlich darangibt, sich in dem oben auseinandergesetzten Sinne zu bilden, in stetem Aufblicke zu Gott das Gute zu tun und ihre Fehler zu bekämpfen, sie allerdings eine Reihe individueller Gaben entwickeln und eine Reihe individueller Mißstände abstellen, aber auch eine nicht kleinere Reihe solcher Tugenden zu pflegen und solcher Sünden abzutun sich bemühen wird, welche aus der nationalen Anlage hervorgehn. Diese Menschen werden dann nicht allein über die Tugenden und Untugenden der Nation, sondern auch über die Mittel, welche jene fördern, diese töten, aus eigener Erfahrung von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr klarer werden und das Evangelium, welches bei seinem ersten Auftreten ganz allgemein menschlich erscheint, wird so allmählich und durch die Arbeit der deutschen Nation selbst, so zu sagen zu einer deutschen Ausgabe kommen, die kein Buch ist, zu einer Wiederholung, die das Deutschland vorzugsweise Nötige hervorhebt und entwickelt und zwar, weil sie nur in Menschen vorhanden ist, mit der persönlichen Wärme, der herzlichen, zutulichen Eindringlichkeit hervorhebt und entwickelt, welche das Hauptgeheimnis der ersten Erfolge der Kirche gewesen ist. Jeder Deutsche, der es will, kann mehr und mehr dahin kommen, das Evangelium in sich fleischgeworden erblicken zu lassen.
Täusche ich mich nicht, so sind die Formen, unter denen Religion früher aufgetreten ist, verbraucht und jetzt nur Eine neue möglich, die, Gott im Menschen zu erkennen und zu lieben, aber nur freilich nicht in dem natürlichen, sondern in dem wiedergeborenen Menschen.
11.
Unser Unglück besteht darin, daß wir mit unsern Anschauungen im Konflikte sind mit der formell zu Recht bestehenden religiösen Gesetzgebung: daß wir kein Organ haben, diese unzweifelhaft zu Recht bestehende, aber ebenso unzweifelhaft zur Plage gewordene religiöse Gesetzgebung umzugestalten: daß wir diese Gesetzgebung nicht vom Standpunkte einer neuen Religion, sondern von dem der Kultur und meistenteils sogar nur von dem der Zivilisation aus kritisieren und darum der Kraft entraten, die auf uns lastenden religiösen Satzungen anders loszuwerden, als durch den Radikalismus, daß wir also den Teufel durch Beelzebub auszutreiben versucht sind: daß wir Religiosität, das heißt, die mehr oder minder starke Sehnsucht nach Religion, mit Religion, das heißt, einer objektiven, nicht herbeigewünschten, sondern uns haltenden und bindenden, unsern Willen unter Umständen brechenden, jedenfalls ihm Richtung gebenden, nicht nach dem Zeitgeiste sich modelnden, sondern den Zeitgeist neu gebärenden Macht verwechseln: daß uns die Formlosigkeit der vorhandenen Religiosität, so wie die Verschwommenheit und Vielerleiheit der sich religiös nennenden Anschauungen nicht beweisen, daß wir von wirklicher Religion nichts besitzen.
Wie wir jetzt sind, ermangeln wir des lediglich in der Religion zu suchenden Vermögens, die durch unsere Geschichte verbrauchten und noch weiter zu verbrauchenden Kräfte unserer Nation zu ersetzen: wir werden also – woferne wir nicht ein neues Leben anfangen – als Nation trotz aller Siege und trotz alles im Augenblicke noch vorhandenen, aber sich nicht ergänzenden Reichtums an individuellem Vermögen dem Tode in dem Maße verfallen, in welchem das Kapital geistiger Lebenskraft, welches wir von der Natur mitbekommen haben, allmählich und zwar von Jahr zu Jahr schneller, sich aufzehrt.
Unsere Aufgabe ist nicht, eine nationale Religion zu schaffen – Religionen werden nie geschaffen, sondern stets offenbart –, wohl aber, alles zu tun, was geeignet scheint, einer nationalen Religion den Weg zu bereiten und die Nation für die Aufnahme dieser Religion empfänglich zu machen, die – wesentlich unprotestantisch – nicht eine ausgebesserte alte sein kann, wenn Deutschland ein neues Land sein soll, die – wesentlich unkatholisch – nur für Deutschland da sein kann, wenn sie die Seele Deutschlands zu sein bestimmt ist, die – wesentlich nicht liberal – nicht sich nach dem Zeitgeiste, sondern den Zeitgeist nach sich bilden wird, wenn sie ist, was zu sein sie die Aufgabe hat, Heimatluft in der Fremde, Gewähr ewigen Lebens in der Zeit, unzerstörbare Gemeinschaft der Kinder Gottes mitten im Hasse und der Eitelkeit, ein Leben auf Du und Du mit dem allmächtigen Schöpfer und Erlöser, Königsherrlichkeit und Herrschermacht gegenüber allem, was nicht göttlichen Geschlechtes ist.
Nicht human sollen wir sein, sondern Kinder Gottes: nicht liberal, sondern frei: nicht konservativ, sondern deutsch: nicht gläubig, sondern fromm: nicht Christen, sondern evangelisch: das Göttliche in jedem von uns leibhaftig lebend und wir alle vereint zu einem sich ergänzenden Kreise: keiner wie der andere und keiner nicht wie der andere: täglich wachsend in neidloser Liebe, weil auf dem Wege aufwärts zu Gott wohl einer dem andern immer näher kommt, aber nie der eine den Weg eines anderen schneidet. Das walte Gott.