Isolde Kurz
Von dazumal
Isolde Kurz

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Werthers Grab.

Mitten in dem anmuthigen Lindachthal, am linken Ufer der Lindach, liegt das freundliche Pfarrdorf Ilgenau mit seinem kleinen, weißgestrichenen Kirchlein und der uralten Linde daneben.

Die Eisenbahn durchschneidet das Dorf am oberen Ende, wo sich die große Klary'sche Ziegelfabrik mit ihren ausgedehnten Schuppen und dem rauchenden Ringofen befindet. Doch der Schnellzug kümmert sich nicht um die mit Backsteinen hochaufgethürmten Lowren, die auf dem Seitengeleise angeschoben sind, und läßt mir kaum die Zeit, einen Blick auf das nüchterne Stationsgebäude mit seinen Signalapparaten zu werfen. Dann lehne ich mich zurück, und im Weiterfahren erscheint vor meinen inneren Augen ein völlig anderes Bild. – Wo der Bahnhof steht, da sehe ich im Geist eine langgestreckte Parkmauer mit hochwipfligen Baumreihen, zwischen denen tief unten in der Nähe des Flusses die Rückseite eines großen Wohnhauses mit hohen Schornsteinen und steinerner Terrasse eben noch zu erkennen ist. Weiterhin tauchen hinter der Mauer grüne Lauben, weiße Götterfiguren und lange Taxusgänge auf, die nach einem kleinen, von Maulbeerbäumen beschatteten 124 Häuschen im Schweizer Stil mit grünen Läden, hölzernen Altanen und ebensolcher Außentreppe führen. Ringsum ist Alles grün; an Stelle der rauchenden Schlote, der Ziegelschuppen und der nassen Lehmgruben sehe ich nur Obstgärten und Felder mit wehenden Halmen bis hinauf zu den waldgekrönten Höhen des Lerchenbergs und abwärts bis zur Lindach, in deren krystallklarem Wasser sich die Erlen und Weiden des Ufers spiegeln.

Es ist das Ilgenau, das noch keine Eisenbahn hatte, das Ilgenau meiner Kindheit.

In jener schönen Zeit, wo es noch gar keine Zeit gab, und wo man folglich mit den Tagen anfangen konnte, was man wollte, war ich häufig zu Besuch in Ilgenau. Meine frühesten und schönsten Erinnerungen knüpfen sich an diesen Namen. War's Zufall, oder täuscht mich die Erinnerung? – Ich meine dort nie ein schlechtes Wetter erlebt zu haben, wie es mir auch vorkommt, als hätten die Kirschen dort zeitiger geblüht und süßer geschmeckt als jemals wieder anderwärts.

Ein Freund der Eltern, den wir Kinder »Onkel« nannten, hatte damals das Haus mit den hohen Schornsteinen inne, und er kam oft in seinem zweispännigen Jagdwägelchen nach der Stadt gefahren, um sich eins oder das andere von uns als Gast nach Ilgenau zu holen.

Er war ein gewaltiger Nimrod, der Onkel Entreß, und zeigte sich in der Oeffentlichkeit nie anders als von Hunden umbellt, meist zu Pferd oder zu Wagen, 125 seltener zu Fuß und dann fast immer in Jägertracht. Pferde, Hunde und Kinder liebte er mit Leidenschaft, wie überhaupt Alles, was Lärm ins Haus brachte. Nachdem er kurze Zeit beim Militär gewesen, wo er sich mit seinen Vorgesetzten nicht vertragen konnte, hatte er sich auf den väterlichen Besitz in Ilgenau zurückgezogen, den er mit mäßigem Erfolg selber bewirthschaftete. Er war Adliger, aber liberal, und um seinen Liberalismus zu bethätigen, sowie auch seinen aristokratischen Verwandten zum Tort hatte er ein bürgerliches Fräulein – noch dazu mit kleiner Mitgift – heimgeführt. Doch er, der sonst gegen Groß und Klein voll Freundlichkeit war, behandelte die anmuthige, hingebende Frau unwirsch und ungerecht. Ohne allen Anlaß gab er ihr barsche Worte und konnte sich sogar so weit vergessen, daß er sie vor Gästen und Dienstboten herabsetzte.

Tante Thekla hatte ein sanftes Gesicht mit blauen Augen und schwarzen, gescheitelten Haaren, und ihr stilles, überaus liebreiches Wesen hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Sie wußte, daß ihr Gatte eine Andere geliebt hatte, eine stolze Amazone, die zwei Sommer lang in den Wäldern von Ilgenau mit ihm geritten und gejagt hatte, und die er nie vergessen konnte, obgleich er von ihr verschmäht worden war. Thekla sprach von dieser Anderen, die sie nur vom Hörensagen kannte, in den Ausdrucken der höchsten Verehrung, und gern hätte sie sich ganz nach ihr gemodelt, um ihrem gestrengen Eheherrn zu gefallen; aber wie sie sich auch anstellte, sie machte es ihm 126 niemals recht, denn sie war zu weich geartet für den heftigen Mann.

So konnte er ihr zum Beispiel nie verzeihen, daß es ihm in den Flitterwochen nicht gelungen war, sie reiten zu lehren. Sie hatte sich zwar gehorsam von ihm in den Sattel heben lassen, hatte auch bebend die Zügel in die Hand genommen, aber sobald das Pferd sich nur ein wenig in Trab setzte, war sie aus lauter Angst regelmäßig wieder herunter geglitten, was den Onkel Entreß aufs Tiefste verdroß. Auch zitterte sie immer am ganzen Körper, wenn er einen seiner großen Hunde züchtigte; denn es war einmal vorgekommen, daß der furchtbare Harraß, der Schrecken des ganzen Dorfes, sich bei einer solchen Gelegenheit auf den eigenen Herrn gestürzt und ihm eine tiefe Bißwunde beigebracht hatte. Seither wurde sie jedesmal bleich, wenn das Thier nicht auf der Stelle gehorchte, und Onkel Entreß griff nun aus Aerger in ihrer Gegenwart doppelt gern zur Peitsche, so daß das arme Frauchen aus den Aengsten gar nicht herauskam.

Onkel Entreß hauste mit seinen Hunden und Flinten im Parterre, wo Alles wild durcheinander lag. Thekla dagegen besaß eine ganze Reihe eigener, schön eingerichteter Zimmer im oberen Stock, die aber alle zu trauern schienen wie die Seele ihrer Bewohnerin. Darunter war eines, das ganz voll stand von Kästen und Schränken, und alle diese Kästen und Schränke waren mit Kleidern angefüllt, deren sie unzählige besaß.

127 Einmal, als sie mir ein besonderes Vergnügen machen wollte, führte sie mich in dieses Zimmer und zeigte mir sämmtliche dort aufgespeicherte Kleider. Sie waren sehr prächtig – oder schienen mir wenigstens so –, mit vielen Bandschleifen und blitzenden Knöpfen verziert, und ein jedes hatte seine eigene Geschichte. Das hellblaue mit den schwarzen Sammetbändern hatte die Blicke ihres Mannes angezogen, als er sie zum ersten Mal sah; das leichte aus rosa Seidenstoff erinnerte sie an jenen Ballabend, wo sie sich kennen lernten; das weiße hatte sie zur Trauung getragen, das graue auf der Hochzeitsreise und so weiter. – Die Kleider waren für sie lebende Wesen, ihre Vertrauten. Sie saß oft vor dem offenen Schrank und führte stumme Gespräche mit ihnen. Auch gab sie keines jemals her, so gern sie sonst schenkte, und ihr Mann verschrie sie deshalb als einen Geizdrachen, was ihr, obgleich sie dazu lächelte, heimlich sehr wehe that, denn er verkannte damit ihr innerstes, ganz auf Liebe zu ihm gestelltes Wesen. Wer sie um ein altes Kleid anging, dem schenkte sie das Zeug zu einem neuen, und die abgetragenen hängte sie in einen besonderen Schrank, wo sie das Asylrecht auf ihre alten Tage genossen. Die geflammte Busenschleife, die sie von einem dieser Kleider mit schwerem Herzen absteckte, um sie mir zu schenken – dieselbe war, beiläufig gesagt, so groß, daß sie meine halbe damalige Person bedeckt hätte –, mußte ich ihr am anderen Morgen zurückgeben, versteht sich, gegen angemessene Entschädigung: es scheint, daß 128 diese Schleife etwas wußte, das all' den andern Kleidungsstücken entfallen war.

Nachdem sie jenes Tags den Inhalt sämmtlicher Schränke vor mir ausgebreitet hatte, zog sie mich zu sich heran, legte beide Arme um meinen Hals und weinte. Und ich verstand aus Instinct, daß sie weinte, weil sie nicht geliebt und einsam war, und weil sie an leeren Hüllen und an den Kindern fremder Leute ihr hungerndes Herz sättigen mußte.

Während sie noch weinte, kam sporenklirrend der Onkel herein. Sie erschrak und trocknete rasch die Thränen. Aber die Schränke zu schließen, war es zu spät.

»Immer Fetzen und Fahnen!« sagte der ungeduldige Mann stampfend und ging schnell wieder hinaus.

So war das Entreß'sche Ehepaar, bei dem alle Kinder aus befreundeten Häusern ihre zweite Heimath hatten. Wir konnten dort thun und treiben, was wir wollten, und hatten das Recht, in Haus und Hof das Unterste zu oberst zu kehren. Tante Thekla war nicht älter als unsereins: sie kroch mit uns unter die Tische und versteckte sich, wenn es sein mußte, im Hühnerstall. Der Onkel dagegen, der ihr den Vorrang in unserer Liebe nicht lassen wollte, gab uns Anleitung in der Landwirthschaft, das heißt, er ließ uns auf dem hochbeladenen Heuwagen fahren, setzte uns auf die pflügenden Ochsen oder ließ uns durch die Garbenluke wohl zwanzig Schuh tief in die mit Heu und Korn gefüllte Scheune hinabspringen, 129 wo man in den Garben versank und sich unter Jubel und Gelächter, die Haare und Kleider voll Heu, wieder herauswand.

Nebenan in dem Schweizerhäuschen wohnten die drei alten Fräulein von Plessen, nach denen das Haus seiner Kleinheit halber im Scherz die Plessenburg genannt wurde. Zu meiner Zeit waren es nur noch zwei; die Dritte, Franziska, lebte in der Erinnerung der Anderen noch mit als die »Schwester Franz«, und ich hörte sie so oft nennen, daß ich mir einbilden könnte, sie auch gekannt zu haben, wenn die Daten dem nicht widersprächen.

Fräulein Luise von Plessen, die Aelteste von den Dreien, war Thekla's nächste Freundin, eine damals schon hochbetagte Dame, deren Geburt noch ins achtzehnte Jahrhundert fiel. Sie ging immer weiß gekleidet, in einem weiten, garnirten Oberkleid, das sich vorn über einem reich mit Volants verzierten Unterkleid öffnete; auf dem Kopfe trug sie einen großen Florentiner Strohhut mit weißem Band und schwarzseidene, filetgestrickte Halbhandschuhe an den schöngepflegten Händen. Obgleich das Alter der Schäferspiele weit hinter ihr lag, war sie doch mit ihrem Schäferhut nicht lächerlich: eine sanfte Würde, eine Jugend der Seele stimmte zu diesem Anzug. Ihre Haare waren noch völlig schwarz, und sie hatte weder Runzeln noch Furchen, nur daß die Haut ein wenig lose geworden war, aber ihre zarte Färbung war ihr geblieben, wie ein welkes Rosenblatt noch immer ein Rosenblatt ist.

130 In der ganzen Gegend nannte man sie nur »das Fräulein«. Sie war der gute Geist von Ilgenau, denn sie strickte und nähte für die Armen, schickte den Kranken Wein, schlichtete Familienzwistigkeiten und doctorte auch ein wenig bei den Bauersfrauen. Aber wer ihrer bedurfte, der mußte zu ihr kommen, denn sie verließ die »Plessenburg« nie. Diese Gewohnheit wurde mit der Zeit so mächtig, daß es Gewalt gebraucht haben würde, um die alte Dame nur bis ans andere Ende der Dorfstraße zu bringen.

Ihr Geburtstag war immer ein Fest für den ganzen Ort. Die Schulmädchen sangen vor ihrer Thür und überreichten Sträuße, die ansässigen besseren Familien machten Gratulationsvisite, alte Freunde aus der Stadt fanden sich ein, und gelegentlich hielt auch eine Hofequipage aus der Residenz vor dem Garten, deren rothberockte Lakaien das Entzücken der Dorfjugend waren.

Das Fräulein war nämlich in jüngeren Jahren Vorleserin und Vertraute der Königin-Mutter gewesen und unterhielt noch lange Zeit Beziehungen zum Hofe. Sie war viel mit ihrer Gebieterin gereist, liebte wie diese die Kunst und Poesie und sprach geläufig fremde Sprachen. Von ihr hatte sie die unerschütterliche lächelnde Hoheit, die ihr das Ansehen gab, als ob sie selbst dem Lande einen König geschenkt hätte.

Interessanter für uns Kinder war übrigens ihre Schwester Sophie, eine Idiotin, die den ganzen Tag in der Bettjacke schimpfend am Fenster oder am Zaun 131 ihres Vorgärtchens lag, um die Schwelle des Entreßschen Hauses zu bewachen. Sie hatte gar keinen Hinterkopf, sondern nur ein Gesicht, das deshalb wie eine Maske aussah; um den Mangel zu verdecken trug sie meist eine weiße kattunene Schlafhaube. Sprechen konnte sie nicht, sie lallte bloß, verfügte aber gleichwohl über eine große Auswahl der allergemeinsten Schimpfworte, von denen man nicht begriff, wo sie sie bei ihrer Abgeschlossenheit aufgelesen haben konnte. Onkel Entreß pflegte deshalb zu sagen, daß die Kenntniß der Schimpfwörter dem menschlichen Gehirne eingeboren sei.

Sie war sehr verliebter und eifersüchtiger Natur und übte im Orte eine Art Sittenpolizei aus; denn wenn ein Mädchen sich etwas hatte zu Schulden kommen lassen, so war sie unter den Ersten, die davon wußten. Der Kläffer Piccolo durfte nur den Kopf nach des Onkels schöner Diana drehen, so warf sie mit Steinen nach ihm, und sie trug immer einen Stecken mit sich, um den Haushahn aus dem Bereich seiner Hennen fernzuhalten. Ging aber gar ein Liebespärchen an ihrem Zaun vorüber, so rief sie ihnen greuliche Schimpfworte nach, die zum Glück von den Betroffenen ihrer lallenden Sprache wegen meist nicht verstanden wurden. – Wenn sie es zu arg trieb, so rief man den Onkel Entreß, der der Gegenstand ihrer Verehrung war, damit er sie beruhige. Sobald dieser an den Zaun trat und sagte: »Guten Abend, Fräulein Sophie, wie geht es Ihnen?« gab sie sich zufrieden und ging für den Rest des 132 Tages mit strahlendem Gesicht umher, indem sie immer von Zeit zu Zeit zu sich selber sagte: »Guten Abend, Fräulein Sophie, wie geht es Ihnen?«

An die Schwester Franz, die lange in Italien gelebt hatte, erinnerten auf der Plessenburg noch ein herrlicher Kupferstich, eine Raffael'sche Madonna darstellend, sowie ein Bildniß Dante's. Es hieß von ihr, sie sei eine überzeugte Spiritistin und Tischrückerin gewesen und habe mit den Jahren auch die viel begabtere und gebildetere Luise in ihren Bannkreis gezogen.

Tante Thekla konnte uns keine höhere Ehre erweisen, als indem sie uns auf die Plessenburg mitnahm, und es lag in der Luft, daß man sich dort äußerst gesetzt und bescheiden betrug. Das hoheitsvolle Wesen des alten Fräuleins machte mir einen so tiefen Eindruck, daß ich in ihrer Nähe kaum zu athmen wagte. Auch die Großen schienen zu ihr emporzublicken, denn sie galt allgemein für eine Dame von ganz außergewöhnlicher Bildung, und der mystische Anflug erhöhte nur das Interesse, das von ihrer Person ausging. Sie sprach gerne allein mit sich selber, und wenn sie im Garten wandelte, lag immer ein abwesendes Lächeln auf ihren Lippen. Auch sah man sie nicht selten stille stehen und den Kopf wenden, als ob sie die Antwort einer unsichtbar gegenwärtigen Person vernehme. Man wußte, daß sie griechische Philosophen las, von denen sie seltsame Glaubenssätze sich zu eigen gemacht haben sollte. So hieß es, daß sie im Windhauch die Geister der 133 Abgeschiedenen erkenne und in den Sonnenstäubchen die Seelen der Ungeborenen, die das All füllen. Dieser Phantasien gedachte man im Freundeskreis mit einem leisen, ehrerbietigen Kopfschütteln, denn das Fräulein machte keine Proselyten und äußerte sich auch gegen ihre Intimsten nur selten und andeutungsweise über ihren Verkehr mit der anderen Welt. Für die kindliche Neugier hatte das Alles einen großen Reiz, und eine Zeitlang war es unsere Lieblingsunterhaltung, uns heimlich an das verdunkelte Fenster zu stellen, um in einem Sonnenstrahl, der durch den Spalt der Jalousie hereinfiel, die künftige Generation sich tummeln zu sehen.

Das Entreß'sche Gut und die »Plessenburg« nebst den umgebenden Gärten hatten ursprünglich einen zusammenhängenden Besitz, das Erbgut Derer von Plessen, gebildet, das mit seinem prachtvollen, im Geschmack des achtzehnten Jahrhunderts angelegten Park das Wunder der Gegend gewesen war. In dem großen Haus mit der steinernen Terrasse und den hohen Schlöten waren sämmtliche drei Fräulein von Plessen geboren. Sie verkauften es zusammt dem größten Theil der Anlage an den Vater des Herrn von Entreß, um die Schulden eines leichtsinnigen Bruders zu decken, der später nach Amerika ging und dort verscholl. Nur einen schmalen, aber langen Parkstreifen mit dem sogenannten »Sommerhäuschen« hatten sie für sich behalten und das Häuschen für ihre bescheidenen Bedürfnisse zum Wohnen umgebaut. Von der Zusammengehörigkeit der beiden Häuser blieb immer etwas erhalten, indem die Scheidemauer 134 nur sehr niedrig gezogen wurde und ein festes geistiges Band die Besitzer verknüpfte. Luise von Plessen und die alte Frau von Entreß, die gleichfalls eine hochgebildete Dame gewesen sein muß, hielten eng zusammen und lebten in einer gemeinsamen idealen Welt. Der alte Entreß dagegen war ein praktischer Landwirth, und unter seinen Händen verlor das Gut allmählich ganz den ursprünglichen Charakter. An Stelle der Laubgänge und herrlichen Blumenbeete traten lange Reihen von Birnen- und Pflaumenbäumen, die künstlichen Ruinen verschwanden, der durch unterirdische Röhren gespeiste Weiher wurde zur Viehtränke hergerichtet, und in unseren Tagen existirten auch die Borkenhütte und der chinesische Tempel, die die allgemeine Umwälzung noch eine Zeitlang überdauert hatten, nur noch in der Erinnerung.

Drüben auf der Plessen'schen Seite aber, durch die Grenzmauer und eine daranschließende Hecke den Blicken entzogen, lebte und webte noch die alte Zeit. Sie war auf den engsten Raum zusammengedrängt, aber sie war noch lebendig und wirksam. Ein zauberhafter Friede lag über diesen duftenden Blumenterrassen, diesen altmodischen Taxuswänden, diesen epheuumsponnenen Mauernischen, in deren einer noch eine gipsene Ceres ohne Arme thronte. Selbst die Blumen rochen nach Vergangenheit, nicht nach einer todten, welken Vergangenheit, sondern nach einer von der Erinnerung verklärten, die schöner ist als die Gegenwart. Für uns Kinder hatte diese fremde Welt 135 eine übermächtige Anziehung; wir stiegen oft auf die niedrige Grenzmauer, um hinüberzublicken, und wir meinten, auch der Sonnenschein, der drüben auf den Beeten spielte, das Summen der Mücken und das Schwärmen der Bienen gehörten einem anderen Jahrhundert an.

Deutlich erinnere ich mich noch an ein glänzendgrünes, sonnbeschienenes Rasenrondell mit einer großen Vase in der Mitte. Von dort führten Taxusalleen sternförmig nach allen vier Seiten des Gartens; ovale, von niedrigem Buchs umsäumte Blumenbeete lagen dazwischen. – Bei diesen sah man häufig das Fräulein selbst mit Gießkanne und Gartenschere hantiren, wobei sie starke lederne Handschuhe trug, um die zarte Weiße ihrer Hände zu schonen. – Durch den Mittelgang gelangte man an das obere Ende der Parkmauer, wo unbeschnittene Rosen- und Weißdornhecken ein fast undurchdringliches Dickicht bildeten. In der Ecke stand eine herrliche Gruppe von Trauerweiden, und unter den Weiden barg sich das Geheimniß der Plessenburg.

Das Geheimniß der Plessenburg aber war nichts Anderes als ein Grab.

Ich hatte es niemals mit Augen gesehen, aber ich wußte, daß es da war.

Ein Grab! Das bloße Wort regte meine tiefste Neugier auf. Darin lag ein Ding, das einst ein Mensch gewesen, und von dem jetzt nichts mehr übrig war als die Erinnerung. Ein Mensch, der umherging und aß und trank und sprach und lachte wie 136 wir. Wie er ausgesehen haben mochte, dieser Mensch, der da drüben an der Parkmauer schlief, und über dessen Haupt die Bienen summten? Ich mußte immer an seine Nähe denken, und das Grab war vor Allem Ursache, daß ich so gerne auf das Mäuerchen stieg.

Gräber, das wußte ich, befanden sich sonst nur auf Kirchhöfen, und ich suchte vergebens zu errathen, auf welche Weise ein Grab in dieses stille Lustgärtchen kam. Gelegentlich hatte ich auch sagen hören, es sei »Werther's Grab,« aber dadurch war ich um nichts klüger geworden, denn ich wußte ja nicht, wer dieser Werther war.

Auf die Fragen, die mich bewegten, gab mein viel älterer Spielkamerad Ludolf, ein Schwestersohn des Onkels Entreß, Auskunft.

Dieser Knabe war erschreckend klug, und der Onkel Entreß nannte ihn nur den »Doktor Allwissend.« Von jedem Berg konnte er augenblicklich die Höhe, von jeder Stadt die genaue Einwohnerzahl angeben. Sobald ein Stichwort fiel, zog er ein Schubfach seines Gehirnes auf und brachte einige auf den Gegenstand bezügliche Daten oder Zahlen hervor.

Als ich ihm meine Zweifel wegen des Grabes anvertraute, sagte er:

»Der Werther war ein Selbstmörder, und Selbstmörder begräbt man nicht in geweihtem Grund.«

»Was ist das, ein Selbstmörder?« fragte ich schaudernd.

»Ein Selbstmörder ist Einer, der sich selbst das Leben nimmt. So Einer, wie der Vetter Jasmund.«

137 Alsbald stand die unheimliche Gestalt eines Verwandten der Entreß'schen Familie vor mir, bei dessen Ankunft ich mich jedesmal versteckte, denn er trug ein schwarzes Lederläppchen auf der Stirn, und unter diesem Läppchen, hieß es, sei die Stelle, wo er sich selbst eine Kugel hineingeschossen habe.

Als Ludolf den tiefen Eindruck seiner Mittheilung sah, erzählte er mir Alles, was er von Werther wußte. Unter Anderem sagte er, Werther habe einen blauen Frack mit gelber Weste angehabt, als er sich erschoß. Warum dieses Detail mein Entsetzen noch vermehrte, weiß ich nicht, aber es war so. Der unglückliche Werther war fortan der Alp meiner Kinderträume: immer sah ich ihn im blauen Frack mit gelber Weste durch einen langen Gang auf mich herankommen, er hatte das bleiche, todestraurige Gesicht des Herrn von Jasmund, und über der durchschossenen Stirn trug er ein schwarzes Lederläppchen. Aber der Reiz war stärker als das Grauen, und es zog mich jetzt noch mehr als sonst nach der geheimnißvollen Stelle.

Gerne hätte ich von Ludolf erfahren, weshalb der Werther die That gethan, aber mit dieser Frage kam ich an den Unrechten, denn Ludolf's Hirn befaßte sich nur mit Thatsachen; für die inneren Vorgänge interessirte er sich nicht.

»Ich glaube, aus Liebe,« sagte er schließlich wegwerfend, als ich mit Fragen nicht nachließ.

Dagegen beschrieb er mir eingehend das Grab mit seiner Umgebung, das er einmal genau besichtigt 138 hatte, als er sich zufällig ganz allein im Plessen'schen Garten befand. Nach seiner Schilderung war es ein viereckiges Rasenstück, von den mächtigen alten Trauerweiden ganz überdeckt und mit den schönsten Blumen bepflanzt. Darauf erhob sich über niedrigem Sockel ein gebrochener Säulenschaft, mit marmornem Lorbeerkranz umwunden. Derselbe trug keinen Namen, nur eine lange Inschrift, die nur Ludolf auswendig hersagen konnte. Denn er hatte ein phänomenales Gedächtniß, das alles einmal Gehörte oder Gelesene wörtlich festhielt, und wenn er am Leben geblieben wäre, so hätte er ein statistisches Genie werden müssen. Er starb aber noch, bevor er die Universität bezog, die Aerzte sagten, an Anämie; ich habe mich jedoch nie der Vermuthung entschlagen können, daß er an einer Ueberfüllung des Gehirns mit Thatsachen gestorben sei. – Der Spruch, den er mir mit geschlossenen Augen mechanisch herleierte, hieß: »Morgen wird der Wanderer kommen, kommen, der mich sah in meiner Schöne; ringsum wird sein Auge mich suchen und wird mich nicht finden.«

Auf der anderen Seite stand ein griechisches Wort, das nach Ludolf's Erklärung so viel bedeutete wie: »Lebe wohl!« oder »Sei gegrüßt!«

Da meine Neugier bei Ludolf keine weitere Nahrung fand, forschte ich Thekla nach dem Geheimniß der Plessenburg aus.

Aber sie konnte mir wenig Auskunft geben, denn der Trieb, die Dinge zu ergründen, lag nicht in ihrer Natur. Sie wußte nur, daß das Grab schon zur 139 Zeit ihrer Schwiegermutter dagewesen war, daß aber nie von demselben geredet wurde. Jedenfalls sei es das Grab einer dem Fräulein nahestehenden Person, sagte sie, denn diese sowohl wie die »Schwester Franz« – so wurde die Verstorbene auch von den Freunden genannt, in Anerkennung, daß Luise die Hauptperson war – hätten es stets mit eigenen Händen gepflegt und viele Stunden des Tags in stiller Sammlung dort zugebracht. Auch würde niemals eine fremde Person dorthin geführt, und man habe mit Absicht Bäume und Gebüsche auf dieser Seite des Gartens verwildern lassen, um das Grab den Blicken der Besucher zu entziehen. – Thekla selber hatte es nie gesehen. Sie nahm an, daß eine besonders schmerzhafte Erinnerung damit verknüpft sei, irgend ein tragisches Familiengeheimniß, das vielleicht außer ihrer verstorbenen Schwiegermutter keinen fremden Mitwisser gehabt habe. Denn diese sei oft in früheren Jahren mit den beiden Freundinnen an dem stillen Ruheplatz gesessen und habe zuweilen auch Kränze dorthin getragen, ohne je den Namen des Todten zu nennen, dessen Andenken sie damit ehrte.

»Warum fragst Du nicht das Fräulein selber?« sagte ich.

Aber Thekla antwortete, daß dies sehr unpassend wäre, und daß sie auch gar nicht neugierig sei. Einmal, noch zu Lebzeiten der Schwester Franz, habe ein vorlauter Besucher, nachdem er heimlich bis zu dem Grabmal vorgedrungen sei, diese Frage gestellt, aber das Fräulein habe den Unbescheidenen mit einem 140 Blicke angesehen, daß ihm das Weiterfragen vergangen sei. Und die Schwester Franz sei gleichfalls über die Unschicklichkeit sichtlich bestürzt gewesen. Seit der Zeit würde sich Niemand mehr eine solche Freiheit herausnehmen.

Jetzt konnte ich mein Licht nicht länger unter den Scheffel stellen. Ich rückte ganz nahe zu ihr heran und flüsterte in ihr Ohr:

»Weißt Du denn nicht? In dem Grab liegt ein Selbstmörder, wie der Vetter Jasmund.«

Tante Thekla fragte, wie ich zu dem Einfall komme, und nun erzählte ich ihr, was ich von Ludolf wußte: daß der Verstorbene Werther geheißen, einen blauen Frack mit gelber Weste getragen und sich aus Liebe erschossen habe. Aber Thekla lächelte und schenkte diesen Mittheilungen keine Beachtung.

Ich konnte nicht wie Thekla von mir rühmen, daß ich nicht neugierig sei, vielmehr brannte ich vor Verlangen, das Grab zu sehen. Ich gab mir alle Mühe, Ludolf zu einer gemeinsamen Expedition in den Nachbarsgarten zu bewegen. Aber Ludolf wollte sich nicht dazu verstehen, denn nachdem er einmal die Lokalität besichtigt und alle auf das Grab bezüglichen Thatsachen in seinem Gehirn verzeichnet hatte, war für ihn die Sache abgethan. Und um nichts auf der Welt hätte ich mich auf eigene Hand an die Stelle gewagt, die mich dämonisch anzog. Wir kamen endlich überein, daß ich allein die Mauer übersteigen und den Gang nach Werther's Grab antreten sollte, während Ludolf oben sitzend als Schildwache 141 zurückbleiben und mir durch seine Nähe eine moralische Unterstützung gewähren wollte. Aber kaum hatte mein zagender Fuß die Mittelallee betreten, die nach der oberen Parkmauer führte, als der Verräther Ludolf mit dem Schrei: »Hu, der Werther kommt!« hinuntertauchte und verschwand.

Ich machte rechtsum und rannte, so schnell ich konnte, dem Wohnhaus zu, während in meinem Rücken ein lautes Gekläff erscholl, und etwas Scharfes mir plötzlich hinterrücks in die Kniekehle fuhr. Ich meinte, der Werther habe mich gefaßt, und fiel laut schreiend in zwei Arme, die sich mir entgegenstreckten.

Es war meine Freundin Julie, die Nähterin des Dorfes, die, mit einem Zeuglappen in der Hand und die Brust mit Nadeln bespickt, mir die Treppe herunter zu Hülfe flog. Ich schluchzte meine Angst in ihren getreuen Armen aus. Schon hatte sich das ganze Haus um mich versammelt, das Fräulein kam in eigener majestätischer Person heran, die Dienerin brachte ein Becken mit Wasser, und der Missethäter Piccolo duckte sich scheu daneben ins Gesträuch. Das gebissene Knie wurde untersucht, und das Fräulein ließ es sich nicht nehmen, die Wunde selber auszuwaschen und mit schneeweißem Leinenzeug zu verbinden, wobei ich die Berührung ihrer linden, weißen, noch völlig glatten Hände äußerst wohlthuend empfand. Dann wurde ich mit ausgestrecktem Bein auf der grünen Bank unter den Maulbeerbäumen gebettet, und als Thekla auf die Nachricht von dem Unfall herüberflog, hatte ich Schmerz und Schreck, sowie den 142 Zweck meiner Unternehmung, nach dem mich zum Glück Niemand fragte, in Juliens Gesellschaft vergessen.

Julie war die Tochter des Sägemüllers, dessen Anwesen drüben am rechten Lindachufer unter der schönen Erlengruppe stand. Ein Herzleiden machte sie gebrechlich, weshalb ich sie für ziemlich betagt hielt, obgleich sie nicht viel über zwanzig zählte. Sie trug sich auch so dunkel und unscheinbar wie eine Alte, und ihre schweren braunen Zöpfe, die ihre einzige Schönheit waren, versteckte sie in einem schwarzen, filetgestrickten Seidennetz, unter dem ihre Stirne unförmlich hoch erschien. Aber in ihrer verkümmerten Gestalt barg sich ein Feuergeist. Ihre großen Augen hatten oft einen brennenden Glanz, der mehr als von der Krankheit von dem hohen Schwung ihrer Seele herrührte, denn sie schwebte immer in Erdferne und machte dabei rührend schlechte Kleider, alle nach dem gleichen Schnitt für Jung und Alt. Wie auch die Mode wechselte, es war unmöglich, sie zu einer Aenderung in ihrem Schnittmuster zu bewegen. Wenn man ihr ein neueres Modell vorlegte, um es zu kopiren, so betrachtete sie es gelassen von allen Seiten und gab es dann zurück, indem sie mit freundlicher Entschiedenheit sagte: »Das hat keinen höheren Werth.«

Julie war die Vertraute aller Seelenschmerzen im ganzen Ort, denen sie reichlichen Thränenzoll weihte, und wenn irgendwo ein Sterbefall eingetreten war, so erschien sie auch ungerufen im Hause, nähte 143 und weinte. Dabei war sie ebenso tapfer wie gefühlvoll, und jedes Unrecht hatte an ihr eine offene, unversöhnliche Widersacherin.

Für mich gab es keine größere Freude, als wenn ich Julie auf der Sägemühle besuchen durfte. Ich saß dann bei ihr in dem kleinen Stübchen über dem Fluß, wo der Boden schütterte und die alten Erlen zum Fenster hereinsahen, und sie erzählte mir, während sie nähte, schaurige Sagen. Wenn sie aber feierlich gestimmt war, dann ließ sie die Arbeit liegen und deklamirte mit schrecklich falschem Pathos, das jedoch von mir höchlich bewundert wurde, »Hektor's Abschied.« Sie hatte immer irgend einen Band Poesie, der dem Fräulein gehörte, auf ihrem Nähtisch liegen und schwärmte für die Griechen, mit deren großen Namen und Thaten sie gerne das Gespräch würzte; und wenn dabei auch kleine Verwechselungen mit unterliefen, so schadete das nichts, denn ich war noch nicht im Stand, sie zu controliren. Sie liebte alles Heroische, und es war ein öffentliches Geheimniß, daß Onkel Entreß, in dem sie das Urbild heldenhafter Männlichkeit sah, der Gegenstand ihrer verschwiegenen Neigung war. Wir Kinder neckten sie auch bisweilen, indem wir ihr Liebesbriefe schrieben, als ob sie vom Onkel kämen. Sie war natürlich über deren Herkunft keinen Augenblick im Zweifel, denn schon die Krakelfüße verriethen ihre Urheber; dennoch machten ihr die Briefe das größte Vergnügen, weil sie ihrer Einbildungskraft schmeichelten. Ja, es wurde mir sogar später erzählt, daß sie sich in ihrer 144 letzten Krankheit unsere Briefe habe unter das Kopfkissen legen lassen, um sich durch das unschuldige Spiel über ihr kurzes, freudeloses Leben zu trösten, und daß sie, mit dem Haupt auf diesen Blättern ruhend, entschlummert sei.

Julie lebte in innigster Freundschaft sowohl mit dem Fräulein wie mit Tante Thekla, denn Standesvorurtheile gab es in Ilgenau nicht, und auch der Abstand der Jahre spielte keine Rolle. Nur daß das Fräulein die jüngeren Freundinnen duzte, was von diesen nicht erwidert wurde. Der reinste Idealismus verband diese drei Naturen, an die sich alle zartbesaiteten oder hochstrebenden Seelen im Ort anschlossen. Luise von Plessen hatte schon seit einer Reihe von Generationen der Weiblichkeit von Ilgenau ihren Stempel aufgedrückt.

An gewissen Nachmittagen kamen diese Frauen mit dem Strickbeutel zusammen, redeten von den letzten Unglücks- und Sterbefällen in ihrer Bekanntschaft und weinten dazu, indem eine Jede an ihre eigenen Schmerzen, geträumte, oder wirkliche, dachte. Das geschah so recht mit Lust, und wenn sie sich ausgeweint hatten, schenkten sie Kaffee ein, aßen Kuchen und waren wieder guter Dinge. Dieses Thränenconventikel war zwar den Männern ein Greuel, und Onkel Entreß nannte es ungalant das »Heulkränzchen,« aber für die Frauen hatte es großen Werth, denn sie reinigten und entluden sich dabei auf Wochen hinaus von aller Trübsal und Bitterniß, daß sie die Zwischenzeit in heiterer Rüstigkeit zubringen konnten.

145 Eine höhere Weihe schwebte über diesen Zusammenkünften, wenn sie auf der Plessenburg stattfanden. Ein solcher Nachmittag, dem auch ich beiwohnen durfte, steht mir noch ganz lebendig vor der Seele. Es war dazu, außer den anderen Gästen, auch die Oberin eines adligen Frauenstiftes aus der Nachbarschaft herübergekommen, und diese neue Gestalt erregte mein tiefstes Interesse; denn sie war, obwohl nicht mehr jung, von ungewönlicher, vornehmer Schönheit und trug einen der stolzesten Namen des Landes. Ich konnte die edlen Züge im Rahmen der schwarzen Haare und die zarte Weiße der Haut nicht genug anstaunen, und obwohl ich sie nur dieses eine Mal gesehen habe, ist ihre Erscheinung mir unvergeßlich geblieben. Julie machte mir später Andeutungen, als ob jener bleiche Herr von Jasmund in ihrem Leben eine Rolle gespielt habe: doch das lasse ich dahingestellt, denn Juliens Phantasie sah überall Liebesromane.

Das Fräulein behandelte den edlen Gast mit einer Auszeichnung, die nicht dem hohen Stand und der Stellung gelten konnte. Sie drückte ihr wiederholt über den Tisch die Hand und sagte dabei ein Wort, das mir unbekannt war und mich durch seinen fremdartigen Klang und die Betonung, womit es gesprochen wurde, noch lange verfolgte.

Dieses Wort, an dessen Bedeutung auch der Doktor Allwissend zu Schanden wurde, hieß »Missolunghi.«

Das Fräulein hatte ein von ihrer Hand 146 geschriebenes Buch auf dem Tische liegen, das auf der gepreßten Lederdecke mit fingerlangen Goldbuchstaben die Aufschrift »Poesie« trug. Aus diesem las sie mit leuchtenden Augen ein Gedicht, worin unter vielen großartig fremden Namen ein einziger meinen Ohren geläufiger, der Familienname des anwesenden Stiftsfräuleins, vorkam. Von dem Gedicht, das mich sehr entzückte, habe ich nur die eine Strophe behalten:

»O Missolunghi, Deine Gräber glänzen –«

Im Uebrigen blieb mir der Sinn der Verse ziemlich dunkel, denn er schwebte und schwankte in den unbestimmten Linien einer heroischen Schwärmerei. Um so stärker wirkte die feierliche Sprache, und es war, als müßte jetzt gleich etwas ganz Außerordentliches geschehen. Julie saß mit weit offenen, glänzenden Augen, als starrte sie einer glorreichen Vision entgegen, und Thekla legte beide Arme um das Fräulein, wie aus Furcht, daß sie ihr durch die Lüfte davongetragen werden könnte.

Sie hatte wohl Grund, die hülflose kleine Frau, sich so eng an ihre Beschützerin zu klammern, denn das Fräulein war ihr einziger Halt. Sie allein durfte es wagen, den Onkel Entreß bisweilen abzukanzeln und das verschüchterte Frauchen gegen seine Brutalitäten in Schutz zu nehmen. Sie hatte ihn schon als kleinen Jungen gekannt, und das eingewurzelte Respectsverhältniß machte ihn gegen das alte Fräulein zahm. Außerdem war Luise von Plessen die Großtante jener kühnen Amazone, der Onkel 147 Entreß sein Herz nachgeworfen hatte. Im Empfangszimmer der Plessenburg hing ein hübsches Pastellbild der Baroneß Clémence, nach dem er lange Zeit das heftigste Verlangen trug. Doch das Fräulein verweigerte ihm das Geschenk, weil sie sich über des Mannes hartnäckige und absichtliche Selbstverblendung ärgerte, und sie sagte oft, daß es nur der Reiz des unerlangten Wunsches sei; denn wenn Herr von Entreß ihre Nichte bekommen hätte, so würde er sie um nichts besser behandeln als die arme Thekla. Aber diese selber setzte es durch, daß sie das Bild durch einen zeitweilig im Ort anwesenden Maler copiren lassen durfte, zur Ueberraschung für ihren Gatten; eine Güte, die ihr freilich schlecht bekommen sollte, denn der eigensinnige Mann verbohrte sich über dem täglichen Anblick noch mehr in seinen Wahn. Nie konnte er das Bild betrachten ohne seine Frau durch einen verletzenden Vergleich zu kränken. »Das war eine andere als Du,« pflegte er jeden Augenblick zu sagen oder: »Glücklich der Mann, dem ein solches Weib zu Theil wird.« Das alles ertrug sie mit freundlicher Miene, indem sie sogar selber an dem Cultus für die Amazone Theil nahm; und die Copie, die über ihres Mannes Schreibtisch hing, stäubte sie jeden Tag mit eigenen Händen ab.

Sie war auch die einzige, die ihm geduldig zuhörte, wenn er von der Baroneß Clémence zu reden anhub, und sie wußte nachgerade jedes Wort auswendig, das die Beiden mit einander gesprochen hatten. Nichtsdestoweniger ließ sie sich die Geschichte 148 ihrer Bekanntschaft immer aufs Neue erzählen, denn dies war das einzige Mittel, ihn ab und zu in ihrer Nähe festzuhalten. Seine Schwärmerei für die Baroneß Clémence verhinderte ihn aber nicht, ein sehr scharfes Auge für die aufblühenden Dorfschönheiten zu haben, und Thekla wußte wohl, daß er ihr nicht treu war; aber sie trug auch das mit Engelsgeduld, ohne ihr goldenes Gemüth durch Eifersucht vergiften zu lassen. Wer hingegen über des Onkels Liebschaften fuchsteufelswild wurde, das war die Idiotin, die stets auf dem Laufenden war, und wenn ein solches Mädchen sich nur von Weitem dem Entreßschen Hause näherte, so erhob sie von ihrem Posten hinter dem Zaun ein wüthendes Geschrei.

Von all' diesen Dingen waren wir Kinder aufs Genaueste unterrichtet, ohne daß ich sagen könnte, wer sie uns erzählte. Sie lagen in Ilgenau gleichsam in der Luft, denn Niemand hatte dort vor seinen Nachbarn Geheimnisse, und außerdem wurde zwischen Kindern und Erwachsenen wenig Unterschied gemacht: wie die Großen sich willig zu Spielkameraden der Kleinen hergaben, so nahmen sie auch keinen Anstand, uns durch die Gespräche, die sie vor unseren Ohren führten, in ihre Welt hereinblicken zu lassen. Nur dem Geheimniß, das Werther's Grab umschwebte, war ich noch um keinen Schritt näher gekommen, ja ich hatte das Grab, das meine Einbildungskraft so stark beschäftigte, noch immer nicht mit Augen gesehen.

Da berief mich eines Abends Julie, die gerade 149 im Entreß'schen Haus nähte, geheimnißvoll in den Garten und bat mich, ihr beim Schneiden von Laub und beim Winden von Kränzen behülflich zu sein; es müsse heimlich geschehen, und Niemand als wir beide dürfe darum wissen. Natürlich war ich gleich mit ganzer Seele bei der Sache. Wir füllten einen großen Waschkorb mit Eichenlaub, Immergrün, Stechpalmen und anderem Grünzeug, dann setzten wir uns im hintersten Winkel des Gartens und flochten die Kränze, wobei ich ihr die Zweige reichte und sie dieselben kunstvoll um den Reif aus Weidengerten befestigte. Zuletzt wanden wir noch einen kleineren Kranz aus lauter dunkelrothen Rosen, der wunderbar duftete. Aber wie sehr ich in sie drang, Julie wollte mir nicht sagen, für wen die Kränze bestimmt seien. Sie verhieß nur, daß ich ihr in aller Frühe behülflich sein dürfe, sie an Ort und Stelle zu bringen, und daß sie mich zu diesem Zweck zeitig wecken werde. Julie pflegte nämlich, wenn es viel Näharbeit gab, im Entreß'schen Hause zu schlafen, und dies waren, glaube ich, ihre glücklichsten Stunden, weil Onkel Entreß Abends vor Schlafengehen noch auf der Schwelle der Nähstube erschien und freundlich mit dem Kopfe nickte. Auf dieses Kopfnicken freute sie sich den ganzen Tag.

Des anderen Morgens erschien sie auch richtig ganz früh an meinem Bett und hieß mich leise aufstehen. Ich fuhr schnell in die Kleider und folgte ihr in den Garten, wo wir die Kränze im Brunnentrog aufbewahrt hatten. Es war schon ganz hell, obgleich 150 die Sonne noch hinter den Bergen stand. Wir liefen schnell mit unseren Kränzen durch die feuchten Gartenwege nach dem Grenzmäuerchen, und ich stellte keine Fragen mehr, denn jetzt wußte ich, wohin der Weg ging. Leise und vorsichtig stiegen wir hinüber, um Piccolo, der drüben im Hause schlief, nicht zu wecken. Dann schlichen wir durch den Taxusgang nach der oberen Parkmauer, bis dichtes Gestrüpp uns den Weg versperrte. Julie fand ohne Mühe den Durchgang. Wir traten auf lichtgrünen Rasen, und in der Mauerecke schimmerte uns etwas Weißes durch die Zweige der Trauerweiden entgegen. Es war der Stein von »Werther's Grab.«

Zwei Weiden standen rechts und links und ließen wie weinende Dryaden ihr langes grünes Gelock bis zur Erde niederhängen, daß es, weit ausgebreitet, einen rund umschlossenen grünen Tempel bildete. Die dritte war hinter den Grabstein gepflanzt und stieg hoch und strack hinauf, indem sie nur ganz oben eine breite Krone trieb, deren grüne Fahnen wie Fransen eines Baldachins hoch in der blauen Luft über den geneigten Wipfeln ihrer Nachbarinnen hingen.

Wir schoben die Zweige wie einen Thürvorhang zurück und fanden uns in einer grünen Dämmerung, die von der aufsteigenden Sonne durchleuchtet war. Ich umging das Grab von allen Seiten, entzifferte die Inschrift, die ich schon kannte, und sah mir lange die unverständlichen griechischen Buchstaben auf der Rückseite an. Der Hügel war mit Epheu und 151 Vergißmeinnicht umrandet und sorglich gepflegt, wie es sonst nur frische Gräber sind. Daneben stand eine steinerne Bank, auf der das Fräulein und auch die Schwester Franz, als sie noch lebte, lesend oder stickend ihre Stunden zu verbringen pflegten.

Schnell war das ganze Grab mit unseren Kränzen bedeckt, und Julie kauerte daneben, um sie zurecht zu rücken. Den blutrothen, den ich am Fußende niedergelegt hatte, nahm sie weg und befestigte ihn an dem marmornen Säulenschaft.

Ihre Augen glänzten wie zwei Feuerflammen, als sie mir geheimnißvoll sagte:

»Heute ist der Tag der Schlacht von Salamis.«

Darauf stand sie lange schweigend, wie in stummem Gebet. Aber an der Art, wie sie die Lippen bewegte, merkte ich, daß sie Verse vor sich hin murmelte, und ich meinte auch das Wort »Missolunghi« wieder zu hören.

Plötzlich kniete sie vor dem Hügel nieder, lehnte den Kopf an die steinerne Umrandung und ergoß ihre verhaltenen Gefühle in einen Thränenstrom.

Als sie sich satt geweint hatte, stand sie auf, faßte mich schweigend bei der Hand und zog mich fort, indem sie den Finger auf den Mund legte. Eilig huschten wir längs der Mauer und Hecke hin, bis wir die bequemste Stelle zum Ueberklettern fanden und machten erst drüben auf Entreß'schem Boden Halt. Julie war außer Athem und hielt mit beiden Händen ihr stark klopfendes Herz.

»Julie,« sagte ich und war froh, endlich wieder 152 reden zu dürfen, »wenn aber das Fräulein sieht, daß wir Werther's Grab bekränzt haben –?«

»Es ist nicht Werther's Grab,« antwortete sie. »Wie kommst Du auf die Dummheit?«

»Der Ludolf hat es gesagt.«

»Ach, der will Alles wissen und weiß gar nichts.«

Sie wollte weiter gehen, aber ich ließ sie nicht von der Stelle. Ich legte beide Arme um ihren Leib, was ihr bei ihrem großen Liebesbedürfniß sehr wohl that, bat und drängte und schmeichelte, bis sie endlich sagte:

»Ich weiß, Du bist ein verschwiegenes Kind« – das war ein Lob, das ich in der That verdiente – »ich will es Dir sagen. Aber schwöre mir« – und sie hob drei Finger auf – »daß Du ewig schweigen willst.«

Ich that, was sie verlangte.

Darauf theilte sie mir in gedämpftem Tone mit, daß in dem Grab der Jugendverlobte des Fräuleins liege, der für die Freiheit der Griechen in den Tod gegangen sei.

»Ich weiß es nicht von ihr selber,« setzte sie hinzu, »denn sie spricht nie von dem Grabe. Die Schwester Franz hat es mir anvertraut. So lange sie lebte, haben wir immer gemeinsam an diesem Morgen das Grab mit Kränzen geschmückt. Seitdem sie todt ist, besorge ich's allein. Das Fräulein darf nicht wissen, von wem die Kränze kommen. und sie fragt auch nie danach.«

Sie erzählte mir ferner, daß das Fräulein sie 153 einmal in vertrauter Stunde das Bildniß des Verstorbenen habe sehen lassen, das sie in einem Saffianfutteral in ihrem Geheimschubfach aufbewahre. Es stelle einen Jüngling von idealer Schönheit vor. Auch etwas Geschriebenes von seiner Hand habe sie ihr gezeigt, einen Stammbuchvers über den Schmerz, der sei unsäglich schön, und wer ihn gelesen habe, möchte gern sein Leben lang Schmerzen leiden. Außerdem wollte sie noch wissen, daß der Verstorbene Hyperion geheißen habe; das aber glaubte ich ihr nicht, denn es klang mir gar zu befremdlich.

Ihre Griechenbegeisterung übersprang an jenem Tage alle Grenzen und schlug ihr in Blitzen aus den Augen. Sie sagte, wenn sie die Wahl hätte, würde sie das Loos des Fräuleins dem höchsten Erdenglück vorziehen, so groß sei die Ehre, den geliebten Gegenstand für die Freiheit eines edlen Volkes hinzugeben.

Und auf dem Rande des Brunnens sitzend hielt sie mir einen kleinen geschichtlichen Vortrag über die Freiheitskämpfe der Griechen, wodurch sie jedoch in meinem Kopf eine böse Verwirrung anrichtete. Denn sie warf die griechischen Unabhängigkeitskämpfe aus den zwanziger Jahren mit den Befreiungskriegen der alten Hellenen zusammen, verwechselte die Türken mit den Persern, und die Namen Lord Byron, Themistokles und Marco Botzaris fielen beständig durch einander. Doch was ihr an Kenntniß der Thatsachen abging, das ersetzte sie durch glühende Ueberzeugung. Sie sah aus, als ob sie jeden Augenblick bereit wäre, 154 eine griechenfeindliche Flotte in die Luft zu sprengen. Ihre erhabene Ausdrucksweise stand dabei zu dem breiten Dialekt, den zu mildern ihr nicht recht gelingen wollte, im sonderbarsten Gegensatz, und besonders das Wort »Philhellenen,« das sie oft gebrauchte, wurde in ihrem Munde so gedehnt, daß es meinem Ohr wie »Vielhellenen« klang und von mir als die Bezeichnung für eine sehr große Griechenschar, vielmehr für das ideale Gesammthellas aufgefaßt wurde. Ihr Feuer gab diesen längst verklungenen Ereignissen eine solche Lebendigkeit, daß es mir schien, als ob sie von gestern wären. Und wie nahe rückten sie erst, als Julie mir erzählte, daß es der Vater jener schönen, von mir so sehr bewunderten Stiftsdame gewesen sei, der das Corps der »Vielhellenen« befehligt habe, und daß der Tapfere in dem von ihm verteidigten Missolunghi an der Seite des englischen Dichters Lord Byron begraben liege. Dadurch erhielt jene ferne Vergangenheit eine persönliche Beziehung, und auf die Gestalten, die damit zusammen hingen, fiel wiederum ein verstärkter Glanz zurück, der heute noch ihr Andenken verklärt. Aber niemals beschäftigte ich mich mit der Frage, wer die Gebeine jenes jugendlichen Freiheitskämpfers, der fern auf dem Boden von Hellas gefallen war, nach Ilgenau gebracht haben könne, und der guten Julie erging es offenbar ebenso.

So harmlos und unkritisch, so anspruchslos nach außen und so reich nach innen lebten zu jener Zeit die Bewohner von Ilgenau.

155 Aber alles irdische Wesen hat den Keim der Verwandlung in sich, und so waren auch damals schon im Stillen Mächte am Werk, die der ganzen Idylle ein gründliches Ende machen sollten.

Seit mehreren Jahren war ein von auswärts gekommener Industrieller am Orte ansässig, der ein großes Grundstück nahe am Flüßchen gekauft und eine Ziegelei nebst Kalkbrennerei darauf errichtet hatte. Seine rauchenden Schlöte waren den beschaulichen Seelen von Ilgenau Anfangs ein Aergerniß gewesen; da sie aber den Bedürftigen Brot gaben, söhnte man sich mit dem unschönen Anblick aus. Auch daß allmählich immer mehr von dem schönen Wiesengrund aufgerissen und in schmutzige Lehmgruben verwandelt wurde, mußte man gut heißen, weil der ökonomische Vortheil den ästhetischen Schaden aufwog. Die Ziegelei schien gut zu rentiren, denn der Betrieb wurde erweitert, und Arbeitskräfte aus den benachbarten Ortschaften wurden herangezogen. Das brachte vermehrte Bewegung nach Ilgenau, ein neues Wirthshaus entstand, und die Kramläden kamen in Flor. Dagegen nahm die Sicherheit und ländliche Stille ab; es gab Raufhändel zwischen den Bauern und Arbeitern, und ich erinnere mich, daß in einer Nacht dem Onkel Entreß sämmtliche Apfelbäume geleert wurden – ein Fall, der seit Menschengedenken nicht erhört worden war und der zur Folge hatte, daß von nun an der schreckliche Harraß im Obstgarten schlafen mußte, wodurch es dort sogar für die Hausgenossen nicht mehr recht geheuer war.

156 Der Ziegeleibesitzer – er hieß Klary – wurde allmählich im Ort eine wichtige Persönlichkeit, die sich in alle öffentlichen Angelegenheiten mischte. – Er war ein sogenannter »schöner Mann« mit schwarzem Bart und apfelrothen Wangen, der Anfangs seines Aeußeren wegen besonders beim weiblichen Theil der Bevölkerung einen günstigen Eindruck hervorbrachte; es wurde sogar eine Zeitlang gestritten, wer schöner sei, er oder der Onkel Entreß. Doch trug des Onkels martialische Erscheinung wie billig den Sieg davon.

Frau Klary trat mit großen Ansprüchen auf, sie machte häufig Besuche bei Thekla und Fräulein von Plessen, wo sie immer sehr freundlich empfangen wurde; nur in dem idealen Kränzchen, dem sie gerne beigetreten wäre, fand sie keine Aufnahme.

Sie hatte noch mehr Kleider als Tante Thekla, stand aber schwerlich zu ihnen in einem so mysteriösen Verhältniß wie diese. Dafür waren ihre Kleider die Bewunderung der ganzen Gegend, so bestimmt auch Julie versicherte, daß sie jedes ethischen Werthes ermangelten.

Julie hatte gegen das ganze Klary'sche Haus eine instinctive Abneigung; es war, als ob sie von dort her das Eindringen einer fremden, der ihrigen feindseligen Weltanschauung witterte. Dazu kam, daß Herr Klary ihr einmal, als sie im Hause nähte, persönlich zu nahe getreten war. Julie hatte sich nämlich beim Nähen unter den Daumennagel gestochen und war schleunigst gelaufen, die Nadel in 157 Butter zu stecken, damit der gestochene Daumen sich nicht entzünde. Das war so Brauch bei den Nähterinnen, und Julie hatte nie über die Zweckmäßigkeit desselben nachgedacht. Da kam Herr Klary hinzu und machte sich über ihren Aberglauben lustig. Diesen Spott vergab sie ihm nie, denn sie war sich bewußt, ein gebildetes Mädchen zu sein, und verlangte, daß man sie auch dafür anerkenne.

Als Herr Klary den Boden von Ilgenau hinlänglich erforscht hatte – sowohl im wörtlichen als auch im figürlichen Sinne – erwarb er das Staatsbürgerrecht, und es hieß, daß er sich in den Landtag wählen lassen wolle. Aber damit hatte es gute Wege. Seine Popularität stand auf sehr schwachen Füßen, obgleich er sich als Wohlthäter des Landes aufspielte und es in einem gewissen Sinne auch war. Er hielt seine Arbeiter gut, steuerte viel für öffentliche Zwecke bei und half gerne den Armen, besonders wo es mit einiger Ostentation geschehen konnte. Jedoch diesen Verdiensten stand eine den Gebildeten wie dem Landvolk gleich unerträgliche persönliche Manier gegenüber. Herr Klary war ein unterrichteter Mann, aber seine Kenntnisse saßen ihm so lose, daß er sie überall anbringen mußte, wo sie erwünscht und wo sie unerwünscht waren. Dadurch stieß er von vornherein bei seinen neuen Mitbürgern an, die von Natur zur Schweigsamkeit und zur Zurückhaltung neigten, und die häufig von den Dingen, die er ihnen erklärte, genauere Kenntniß hatten als er. Auch sprach er einen fremd klingenden Accent, denn er stammte aus 158 einer weit entlegenen Gegend des großen, damals noch ungeeinigten Vaterlandes. Vor Allem aber konnte Niemand in seiner Gegenwart den Mund aufthun, ohne daß Herr Klary dazwischen fuhr, um zu berichtigen, einzuschränken, zu widerlegen. Alles Dämmernde, Unerklärbare war ihm in der Seele zuwider, daher verfolgte er den Aberglauben mit dem größten Eifer, indem er populärwissenschaftliche Schriften unter seinen Arbeitern verbreitete, den Bauern im Wirthshaus Vorträge hielt und jedes Winkelchen, in dem sich noch ein Rest der alten Sagenpoesie verkroch, mit seinem Verstandesbesen rein zu fegen suchte. Onkel Entreß und seine Freunde nannten ihn deshalb nur den »Herrn Aufklärer«, und um dieser und anderer Eigenschaften willen hielten sie sich die neue Bekanntschaft, so weit es möglich war, vom Leibe.

Unbeirrt durch die schweigende Gegnerschaft der Eingesessenen ging Herr Klary seines Weges weiter. Er kaufte nach und nach all' den verschuldeten Kleinbauern ihre Wiesengründe ab und beschäftigte die Männer in der Fabrik. Es hieß, er habe bedeutende Lehmlager aufgefunden, die einen großartigen Betrieb auf Jahrzehnte hinaus sichern würden, aber der Absatz sei zu gering, weil die Transportmittel fehlten. Bisher waren die Ziegelladungen auf dem Wasserwege versendet worden. Aber die an der Lindach gelegenen Ortschaften boten kein genügendes Absatzgebiet, und überdies verursachte in wasserarmen Jahren die Beförderung große Schwierigkeiten. Der Transport auf Ochsenwagen war versucht, aber als zu 159 kostspielig wieder aufgegeben worden. Gleichwohl fuhr Herr Klary fort, sein Kapital in Lehmgründe zu stecken, die ihm vorerst nichts eintrugen, weil er sie unbenützt liegen lassen mußte. Das Landvolk schüttelte den Kopf zu diesem Beginnen; nur einige Tieferblickende waren der Ansicht, er wisse wohl, was er thue, denn Herr Klary habe die »Witterung.«

Daß er sie wirklich hatte, zeigte sich bald. Schon seit Jahren ging die Rede, daß das Lindachgebiet durch eine Seitenbahn mit den großen Schienenwegen des Landes verknüpft und dadurch der wirthschaftlichen und culturellen Stagnation, in der es sich befand, entrissen werden sollte. Aber das Projekt war, wie man zu sagen pflegt, »auf die lange Bank geschoben,« weil Regierung und Ständekammern Anderes zu thun hatten. Durch das Drängen mehrerer Abgeordneten kam es neuerdings wieder in Fluß, man las von den Verhandlungen, die darüber im Landtage gepflogen wurden, und eines Morgens, als die Ilgenauer ihr Amtsblatt entfalteten, war zu ihrer Ueberraschung die Lindachbahn beschlossene Sache.

In Ilgenau stand man vor der Frage, ob die Bahnlinie den Ort berühren werde oder nicht. Die Allgemeinheit neigte zu der Annahme, daß man den Schienenweg oben am Rande des großen Forstes hinführen werde, wobei man nur der Straße zu folgen brauchte, die sich am Fuß der Berge zwischen Wald und Wiesengelände hielt. Onkel Entreß fluchte und wetterte im Voraus, daß ihm die Eisenbahn das 160 Wild verscheuchen und die Jagd verderben werde. Nur eine kleine Minderzahl, die vom Hause Klary beeinflußt war, vertrat die Meinung, daß man klüger thäte, sich dem Flußbett, somit auch der Dorfstraße zu nähern, um für die Zukunft den Anschluß des industriellen Lauterthales zu ermöglichen.

Bevor die Ilgenauer mit dem Für und Wider fertig waren, entstand eines Tages eine Bewegung, die das ganze Dorf auf die Beine brachte. Eine Anzahl von Männern in hohen Schaftstiefeln war unter der Führung eines Ingenieurs mit Instrumenten und Meßstangen erschienen und hatte mitten durch die Felder von Ilgenau, ohne Rücksicht auf Zäune und Gräben, eine Linie abgesteckt, die durch eingeschlagene Pflöcke bezeichnet wurde. Bäume waren mit Tafeln versehen und numerirt; und an einzelnen Stellen hatte man farbige Fähnchen neben den Pflöcken aufgepflanzt.

Die abgesteckte Linie führte in einer Entfernung von zwanzig Schritten hinter unserer oberen Parkmauer vorüber. Als die Leute mit ihren Arbeiten so weit gekommen waren, stürzte Ludolf herein, den Vorgang zu melden, und Alles lief nach dem Gitterthor, um zuzusehen. Ludolf eilte gleich wieder davon um den Geometer und seinen Leuten zwischen den Beinen herum zu stolpern; denn es gab eine Fülle neuer Thatsachen für ihn einzuheimsen, und man hörte ihn von da an Wochen lang nur noch von Theodolithen und Nivellirinstrumenten, von Curven, Gefällen und dergleichen reden.

161 Onkel Entreß war gleichfalls erschienen, um den tobenden Harraß im Zaum zu halten, der sich am liebsten über die Mauer hinab auf die fremden Männer gestürzt hätte. Nebenan bellte sein Nachbar Piccolo mit ihm um die Wette. Auch die schwachsinnige Sophie war herzugelaufen und drohte lallend mit einem langen Stecken über die Mauer.

Endlich zog der Lärm auch das Fräulein herbei. Sie kam langsam in ihrem weißen Schäferkleid, ein Buch in den Händen, bis an das niedrige Mäuerchen, das die beiden Anwesen trennte, und erkundigte sich, was vorgehe.

Onkel Entreß trat näher, den Harraß am Halsband haltend, und antwortete, daß man draußen die Vermessungen für die Bahnlinie vornehme; denn die Ingenieure seien am Fuß des Lerchenbergs auf schlechten Boden gestoßen und hätten sich deshalb entschlossen, die Eisenbahn über Ilgenau zu führen.

Die Nachricht, daß hinter ihrem Hause ein Schienenweg gelegt wurde, machte dem Fräulein offenbar gar keinen Eindruck. Ihre Welt war innerhalb der Mauern ihres Gartens, was draußen vorging, bekümmerte sie schon seit lange nicht mehr. Onkel Entreß aber ärgerte sich sehr, daß sein Widersacher Klary Recht behalten hatte, obgleich jetzt der Jagdgrund gerettet war. Klary hatte ihm wiederholt am Herrentisch im »Goldenen Kalb« auseinander gesetzt, daß oben am Fuß des Lerchenbergs, wo er seine Kalksteine brach, der ganze Grund von Letten durchsetzt sei und die Last der Eisenbahn nicht tragen 162 könne, daß dieser daher nichts übrig bleiben werde, als den Umweg über Ilgenau zu nehmen. Onkel Entreß hatte ihm keinen Glauben geschenkt, denn da er ihn als einen Zungendrescher kannte, hielt er Alles, was aus seinem Munde kam, für leeres Stroh.

Aber Herr Klary war diesmal seiner Sache sicher, alle seine Berechnungen beruhten auf diesem schon vor Jahren entdeckten Umstand. Wenn die Eisenbahn den Transport seiner Ziegel besorgte, so konnte er die großen Lehmlager ausnutzen und einen umfassenden Betrieb eröffnen. Dabei machte nicht nur er selbst große Geschäfte, sondern die ganze Gegend nahm einen bedeutenden wirthschaftlichen Aufschwung, und für den Urheber dieses Fortschritts konnte der Friedrichsorden und der »Kommerzienrath« nicht mehr ferne sein. Freilich bedurfte er hiezu einer in dem Bahnprojekt bisher nicht vorgesehenen Haltestelle zur Güterverladung in der Nähe seiner Ziegelei. Erlangte er diese nicht, so war seine Spekulation eine verfehlte und er selbst ein ruinirter Mann.

Sobald daher die Linie tracirt war, verdoppelte Herr Klary seine Rührigkeit. Obwohl von auswärts gebürtig, besaß er gute Verbindungen im Lande und hatte längst nach allen Seiten seine Fühlhörner ausgestreckt. Auch bei der Regierung hatte er sich einen Stein im Brett erworben, indem er während der Wahlen seine Arbeiter zu Gunsten des Regierungskandidaten aufbot, und als dieser durchfiel, hatte er vermöge der außerordentlichen Anpassungsfähigkeit 163 seiner Natur auch mit den Vertretern der Opposition gute Beziehungen angeknüpft, kurz, der Boden war aufs Gründlichste bereitet. Jetzt belagerte er das Ministerium mit Petitionen, wurde bei der Generaldirektion der Staats-Eisenbahnen vorstellig und fuhr fleißig nach der Residenz, um an maßgebenden Stellen Audienzen nachzusuchen. Daneben setzte er auch noch die umfangreiche Verwandtschaft seiner Frau, die ein Landeskind war, in Bewegung, um auf den guten Willen der in Frage kommenden Persönlichkeiten einzuwirken.

In den Köpfen der Ilgenauer dämmerte allmählich die Erkenntniß auf, daß sie in ihrem neuen Mitbürger einen Mann vor sich hatten, der trotz seiner überflüssigen Wortfülle sehr genau wußte, was er wollte. Man sprach schon nicht mehr von einer bloßen Haltestelle, sondern von einem richtigen Bahnhof mit allem Drum und Dran, wie es dem zu erhoffenden Aufschwung des Ortes entsprach, und der Kirchthurmspatriotismus regte sich gewaltig bei dem Gedanken, daß man im Besitz eines Bahnhofs auf die Nachbardörfer tief herunter sehen konnte. Der Pfarrer und der Schulze waren für den Bahnhof Feuer und Flamme. Auch Onkel Entreß begann sich zu bekehren, indem er den Vortheil erwog, mit der Fortbewegung nicht mehr vom Wetter und den Wegen abhängig zu sein. Er gab dies zwar nicht mit Worten zu, aber daß er aufgehört hatte zu schimpfen, war ein hinlänglicher Beweis seiner veränderten Gesinnung.

164 Herr Klary leuchtete von Wichtigkeit und hatte beständig die Volkswohlfahrt und Aufklärung, die für ihn mit dem Bahnhof gleichbedeutend waren, im Munde. Er schien seines Erfolges so sicher zu sein, daß er noch immer neue Arbeiter anstellte und fortfuhr, große Mengen von Ziegelsteinen zu produciren, für die ihm die Abnehmer fehlten.

Diese scheinbare Unbesonnenheit war ein ebenso kühner wie wohl berechneter Schachzug. Denn als die Entscheidung über sein Gesuch hinausgeschoben wurde, entließ er mit einem Schlag ein Drittel der Angestellten. Alle diese Leute, die über Nacht brotlos geworden waren, trieben sich nun bettelnd und Arbeit suchend im Lande herum und wurden durch ihre bloße Menge eine Gefahr für die Gegend. Die Behörden begaben sich zu Herrn Klary, um mit ihm wegen der Wiederaufnahme der Arbeiter zu unterhandeln; aber er führte die Herren in seinen Schuppen umher, zeigte ihnen die Menge der unverkauften Ziegel und kündigte ihnen bedauernd an, daß er sich wahrscheinlich demnächst genöthigt sehen werde, auch den Rest seiner Leute zu entlassen und die Fabrik zu schließen. Diese Drohung verbreitete eine allgemeine Beunruhigung, man redete nur noch von Diebstählen und Einbrüchen, an allen Hausthüren wurden Schlösser und Riegel erneuert, und das Landvolk, so weit es etwas zu verlieren hatte, rüstete sich, um etwaige Friedensstörer mit der Waffe in der Hand zu empfangen. Bei den Behörden liefen von Seiten der geängstigten Einwohner Klagen ein, und diese 165 erstatteten wiederum Bericht nach oben. Auch die Presse bemächtigte sich der Angelegenheit, indem sie die Forderung des Fabrikherrn unterstützte und auf schleunige Bewilligung des Bahnhofs drang. So kam unter allseitigem Druck die Sache ins Rollen, und als die Nachricht von der Genehmigung seines Gesuches eintraf, ließ Herr Klary am Lindachufer ein Feuerwerk abbrennen, das, von der Sägemühle aus gesehen, uns Kindern einen unvergeßlichen Anblick gewährte.

Natürlich habe ich die Manöver, die diese Entscheidung herbeiführten, erst viele Jahre später kennen gelernt, denn in meinem damaligen Gesichtskreis hatten sie noch keinen Raum. Aber sehr genau verstand ich die persönlichen Folgen, die sich daran knüpften, und was ich nicht miterlebte, das wurde mir später durch die Erzählungen reiferer Augenzeugen ergänzt.

Noch kann ich den Onkel Entreß vor mir sehen, wie er eines Vormittags ins Zimmer trat und ganz aufgeräumt zu seiner Frau sagte:

»Kind, halte Dich fertig, wir werden expropriirt.«

»Exprop – was heißt das?« fragte diese.

»Das heißt, daß man unsere alte Baracke abträgt und einen Bahnhof dafür hinstellt, natürlich gegen gute Entschädigung.«

Der armen Thekla verging der Athem.

»Wir müssen das Haus verlassen?« fragte sie fassungslos; denn der Onkel, der Alles allein abmachte, hatte völlig versäumt, sie vorzubereiten.

166 »Ich hab' es gesagt,« antwortete er ungeduldig.

Sie sah aus, als ob der Himmel vor ihr eingestürzt wäre.

»Es hat aber doch wenigstens keine Eile?« fragte sie.

»Willst Du warten, bis man Dir das Dach über dem Kopf abbricht?« polterte er dagegen.

»Wo sollen wir aber hin?« rief sie, noch immer ganz verwirrt.

»Das wird sich zeigen. Vorerst finden wir im Jägerhaus Unterkunft. Und die Kinder« – er meinte Ludolf und mich – »bleiben so lange bei uns, damit Du Dich leichter angewöhnst, das hab' ich mir schon von den respectiven Eltern ausbedungen.«

Ein Dankesblick lohnte ihm diese Aufmerksamkeit. Dann lehnte Thekla ihren Kopf gegen den meinigen, um die hervorbrechenden Thränen zu verbergen.

»Geh, Kind, werde mir nicht sentimental,« sagte ihr Gatte in freundlicherem Ton. – »Wir bekommen mehr als das ganze Ding werth ist und können zufrieden sein.«

»Aber, Ulrich, das Haus, wo wir unsere Flitterwochen verlebt haben?«

»Nun, wir bauen ein neues an einem anderen Fleck, und dann gibt's neue Flitterwochen.«

Diese Aussicht schien der armen Thekla nicht viel Wahrscheinlichkeit zu haben, denn sie ließ den Kopf hängen.

167 Plötzlich fuhr sie wie erschrocken auf: »Ulrich – müssen die Plessens auch heraus?«

»Selbstverständlich. Soeben werden drüben die Vermessungen vorgenommen. Wenn die Leute fertig sind, kommen sie zu uns.«

»Aber das ist ja garnicht möglich.«

Der Onkel begriff nicht gleich.

»So denke doch nur: das Häuschen, das sie seit zwanzig Jahren nicht verlassen hat – der Garten – das Grab. Wie kann man sie davon trennen! Das ist ja himmelschreiend, das überlebt sie nicht.«

»Ja, Donnerwetter! das hab' ich nicht bedacht.«

»Sie kann ja nirgends anders leben als auf diesem Fleck Erde. Was soll sie anfangen ohne ihre Taxusallee und ihre Buchsbaumrabatten?«

»Das ist wohl wahr.«

»Kann man es denn mit Gewalt nehmen?«

»Freilich kann man.«

»Und die Leute sind schon drüben? Ulrich, Ulrich, Du wirst sehen, sie überlebt es nicht.«

Er zuckte die Achseln. »Was willst Du! Höhere Gewalt. – Die öffentliche Nützlichkeit! Dagegen kann der Einzelne nicht aufkommen.«

Aber man sah ihm wohl an, daß auch er betroffen war; denn die »Sentimentalität«, die er seiner Frau zum Vorwurf machte, fand er bei dem alten Fräulein, an das er von Jugend auf gewöhnt war, ganz in der Ordnung. Während sie noch redeten, kam das Dienstmädchen aus der »Plessenburg« herüber gestürzt und schrie durch das ganze Haus, der gnädige Herr 168 möchte schnell hinüber kommen, ihr Fräulein wolle sterben. »Da haben wir's!« sagte Onkel Entreß und eilte sporenklirrend hinaus.

Der ganzen Scene hatte ein Freund des Hauses angewohnt, ein gewisser Doktor Hellmuth, der öfters aus der Stadt herüber kam und mir wegen seiner immer nagelneuen gelben Glacéhandschuhe merkwürdig war. Er hatte ein kluges Juristengesicht mit stechendem sarkastischen Lächeln, trug eine goldene Brille, und jeden Satz, den er sprach, schränkte er sofort wieder ein, als ob er immer einen Gegner vor sich hätte, der ihn auf einem Irrthum zu ertappen suchte.

Dieser Herr Hellmuth war dem Gespräch mit Interesse gefolgt, doch ohne sich einzumischen; nur als von der Rechtsfrage die Rede war, hatte er mit dem Kopfe genickt.

Als der Onkel gegangen war, erkundigte er sich genau nach dem Zusammenhang.

Thekla erzählte ihm von der alten Dame, welche Stellung sie in Ilgenau einnehme, wie sie mit ihrem Häuschen und Garten verwachsen sei.

»Wer das Fräulein kennt,« sagte sie, »wird Ihnen sagen, daß diese Gestalt sich nirgends bewegen kann als in diesem Garten. So, wie sie heute hier umher geht, im weißen Kleid und gelben Strohhut, so ging sie schon vor einem halben Jahrhundert. Die Zeit ist für sie nicht weiter gegangen; ihre Jugend, ihre Liebe sind noch um sie her. Diese Rabatten und Buchsbaumhecken wissen Alles von ihr, jeden Traum, jede Thräne. Nehmen Sie ihr das, so ist es aus 169 mit ihr. Sie stirbt wie ein alter Baum, den man nicht mehr verpflanzen kann.«

Ich hörte voller Verwunderung zu, denn auf diese Weise hatte Tante Thekla noch nie geredet. Sie war für gewöhnlich schüchtern wie ein Kind, besonders in des Onkels Gegenwart, und die Leute hielten sie für einfältig; sie wußten nicht, daß es auch eine Weisheit des Herzens gibt.

Der Besucher zog während dessen nachdenklich seinen Schnurrbart über die Oberlippe herunter.

»Ich begreife, gnädige Frau,« sagte er, »daß hier ein allerhöchstes pretium affectionis vorliegt. Davor kann jedoch das öffentliche Interesse keinen Halt machen. Träume und Erinnerungen erkennt das Gesetz nicht als Expropriationshindernisse an. Aber ich hörte Sie vorhin sagen, daß sich ein Grab auf dem Grundstück befinde? – Ein Grab, das von der Besitzerin pietätvoll gehütet wird?«

»Allerdings,« antwortete Thekla.

»Das Grab verschließt die irdischen Reste eines nahen Angehörigen des Fräuleins von Plessen?«

»Ich glaube,« war die zögernde Entgegnung.

»Sie können mir nicht bestimmt sagen, ob es ein Vater oder Bruder oder wer sonst ist?«

»Das kann ich nicht,« antwortete Thekla. »Ich weiß nur, daß das Grab die hauptsächlichste Ursache war, daß die beiden Fräulein von Plessen beim Verkauf diesen Theil des Gutes für sich zurückbehielten, und daß sie ihn für keinen Preis der Erde jemals freiwillig hergegeben hätten. Die 170 Verstorbene dachte auf diesem Punkte genau wie ihre Schwester.«

»Woraus geschlossen werden dürfte,« ergänzte der Jurist bedächtig, »daß die Plessen'schen Familienempfindungen stark an der Erhaltung des Grabes interessirt sind.«

Ich schwieg während dieses Verhörs, eingedenk des Schwures, den ich Julie gethan hatte.

»Nun, sehen Sie, gnädige Frau,« fuhr der Besucher langsam und jedes Wort wägend fort, »wenn Fräulein von Plessen ernstlich gegen die Expropriation Einspruch erheben will, so könnte meines Erachtens das Vorhandensein des Grabes als Weigerungsgrund geltend gemacht werden. Ein Grab ist geweihter Boden, es ist ein Cultobject, das ohne die allerzwingendsten Gründe der öffentlichen Wohlfahrt und Nützlichkeit nicht angetastet werden darf. Ich bin nicht technisch unterrichtet genug, um zu entscheiden, ob für Erstellung eines Bahnhofs in Ilgenau gerade nur dieser eine Fleck Erde geeignet ist; aber als alter Jurist kann ich Ihnen sagen, daß das Grab genügenden Anlaß geben dürfte, um eine Aenderung der Anlage wenigstens in Betracht zu ziehen.«

Und um diese Meinung zu illustriren, erzählte er eine langwierige Proceßgeschichte von einem nicht mehr im Gebrauch befindlichen Dorfkirchhof, durch welchen eine Straße gezogen werden sollte, was durch den Protest der Familien, die dort ihre Gräber hatten, vereitelt worden war.

»In unserem Falle,« schloß er, »handelt es sich 171 zwar nur um ein Privatbegräbniß, aber auch ein solches steht unter öffentlichem Schutze.«

Thekla hatte der Erzählung mit abwesendem Gesichte zugehört, jetzt sagte sie in einem Tone schüchterner Hoffnung:

»Dann könnten vielleicht auch wir bleiben?«

»Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, aber versprechen kann ich nichts.«

»Doktor Hellmuth!« rief sie, »wollen Sie sich der Sache annehmen? Mein Mann befaßt sich nicht gern mit den Behörden, und Fräulein von Plessen hat keinen anderen Berather. Wollen Sie? O, wie wäre ich Ihnen dankbar!«

»Aber bitte, gnädige Frau, mit dem größten Vergnügen.«

»Dann führe ich Sie gleich hinüber, damit Sie das Fräulein selber sprechen,« sagte Thekla, und mit den raschen, zierlichen Bewegungen eines hüpfenden Vogels, die ihr eigen waren, lief sie ins Nebenzimmer, um ihre Mantille zu holen. Es fiel mir auf, daß der Besucher ihr einen langen Blick nachsandte. Dann nahm sie ihren »Schatten«, wie Onkel Entreß mich zu nennen pflegte, bei der Hand, und wir wanderten alle Drei hinüber nach der Plessenburg.

Drüben in dem verdunkelten Schlafzimmer, dessen grüne Rouleaux herabgelassen waren, lag das Fräulein, weiß gekleidet wie immer, auf ihrem Bette ausgestreckt, mit nassen Umschlägen über Stirn und Augen. Im ganzen Hause roch es nach aromatischem Essig.

172 Ich stand zögernd auf der Schwelle, während Thekla sich der Kranken mit zärtlicher Ehrerbietung näherte und Doktor Hellmuth im Vorzimmer zurückblieb. Da erhob sich aus dem Dunkeln eine kauernde Gestalt, in der ich die gute Julie erkannte. Diese zog mich mit sich in den Garten hinunter und zeigte mir die niedergetretenen Rabatten und die Pflöcke, die rücksichtslos mitten in den blühenden Beeten und den sauberen Kieswegen eingeschlagen waren. Dabei erzählte sie mit fliegendem Athem die eben erlebte Schreckensscene.

Das Fräulein war, wie es scheint, schon geraume Zeit von der bevorstehenden Enteignung benachrichtigt, hatte aber in ihrer nachtwandlerischen Weise der amtlichen Mittheilung gar keine Beachtung geschenkt.

»Mein Haus und meinen Garten kann man mir nicht nehmen,« hatte sie ruhig geantwortet, wenn Andere sie auf die drohende Gefahr aufmerksam machten, und auch als die Einschätzungscommission erschien, um das Grundstück zu beaugenscheinigen, hatte sie einfach abgelehnt, die Herren zu sehen, ohne sich von der Bedeutung dieses Vorgangs Rechenschaft zu geben.

Da war sie plötzlich vor einer Stunde durch die Ankunft des Ingenieurs überrascht worden, der unangemeldet mit seinen Leuten in den Garten eindrang und ohne Umstände mit den Vermessungen begann. Das Fräulein, das gerade unpäßlich war, erhob sich vom Lager und traute ihren Augen nicht, als sie diese Anstalten sah. Sie war außer sich und 173 verlangte den Ingenieur zu sprechen. Dieser aber ließ ihr kurz angebunden durch Julie zurücksagen, er thue hier, was seines Amtes sei, und bitte ihn nicht in der Arbeit zu stören.

Während unten bei dem Wuthgeheul Piccolo's und der Schwester Sophie die Blumenbeete zerstampft und die Taxuswände mit der Meßstange eingerissen wurden, rannten oben die Dienstboten schreiend durch einander, denn das Fräulein lag nach Luft ringend in Juliens Armen. Sie hatte den Versuch gemacht, hinabzusteigen und in Person ihr Eigenthum zu schützen, war aber nur bis zum ersten Treppenabsatz gekommen, als sie von einem Herzkrampf befallen wurde, daß man sie auf ihr Bett zurücktragen mußte. Julie fürchtete einen Augenblick, sie sterbe ihr unter den Händen. Doch zum Glück erschien Onkel Entreß und machte der Aufregung ein Ende, indem er den Ingenieur bewog, für heute abzuziehen und lieber mit den Vermessungen im Nebenhause zu beginnen. Auf Onkel Entreß stand jetzt Juliens ganze Zuversicht, und sie hatte von seiner Macht eine sehr verworrene Vorstellung, denn sie hoffte, er werde wie ein Feuerbrand in den Klary'schen Anhang fahren und ihn in alle Winde zerstreuen.

Wir bemühten uns, die Spuren der Zerstörung zu vertilgen, indem wir die zertretenen Pflanzen aufrichtete und die zerfetzte Taxuswand wieder zusammenschoben. Julie weinte nicht bei dieser Beschäftigung – das that sie nur Angesichts des Unwiderruflichen; solange sie noch kämpfen konnte, 174 flammte und glühte sie. Mit bebenden Händen rüttelte sie an den eingerammten Pflöcken, die jedoch unsern vereinten Kräften einen felsenfesten Widerstand entgegensetzten. Dagegen rissen wir keine zehn Schritte von »Werther's Grab« ein rothes Fähnchen aus dem Boden, wobei Julie begeistert deklamirte:

»O Missolunghi, Deine Gräber glänzen –«

Und wir schwenkten es im Triumph gegen Thekla, als sie mit Doktor Hellmuth das Haus verließ.

Ich hörte, wie dieser im Hinausgehen sagte:

»Wenn alle Stränge brechen, so bleibt dem Fräulein noch immer übrig, die Vermittlung des Monarchen anzurufen. Sie steht ja, wie ich höre, in Beziehung zum Hofe.«

Worauf Thekla ihm mit innigem Blick die Hand reichte und zur Antwort gab:

»Thun Sie, was Sie für das Beste halten; Sie erwerben sich den größten Anspruch auf unsre Dankbarkeit.«

Da bückte er sich und küßte ihre Hand, eine Huldigung, die sonst nicht üblich war, und die mich einigermaßen in Verwunderung versetzte.

Der Besuch hatte übrigens nur ein paar Minuten gedauert, denn das Fräulein durfte nicht mit Reden belästigt werden. Sie lag mit Kopfschmerzen und starkem Herzklopfen darnieder, und es stellten sich von Zeit zu Zeit Delirien ein, während deren sie dringend nach ihrer Schwester Franz verlangte. Dieser Zustand dauerte Wochen lang. Der Doktor wußte 175 nicht, was aus den Symptomen machen, und mehrmals mußte Onkel Entreß im Jagdwägelchen nach der Stadt fahren, um den Oberamtsarzt zu holen, der die beängstigte Umgebung jedes Mal versicherte, bei großer Ruhe und guter Pflege würde der Anfall vorübergehen.

Mittlerweile that der von Thekla geworbene Rechtsbeistand auf eigene Hand die Schritte, die ihm im Interesse seiner Clientin geboten schienen. Er zeigte zunächst der Bausektion den Einspruch der Besitzerin gegen das Enteignungsverfahren an und begründete ihn damit, daß in dem niederzureißenden Garten ein Glied der Familie von Plessen begraben sei. Die Herren von der Bausektion waren nicht gewillt, in einer so delikaten Angelegenheit gewaltsam vorzugehen, und berichteten an die Generaldirektion. Herr Klary, der gern den Großmüthigen spielte, erbot sich unterdessen, besagte von Plessen'sche Gebeine auf eigene Kosten zu sammeln und mit wie viel Pracht man nur immer wünschen könne auf dem Friedhof von Ilgenau beisetzen zu lassen, aber Doktor Hellmuth wies den Vorschlag ab und beharrte auf der Weigerung.

Man hatte schon einige Zeit verhandelt, bevor von der Klary'schen Partei die Frage aufgeworfen wurde, welches Glied Derer von Plessen denn eigentlich auf dem Grundstück begraben liege. Zu seinem Verdruß konnte Doktor Hellmuth diese Frage nicht mit Bestimmtheit beantworten. Da er jedoch aus gewissen Andeutungen geschlossen hatte, daß es sich um einen männlichen Angehörigen der Familie handle, 176 machte er die Angabe, es müsse aller Wahrscheinlichkeit nach der Vater oder der Bruder sein. Doch es wurde ihm mit Leichtigkeit nachgewiesen, daß der Vater des Fräuleins an der Seite seiner Gattin auf dem Ilgenauer Friedhof schlummerte; desgleichen war es allgemein bekannt, daß Luise von Plessen nur einen einzigen Bruder besessen hatte, jenen Thunichtgut, der sein Erbe verplempert hatte und dann in Amerika zu Grunde gegangen war. Auch konnte nirgends eine Urkunde oder irgend eine Notiz über ein auf dem Plessen'schen Gute stattgefundenes Privatbegräbniß aufgetrieben werden. Der Pfarrer war erst seit wenigen Jahren am Ort und wußte gar nichts von der Sache, in den Registern seiner Vorgänger fand sich keine Spur. Die Sache war augenscheinlich schon gar zu lange her; die ältesten Leute wollten sich nur erinnern, daß das Grab von jeher dagewesen, und daß man es früher »Werther's Grab« genannt habe, eine Bezeichnung, von der man nicht mehr wußte, wie sie entstanden war.

An das Fräulein konnte man keine Frage stellen. Sie lag noch immer die meiste Zeit geistesabwesend, in Gesprächen und Jugenderinnerungen mit der Schwester Franz. Das Schwert, das über ihrem Haupte hing, hatte sie ganz vergessen und durfte auch in der Rekonvalescenz nicht daran erinnert werden. Doktor Hellmuth begab sich trotz Piccolo's Einwendungen zweimal an »Werther's Grab«, aber der Stein beharrte in seinem alten Schweigen.

Das Grab, von dessen Dasein bisher nur wenige 177 Eingeweihte gewußt hatten, wurde jetzt an jedem Biertisch besprochen und gab zu unendlichen, mehr oder minder romanhaften Conjekturen Veranlassung.

Wir beide, Julie und ich, verriethen uns mit keiner Silbe. Gleich nachdem die Nachforschungen ruchbar geworden waren, kam sie ins Haus gestürzt und nahm mir den erneuerten Schwur ab, daß ich von dem Geheimniß, das ihr fast wider Willen gegen mich entschlüpft sei, schweigen wolle, bis das Fräulein selbst es offenbare. Diese wiederholten Einschärfungen hatten zur Folge, daß ich, sobald nur von dem Grab die Rede war, mich verfärbte und innerlich zu beben anfing, als ob ein von meiner Hand Ermordeter darin verborgen läge.

Die Generaldirektion sandte nun einen Oberbaurath aus der Residenz nach Ilgenau, um zu untersuchen, ob sich kein anderer Platz für den Bahnhof finden lasse als das Entreß-Plessen'sche Grundstück. Doch konnte dieser der Wahl des Ingenieurs nur beipflichten. Auch ein Blinder mußte sehen, daß der Bahnhof, wenn er dem Zweck, zu dem er erbaut wurde, richtig entsprechen sollte, an der geplanten Stelle am besten stand. Von hier war nur ein kurzer Weg zur Klary'schen Ziegelei, und die Verbindung konnte mit den geringsten Kosten hergestellt werden. Außerdem lag der Ort am Ende der Dorfstraße und nur einige hundert Schritte von der Brücke entfernt, die den Verkehr mit der nächsten größeren Ortschaft vermittelte. Der Bahnhof war also an diesem Fleck – was für einen Bahnhof ein Hauptpunkt ist – von allen Seiten am leichtesten zu erreichen.

178 Gleichwohl, so lautete das Gutachten, ließe sich für die Ilgenauer Bahnstation noch eine zweite Stelle in Betracht ziehen, nämlich der »Brühlhof«, der eine kleine Strecke außerhalb des Dorfes lag und theilweise von der abgesteckten Bahnlinie durchschnitten wurde. Doch wäre damit für Fräulein von Plessen nichts gewonnen. Ihr Anwesen, ebenso das Entreß'sche, müßte dennoch fallen, weil Herr Klary sein Zufahrtsgeleise nach dem Bahnhof keinen anderen Weg führen könnte als durch eben diese Grundstücke; nur daß das Geleise um etliche hundert Fuß länger und dementsprechend kostspieliger werden müßte. Und wenn dabei auch die betreffenden Wohnhäuser geschont werden könnten, so würden doch die Gärten so verschändet, daß von einem Genuß derselben keine Rede mehr wäre.

Er rieth deshalb Herrn Klary, eine gütliche Verständigung mit dem Fräulein anzubahnen, und schied von Ilgenau, ohne die Frage zum Austrag zu bringen.

In diesem Gutachten sah Doktor Hellmuth, der immer mehr ins Geschirr ging, eine vielversprechende Wendung. War die Verlegung des Bahnhofs einmal für technisch möglich erklärt, so hoffte er sie auch durchsetzen zu können, und mit dem Zufahrtsgeleise glaubte er gleichfalls fertig zu werden. Wieso, setzte er im Entreß'schen Hause einleuchtend auseinander.

»Das Terrain für den Bahnhof«, sagte er, »wird vom Staat gefordert und soll einem öffentlichen Interesse dienen, müßte also dem Staat überlassen werden, sobald er ernstlich vorginge. Das Zufahrtsgeleise aber 179 ist ein Privatunternehmen und dient einer privaten Nützlichkeit. Wir halten uns an den Buchstaben. Privatunternehmungen unterstehen einem anderen Rechtsparagraphen als die öffentlichen. Wird nur erst die Station am Brühlhof gebaut, so will ich dem Zufahrtsgeleise so viele Hindernisse in den Weg legen, daß Herr Klary an mich denken soll. Und wenn wir auch schließlich nicht den Sieg behalten, so will ich die Sache doch so lange hinziehen, daß das Fräulein unterdessen Zeit hat, auf ihrem Besitzthum ruhig an Altersschwäche zu sterben.«

Onkel Entreß ging mit Vergnügen auf diese Spitzfindigkeiten ein. Denn wenn ihm auch an der Erhaltung seines Gutes wenig gelegen war, so freute es ihn doch, das Fräulein aus der Bedrängniß gerettet zu sehen, und vielleicht noch mehr, seinem alten Widersacher ein Bein zu stellen. Thekla aber betrübte sich, daß die gute Sache solche Winkelzüge nöthig habe, und der Jurist lächelte nachsichtig über diese weibliche Schwäche.

Der Doktor kam fleißig ins Haus, um Thekla von allen seinen Bemühungen in Kenntniß zu setzen. Allmählich aber schien es, als ob seine Besuche dem Onkel Entreß zu viel würden. Sobald er ihn kommen sah, verließ er das Haus unter den Zeichen einer großen Mißstimmung. Dies that er zwar auch sonst, wenn seine Frau Besuch empfing, nur pflegte er dann seinen Hunden zu pfeifen und in den Forst oder ins Wirthshaus zu gehen. Wenn aber Doktor Hellmuth um den Weg war, so stampfte er in Hof und Garten 180 umher, sah häufig nach, ob der Besucher noch nicht gehe, schalt die Mägde und war sogar gegen uns Kinder unwirsch, was sonst niemals vorkam. Dafür wurde auch sein Betragen von unseren Kinderaugen scharf beobachtet.

Das Fräulein war unterdessen vom Krankenlager erstanden und ging wie sonst im Strohhut und den Filethandschuhen gärtelnd und mit sich selber redend unter ihren wiederhergestellten Rabatten auf und ab. Man hatte sie vorsichtig vom Stand der Dinge in Kenntniß gesetzt, aber sie war im Kopf noch schwach und brachte Alles durch einander. Sie lächelte beständig wie im Traum, und auch in Gegenwart Dritter sprach sie laut mit den Unsichtbaren. Ueber die jüngsten Ereignisse schien sich ihr ein Schleier gelegt zu haben, dagegen setzte sie Julie oft durch die Stärke ihres Gedächtnisses in Erstaunen, wenn sie gegen die junge Freundin anfing: »Weißt Du noch – Anno Dazumal –« und dann irgend eine Geschichte aus dem Anfang des Jahrhunderts hervorbrachte, als ob Julie sie mit erlebt hätte. Meist wurden solche Erinnerungen durch dieses oder jenes Plätzchen im Garten, an das sie sich knüpften, geweckt, und noch nie hatten die Freunde ihre unauflösliche Zusammengehörigkeit mit ihrem Grund und Boden so deutlich empfunden, wie in diesen Wochen.

Eines Nachmittags kam Doktor Hellmuth wieder einmal mit seinen gelben Glacéhandschuhen zu Tante Thekla. Der Onkel stand im Hof und peitschte aus Wuth seine Hunde, weshalb es mir drunten nicht 181 gemüthlich war und ich vorzog, mich im Nebenzimmer herumzudrücken. Es war mir zwar keineswegs verboten, bei diesen Besuchen im Zimmer zu sein, im Gegentheil Thekla rief mich, wann es nur immer anging, herein, aber des Mannes Gesicht war mir in der letzten Zeit so unangenehm geworden, daß ich ihm aus dem Wege ging.

Ich hörte ihn vom Nebenzimmer aus wie gewöhnlich reden, doch allmählich wurde seine Stimme leiser und sank bis zum Flüstern. Und plötzlich vernahm ich etwas wie ein Rücken von Stühlen, dann einen Schrei und ein Klatschen, wie wenn ein nasses Tuch gegen einen Stein geschlagen wird.

Im Schreck, daß der Tante ein Leid widerfahren sein könnte, stürzte ich ohne Weiteres zur Thüre hinein. Da sah ich Thekla mit flammenden Augen im Zimmer stehen und vor ihr zornig und verstört Herrn Hellmuth, dessen eine Wange todesbleich, die andere feuerroth war. Thekla flog mir entgegen und riß mich an sich, während Doktor Hellmuth, ein paar unverständliche Worte stammelnd, das Weite suchte. Die Tante brach in Thränen aus und schluchzte: »Welch eine Schlechtigkeit! So kann eine arglose Frau mißverstanden werden!« wodurch mir die seltsame Scene noch seltsamer erschien. Endlich ließ sie mich gar noch versprechen, von dem Vorgang Niemanden ein Wort zu sagen, und ich verschloß, nicht ohne eine gewisse Genugthuung, ein zweites Geheimniß in meiner Brust.

Doch blieb ich nicht die einzige Seele, die es 182 theilte; denn am selben Abend hatten Onkel und Tante eine lange Unterredung mit einander, wobei wir junges Volk hinausgeschickt wurden. Als ich später zufällig wieder an der offen gebliebenen Thür vorüber mußte, hörte ich den Onkel sagen:

»Es war recht einfältig von Dir, daß Du den Mann nicht von Anfang an durchschaut hast.«

Er sprach aber nicht in dem brummigen Ton, den er sonst gegen sie anschlug, sondern um Vieles freundlicher. Und gleich darauf setzte er hinzu:

»Bist ein braves Weibchen – komm, da hast Du einen Kuß.«

Das Alles verursachte mir unendliches Kopfzerbrechen und ließ mich ahnen, daß die Welt der Großen doch viel komplicirter sei, als ich bisher gedacht hatte.

So viel wurde mir in den nächsten Tagen klar, daß der wichtige Doktor Hellmuth mehr versprochen hatte, als er halten konnte, und diesem Umstand schrieb ich schließlich die gegen ihn eingetretene Erkaltung zu.

Dem Fräulein wurde nämlich vom Enteignungsgericht aus angezeigt, daß ihr Einspruch als unhaltbar verworfen, dagegen aber die Entschädigungssumme freiwillig erhöht worden sei; sie werde ersucht, sich schleunigst nach einem anderen Wohnsitz umzusehen, widrigenfalls die Enteignung zwangsweise vorgenommen werden müßte.

Jetzt stand man mit einem Schlage vor dem Aeußersten; denn daß mit Geld dem Fräulein nichts 183 vergütet werden konnte, lag auf der Hand. Julie raste wie eine Feuerflamme von Haus zu Haus, hielt Reden an das Landvolk und rief die männliche Jugend, ihre Brüder voran, zum Schutz des Fräuleins auf. Sie sollten sich unter den Befehl des Herrn von Entreß stellen und des Fräuleins Thür gegen die Expropriationskommission vertheidigen.

Ihre Beredtsamkeit blieb nicht ohne Wirkung, denn Julie war selber ein Kind des Volks und verstand die Saiten zu treffen, welche klangen.

Sie erinnerte an das so lange Zeit von der Familie Plessen ausgeübte Patronat, sowie an die Wohlthaten, die das Fräulein unermüdlich auch nach ihrer Verarmung noch gespendet hatte, und sprach von Herrn Klary als einem »hergelaufenen Menschen,« der dem ganzen Ort zum Schaden sei. Dieser hatte sich schlechterdings, trotz seiner Bemühungen um Volkswohl und Aufklärung, bei den Landleuten keinen Dank verdient. Man nahm es ihm übel, daß er die Aecker, die unterdessen Feldfrüchte tragen konnten, brach liegen ließ und dadurch viele ländliche Tagelöhner beschäftigungslos machte. Auch hatte der Schulmeister die Ueberzeugung geäußert, die Eisenbahn werde durch ihren Kohlendampf künftig die Ernte verschlechtern, und die ganze Bauernschaft, mit Ausnahme des Schulzen, schwor auf die Worte ihres Schulmeisters, weil er ihnen von klein auf den Respekt vor seiner Weisheit mit dem Stock eingebläut hatte.

Sobald das Fräulein sich am Zaun oder auf 184 der Altane blicken ließ, riefen ihr die Vorübergehenden zu: »Nur dableiben! Wir lassen Ihnen kein Unrecht geschehen!« Und wie man sich schon bei den Arbeiterunruhen mit dem Gedanken an Selbsthülfe vertraut gemacht hatte, so nahm man auch jetzt die Sache nicht schwer, sondern rückte, ein Dutzend Mann stark, mit Sensen und Dreschflegeln vor der Plessenburg auf, zum unendlichen Vergnügen der Idiotin, die an ihrem Zaune stand und dieser kriegerischen Jugend die freundlichsten Grimassen schnitt. – Herr von Entreß hatte übrigens den Oberbefehl abgelehnt.

Um Unannehmlichkeiten zu verhindern, wollte sich der Pfarrer nebst anderen Honoratioren ins Mittel legen, damit das Fräulein ihre Garde entlasse und sich der Entscheidung des Gerichts unterwerfe. Aber das Fräulein ließ Niemanden mehr vor sich, weder Freund noch Feind. Sie lebte jetzt in einem völlig apathischen, visionären Zustand, in dem sie die Außenwelt nur unvollkommen wahrnahm. An ihrer Stelle schaltete Julie, auf deren Veranlassung unter den Augen der Deputation die Schutzmannschaft mit Most und Brot gestärkt wurde.

Von amtlicher Seite erhielt jetzt Herr von Entreß die Aufforderung, das Fräulein zum gütlichen Nachgeben zu bewegen, weil man sich sonst auf unliebsame Ereignisse gefaßt zu machen hätte.

Während diese Vorgänge sich abspielten, sandte Doktor Hellmuth an Tante Thekla einen von kalter Bosheit geschwollenen Brief, der eine zerschmetternde Wirkung hervorbrachte. Dieses Schreiben, das noch 185 jetzt unter den Reliquien jener Zeit erhalten ist, lautete folgendermaßen:

Gnädige Frau!

»Obgleich Sie mich in so brüsker Weise aus Ihrem Hause entfernten, halte ich es dennoch für meine Pflicht, Ihnen über die Ausführung des mir gewordenen Auftrags Bericht zu erstatten.

»Ich habe mich vor allen Dingen bei Ihnen zu bedanken, daß sowohl ich selbst wie andere ins Spiel gezogene Personen die Opfer einer lächerlichen Mystification geworden sind.

»Das angebliche Grab, über dessen Inhaber Niemand Auskunft geben konnte, ist überhaupt kein Grab, sondern nur eine gefühlvolle Gartendekoration.

»Nach Mittheilungen, die ich bei noch lebenden Gliedern der Familie von Plessen einzuziehen in der Lage war, verhält sich die Sache wie folgt:

»Eine von Plessen'sche Ureltermutter, die eine schöne Seele war, hatte in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den sinnreichen Einfall, über einem leeren Rasenstück ein Grabmonument zu errichten und dasselbe mit einem Ossian'schen Vers, der in ›Werther's Leiden‹ citirt ist, zu schmücken. Dieser Vers gab Veranlassung, daß man die Stelle ›Werther's Grab‹ nannte.

»Die Enkelin, welche in den Fußstapfen der Ahnfrau wandelt, behielt, wie bekannt, nach dem Verkauf des Gutes denjenigen Theil zurück, in dem das sogenannte ›Grab‹ sich befindet.

186 »Nach dem Tode ihres Verlobten, der ungefähr vierzig Jahre nach dem Bau des Grabes stattfand, bepflanzte sie den Hügel mit Blumen und ließ das griechische Wort χαῖρε dort einmeißeln als Abschiedsgruß an den Verblichenen. Derselbe war ein gewisser Carl Edler von Perglas, Student der klassischen Philologie, welcher die damals herrschende Mode des Philhellenismus mitmachte, mit anderen Schwärmern nach Griechenland ging und am 16. Juli 1822 in der Schlacht von Peta das Leben verlor.

»Nachdem Fräulein Luise von Plessen sich von der Welt zurückgezogen hatte, nahm sie die Gewohnheit an, jährlich an seinem Todestag das sogenannte Grab mit Kränzen zu schmücken, wobei zunächst, wie es scheint, nur seine Seele als dort wohnhaft gedacht wurde.

»Erst in späteren Jahren, als die geistigen Fähigkeiten des Fräuleins abzunehmen begannen, hegte und nährte sie den Wahn, daß fraglicher Rasenfleck wirklich die irdischen Reste ihres Geliebten umschließe.

»Durch ihre Schwester Franziska, die gleichfalls an visionären Zuständen litt, wurde sie in diesen Phantasien bestärkt, und beide Damen trieben mit dem Grabe einen Cult, der allerdings geeignet war, in der Umgebung den Glauben zu erwecken, daß ein sehr nahestehendes Glied der Familie dort bestattet sei.

»Nachdem dieser Irrthum beseitigt war, hatte ich keine andere Aufgabe mehr, als den erhobenen Einspruch zurückzuziehen und an zuständiger Stelle 187 die Mystification, welche zu dem bedauerlichen Schritte Anlaß gab, aufzuklären.

»Von dem Bittgesuch an Seine Majestät mußte unter diesen Umständen natürlich gleichfalls abgesehen werden.

»Ich lege also das mir anvertraute Mandat mit dem Ausdruck des größten Bedauerns in Ihre Hände zurück und zeichne« &c.

Es war dem Briefe anzufühlen, wie sehr der Schreiber das Staunen, den Verdruß, die Beschämung, die Thekla beim Lesen empfinden mußte, im Voraus genossen hatte. Das war die kleinliche Rache, die er sich gönnte. Denn an der Richtigkeit der festgestellten Thatsachen, so überraschend sie klangen, konnte Niemand zweifeln, weil sich so allein das bisher Unerklärliche erklären ließ. Damit war natürlich die Sache des Fräuleins endgültig verloren.

Der Eindruck des Briefes war ein solcher, daß er bei dem Onkel Entreß einen seiner nicht seltenen jähen Gesinnungsumschläge hervorbrachte.

»Jetzt muß der Unfug aber auch gleich ein Ende haben,« rief er zornig. »Du, Thekla, gehst augenblicklich hinüber, zeigst ihr den Wisch und machst ihr klar, daß sie die Bauern wegzuschicken und sich in das Unvermeidliche zu fügen hat. Es sei genug, sagst Du ihr, daß wir alle uns um ihretwillen lächerlich gemacht haben, wir wollen nicht auch noch blutige Köpfe für die Narretei.«

Thekla sah ihn in sprachloser Bestürzung an.

»Das soll ich ihr sagen?« hauchte sie ohne Stimme.

188 »Nun, dann sage ihr, was Du willst, aber zeige ihr den Brief und mache der Dummheit ein Ende.«

Thekla protestirte aufs Neue. In dem Brief seien die heiligsten Erinnerungen boshaft und grausam entweiht und ein harmlos frommer Wahn, an dem ein edles Herz sich aufgerichtet habe, ins Lächerliche gezogen.

»Ist es nicht hart genug,« rief sie fast weinend, »daß unbarmherzige Menschen sie in so hohen Jahren aus den altgewohnten Räumen forttreiben! Sollen auch noch die Freunde kommen und rücksichtslos in das Heiligthum ihres Herzens greifen, ihr den pietätvollen Glauben zerstören, der ein Theil ihrer selbst geworden ist! Glaube mir, Ulrich, wir würden eine fürchterliche Verantwortung auf uns laden.«

Onkel Entreß machte noch ein paar brummige Einwendungen, dann ließ er sich überzeugen.

Beide kamen überein, daß man über die Hellmuth'schen Entdeckungen dem Fräulein gegenüber völlig zu schweigen und die Fiction von einem wirklichen Grabmal aufrecht zu erhalten habe; daß man aber die Unterwerfung unter den Spruch der Behörde als ein freiwilliges Opfer des Patriotismus und der Nächstenliebe von ihr fordern und ihr einen ehrenvollen Abzug bereiten müsse.

Es entstand noch ein kleiner Streit zwischen beiden, wem das saure Amt zufalle; doch wußte Thekla ihrem Gatten klar zu machen, daß es ihrer Persönlichkeit durchaus am nöthigen Gewicht zum Eingreifen fehle, und seufzend begab er sich endlich selber auf den Weg.

189 Aber seine Diplomatie war schon durch den Gang der Ereignisse überholt. Julie hatte früher als er von den Ausgrabungen des Doktor Hellmuth erfahren, und, empört über die Insinuation, daß die verehrte Grabstätte nur ein Dekorationsstück wie die künstliche Ruine und der chinesische Tempel sei, war sie zu ihrer Gönnerin gestürzt, hatte sich als Mitwisserin des Geheimnisses enthüllt und um die Erlaubniß gebeten, mit der Eröffnung der Wahrheit heraustreten zu dürfen. Denn so weit, sagte sie, würde ja die Roheit niemals gehen, daß man es wagte, die Stätte zu schänden, wo ein edler Freiheitsheld den letzten Schlummer schlafe.

Das Fräulein nahm ihre Nachricht ganz ruhig auf; es zeigte sich, daß auch Julie nicht die Erste war, die sie ihr brachte. Ob die Unsichtbaren sie ihr im Windhauch zugetragen, ob sie sie auf prosaischerem Weg erfahren hatte, weiß ich nicht; genug, sie war unterrichtet.

»Schweige,« sagte sie und legte ihrer Getreuen die Hand auf den Mund. »Ich weiß Alles. Mögen sie kommen und den Hügel zerstören. Was darunter liegt, können sie nicht antasten, es wird mir folgen, wohin ich gehe.«

Der bedeutungsvolle Ton, den sie in diese Worte legte, ließ Julie ahnen, daß es sich um tiefere Geheimnisse handelte und jagte ihr einen Schauer über den Leib. Sie erzählte später, das Fräulein habe bei dieser Unterredung verklärt wie eine Heilige und strahlend wie eine Braut vor ihr gestanden.

190 Sie hieß die weinende Julie standhaft sein, weil jeder Trennung ein Wiederfinden folge. Für sie sei jetzt die Stunde des höchsten Glückes nahe, bald werde sie sich mit ihren vorangegangenen Theuren vereinigen, denn ihr irdisches Sein sei an diesen Ort geknüpft und sie werde nun nicht lange mehr leben. Aber wenn die Zeit erfüllt sei, so werde sie auch ihre jüngeren Freundinnen zu sich rufen.

Aus den Andeutungen, die sie Julien machte, ging hervor, daß sie seit den letzten Wochen in einem gesteigerten mystischen Verkehr mit dem längst verstorbenen Freunde zu stehen glaubte und daß ihr der Entschluß zu gehen schon von ihm selber eingegeben war, bevor die jüngste amtliche Aufforderung sie erreicht hatte.

Ihre erregte Phantasie, in der moderner und antiker Occultismus sich wundersam mischten, gab ihr den festen Glauben ein, daß sie sich nur vor seinen Hügel zu stellen und ihn laut beim Namen abzurufen habe, damit sein Schatten ihr an den neuen Wohnort folge.

Was aus den Gebeinen werden sollte, sagte sie nicht. Doch da dieselben nach ihrer Ueberzeugung durch einen bloßen Willensact des Verstorbenen an diese Stelle versetzt worden waren, so mußte sie ihm auch die Fähigkeit zutrauen, sie von da wieder wegzunehmen, und wo es ihm beliebte unterzubringen.

Onkel Entreß kam ganz verdutzt von seinem Besuch bei dem Fräulein zurück. Sie hatte ihn gar nicht zu Worte kommen lassen.

191 »Es ist wahr,« unterbrach sie ihn, so bald er zu reden anhob, »ich hatte gehofft, auf dieser Scholle, die mir vom Erbe meiner Väter allein noch übrig geblieben ist, zu sterben. Aber wenn das Wohl meiner Mitbürger dieses Opfer von mir fordert, so bin ich bereit zu gehen.«

Er wollte ihr noch einen Trost gewähren, indem er die Verpflichtung übernahm, daß, wenn man je auf menschliche Ueberreste stoßen sollte – was aber bei der Länge der Zeit sehr unwahrscheinlich sei –, dieselben mit aller Schonung und Pietät behandelt werden sollten, und daß er selber für schickliche Verpflanzung des Grabsteins Sorge tragen werde.

»Man wird gar nichts finden,« antwortete das Fräulein mit ruhiger Ueberlegenheit, »und Sie brauchen sich nicht zu bemühen, lieber Freund, ich danke Ihnen.«

Sie schien noch über ihre frühere Größe hinaus gewachsen und wie ein höheres Wesen.

Darauf ging sie und entließ mit der Hoheit einer Königin, die sich zur Abdankung entschließt, ihre Schutzmannschaft.

* * *

Heller Sonnenschein glänzte auf den weißen Wänden und den blanken Scheiben des Schweizerhäuschens, und außen auf der staubigen Landstraße stand ein hochbepackter Möbelwagen. Etwas abseits im Pappelschatten hielt eine zweispännige Equipage, und in dieser saß das Fräulein im schwarzen Kleid, 192 das sie nur einmal zuvor, bei der Beerdigung ihrer Schwester Franzisca, getragen hatte. Ich erkannte sie kaum, nicht nur weil ihr der Schäferhut und die weißen Gewänder fehlten, sondern weil ihr rosiges, faltenloses Gesicht sich über Nacht mit Runzeln bedeckt hatte und greisenhaft geworden war. Aber die Bewegungen, mit denen sie sich von Jung und Alt verabschiedete, waren so königlich wie je.

Als sie abfahren wollte, ereignete sich noch ein peinlicher Zwischenfall. Die Blödsinnige hatte sich mit sichtlichem Vergnügen ein neues Kleid anziehen und eine frische Haube aufsetzen lassen, doch als sie merkte, um was es sich handelte, sperrte sie sich und wollte die gewohnten Räume nicht verlassen. Da kein Zureden half, auch des Fräuleins Rufen und Winken vergeblich war, versuchte man Gewalt anzuwenden; aber sie klammerte sich mit Geschrei an den Thürpfosten und stieß die greulichsten Schimpfreden aus, bis in Eile Onkel Entreß herankam und ihr galant den Arm reichte, um sie wie eine Dame an den Wagen zu führen. Da lachte sie mit dem ganzen Gesicht unter ihrer weißen Schlafhaube und folgte ihm ohne Widerstand. Das Fräulein bot dem alten Freunde noch einmal dankend die Hand, dann wirbelte der Staub über dem rollenden Wagen auf, und Ilgenau sah sie niemals wieder.

– – Nach ihrer Abreise wurde Julie ein ewig rinnender Thränenstrom. Ihr Idealismus hatte seine Heimstätte verloren, besonders da auch Thekla auf dem weit entfernten Jägerhaus ihr nur noch 193 schwer erreichbar war. Die anderen Frauen hatten nur in erborgtem Lichte geglänzt und konnten Julie nichts weiter bieten; sie wandten sich auch, Eine um die Andere, dem hellaufgehenden Gestirn der neugebackenen Commerzienräthin Klary zu.

Julie sollte die Eröffnung der Eisenbahn nicht erleben; ihre ganze Natur zehrte sich in Heimweh auf. Doch traf sie noch der Schmerz, den Tod ihrer vergötterten Freundin erfahren zu müssen. Das Fräulein hinterließ Julien ihre heiligsten Besitztümer: das Bildniß des schönen Jünglings im Saffianfutteral und jenes Stammbuchblatt, wovon Julie mir einmal vorgeschwärmt hatte. Was aus dem Bilde geworden ist, weiß ich nicht; das Blättchen aber schenkte mir der Müller zum Andenken, als ich nach vielen Jahren wieder einmal auf die Sägemühle kam.

Es steht darauf von Männerhand geschrieben:

»Werth ist der Schmerz, am Herzen des Menschen zu liegen und Dein Vertrauter zu sein, o Natur. Denn er nur führt von einer Wonne zur andren, und es ist kein andrer Gefährte denn er.« – Darunter: »Hyperion«, aus welcher Unterschrift Julie geschlossen hatte, daß dies der Name des Schreibers gewesen sein müsse.

Die schönen Worte hatte Julie sich zur Grabschrift gewünscht, und ihre Angehörigen waren auch bereit, ihr Verlangen zu erfüllen; aber der Pfarrer widersetzte sich, weil er nicht wußte, ob der Spruch von einem heiligen oder einem unheiligen Autor 194 komme. So erhielt sie nur den üblichen Scheidegruß: »Ruhe sanft!«

Jetzt war von dem idealen Ilgenauer Frauenkreise Thekla allein übrig. Von diesem Opfer der Liebe sei noch berichtet, daß ihr Herzenswunsch nach Jahren in Erfüllung ging, indem ihre Ehe durch ein Kind gesegnet wurde. Aber das späte Mutterglück kostete ihr das Leben. Denn durch den Eigensinn ihres Mannes, der sich mit dem Arzt verfeindet hatte, kam sie in ungeschickte Hebammenhände und litt entsetzlich. Doch war sie stolz und glücklich, ihr Ziel erreicht zu haben, und starb wie eine Heldin. Das Kleine überlebte sie aber nur um wenige Stunden und wurde mit ihr in einen Sarg gelegt.

Nach Thekla's Tod kamen wir Kinder nicht mehr nach Ilgenau. Wohl aber besuchte Onkel Entreß uns häufig in der Stadt; doch sah man, daß er nicht mehr der Alte war: Thekla's Verlust ging ihm näher als irgend Jemand geahnt hatte. Durch einen seltsamen Bann dachte er immer fort an die Verstorbene.

Später gerieth er unter die Fuchtel einer geldgierigen Haushälterin, die mit dem schwächer werdenden Manne anfangen konnte, was sie wollte. Nur das Eine erreichte sie nie, so sehr sie sich darum bemühte: Thekla's Nachfolgerin zu werden.

Das Wunderliche aber war, daß er die Kleider der Verstorbenen, so weit man sie ihr nicht ins Grab mitgegeben hatte, nun fast ebenso zärtlich pflegte, wie sie selbst zu ihren Lebzeiten gethan hatte. Sie wurden immer sorgfältig geklopft, vor Staub und 195 Mottenfraß behütet, und die Haushälterin durfte sich niemals eines davon aneignen. Die leeren Hüllen genossen jetzt alle die Ehren und Treuen, nach denen die arme Frau ihr Leben lang vergebens geseufzt hatte. Und nach des Onkels Tode mußten sie laut testamentarischer Verfügung alle auf einem Haufen verbrannt werden.

Mit Herrn von Entreß verschwand der letzte Veteran der alten Garde von Ilgenau.

Ich weiß, sie würden in der heutigen Welt keine glänzende Rolle spielen, meine Freunde von ehedem. Aber als ich das letzte Mal die zur großen Verkehrsstraße gewordene Lindachbahn befuhr und in unzähligen Fabrikschlöten, sowie einem Arbeiterspital die Zeichen des industriellen Fortschritts vor Augen hatte, mußte ich dennoch zu mir selber sagen: die Eisenbahn, der jene weltvergessenen Erdenwinkel so großen Segen verdanken, wie viel Schönes hat sie zugleich mit dem Moder unwiederbringlich hinweggefegt! Ein Geschlecht, das auf dem engsten Raume die ganze Welt umschloß.

Der Zug stand still, der Schaffner riß die Coupéthür auf und schrie mit barscher Commandostimme: »Station Ilgenau! Fünf Minuten Aufenthalt!«

Da war es mir einen Augenblick, als sehe ich auf der Drehscheibe zwischen Geleise und Güterschuppen eine hohe, weiße Gestalt im Florentiner Strohhut stehen und händeringend in die Erde versinken.

Genau dort war die Stelle, wo »Werther's Grab« sich befunden hatte.

 


 


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