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Dies Kapitel ist in etwas erweiterter Form als selbständiger Aufsatz in der »Deutschen Revue« 1902, Januar und Februar, erschienen.
Ich war noch eifrig mit der Abfassung meines Buches über die Bildungsfehler der Gebärmutter beschäftigt, als ich zu meiner freudigen Ueberraschung am 8. Mai 1857 den Titel eines a. o. Professors erhielt, wozu anderthalb Jahre nachher ein kleines Gehalt kam, 400 Gulden jährlich. An jenem denkwürdigen Maientag war unerwartet von Karlsruhe aus ein Mannaregen auf die Dozentenschaft herniedergegangen, ohne daß Vorschläge von Seiten der Fakultäten Anlaß dazu gegeben hatten, auf einen Schlag wurden vier Dozenten zu a. o. Professoren ernannt, der Jurist Julius Jolly, der nachmalige badische Staatsminister, der Mineralog Gustav Leonhard, der Chemiker August Borntraeger und ich, der jüngste Dozent unter ihnen. Das unerhörte Ereignis stand unzweifelhaft in Zusammenhang mit der Ernennung von Theodor von Dusch zum a. o. Professor der Pathologie im Jahre zuvor, der gleichfalls kein Vorschlag der Fakultät vorausgegangen war; genaueres darüber wurde jedoch nicht bekannt, wäre auch wohl des Erzählens nicht wert. Mich ließ es ziemlich gleichgültig, wie mir das Glück ins Haus gekommen, es war da, und hatte ich in Karlsruhe einen geheimen Gönner, so dankte ich ihm still und vergnügt.
Als ich mich in Heidelberg niederließ, bestand die Fakultät meiner Studienjahre nicht mehr. Gmelin und beide Naegele, Vater und Sohn, waren gestorben, Tiedemann hatte sein Lehramt schon 1849 aufgegeben und lebte in Frankfurt. Puchelt weilte noch in Heidelberg, blind und siech. Henle und Pfeufer waren, unzufrieden mit der Regierung, Berufungen nach auswärtigen Universitäten gefolgt, jener nach Göttingen, dieser nach München. Nur Chelius war übrig geblieben, der letzte aus dem glänzenden Kreise, und auf ihn paßten die Worte des schwäbischen Dichters:
Noch eine hohe Säule zeugt von verschwund'ner Pracht,
Auch diese, halb geborsten, kann stürzen über Nacht.
Für Gmelin war 1852 ein noch größerer chemischer Meister als er selbst eingetreten, Robert Bunsen, aber nicht in die medizinische Fakultät, der Gmelin angehört hatte, sondern in die philosophische. Die Lücke, die Gmelin in jener zurückgelassen hatte, war von Delffs eingenommen worden. Wir hatten einst als Studenten seine Vorlesungen gerühmt, aber er las jetzt vor leeren Bänken und verschwand im Schatten Bunsens und junger aufstrebender Dozenten, er war eben über seine Schulbücher nicht hinausgekommen und ohne die Kraft, Eigenes zu schaffen.
Auf die Lehrkanzel, von der einst der alte Naegele sein Feuerwerk abgeblitzt, hatte man, um seines Fakultätsgenossen Hasse K. E. Hasse, Erinnerungen aus meinem Leben. Als Manuskript gedruckt. Braunschweig, Vieweg, 1893. S. 184. Worte zu gebrauchen, »einen ehrlichen, wohlgeschulten Lehrmeister« berufen, Lange aus Prag, einen uns Jüngeren stets wohlwollenden Mann, der auch gerne in unserer Mitte verweilte.
Für Henle war Friedrich Arnold berufen worden, Tiedemanns hervorragendster Schüler, ein bedeutender anatomischer Forscher und gewissenhafter, tüchtiger Lehrer, aber galligen Temperaments. Man hatte ihm, meint Hasse, zu viel zugemutet, er mußte Anatomie und Physiologie vereint vertreten und konnte »den mannigfaltigen Anforderungen und Zielen der Gegenwart nicht mehr entsprechen.« Ein großes Verdienst erwarb er sich um die Fakultät, indem er einen besonderen Vertreter der Physiologie in der Person von Helmholtz vorschlug.
Eine sehr glückliche Berufung war die von Hasse an Pfeufers Stelle gewesen. Er gebot über alle, auch die jüngsten Errungenschaften der inneren Medizin, war ein ausgezeichneter, auch mikroskopisch wohl geschulter pathologischer Anatom, ein scharfer Diagnostiker und erfahrener Therapeut. Seine Bearbeitung der Nervenkrankheiten in Virchows großem Handbuch der Pathologie, eine der vorzüglichsten Monographien dieses encyklopädischen Werkes, fällt großenteils in die Zeit seines Heidelberger Aufenthalts. Ich fühlte mich von ihm angezogen, wohnte seinen sehr lehrreichen klinischen Sektionen regelmäßig an, mitunter auch seinen klinischen Vorstellungen. Er hat mir in seinen Erinnerungen einige freundliche und mich rührende Worte gewidmet. Leider verließ er Heidelberg schon im Herbste 1856 und ging nach Göttingen. Er hatte sich in der Fakultät zu einsam gefühlt.
Nach Hasses Abgang trennte das Ministerium unerwartet die innere Klinik von der medizinischen Poliklinik, erhob diese zum Rang einer besonderen Anstalt und unterstellte sie der Direktion Theodors von Dusch, den sie zum Extraordinarius ernannte mit dem weiteren Auftrage, pathologische Anatomie zu lehren. Für die innere Klinik berief sie nach dem Vorschlage der Fakultät Professor Duchek aus Lemberg, vorher Dozent in Prag. Duchek blieb nicht lange; schon 1858 übernahm er die innere Klinik an dem wieder neu aufgerichteten Josephinum in Wien. Ich bin ihm nicht näher getreten, er verkehrte nur mit den alten Herrn der Fakultät.
Dagegen verband mich innige Freundschaft mit seinem Nachfolger Nikolaus Friedreich, dessen Zuneigung ich schon in Würzburg gewonnen hatte; er hatte dort bis zu Virchows Abgang Pathologie und auf dessen Empfehlung als sein Stellvertreter ein Jahr lang pathologische Anatomie doziert. Er leitete jetzt vom Frühjahr 1858 bis zu seinem Tode am 6. Juli 1882 die medizinische Klinik in Heidelberg. Ein Jahr nach seinem Tode habe ich es versucht, Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 1883. Bd. 32. S. 191 u. f. ein möglichst getreues Bild von der Persönlichkeit des Geschiedenen, seinem Wirken als Lehrer, wissenschaftlicher Forscher und berühmter Arzt, zu liefern. Es geschah in einer Zeitschrift, deren Mitherausgeber und eifrige Mitarbeiter wir beide waren. Schon in den ersten Wochen seiner klinischen Thätigkeit gewann er die volle Gunst seiner Schüler und das Vertrauen seiner Kranken, in wenig Jahren einen europäischen Ruf als konsultierender Arzt. So lange ich in Heidelberg mit ihm zusammen weilte, war ich sein treuer Begleiter bei seinen Hospitalvisiten und regelmäßiger Gast seiner Klinik.
Im Jahre 1858 vollzog sich auch die Einrichtung eines besonderen Lehrstuhls für Physiologie und die Berufung von Helmholtz, der von Bonn kam und bis 1871 blieb, wo er als Professor der Physik an die Berliner Universität übersiedelte. Neben Bunsen hatte bereits seit 1854 Bunsens unzertrennlicher Freund Kirchhoff an Stelle des nach München abgegangenen Professors Philipp Jolly Physik doziert, durch den Hinzutritt von Helmholtz war nunmehr in Heidelberg ein Triumvirat geschaffen worden, das in seltner Größe die drei innigst verwandten naturwissenschaftlichen Gebiete: Chemie, Physik und Physiologie, beherrschte. Ein solches Zusammenwirken von drei Heroen ersten Ranges aus so nahe verwandten wissenschaftlichen Gebieten an derselben Universität ist überhaupt, so viel mir bekannt, nie vorgekommen, darin steht die Geschichte der Ruperto-Carola einzig da. Der geistige Trieb, den Zusammenhang der Erscheinungen zu begreifen, worin die Naturlehre wurzelt, hat diese gewaltigen Forscher auf den Wegen des wissenschaftlichen Versuchs und der mathematischen Analyse in die höchsten Regionen der Naturlehre und hier zu Entdeckungen geführt, die zu den schönsten aller Zeiten gehören. Kirchhoff und Bunsen verschafften der menschlichen Erkenntnis exakten Einblick in den chemischen Aufbau der Gestirne des Weltalls, Helmholtz in das unvergängliche Wesen der proteusartigen, die Welt bewegenden physischen Kraft. Physiologe und Physiker zugleich prüfte Helmholtz die Leistungsfähigkeit der sinnlichen Instrumente unseres Denkvermögens, um die Ursachen unserer sinnlichen Beobachtungsfehler und der daraus entspringenden Irrtümer aufzudecken und durch ihre Korrektur unserer Erkenntnis den möglichst hohen Grad von Gewißheit zu verleihen. Ueberall griffen sie, zumal Bunsen und Helmholtz, mit genialem Geschick, den praktischen Bedürfnissen der menschlichen Gesellschaft hilfreich unter die Arme, sie waren nichts weniger als unfruchtbare Theoretiker. Aber auch als Persönlichkeiten waren sie edle Vorbilder für Gelehrte, äußerlich von schlichter Würde, innerlich vornehmen Sinns über die Anwandlungen kleiner, eitler Seelen erhaben. Wenn ich auf meine Vergangenheit zurückblicke, erhebt mich der Gedanke, der Heidelberger Universität in dieser großen Zeit, wo diese Meister sie zierten, der größten vielleicht, die sie in fünf Jahrhunderten erlebte, angehört und die Bekanntschaft der drei gemacht zu haben.
Zu Helmholtz trat ich bis zu seiner letzten verhängnisvollen Reise nach Amerika, von der ich ihm dringend abgeraten hatte, wiederholt in freundschaftlich-ärztliche Beziehungen. Bunsen, ein Hühne von Gestalt, hat das hohe Alter von 88 Jahren und nahezu sechs Monaten erreicht, doch zuletzt rächte sich die Natur, der er die Schlüssel ihrer Macht so oft aus den Händen gewunden, und deren Angriffen sein starker Körper so lange getrotzt hatte, an dem greisen Kämpfer, und quälte ihn am Schlusse seines nur der wissenschaftlichen Arbeit geweihten Lebens mit grausamer Lust. Furchtbare Krampfanfälle suchten ihn heim, und versetzten ihm die Nacken- und Zungenmuskeln in schleudernde Bewegung, die ihn der Kraft zu sprechen beraubten. Er starb am 16. August 1899. Keines um die Menschheit verdienteren Mannes Gebeine birgt der schöne Friedhof Heidelbergs.
Ich habe ein Semester lang die Vorlesungen Kirchhoffs über Elektrizität, und in einem andern die von Helmholtz über die Sinnesorgane und das Nervensystem regelmäßig besucht.
Kirchhoffs Berufung wurde anfangs von seinen Hörern, jungen Medizinern und Kameralisten, ungünstig beurteilt, seine bisher veröffentlichten, streng theoretischen Abhandlungen kannten und verstanden sie nicht und seinen Vortrag nannten sie, verglichen mit dem glänzenden Redefluß seines Vorgängers Jolly, stockend. Mir jedoch schien er diesem mindestens gleichwertig an klarer Darstellung des Stoffs und sicherer Ausführung der Versuche, ich hielt ihn sogar für vorzüglicher, wenigstens konnte ich der Entwicklung des jeweiligen Themas leichter folgen und seine Worte gruben sich mir tiefer ein. Kirchhoffs Vortrag litt jedoch an einer kleinen übeln Angewöhnung, die er, nach der begeisterten Schilderung seiner Vortragsweise von späteren Schülern und Verehrern mit der Zeit abgelegt haben muß. Er hielt zuweilen mitten in der Rede plötzlich einen Augenblick und wie verlegen inne, schluckte und fuhr dann sicher weiter, als wäre mit dem Schlucken das Hindernis beseitigt, das ihn aufgehalten. Solche Gewohnheiten, die aus der Zeit stammen, wo der Dozent noch etwas ängstlich vor seine Schüler tritt, stören reife Zuhörer, die ganz bei der Sache sind, nicht, wirken aber zerstreuend auf Füchse.
Ungemein wechselnd war der Vortrag von Helmholtz; je nach dem Gegenstande, den der systematische Gang der Vorlesung mit sich brachte, war er bald meisterhaft, bald schleppend und ermüdend. Unvergeßlich ist mir der schlimme Tag, den ihm das sogenannte Zuckungsgesetz von Pfaff und Ritter bereitete, ein sonderbares Gesetz, das vielfache Ausnahmen hatte, sogar eine Umkehr erfahren konnte. Er gab sich vergeblich alle Mühe, die zum Teil sich widersprechenden Thatsachen, aus denen es sich zusammenreihte, deutlich und geordnet auseinander zu setzen, gab sie bald richtig, bald unrichtig, merkte und korrigierte seinen Irrtum, beging einen neuen, hielt ihn erkennend wieder inne und holte zuletzt hilflos einen Zettel aus der Tasche, worauf er vorsorglich das famose Gesetz niedergeschrieben hatte und speiste uns jetzt mit der unverdaulichen Materie, die der Zettel besser als sein Gedächtnis aufbewahrt hatte. Alle Zuhörer litten unter dem Eindruck der peinlichen Szene, ich bedauerte den großen Genius, der Schulmeisterdienste leisten mußte, statt in einer für ihn besonders geschaffenen geistigen Werkstätte als Denker, Entdecker und Erfinder frei seine Flügel schwingen zu können und die Entwicklung der Menschheit um einen guten Schritt weiter zu fördern. Diese mißlungene Vorlesung kam mir lebhaft in Erinnerung, als ich nach mehr als 30 Jahren die hochinteressante Rede las, die Helmholtz bei dem Festessen zur Feier seines siebzigsten Geburtstages hielt. Ansprachen und Reden, gehalten bei der am 2. Nov. 1891 zu Ehren von Hermann von Helmholtz veranstalteten Feier. Berlin, 1892. Hirschwald. Er teilte darin seine merkwürdige geistige Entwicklung mit; ein Mangel seiner geistigen Anlage habe darin bestanden, daß er ein schwaches Gedächtnis für unzusammenhängende Dinge besitze, woraus eine Reihe von Eigenheiten herrührten, die ihn in der Jugend hätten beschränkt erscheinen lassen.
An dem heutigen Wredeplatze war 1854 nach Bunsens Anweisungen ein neues chemisches Laboratorium mit 50 Arbeitsplätzen errichtet worden, damals das größte und best eingerichtete an deutschen Hochschulen. In seinen Räumen herrschte ein wunderbar reges Leben. Mit vielen der Praktikanten, die sich darin zu Dozenten der Chemie ausbildeten, wurde ich persönlich bekannt. In Erinnerung sind mir Carius, damals Assistent Bunsens, später Professor in Marburg; Lothar Meyer, der in Würzburg mit mir Medizin studiert hatte und bei Bunsen seine berühmten Arbeiten über die Blutgase und die Kohlenoxydgas-Vergiftung ausführte, gestorben als Professor der Chemie in Tübingen; von Pebal, ein gemütlicher Oesterreicher, der als Professor der Chemie in Graz unter der Mordwaffe seines Laboratoriumsdieners ein frühes Ende fand; Adolf Baeyer, der noch heute den Lehrstuhl ziert, den einst Liebig in München einnahm; Meidinger, heute Professor für Elektrotechnik in Karlsruhe; endlich Erlenmeyer, der ein eigenes Laboratorium in Heidelberg sich einrichtete. Auch G. Harley, später Professor der Physiologie am University College in London, arbeitete 1855/56 bei Bunsen. Man traf fast täglich einige der Herrn in der Abendstunde zwischen fünf und sechs in der niederen Bierstube der »Maierei«, heute das sehr vergrößerte Wirtshaus zum Gutenberg zwischen Haupt- und Brunnenstraße, zusammen plaudernd an einem kleinen Tische in der Zimmerecke, wo heute der Eingang ist. Da gab es viel Neues zu hören aus dem Laboratorium, neue Gedanken, Untersuchungsmethoden und Erfindungen, Mitteilungen von interessanten Entdeckungen und praktischen Instrumenten für Chemiker und auch Aerzte. – Hier mag ich auch eines Tags vernommen haben, daß Bunsen sein Honorar für das 1857 erschienene klassische Werk: »Gasometrische Analysen« im Betrag von 2000 Gulden in eine angesehene Heidelberger Privatbank einbezahlt und sofort eingebüßt habe. Der Bankier hatte unglücklich spekuliert, Bankerott gemacht und durch Selbstmord geendet. Bunsen ertrug den empfindlichen Verlust mit größter Seelenruhe.
Zu Anfang des Winters 1856 habilitierte sich August Kekulé, ein junger Darmstädter von 27 Jahren, und las organische Chemie, die Bunsen seit seinen berühmten, 1842 abgeschlossenen Untersuchungen über das Kakodyl, die ihm die Sehkraft eines Auges und fast das Leben gekostet, gänzlich auf der Seite hatte liegen lassen. Kekulé kam von London, wo er bei Williamson Assistent gewesen war, nachdem er vorher bei Laurent und Gerhardt in Paris gearbeitet hatte. Zu Bunsen war er weder früher noch damals in Heidelberg in Beziehung getreten, er stand ganz auf eignen Füßen und richtete sich ein kleines Laboratorium mit Hörsaal im Westende der Stadt ein. Ich lernte ihn bald persönlich kennen und besuchte im Sommer 1858 regelmäßig ein sehr interessantes Publikum, das er einstündig in der Woche als »Theoretischen Teil der organischen Chemie« angekündigt hatte; es wurde fast ausschließlich von einem Dutzend älterer und jüngerer Chemiker von Fach besucht. Er trug darin sehr anregend das Wesentliche des allgemeinen Teils seines berühmt gewordenen Werkes vor: Lehrbuch der organischen Chemie oder der Chemie der Kohlenstoffverbindungen, dessen erster Band 1861 bei Ferdinand Enke in Erlangen erschienen ist. Der Zufall fügte es, daß ich diesen Verlag vermittelte. Enke hatte mich aufgesucht und mich um die Abfassung eines Lehrbuchs der Heilmittellehre angegangen. Ich ließ mich nicht darauf ein und riet ihm Kekulé seinen Besuch zu machen, obwohl er seinen Namen noch nie gehört hatte; ich sei überzeugt, Kekulé schreibe an einem Handbuch der organischen Chemie, und verhieß ihm davon einen glänzenden Erfolg. – Auch vermittelte ich die persönliche Bekanntschaft meines Freundes Friedreich mit Kekulé und jene erste genaue Analyse der tierischen sogenannten Amyloidsubstanz, deren viel umstrittene chemische Natur dadurch bestimmt als eine dem Eiweiß verwandte festgestellt wurde.
Mit dem Gewinne von Helmholtz gab es eine neue Fülle kräftiger wissenschaftlicher Anregungen. Auch sein Laboratorium suchten zu tieferer Ausbildung angehende junge Gelehrte auf, namentlich Augenärzte aus Graefes Schule, beispielsweise Dr. Junge aus Riga, später Professor in Moskau, Dr. Schelske u. a. Gewiß wählten auch um seinet-, als des Erfinders des Augenspiegels willen die drei Freunde Graefe, Donders und Arlt für ihre jährlichen ophthalmologischen Herbstversammlungen Heidelberg zum Sitze. Zu seinem Assistenten ernannte Helmholtz den Dozenten der Medizin, Wilhelm Wundt, heute der berühmte Philosoph der Universität Leipzig. Trotz seiner Jugend war er schon grundbelesen, von treffender, doch milder Kritik und liebenswürdig im Umgang. Wir verkehrten viel zusammen und wanderten selbander die schönen Spazierwege des Neckarthals.
Im Beginn des letzten Jahres, das ich in Heidelberg verbrachte, 1859, lernte ich noch einen merkwürdigen Mann kennen, den Dr. Jakob Schiel, einen geborenen Rheinländer aus Stromberg bei Bingen, damals 36 Jahre alt. Nach zehnjähriger Abwesenheit in Amerika kam er wieder nach Heidelberg, wo er von 1845-1849 Privatdozent der Chemie gewesen war. Er hatte schon 1842 einen ungewöhnlichen Scharfblick bewiesen, indem er erkannte, daß: »die Radikale der als Akohole bezeichneten Körper eine höchst einfache regelmäßige Reihe bilden, und daß in den Eigenschaften dieser Körper eine der Zusammensetzung entsprechende Regelmäßigkeit stattfinde«, womit er einen für die Systematik der organischen Chemie ausnehmend einflußreichen Schritt gethan hat. Vgl. Kekulé, a. a. O. Bd. 1. S. 86 u. 87. Bald nachher, noch im gleichen Jahre, zeigte Dumas, daß die wichtigsten Fettsäuren eine ähnliche Reihe bilden. Als Dozent hat er dann das berühmte, von Liebig allen Physikern und Chemikern aufs wärmste empfohlene Werk John Stuart Mills, System der deduktiven und induktiven Logik, in einer geschickten Bearbeitung ins Deutsche übertragen (Braunschweig 1849); seine Uebersetzung hat 1868 die dritte Auflage erlebt. Warum er 1849 nach Amerika ging, ist mir unbekannt; politisch beteiligt war er nicht, wahrscheinlich folgte er der mächtigen Strömung, die damals so viele, auch nicht gravierte Freisinnige über das Meer trieb. Im Dienste der Vereinigten Staaten begleitete er 1853 und 1854 als Physiker und Geologe eine Unternehmung, die das Kriegsdepartement zu Washington ausrüstete und den Zweck hatte, unter der Leitung des Kapitäns Gunnison das Land zwischen dem Mississippi und dem Stillen Ozean behufs der Anlegung einer durchgehenden Eisenbahn zu erforschen. Diese gefährliche Reise wurde über das Felsengebirge, das Land der Mormonen und das Humboldtgebirge ausgeführt, kostete aber Gunnison, der unter den Streichen der Indianer verblutete, das Leben. Eine Skizze davon hat Schiel 1859 veröffentlicht (Schaffhausen, Brodtmann). Nach kurzem Verweilen in Heidelberg ging er nach Berlin zu Graefe, um sich der Augenheilkunde zu widmen, kam aber im August zurück und wurde nochmals Privatdozent der Chemie bis 1863, wo er seine Jugendliebe, eine vortreffliche Frankfurter Dame, heimführte und sich mit ihr in einer kleinen, von ihm selbst erbauten Villa in Baden-Baden niederließ. Hier habe ich mit dem kenntnisreichen, unterhaltenden Manne bis zu seinem Tode viel verkehrt. Die Zahl physikalischer, chemischer, geologischer, auch elektrotherapeutischer Abhandlungen, die er schrieb – die therapeutischen veröffentlichte er im deutschen Archiv für klinische Medizin – ist ziemlich groß. Man hätte aus ihm, der überdies mehrere lebende Sprachen beherrschte, recht gut drei Professoren machen können, und doch hat er es nie zu einer festen Stellung gebracht, weil er nicht mit zielbewußter Beharrlichkeit seinen Weg ging. Ohne die Liebe der edeln Frau, die ihm ihr Leben widmete, wäre er in der elenden Sorge um das tägliche Brot untergegangen. Er starb am 2. Oktober 1889.
Man sieht, Heidelberg war damals für junge strebsame Aerzte und Naturforscher eine herrliche Stätte des Lehrens und Lernens; es fehlte nur an einem wissenschaftlichen Vereine zum Austausche von Gedanken und abgeschlossener Arbeit. Ich hatte darüber viel mit zustimmenden Kollegen und Freunden, namentlich mit Kekulé, Wundt, dem Mathematiker Cantor u. a. gesprochen. Es wurde im Oktober 1856 beschlossen, einen solchen zu gründen, der Naturforscher und Aerzte umschließe, uns dazu vorher der werkthätigen Unterstützung zu versichern von Bunsen, Kirchhoff, dem Mineralogen Blum und einigen andern älteren Professoren, auf die wir rechnen zu dürfen glaubten, alle aber, auch die vielleicht ungünstig gestimmten, persönlich einzuladen, der Beratung über seine Einrichtung anzuwohnen und ihm beizutreten. Wir fanden fast überall eine günstige Aufnahme, einige Herren ließen ihr anfängliches Mißtrauen fahren, nur der arme, unheilbar verbitterte Delffs sah in dem Projekt eine Intrigue gegen die medizinische Fakultät. Die Gründung des Vereins und Festsetzung seiner Statuten erfolgte am 24. Oktober 1856. Ich habe acht Vorträge darin gehalten. Der Verein blüht noch heute und ein günstiges Geschick möge auch in alle Zukunft über ihm walten!
Ich schließe das Kapitel mit der Erzählung, die der damalige Prosektor und a. o. Professor der Anatomie, Anton Nuhn, mir und einem Kollegen einen Tag nach dem Tode des Bankiers erzählte, dessen finanziellen Schiffbruchs ich oben gedachte. Er war mit diesem, ihm nur obenhin bekannten Herrn im gleichen Bahnwagen nach Mannheim gefahren und wunderte sich nicht wenig, daß dieser als hochmütig und abstoßend verschriene Herr sich neben ihn setzte und eine freundliche Unterhaltung mit ihm anknüpfte, zu seiner besonderen Freude sogar ein großes Interesse für seine Wissenschaft, die menschliche Anatomie, an den Tag legte. Insbesondere war es das Herz, namentlich seine Größe und Lage im Brustkorb, das seine Wißbegier reizte. Nuhn, ein überaus gefälliger Gelehrter, der mir selbst manchen freundlichen Dienst erwiesen hat, gewiß auch geschmeichelt durch die Herablassung des stolzen Herrn, lud ihn auf den folgenden Morgen in die Anatomie ein, um ihm die Lage des Herzens am Leichnam selbst zu demonstrieren. Der Bankier erschien zur festgesetzten Stunde und ließ es sich nicht verdrießen, der gründlichen Demonstration bis ins Einzelnste zu folgen. Er führte selbst seinen Finger zwischen den Rippen hindurch, um das Herz an seiner Stelle zu tasten, auch zeigte ihm der mit seinem eifrigen Schüler immer zufriedenere Professor an dessen eigener Brust den dafür bestgeeigneten Punkt. Der Bankier dankte befriedigt, ging nach Hause, und gleich hernach ging wie ein Lauffeuer die Nachricht durch die Stadt, er habe sich eben entleibt und das Herz merkwürdig geschickt mit der Waffe getroffen. »Sie können sich denken, meine Herrn, wie mich dieses Ereignis ergreift, ich habe ihm ja ein förmliches Privatissimum für seinen Zweck erteilt.« – »In der That,« bemerkte mein Freund, »Ihre Gefälligkeit geht zu weit, fahren Sie so weiter, so werden Sie ein Prosektor für die Selbstmörder, und nächstens werden die Hängelustigen sich Rat holen, wie sie am besten den Strick anlegen, um cito, tuto et jucunde ins Jenseits zu fahren«.