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»Deutsche Revue«, Januar 1901.
Als ich im Herbste 1854 psychiatrischer Studien halber in der Großherzoglich badischen Heil- und Pflegeanstalt Illenau verweilte, ließ mich ihr damaliger Direktor, Dr. Christian Roller, von vielen Krankengeschichten zu meiner Belehrung Einsicht nehmen. Darunter war mir sehr merkwürdig die eines bereits verstorbenen evangelischen Pfarrer Sievert, dessen Name in dem ersten Drittel des verwichenen Jahrhunderts eine gewisse Berühmtheit in dem Großherzogtum Baden erlangte, weil sein Gemütszustand zu unzähligen amtlichen Untersuchungen, Klagen, Berichten und Berichtigungen, zuletzt noch zu öffentlichen Verhandlungen vor dem badischen Landtag von 1831–1832 geführt hat. Besser als irgend eine allgemeine geschichtliche Darstellung beleuchtet die Lebens- und Krankengeschichte dieses Pfarrers die psychiatrischen Zustände in dem Großherzogtum zu jener Zeit, und damit in Deutschland überhaupt, denn ähnlich wie in Baden und vielleicht schlimmer noch, sah es in den andern deutschen Ländern aus; überall kämpfte der eben sachte heraufdämmernde Morgen der humanen modernen Psychiatrie mit der versinkenden Nacht irriger Anschauungen und roher Kurmethoden. Die Krankengeschichte Sieverts schien mir der Benutzung zu Lehrzwecken und der öffentlichen Mitteilung wert, Roller stimmte mir bei und überließ mir die Aktenstücke, die das Archiv der Anstalt über Sievert bewahrte. Wenn ich erst heute, nach beinahe fünfzig Jahren, die Geschichte veröffentliche, so geschieht dies in der Ueberzeugung, daß sie noch immer ein großes, sowohl ärztliches als allgemeines Interesse beanspruchen darf; sie ist, wie ich glaube, ein nützlicher Beitrag zu den streitigen Fragen über Irrengesetzgebung, die in den letzten Jahren die Gemüter der Aerzte und des Publikums erhitzten.
Unsere Geschichte bietet ein ausgezeichnetes Beispiel jener Form von Seelenstörungen, die im Laufe der Zeit verschiedene Bezeichnungen erhielt; man nannte sie oft methodische Verrücktheit; Pinel, der Vater der heutigen Psychiatrie, brachte sie an der Neige des vorigen Jahrhunderts unter der von ihm aufgestellten Manie sans délire unter; ein besser zutreffender Name ist der gebräuchlichste des räsonnierenden Wahnsinns ( folie raisonnante); am besten wohl hat sie der Engländer Prichard als Moral insanity bezeichnet und beschrieben. Um mich der Definition eines hervorragenden deutschen Psychiaters zu bedienen, wäre diese Form des Wahnsinns als eine geistige Entartung aufzufassen, deren Eigentümlichkeit in einer vorzugsweisen Schädigung der sittlichen Gefühle mit entsprechendem Handeln besteht, bei meist auffälliger Schonung des Vorstellungsinhalts. H. Schüle, Handbuch der Geisteskrankheiten. 2. Auflage. Leipzig 1880. S. 65. Sie ist von der größten rechtlichen und sozialen Bedeutung, weil sie das Hauptkontingent derjenigen Irren liefert, deren Verbringung in geschlossene Anstalten zu skandalösen Prozessen geführt hat und noch immer führt. Ein großer Teil des Publikums, und nicht bloß das ungebildete, will nicht glauben, daß es Wahnsinnige giebt, die in richtiger logischer Form räsonnieren, aber auf Grund krankhafter Triebe und Wahnvorstellungen verkehrt handeln. Sie sind oft gewandte und recht spitzfindige Advokaten ihrer Handlungen und imponieren durch ihre dialektische Fertigkeit selbst wirklichen Advokaten, sogar solchen von Ruf und gutem Leumund, am meisten freilich Zungendreschern, die den Erdichtungen, Illusionen und Halluzinationen ihres kranken Klienten reellen Wert beilegen und Glauben schenken, oder ihn nur vorschützen, um eine cause célèbre in die Hand zu bekommen. Damit soll jedoch nicht bestritten werden, daß es mitunter schwer hält, zwischen wirklich Irren und bloß paradoxen Sonderlingen eine scharfe Grenze zu ziehen; die Scheidung kann ebenso schwierig sein, wie die von eigentlicher leiblicher Krankheit und bloßem Leibesfehler, der das allgemeine Befinden und die Arbeitsfähigkeit nicht beeinträchtigt.
Unser Kranker, geboren 1774, war der Sohn eines Landpfarrers, hatte in Jena Theologie studiert und sein Examen 1797 mit der Note »vorzüglich befähigt« bestanden. Er war noch im gleichen Jahre Vikar auf dem Lande und ein Jahr nachher Stadt- und Hofvikar der Residenz geworden. Merkwürdigerweise hatte ihm der evangelische Kirchenrat (heute Oberkirchenrat amtlich geheißen) bereits eine Landpfarrei, Wies bei Schopfheim, zuerteilt, als der Staatsrat Brauer gegen seine Tauglichkeit zu einem christlichen Predigeramt eine ganze Reihe ernster Bedenken erhob. Wie es scheint, war es dem Kirchenrate unbekannt geblieben, daß der Vikar sonderbare, mit dem christlichen Glauben unverträgliche Ansichten hatte, auch Gewohnheiten, die jedenfalls einem geistlichen Herrn nicht wohl anstehen. Er predigte mit Vermeidung aller positiven christlichen Lehren nur Moral, erklärte die Taufe und das Abendmahl für bloße Zeremonien, die er auf seiner Pfarrei abschaffen wollte, verteidigte die Rechtmäßigkeit der Revolutionen und wollte die Bauern gleich beim Antritt seines Amtes darüber aufklären. Er stieß heftige Drohworte gegen Sicherheit und Leben geistlicher und weltlicher Beamten aus, kleidete sich auffallend und ließ trotz wiederholter Verweise weder Nägel noch Haare schneiden.
Vor einen Ausschuß des Kirchenrats geladen, gab der Vikar die Richtigkeit der meisten Angaben Brauers zu, versuchte sie sogar zu rechtfertigen. Man zog ärztliche Sachverständige bei, die vornehmsten Aerzte der Stadt, darunter zwei großherzogliche Leibärzte. Sie erklärten ihn für geisteskrank und rieten, da sich Vernunft und Wahnsinn noch um die Herrschaft stritten, zu einer sanften, schonenden Behandlung mit geeigneten Arzneien; der eine Leibarzt, Dr. Schrickel, schlug daneben kalte Bäder vor, aber der andere, Dr. Maler, verwarf sie. Weil man sich über diesen Punkt nicht einigen konnte, schickte man ihn am 4. April 1804 nach Bruchsal, der ehemaligen Residenz des Fürstbischofs von Speier, wo damals noch die von dem berühmten Johann Peter Frank gegründete Chirurgen- und Hebammenschule bestand. Der evangelische Vikar wurde hier den barmherzigen Brüdern vom Kapuzinerorden zur Kur übergeben; er will damals in Bruchsal medizinische Vorlesungen, sogar über Geburtshilfe, gehört haben. Sicher ist, daß er bald entlief, am 25. Mai schon wieder in Karlsruhe eintraf und die Behörden mit Klagen über feindliche Nachstellungen und heimliche Anschläge, ihn zu vergiften, sowie mit dringenden Gesuchen um baldige Erteilung der zugesagten Pfarrei überschwemmte. Sein Drängen danach motivierte er ganz besonders mit seinem unwiderstehlichen Triebe zu heiraten.
Um den jungen Herrn Amtsbruder und unbequemen Querulanten in Ordnung zu bringen, schickte man ihn zu einem würdigen und milden Landgeistlichen in der Nähe, bei dem er es aber nicht lange aushielt, weil man ihm Säfte bei Tische beigebracht hätte, die ihn schwindsüchtig und epileptisch machten. Er drangsalierte jetzt den Kirchenrat aufs neue um eine Pfarrei und die Erlaubnis zu heiraten; zweifle man an seiner männlichen Kraft, so wolle er gerne eine Probe ablegen, ausnahmsweise dürfe man dies schon gestatten.
Am 6. November 1805 brachte man ihn bei seinem Bruder unter, der in Schopfheim Pfarrer war, ihn aber, noch ehe der Monat zu Ende ging, aus dem Hause wies, weil er sich unziemlich benahm und täglich Unfrieden stiftete. Darauf nahm ihn ein gutmütiger Diakonus Engler zu sich und übertrug ihm sogar kirchliche Verrichtungen, die er in eigentümlicher Weise ausführte. Beim Katechisieren empfahl er den Schülern die Rückkehr zum Naturzustand, sein Steckenpferd, worauf ich noch zurückkommen werde, und die Verweigerung aller Abgaben; gegenüber Brautleuten, die sich bei ihm melden mußten, erging er sich in so anstößigen Ermahnungen physiologischer Natur, daß sie sich nicht wiedergeben lassen, und dergleichen mehr. Dessenungeachtet glaubte Engler den Antrag beim Kirchenrat stellen zu sollen, man möge Sievert eine Pfarrei und die Heiratserlaubnis erteilen, weil beides zu seiner Herstellung beitragen könne. In der That ging der Kirchenrat darauf ein. Der geisteskranke Mann erhielt die Pfarrei Langenalb bei Pforzheim und bezog sie im Dezember 1808, ehelichte auch eine brave Frau, die den unseligen Bund schwer büßen mußte.
Mit dem neuen Pfarrer war kein gewöhnlicher Seelsorger in das Dorf eingezogen. Er geriet in kürzerster Zeit mit dem ganzen Ort in Hader, kein Schulmeister hielt es bei ihm aus, seinen Kirchengemeinderat verklagte er, gestützt auf 28 Beschwerdepunkte, auf den Ortsvogt ging er mit dem Säbel los, mit allen Amtsbrüdern der Umgegend und seinen Vorgesetzten stand er auf dem Kriegsfuße, Frau und Kinder jagte er aus dem Hause und wollte sie aus dem Dorfe vertreiben lassen, erklärte jene vor den Konfirmanden für eine Ehebrecherin, weil sie blaß sei, und diese für Bastarde. Auch seine Mutter, die zu ihm gezogen war, verschonte er nicht mit ungegründeten, schweren Beschuldigungen. Seine Predigten waren so anstößig, daß ihm kein Mensch mehr in die Kirche ging. Die Gemeinde, die der Kirchenrat zu dem unglücklichen Kurversuch mit dem tollen Pfarrer ausgewählt hatte, bat dringend um einen vernünftigen.
Abermals wurde ein ärztliches Gutachten eingeholt. Drei Pforzheimer Aerzte, an ihrer Spitze der Direktor der dortigen Landesirrenanstalt, Christian Roller, der ältere, Vater von Christian Roller, dem jüngeren, dem nachmaligen Gründer und Direktor Jllenaus, erklärten Sievert für geisteskrank. Er wurde 1812 seines Amtes entsetzt, bei der Uebergabe der Geschäfte an den Geistlichen, dem die Versetzung der Pfarrei übertragen worden war, mißhandelte er diesen zum Abschied.
Wunderbarerweise war die Geduld der Behörden noch nicht erschöpft. Nachdem Sievert das Ministerium des Innern aufs neue mit Beschwerdeschriften bedrängt hatte, erschien ein Großherzoglicher Immediatbefehl, der ihn nochmals zu einer geistigen und geistlichen Kur dem milden Landpfarrer überwies, dem er schon 1804 vergeblich zur Behandlung übergeben gewesen war. Aber er reichte auch gegen diesen sanftesten aller Pfarrer eine Beschwerdeschrift nach der andern ein, verklagte zuletzt den Minister selbst beim Landesherrn und kam wieder nach Karlsruhe.
Was die Pfarrer nicht fertig brachten, sollte jetzt der Irrenarzt Roller in Pforzheim fertig bringen. Man wollte aber vermutlich den geistlichen Herrn nicht gleich »ins Narrenhaus sperren« und mietete ihn anfangs im Gasthaus zum wilden Mann ein, mit schlechtem Erfolge. Die Wirtshausschoppen und die zech- und necklustigen Wirtshausgäste machten ihn immer aufgeregter, und so nahm man ihn endlich, im Dezember 1813, in der Irrenanstalt allda auf, der einzigen, die das Land besaß.
Im März 1814 raffte der Kriegstyphus den Dr. Roller weg, und sein Nachfolger wurde Dr. Friedrich Groos aus Karlsruhe; damit kam es zu einer fast unglaublichen Episode unsrer Geschichte: der neue Direktor erklärte Sievert für geistig gesund! Wie war dies möglich? Um es zu begreifen, muß man bei der Persönlichkeit des Arztes, unter dessen Obhut unser Kranker nunmehr gestellt wurde, einen Augenblick verweilen.
Friedrich Groos, geboren 1768 in Karlsruhe, hatte zwar den Vorlesungen großer Naturforscher und Aerzte, eines Volta und Spallanzani, eines Peter Frank und Scarpa angewohnt, und war in den Schriften der alten und neuen Philosophen wie wenige Aerzte bewandert, aber in der Irrenheilkunde war er ein Neuling ohne alle Erfahrung. Er meinte, die Psychiatrie aus allgemeinen Prinzipien ableiten zu können, und die zahlreichen Schriften, die er hinterließ – sein Biograph Wittmer Deutsche Zeitschrift für Staatsarzneikunde. Neue Folge. Band I. S. 228-237. zählt deren nicht weniger als 24 selbständige auf –, sind heute ungenießbar. Die meisten, und daneben noch eine Menge Abhandlungen und Rezensionen in Zeitschriften, hat er nach der Uebernahme der Pforzheimer Anstalt verfaßt, und schon die Titel verraten, in welchem, uns gänzlich fremd gewordenen Geiste sie geschrieben sind. Ich greife nur einige heraus: »Entwurf einer philosophischen Grundlage der Lehre von den Geisteskrankheiten« (1828); »Ideen zur Begründung eines obersten Prinzips für die psychische Legalmedizin« (1829); »Der unverwesliche Leib als Organ des Geistes und der Seelenstörungen« (1837). Er hat auch der Manie sans délire Pinels eine besondere Schrift Fr. Groos, die Lehre von der Mania sine delirio, psychologisch untersucht und in ihrer Beziehung zur strafrechtlichen Theorie der Zurechnung betrachtet. 1830. gewidmet, und ich hoffte, da die Lehre von der folie raisonnante innigst mit ihr zusammenhängt, darin den Fall Sievert als einen der lehrreichsten behandelt zu finden, aber vergebens. Er wird nicht erwähnt, und das Buch enthält überhaupt keine einzige eigne Erfahrung, sondern nichts als klingende Worte ohne irgend welchen praktischen Rat und Wert. Offenbar ist es diesem langjährigen Leiter einer großen Irrenanstalt, der später sogar als Dozent an der Heidelberger Hochschule (1828–1839) für Psychiatrie figurierte, nie klar geworden, daß die Psychiatrie, wie alle Zweige der Heilwissenschaft, keine spekulative, sondern eine empirische Wissenschaft ist und nach streng naturwissenschaftlicher Methode betrieben werden muß.
Gerade um seiner philosophischen Bildung willen hatte man an maßgebender Stelle den Dr. Groos für besonders geeignet gehalten, die Landesirrenanstalt zu leiten und ihm deshalb ihre Direktion übertragen, aber er fiel sofort in eine Schlinge, in die er auch bei nur einiger der Erfahrung entnommenen psychiatrischen Einsicht unmöglich hätte geraten können. Er fing es in laienhafter Weise so verkehrt als möglich an, um hinter den Geisteszustand Sieverts zu kommen. Statt die vielen Zeugen seines tollen Thun und Treibens zu vernehmen und seine Krankengeschichte zu studieren, ließ er sich seine Aufsätze zur Einsicht geben und konvertierte und disputierte darüber mit ihm. Er war der Meinung, daß man Sievert hauptsächlich um seiner Lehre vom Naturzustande willen ins Irrenhaus verbracht habe, und prüfte sie mit einer Sorgfalt, die einer besseren Sache wert gewesen wäre. Die dialektische Gewandtheit Sieverts bestach ihn, und er gewann die Ueberzeugung, Sievert sei wohl ein irrender, aber kein irrer Mensch. Die Tendenz seiner Lehre sei zwar nicht zu billigen, aber neben vielen Paradoxien und irrigen Gedanken habe er auch vortreffliche über Abhärtung, Gesundheit und Keuschheit. Selbst die Grundidee vom Naturzustand habe eine schöne wildromantische Seite. Er besitze eben eine zu lebhafte Einbildungskraft und ein zu starkes Selbstgefühl, das ihn zudringlich mache, aber sein Verstand sei scharf, wenn auch zu Sophismen geneigt; und seine Moralität das Werk der Grundsätze und nicht der Empfindung, gerade deshalb aber um so empfindlicher. Er leide nur an einem angeborenen Mangel des Scham- und Zartgefühls, sonst würde er nicht verlangen, daß seine Naturmenschen sich vor den Augen der andern paarten. Man könne aber Gelehrte, die ein Steckenpferd ritten, nicht ihrer irrigen Hypothese halber ins Irrenhaus sperren; wo wollte man dazu den Raum hernehmen? Die Irrenhäuser würden sich in Akademien umwandeln. Sievert sei unschädlich, man solle ihn ungestört reden und schreiben lassen. Er mache den Vorschlag, ihn als reisenden Diözesanprediger zu beschäftigen.
Dieses Gutachten regte alle auf, die Sievert schon länger kannten, und die beiden Geistlichen der Anstalt erhoben dagegen Einspruch. Sie erklärten: Groos hätte die Leute ausfragen sollen, die mit Sievert bereits ein Scheffel Salz verzehrt hätten, er lasse sich durch die Verstellungskunst und Redegewalt des Kranken blenden, sie bestünden auf der Ansicht des verstorbenen Direktors Roller, daß Sievert an methodischer Verrücktheit leide, die man auch räsonnierende Narrheit nenne. Groos ließ sich dadurch nicht irre machen, er stellte Sievert ein Zeugnis aus, daß er vollkommen geistig gesund sei, und gewährte ihm einen vierzehntägigen Urlaub nach Hause, den Sievert so klug war, genau einzuhalten. Es währte anderthalb Jahre, bis Groos sein Gutachten widerrief und Sievert auch für einen methodischen Narren erklärte.
Diese Sinnesänderung hatte hauptsächlich das ungestüme Drängen von Sievert bewirkt, dahingehend: Groos möge eine neue Schrift, die Sievert abgefaßt hatte, an das Großherzogliche Geheime Kabinett nach Karlsruhe befördern. Sie führte den Titel: »Das Reich Gottes«, und tischte, nur noch schärfer gewürzt, alle die Speisen auf, die er in seinen bisherigen Federleistungen über den Naturzustand aufgetragen hatte. Das Reich Gottes war eben der Naturzustand und lief mit reichlicher Verbrämung biblischer Aussprüche auf das hinaus, was wir heute Anarchie nennen. Der monarchische Staat, der Kulturstaat überhaupt, war das Gegenteil, das Reich Satans; dieses Reich samt den Fürsten und aller weltlichen Obrigkeit auszurotten, sei die Aufgabe des Volks. Im Naturzustande seien alle Menschen gleich, man brauche keine Häuser, keine Betten, keine Kleider, solle Nägel und Haare wachsen lassen, es brauche weder Städte noch Dörfer zu geben, man wandere auf Gottes Erde umher, wie der Herr Jesus mit seinen Jüngern, und erlange alles, was vernünftige, sittliche und sinnliche Geschöpfe wünschten und bedürften. Die Vorteile, die das ungehinderte Wachsen der Haare den Menschen gewähre, sind weitläufig dargelegt, beispielsweise könnten die Kinder beim Baden in den Flüssen an den langen Haarflechten ihrer Mütter leicht auf deren Rücken klettern und sich so bequem über dem Wasser halten.
Es war wirklich eine starke Zumutung an einen großherzoglichen Staatsdiener und Direktor der Landesirren- und Siechenanstalt, ein solches Schriftstück an das Geheime Großherzogliche Kabinett einzuschicken. Das konnte doch nur ein methodischer Narr verlangen! Sievert wurde nicht entlassen und verblieb in der Pforzheimer Irrenanstalt bis zu ihrer Verlegung nach Heidelberg. Von Zeit zu Zeit machte er Entweichungsversuche, auch einen und den andern mit Glück, und mußte mit Gewalt zurückgeholt werden. Sein Aussehen beschreibt ein Bericht vom Februar 1820 als »ganz patriarchalisch«. Sein Bart hing bis auf die Brust, sein Haupthaar auf den Rücken hinab, er trug weder Strümpfe noch Hosen, nur ein langes Hemd und darüber einen Schlafrock, der bis auf die Waden herabging. In solchem Anzug schlich er, wenn er unbewacht blieb, gerne unter das Thor der Anstalt, um die Vorbeigehenden in einen Disput zu ziehen. Im Hause zankte er sich mit aller Welt und namentlich mit dem Küchenpersonal, denn es quälte ihn unaufhörlich der Wahn, man habe es auf seine Vergiftung abgesehen.
Bei der Verlegung der Irrenanstalt 1826 nach Heidelberg in das ehemalige Jesuitenseminar wurde Sievert von Groos mitgenommen, und damit beginnt eine zweite Episode, wo abermals ein Gelehrter, diesmal ein Ordinarius zweier Fakultäten, des Rechts und der Philosophie, für die völlige Geistesgesundheit unseres Kranken unerschrocken in die Schranken trat. Es war der Polyhistoriker E. Sein Haus, das Eckhaus mit dem hübschen Erker der Stadtpost gegenüber, grenzte an das Irrenhaus, die heutige Kaserne; es war Sievert gelungen, in Briefwechsel mit ihm zu treten und ihn durch seine Aufsätze und brieflichen Darstellungen zu überzeugen, daß er das Opfer seiner philosophischen Lehren und zahlreicher persönlicher Feinde sei, namentlich unter der Geistlichkeit.
Den Professor E. habe ich als Gymnasiast fast täglich gesehen, denn das Gymnasium, die heutige Stadtpost, lag seinem Hause gegenüber, und E., ein hageres Männchen mit rundlichem glattem Gesichte, stand viel am Fenster seines Studierzimmers und schaute nachdenklich auf die Straße hinaus. Auch auf der Straße begegnete ich ihm häufig, er ging stets allein und tief sinnend, als ginge er den höchsten Problemen der Wissenschaft nach. Er galt in der Stadt für einen Sonderling, und die Heidelberger erzählten mit besonderem Vergnügen von allerlei kühnen Versuchen, die er zur Lösung schwieriger mechanischer Aufgaben unternommen habe. Bei einem Versuche, auf selbsterfundenen Schuhen den Neckar zu überschreiten, sei er ins Wasser gesunken, jedoch glücklich wieder herausgefischt worden. Bei einem Flugversuche habe er schier das Bein gebrochen. Welch eine erstaunliche Gelehrsamkeit er besaß, weisen die Vorlesungsverzeichnisse der Heidelberger Hochschule nach. Außer verschiedenen Kollegien über Rechtswissenschaft hat er solche angekündigt über Logik, Geschichte der Philosophie, Anthropologie, die Lehre von den Sinnen, die Lebensstufen des Weibes, Chemie, Kritik der Biologie und Physiologie, Etymologie der Pflanzenbenennungen, sowie kursorische Lektüre medizinischer und naturwissenschaftlicher Schriften in schwedischer, holländischer, französischer, spanischer und portugiesischer Sprache. Nach einem Aktenstücke, aufbewahrt im Sekretariate der Universität, hat er auch in den fünfziger Jahren in Bamberg eine chrono-astronomische Anstalt eingerichtet oder einzurichten versucht. Er hinterließ eine wertvolle Bibliothek und verschiedene naturwissenschaftliche Sammlungen.
Dieser Ausbund von Gelehrsamkeit, dessen Gehirn wie ein riesiger Speicher in buntester Weise mit Wissensstoffen angefüllt war, sah in Sievert einen widerrechtlich eingesperrten Denker, einen völlig gesunden, tugendstrengen Philosophen, das gehetzte Wild einer erbarmungslosen Hierarchie, deren Haß ihm die Einkerkerung unter lauter wirklich Wahnsinnige und Verrückte zugezogen habe. Er sparte weder Mühe noch Geld, um ihm seine Freiheit und volle Entschädigung für das erlittene Unrecht zu verschaffen. Er ging durch alle Instanzen bis zum Landesfürsten und dem Landtag. Dem Großherzog stellte er in beweglichsten Worten vor, daß er mit seinen gesegneten Landen unter dem Namen einer Wohlthätigkeitsanstalt eine Bastille ererbt habe, worin teuflisch verleumdete Unterthanen ohne vorausgegangenes Rechtsverfahren und gerichtliche Entmündigung als Wahnsinnige bei Nacht und Nebel untergebracht würden. Darauf mußte die Direktion des Irrenhauses, wie schon unzähligemal, Bericht erstatten. Sie widerlegte alle Beschuldigungen Punkt für Punkt und machte, als das einzige Mittel, dem Professor E. die richtige Einsicht in den Seelenzustand seines Schützlings zu verschaffen, den Vorschlag, er möge sich ihn zum Haus- und Tischgenossen nehmen.
In einer der letzten Sitzungen der zweiten Kammer von 1831/32 legte der Abgeordnete und evangelische Dekan Fecht eine Petition des Professors E. vor, eingereicht im Auftrag der Pfarrer Sievertschen Kinder, die E. offenbar für sein Vorgehen gewonnen hatte. Sie baten um Freilassung ihres Vaters, Einsetzung in seine Rechte und Nachzahlung seines Gehalts. Fecht beantragte Ueberweisung an das Staatsministerium. Der Abgeordnete Welcker aus Freiburg und die Abgeordneten Winter und Mittermaier aus Heidelberg unterstützten den Antrag, Welcker mit der Begründung: es sei zu befürchten, daß man am Ende jeden, der barocke Ansichten ausspreche oder sonst Aergernis errege, ins Irrenhaus stecke und dieses wirklich zur Bastille mache. Der Berichterstatter Fecht, der die Geschichte seines Amtsbruders genau kannte, entschuldigte das Verfahren der Regierung, indem er unter anderm bemerkte, Pfarrer Sievert habe öffentliches Aergernis gegeben, weshalb man ihn nach Bruchsal zu den Kapuzinern gethan, aber dort habe er an der Tafel so obscöne Reden geführt, daß der ganze Konvent nach und nach desertiert sei; die Patres hätten es nicht mehr ausgehalten, und darum hätte man ihn, weil es an einem andern schicklichen Aufenthaltsort für solche Geistesverirrte fehle, ins Irrenhaus versetzen müssen. Zuletzt wünschte der Abgeordnete und Professor der Rechte Duttlinger aus Freiburg, daß bis zum nächsten Landtag ein Gesetz vorbereitet werde, welches verordne, unter welchen Umständen jemand gegen seinen Willen in das Irrenhaus gebracht werden dürfe, womit er eine wirkliche Lücke in der Gesetzgebung bloßlegte. Uebrigens wundere er sich nicht, fügte Duttlinger bei, der Katholik war, daß sich Sievert bei den Kapuzinern nicht nach Wunsch benommen habe, man könne einen evangelischen Geistlichen zum Narren machen, wenn man ihn zu den Kapuzinern sperre. Darob entstand ein heiteres Gelächter. Karlsruher Zeitung, 1832, No. 4. Infolge dieser Verhandlung wurde die Irrenhausdirektion zu erneutem Berichte aufgefordert und zur Rechtfertigung gegen den Vorwurf gröblicher Mißhandlung des Kranken, der rein auf dessen lügenhafter Behauptung beruhte.
Sievert machte auch noch die Verlegung der Anstalt nach Illenau 1842 mit und starb dort am 6. Juli 1844. Seine Frau und zwei seiner Töchter waren vor ihm aus dem Leben geschieden. Er hinterließ ein Dutzend geschriebene Abhandlungen über theologische, philosophische und physiologische Gegenstände, namentlich aber über den Naturzustand. Mit besonderer Vorliebe verweilte er bei sexuellen Dingen. Ein Heft von dreißig Schriftbogen schildert unter dem Titel: »Frau Dorothea oder die Hauswirtschaft einer Närrin«, die vergeblichen Bemühungen eines klugen Geistlichen, seinem einfältigen Weibe den Segen des Naturzustandes klar zu machen, und ihre thörichten Streiche. Der kluge Geistliche war er selbst, das einfältige Weib seine Frau.
Das große diagnostische Fiasko der beiden Gelehrten in unserm Falle hatte seinen Grund in der psychiatrischen Unwissenheit, die bei dem Arzte und dem Polyhistor gleich groß war. Vergebens versuchte der eine die psychiatrischen Lügen seiner ärztlichen Bildung durch die Abstraktionen der spekulativen Philosophie auszufüllen, und ebenso vergebens pochte der andre, in seinen amtlichen Eingaben, als Anthropologe, Physiologe und scharfer Logiker auf seine Berechtigung, zweifelhafte Seelenzustände richtig zu beurteilen. Die Fähigkeit hiezu verleiht nur die ärztliche Beobachtung und Erfahrung an Seelenkranken, wie die Kunst, die Leibeskrankheiten zu erkennen, nur an Leibeskranken erlernt wird. Beide begingen den gleichen Fehler; sie prüften den Kranken nicht auf sein ganzes Thun und Treiben, sondern legten das ausschlaggebende Gewicht auf die logische Formulierung seiner Ideen, sie fanden diese zwar paradox, aber dialektisch richtig verteidigt, wenn auch spitzfindig. Sie verstanden nicht sachgemäß zu untersuchen.
Ein richtiges Gutachten muß sich auf die Untersuchung der ganzen Persönlichkeit des Menschen erstrecken, seine leibliche und geistige, seine Gefühle, seine treibenden Vorstellungen und wirklichen Handlungen. Es mag zugegeben werden, daß der gesunde Menschenverstand der Ungelehrten bei unserm Kranken eher das Richtige getroffen hätte, auch sicher wirklich getroffen hat, als die Klügelei der beiden Gelehrten, aber es wäre verfehlt, deshalb in solchen Fällen, wie es da und dort Enthusiasten verlangen, der vox populi die Entscheidung zu überlassen, denn die Geschichte der Menschheit hat den sogenannten gesunden Menschenverstand tausendmal häufiger als die ernste Wissenschaft auf Irrwegen betroffen.