Isolde Kurz
Von dazumal
Isolde Kurz

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Nachbars Werner

Meine erste Liebe, so erzählte mir meine Freundin Ada, war unser Nachbarssohn Werner Horst. Ich verehrte in ihm, ohne mir davon Rechenschaft zu geben, mein männliches Ideal, denn ich stand damals zwischen dem fünften und sechsten Jahre, befand mich also in einem Lebensalter, wo man die Liebe bisweilen schon nach der Empfindung, aber nicht dem Namen nach kennt.

Ich hatte schon von Werner reden hören, bevor wir einander begegneten, denn meine Familie wohnte erst seit Kurzem in der Stadt, und die besondere Art, wie die Erwachsenen von ihm sprachen, beschäftigte meine Einbildung.

Mein Vater pflegte nämlich zu sagen: »Der Werner ist ein Junge, aus dem einmal etwas werden kann, aber ich will nicht, daß meine Kinder mit ihm umgehen.«

Und meinem Bruder Erich, der die gleiche Lateinklasse besuchte wie Werner, war es verboten, den Heimweg aus der Schule in seiner Gesellschaft zu machen.

Ganz deutlich erinnere ich mich, wie Werner das erste Mal zu uns kam. Sein Vater hatte ihn mit einem Auftrag an den meinigen geschickt. Seine freie 20 Miene, die glänzenden Augen, mit denen er den Großen so fest ins Gesicht sah, und daß er zwei Jahre älter war als ich, das Alles flößte mir eine mit Scheu gemischte Bewunderung ein. Und als er wieder gegangen war und meine Mutter gegen den Vater bemerkte: »Es ist doch jammerschade um den Werner –« da weiß ich noch ganz genau, daß mir das Herz unruhig zu klopfen begann.

Nachdem der Vater das Zimmer verlassen hatte, nahm ich all' meinen Muth zusammen und fragte:

»Was hat denn der Werner gethan, daß Du sagst: ›Schade?‹«

»O, etwas sehr Häßliches,« war die Antwort, »das kleine Mädchen besser gar nicht wissen sollten: der Werner ist ein Lügner

Und sie erzählte mir, daß Werner's Vater Alles aufgeboten habe, um den Jungen von diesem widrigen Laster zu heilen, aber kein Mittel wollte fruchten. Unzählige Prügel habe er an ihm abgeschlagen, ihn Tage lang im Keller eingesperrt, es sei Alles umsonst gewesen. Das Lügen sei so mit Werner's Natur verwachsen, daß er es nicht lassen könne. Ueberhaupt sei er ein Thunichtgut und ein Heimtücker, was man ihm bei seiner offenen Miene gar nicht ansehen würde. Er halte sich immer nur einen Freund unter seinen Kameraden, aus dem mache er dann, was er wolle, setze ihm die größten Albernheiten in den Kopf und verleite ihn zu schlechten, ungezogenen Streichen, bis er ihn eines Tages stehen lasse und sich wieder einen anderen suche. Werner Horst's Freundschaften 21 dauerten nie länger als ein paar Wochen, aber in diesen paar Wochen mache er auch die bravsten zu ganz ungehorsamen und verdrehten Jungen. Deshalb hätten andere Eltern darauf zu achten, daß er von ihren Kindern fern bleibe.

Ich ging an diesem Tage ganz tiefsinnig umher. – Wie kann man nur lügen, dachte ich bei mir selbst. – Pfui, das muß etwas sehr Schmutziges sein! – Denn ich war ein kleiner Tugendbold und sehr stolz auf meine von den Eltern oft gerühmte Wahrheitsliebe, an der gar nichts Verdienstliches war, da ich als zärtlich gehegtes Hauskind niemals in die Versuchung gerieth, mir mit einer Lüge zu helfen.

Daher nahm ich mir vor, den Werner gründlich zu verachten, ihn auch nicht anzusehen, wenn er mir auf der Straße begegnen würde. Aber heimlich mußte ich immer an den Missethäter denken. Meine Phantasie irrte beständig um seine mir doch nicht recht klar gewordenen Vergehungen und die Strafen, die er dafür zu verbüßen hatte, herum. Seine Beharrlichkeit im Bösen imponirte mir eben so sehr, wie ich sie verdammte, und so oft ich mir sein schönes, freies Gesicht vorstellte, wurde ich traurig.

Wenn mein Bruder gelegentlich in meiner Gegenwart sagte: »Der Werner Horst ist der Beste in der ganzen Klasse« – so wurde ich roth, ohne zu wissen, warum. Und als ich ihn eines Tages sagen hörte: »Heut' hat der Werner Prügel bekommen, weil er wieder gelogen hat« – weinte ich im Stillen. Fortan flocht ich allabendlich in mein Nachtgebet die Bitte ein:

22 »Und, lieber Gott, mache vor Allem, daß der Werner nicht mehr lügt.«

Werner's Vater war der Rector und Kirchenälteste Horst, dessen Haus dicht an das unsrige stieß. Da drüben fielen zuweilen Scenen vor, über die man bei uns nur flüsternd sprach, denn meine sanfte, immer gütige Mutter, die ich viel zu kurz besessen habe, wollte nicht, daß wir Kinder von häßlichen und traurigen Dingen erführen; sie verheimlichte uns sogar ihren eigenen leidenden Zustand, um uns den Sonnenschein der Kindheit so lange wie möglich ungetrübt zu erhalten. Aber durch des Rectors Dienstmagd Rike, die sich bei unserer Christine das Herz zu erleichtern pflegte, war man von Allem unterrichtet. Der Alte gehörte zu den Stillen im Lande und war der Schrecken der Schulkinder, denen er das Christenthum mit dem Stock einbläute. Nur über seinen Werner hatte er keine Gewalt. Dieser drückte sich, so oft er Gelegenheit fand, um die häuslichen Andachtsübungen und lief am Sonntag in den Wäldern umher. Wenn er dann zum Mittagessen nach Hause kam, erwartete ihn regelmäßig eine Prügelsuppe, worauf er für den Rest des Tages abermals zu verschwinden pflegte, um am Abend mit einer neuen Tracht Prügel begrüßt zu werden. Doch war ihm das Umherstreifen ebenso wenig auszutreiben wie das Lügen. Einmal – aber dies erzählte mir Christine nur mit gedämpfter Stimme und indem sie sich ängstlich umsah, ob Niemand zuhöre – war er sogar mit einer Zigeuner- oder Kunstreiterbande fortgezogen, man wußte nicht wohin, 23 und erst nach mehreren Tagen war der Vater seiner wieder habhaft geworden.

Ich weiß nicht, ob Werner ahnte, wie sehr seine Nachbarin mit ihm beschäftigt war. Jedenfalls nahm er seinerseits von meinem Dasein in schmeichelhafter Weise Notiz, während es sonst bräuchlich war, daß die Mädchen von den Jungen über die Achsel angesehen wurden.

Bei einer festlichen Gelegenheit entspann sich zur Schande meiner Grundsätze unsere Freundschaft.

Die große Frühjahrsmesse führte alljährlich wandernde Curiositäten, wie Schießbuden, Menagerien und dergleichen nach unserer Stadt. Diesmal war auf der großen Festwiese vor den Thoren neben anderen Herrlichkeiten ein Carroussel aufgeschlagen, das den ganzen Tag nicht leer wurde und die Herzen der Jugend mit Begeisterung erfüllte. Ich hatte nie zuvor ein Carroussel gesehen, und das quieksende, kreisende Ding mit seinen Pferdchen und Wägelchen und dem flatternden Wimpel auf dem Zeltdach erregte mein glühendstes Verlangen. Die Mutter schenkte mir ein paar Kreuzer, zog mir ein weißes Kleid mit rosa Bändern an und schickte mich am Sonntag mit Christine auf die Festwiese.

Einen Sonntag wie diesen habe ich nicht wieder erlebt. Die Wiese war so grün, daß man nichts Grüneres sehen konnte; die Sonne schien hell, und die Weiße des leinenen Zeltdaches, worauf die bunten Fähnchen wehten, biß einem fast in die Augen. Aber das Allerschönste war die Musik, die den Rundgang 24 des Carroussels begleitete; die Töne der Sphärenharmonie können einem verstehenden Ohre nicht beseligender klingen als mir das Geschrille jener Jahrmarktsorgel, in das sich das Aechzen der drehenden Mechanik mischte. Noch heute kann ich kein Carroussel herumgehen sehen, ohne eine Weile stehen zu bleiben, und die Töne, die mein Ohr zerreißen, wecken ein fernes, himmlisches Echo in meiner Erinnerung. Doch ließ sich der wonnevolle Tag zuerst für mich bedenklich an. Christine wollte mich in eines der grün lackirten Kütschchen heben, wogegen ich mich sträubte, denn ich verlangte sehnlich nach einem Pferd. Die bäumenden Vierfüßler aber waren alle von den Jungen besetzt, die es als einen Eingriff in ihre Vorrechte betrachteten, daß auch ein Mädchen in den Sattel steigen wollte, und mich überall zurück drängten. Es war eine allgemeine Verschwörung, mich nicht ankommen zu lassen, und unzählige Male mußte ich das Carroussel ohne mich abgehen sehen. Ich war ganz trostlos vor Schmerz und Scham, daß man mich nirgends dulden wollte, und es fehlte nicht mehr viel, so wäre ich weinend nach Hause gelaufen. Als das Carroussel wieder einmal still hielt, sah ich einen herrlichen Rappen mit rund gebogenem Hals und wehender, hölzener Mähne mir gerade gegenüber. Ich stürzte darauf zu, griff nach dem Steigbügel, wurde aber alsobald wieder gepackt und zurück gezerrt. Diesmal war es mein eigener Bruder, der mich wegzureißen suchte, doch ich hielt den Bügel fest, und ein gewaltsames Ringen entstand.

»Schäm' Dich doch, Ada,« keuchte er ganz außer 25 sich – »die Mädchen gehören nicht aufs Pferd, die Mädchen gehören in die Kutschen.«

Nicht daß er das Pferd für sich gewollt hätte, aber als Musterknabe, der er war, konnte er es nicht ertragen, seine Schwester eine Ausnahme machen zu sehen. – Ich war zwar die Jüngere, aber keineswegs erheblich schwächer und wehrte mich wie eine Löwin. Die Umstehenden lachten, der Aufwärter sagte begütigend: »Was macht ihr, Kinder, es ist Platz für Alle! Aufgestiegen! Jetzt fahren wir ab.«

Er hatte gut reden, mein Bruder hielt mich an meinen langen, gelockten Haaren fest. Mit einem verzweifelten Ruck machte ich mich endlich los und ließ ihm mein rosa Band nebst einem Schopf Haare in den Händen. Aber als ich mich umsah, war mein Platz von einem Dritten genommen, und ich erkannte Werner Horst, der eine Hand auf den Bügel des Rappen gelegt hatte. Mein Bruder schnitt mir eine schadenfrohe Fratze und hieß Werner rasch auf den Rappen steigen.

»Warum denn?« sagte dieser ruhig, indem er den Platz frei gab. – »Deine Schwester war ja vorher da.«

»Aber die Mädchen gehören in die Kutschen,« antwortete mein Bruder, indem er mit dem Fuß stampfte.

»Dummheit,« sagte Werner, während ich schon triumphirend im Sattel saß.

Meinem Bruder blieb nichts übrig, als sich im Gewühl davon zu schleichen, nachdem er noch die Faust 26 gegen mich geballt hatte. Werner sprang auf das freie Gäulchen neben dem meinigen, die Musik setzte ein, und fort ging es, als flöge man ins Himmelreich.

Werner nickte vergnügt zu mir herüber und sagte:

»Du bist doch nicht so langweilig wie die andern Mädchen.«

Ich saß strack im Sattel, hielt mit einer Hand die Eisenstange, durch die mein Pferd an dem Gerüste befestigt war, und fühlte mich hoch erhaben über die zahmen Lämmchen in ihren blauen und rosa Kleidchen, die ringsum fein artig zu Vier und Vier in den Kutschen untergebracht waren. Stolz und glücklich blickte ich zu Werner hinüber, der mir auf einmal als ein ganz Anderer erschien. Ich hatte alle Missethaten, deren er angeklagt war, vergessen und sah in ihm meinen Retter und Helden, denn es war mir aufgegangen, daß er sich nur eingemischt hatte, um den bestrittenen Platz für mich zu besetzen.

»Warum sollen die Pferde nicht auch für die Mädchen sein?« fragte ich, um aus seinem Munde die Bestätigung meiner Rechte zu vernehmen.

»Die Pferde sind für Alle, die reiten können,« lachte er.

Also ich konnte reiten! Der Werner hatte es gesagt, und der mußte es ja wissen. Ich hob mich noch stolzer im Sattel und fühlte mich so sicher in meinem Amazonenthum, daß ich die Stange los ließ und mich auf meinem Pferdchen frei schwebend erhielt. Die Musik gröhlte, die Kinder schrien und sangen, die Mechanik stöhnte, und wir drehten uns in wirbelnder 27 Eile. Eine Verzückung hatte mich erfaßt; mir war's, als läge die Erde tief unter uns, und wir sausten zusammen furchtlos und selig durch die blauen Lüfte. Auf einmal stand das Carroussel stille, die Musik schwieg, und ein Mann ging herum und sammelte Geld ein. Auch ich reichte ihm ein Geldstück und wollte betrübt herunter gleiten. Aber Werner sagte: »So bleib doch sitzen!« – und ein neuer Wolkenritt begann, so berauschend und so kurz wie der erste. Noch mehrere Male blieben wir beide sitzen, bis all' unser Geld verritten war, und es war immer noch viel, viel zu kurz gewesen. Zögernd stiegen wir endlich herunter. Das Dienstmädchen war mit einem Soldaten, der sie während dessen angesprochen hatte, verschwunden. Ich befand mich ganz allein in dem Gewühl – allein mit Werner Horst. In meinem Freudenrausch fühlte ich mich ihm so nahe, als wäre er mein Bruder, nur ein besserer, liebevollerer Bruder, denn er zeigte mir keine Mißachtung dafür, daß ich ein Mädchen war.

Wir trieben uns eine Zeit lang zusammen auf der Festwiese zwischen den besetzten Tischen und Bänken herum, standen vor dem mit wilden Scenen bemalten Vorhang einer Thierbude, betrachteten voll Interesse das Lager einer braunen Zigeunerbande, die im Freien kochte, und fühlten uns in dem Gedränge unbeobachtet und selig. Endlich, als wir alles wohl beschaut hatten, sagte Werner:

»Jetzt geh' ich in die Stadt Wasta, willst Du mit?«

28 Ob ich wollte! Ich hatte zwar keine Ahnung, wo die Stadt Wasta lag, noch was wir dort sollten, aber der fremdartige Name hatte es mir augenblicklich angethan. Werner lief voran, ich ihm nach, so schnell ich konnte, über Gräben, an einer Hecke entlang, dann quer durch einen Obstgarten, welchen ein Bach durchschnitt, der übersprungen werden mußte, und endlich schlüpften wir durch ein Pförtchen in unserer alten Stadtmauer, von der damals noch ein Stück erhalten war. Auf dem Wege machte Werner mehrmals Halt, um mich Athem schöpfen zu lassen und mir die Geschichte der Stadt Wasta zu erzählen, die vor langer, langer Zeit unter die Erde versunken war und nur einmal in tausend Jahren – und gerade heut' – an die Oberfläche stieg. Dann führte er mich weiter eine bebaute Anhöhe hinauf und eine eben solche hinunter, bis sich ein weites Rund vor uns aufthat, das ganz mit altersgrauen Häuschen überdeckt war. Viele Gäßchen durchschnitten es die Kreuz und Quere, und in der Mitte lief eine breitere, gerade Gasse hindurch. Eigentlich war es nicht mehr und nicht weniger als unser alter Marktplatz, worauf die Jahrmarktsbuden standen, die heute als am Sonntag geschlossen waren. Und eigentlich wußte ich dies auch; aber als Werner mir sagte, wir befänden uns in Wasta, der versunkenen Stadt, wurde mir doch ganz wunderlich, und ich glaubte ihm Alles. Die Buden waren aus grauem, vom Regen zerfressenen Lattenwerk hergestellt und sahen zum Theil wirklich aus, als hätten sie tausend Jahre unter der Erde gelegen, weil die Krämer, 29 die alljährlich unsere Frühjahrsmesse besuchten, größtentheils ihre eigenen Buden besaßen, die jedes Mal über die Meßwoche auf dem Marktplatz aufgeschlagen wurden und in der Zwischenzeit friedlich in irgend einem Schuppen ruhten. Doch dies kümmerte mich nicht, ich spazierte unter wonnigem Grausen mit meinem neuen Freunde durch die völlig verödeten Gassen von Wasta, an den leeren Häusern und Palästen hin, und erst nach längerem Schauen und Staunen fiel es mir ein, nach den Bewohnern zu fragen. »Sie sind alle todt seit mehr als tausend Jahren,« sagte Werner, und nun erzählte er mir eine lange, gruselige Geschichte vom Untergang der Stadt Wasta, die zur Strafe ihrer Sünden vor unvordenklicher Zeit mit Mann und Maus unter die Erde versunken war.

Ich fragte, was denn die Leute gethan hätten, um eine so schwere Strafe zu verdienen; da antwortete er ruhig:

»Sie waren alle Lügner, die ärgsten, die es je gegeben hat. Denn sie logen sogar den lieben Gott an, als er einmal auf der Reise nach Wasta kam. Da wurde er böse und verstieß sie allesammt unter den Boden.«

»Das ist ja gräßlich,« sagte ich schaudernd. »Kann man sie denn nicht erlösen?«

Er sah mich mit einem halb traurigen, halb listigen Blicke an und sagte:

»Man könnte schon, und deshalb kommt Wasta alle tausend Jahre wieder herauf, aber nur ein Mensch, der nie gelogen hat, könnte sie erlösen, und einen solchen gibt es nicht.«

30 »O,« rief ich voll Tugendstolz, »ich habe nie gelogen, vielleicht daß ich es probieren kann.«

Aber Werner schüttelte den Kopf und sagte:

»Du kannst es nicht, Niemand kann es, denn alle Menschen lügen, auch wenn sie es selbst nicht wissen. – Siehst Du, dieses Haus ist das größte von allen. Darin wohnte der König. Er hieß Ferragut und seine Königin Thebasile. Sie wurden am tiefsten versenkt, weil sie vor dem lieben Gott geprahlt hatten, sie könnten mit trockenen Füßen auf dem Wasser gehen, was doch nur die Engel und die Heiligen können. Darum ist auch ihr Dach so schwarz, weil es am tiefsten in der Erde steckt. – O, ich könnte Dir viele Geschichten von Wasta erzählen, denn ich weiß sie alle.«

Jetzt wurde mir unheimlich. »Laß mich fort,« sagte ich, »komm, ich mag nicht in Wasta sein.«

»Bist Du denn furchtsam?« fragte er geringschätzig.

»Ich bin nicht furchtsam, aber ich mag nicht in Wasta sein.«

»Ei, so geh' heim,« sagte er.

Aber ich ging nicht, denn ich hätte mich noch weit mehr gefürchtet, allein durch die öden Brettergassen zu laufen. Also hielt ich mich dicht an meinen Begleiter, und dieser schleppte mich von Haus zu Haus, vor die Wohnung des Ministers, des Richters, des Pfarrers, bis vor ein ganz kleines Häuschen, von dem er sagte, daß hier der Todtengräber wohne. Sie hatten Alle Namen, merkwürdige, nie gehörte Namen, die ich nicht behalten konnte. Ich begreife heute noch nicht, wo er sie alle in der Schnelligkeit hernahm. Und 31 plötzlich erfaßte ihn eine tolle Laune, denn er schlug mit den Fäusten an eine der nächsten Bretterthüren und rief mit schmetternder Stimme:

»Ihr Leute von Wasta, wachet auf, der jüngste Tag ist da!«

Und ich, vom gleichen Fürwitz gestochen, klopfte ebenfalls und schrie aus vollem Halse:

»Habt Ihr noch nicht genug, Ihr Schläfer? Stehet auf, es ist an der Zeit! –« und ähnliche Thorheiten, mit denen wir uns gegenseitig ansteckten. Wir galoppirten die ganze Straße hinauf, schlugen an jedes Haus, riefen den König Ferragut und die Königin Thebasile, sowie Minister, Richter und Pfarrer aus dem Schlafe, bis wir durch den Klang unserer eigenen Stimmen und das Gepolter eines unachtsam angestoßenen Balkens in solchen Schreck versetzt wurden, daß wir athemlos davonstürzten und nicht eher Halt machten, bis wir die Straße erreichten, wo unsere Häuser lagen. Dort trafen wir auf einen großen Menschenschwarm, der von der Festwiese nach der Stadt strömte, und unter der Menge war auch unsre Christine, die mich in tausend Aengsten gesucht hatte. Natürlich nahm sie mich gleich beim Wickel und drohte, mich beim Vater zu verklagen, es lief aber gut ab, denn sie hatte mindestens eben so viel Ursache wie ich, ihre Erlebnisse zu verschweigen.

Der verbotene Bund blieb noch eine ganze Weile verborgen, obgleich ich nichts weniger als vorsichtig war und an jedem Abend auf die Gasse oder in den großen Obstgarten lief, wo ich sicher war, Werner zu 32 treffen. Ohne Verabredung fanden wir uns immer ganz von selbst zusammen. Meist kam er über die Mauer gestiegen, die das Anwesen seiner Eltern von unsrem Obstgarten trennte. Wie es kam, daß man uns nie beisammen sah, weiß ich selber nicht, wahrscheinlich dadurch, daß wir uns mehr in den Kronen der Bäume, als auf der Erde bewegten. Werner kletterte wie ein Eichhörnchen, und ich lernte diese sowie manche andere schöne Kunst von ihm. Durch die Kränklichkeit meiner Mutter war ich größtentheils ohne Aufsicht, denn zwischen mir und Christinen bestand das stillschweigende Einverständnis daß sie des Abends mit ihrem Soldaten ging und mich im Obstgarten bei Werner ließ. Er hatte immer Zeit für mich übrig, denn wenn Erich noch bei angezündeter Lampe über seinen Schulaufgaben schwitzte, hatte Werner schon lange vor Sonnenuntergang seine Vokabeln gelernt, sein Schriftliches bereinigt und trieb sich mit mir im Garten herum. Das Lernen war ihm nur ein Spiel, und er setzte durch die Schnelligkeit seiner Auffassung die Lehrer in Erstaunen. Nur im Rechnen bekam er schlechte Noten, mein Bruder sagte, es sei das Einzige, was ihm schwer falle.

Ich bemerkte das einmal gegen ihn, da antwortete er stolz:

»Das Rechnen fällt mir nicht schwer, es langweilt mich bloß. Wenn ich wollte, so könnte ich rechnen.«

Welches Glück ich in seiner Freundschaft fand, das läßt sich gar nicht in Worte fassen. Um es zu 33 verstehen, müssen Sie wissen, daß ich nicht in die Schule geschickt, sondern zu Hause unterrichtet wurde und folglich keine Kameradinnen besaß. Ich verstand mich überhaupt nicht mit den kleinen Mädchen, die ich wie Werner langweilig fand, und da mein Bruder sich nicht mit mir abgab, hatte ich meine kleine Welt bisher einsam mit mir herumgetragen. Jetzt besaß ich einen Freund, der mich achtete und vor dem alle Andern Respekt hatten, den »Besten in der Klasse«, wie mein wohl erzogener Bruder sagte. Die Freundschaft mit Werner trug mir sogar Erich's Achtung ein. Der Gute, er wußte die Naturgabe zu schätzen, denn er war selber strebsam, obgleich ihm das Lernen schwer wurde. Um so mehr bewunderte er Werner, wenn er sich auch, dem elterlichen Gebot gehorsam, von ihm fern hielt, und jedenfalls war ich sicher, daß er unsere Freundschaft nicht verrieth.

Der Besuch in Wasta hatte einen ungeheuren Eindruck auf mich gemacht, und oft fragte ich Werner: »Wann gehen wir wieder nach Wasta? –« aber er hatte jetzt andere Geschichten im Kopf, denn es lag nicht in seiner Art, bei einer Sache lange zu bleiben – Wasta war in die Erde versunken und kam erst in tausend Jahren aufs Neue zum Vorschein.

Niemand hat mir jemals wieder Geschichten erzählt wie Werner Horst, und die Welt, in der ich jeden Tag mit ihm lebte, habe ich später nur in der Dichtung wiedergefunden.

Aber der Rosenbusch unserer Freundschaft trug auch Dornen, die mich zuweilen schmerzhaft stachen. 34 Gleich bei unserem ersten Wiedersehen blickte mich Werner längere Zeit mißbilligend von der Seite an und bemerkte endlich:

»Du bist ja gar nicht mehr so schön, wenn Du das weiße Kleid mit den rosa Bändern nicht anhast.«

Was hätte ich drum gegeben, alle Tage das weiße Kleid anziehen zu dürfen; ich bat und bettelte jeden Morgen darum, aber Christine, die es zu waschen und zu bügeln hatte, nahm meine Bitten sehr unwirsch auf, und mein Bruder, der ein Topfgucker war, sagte:

»Ist die Ada toll? Das weiße Kleid am Werktage? Was würden da die Leute sagen?«

Ich war eigentlich ein dummes Kind, wenigstens ein unerhört leichtgläubiges, und das muß es vor allem gewesen sein, was den viel begabteren Werner so an mich fesselte. Die Dinge, die er in seinem Kopf mit unwiderstehlichem Drang zusammenbraute, wurden durch meine innige Ueberzeugung zu lauter Wirklichkeiten. Und wenn es einmal gar zu abenteuerlich herging, daß ich denn doch stutzig wurde, so sagte er nur:

»Es ist wahr, das Prinzeßchen hat mir's gesagt –«

Dann staunte ich mit aufgerissenen Augen und glaubte sofort wieder alles.

»Wer ist denn das Prinzeßchen?« fragte ich ihn zu öfteren Malen. Aber er antwortete nichts als: »Das Prinzeßchen ist eben das Prinzeßchen, –« und damit mußte ich mich zufrieden geben.

Bei alledem hatte ich doch eine Ahnung, daß ich mich mit ihm in einer Welt der Täuschungen befand, 35 aber sie war für mich ebenso wahr und vorhanden wie die Welt der Thatsachen, nur daß ich keine handgreiflichen Proben ihres Daseins verlangte, wie es Werner's Schulkameraden zu thun pflegten, und deshalb stand unsere Freundschaft auf festem Boden. Nur wenn seine Geschichten sich ins Wilde und Grausame verirrten, mochte ich sie nicht mehr anhören. Dann ärgerte er sich und sagte voll mitleidiger Geringschätzung: »Es ist doch etwas gar zu Dummes um so ein Mädchen –« aber er zog doch wieder gelindere Saiten auf. Am liebsten erzählte er vom »Monitor« und »Merrimac«. Das waren zwei Ungeheuer, die im Atlantischen Ocean hausten und sich immerfort bekriegten. So oft er kam, wußte er eine neue Begebenheit, die zwischen ihnen vorgefallen war, zu erzählen. Jede Phase ihrer unendlichen Kämpfe stellte er mir dramatisch dar und nöthigte mich selber dabei mitzuspielen. Ich mußte mich aufblasen und ungeheuren Dampf auspusten. Schnaubend kam er angerannt, und ich fürchtete mich jedes Mal entsetzlich, denn wenn er einmal versichert hatte, daß er jetzt der Merrimac sei, so war es mir ganz unmöglich, ihm nicht zu glauben. Nichts konnte ihn so erbosen, als wenn ich keine Lust hatte, Monitor zu sein, und ihn mit Thränen bat, doch selber wieder der Werner Horst zu werden. Durch die Drohung, er gehe weg und werde nie mehr mit mir spielen, machte er mich immer aufs Neue willfährig. Die beiden Ungethüme mußten auf den Wogen gegen einander heranrasen, sie wühlten um sich her das Wasser auf 36 und spien Feuer aus ihren Nüstern. Ihre Brust war von Eisen und jedem Stoß gewachsen. Aber leider war meine Brust nicht von Eisen, und ich erhielt häufig Püffe, die mich zu Boden warfen, was dann Zank und Thränen nach sich zog. Eines Tages hatte unser Kampf, bei dem der »Monitor« zum Rückzug blies, sich bis an das seichte Lauterufer, an das unser Obstgarten grenzte, hinabgezogen. Ich spritzte Wasser gegen meinen Feind, um die Illusion zu erhöhen; da wurde in Werner die Kriegslust übermächtig, er rannte mich nieder und drückte mir den Kopf ins Wasser, daß ich fast ertrank. Natürlich gab es ein fürchterliches Geschrei und die Dazwischenkunft der beiderseitigen Eltern, die mit einer Tracht Prügel für Werner endigte.

Erst viele Jahre später, als ich erwachsen war, erfuhr ich, was es mit dem Monitor und Merrimac auf sich gehabt hatte: nämlich, daß es die zwei feindlichen Kriegsschiffe, die ersten gepanzerten, im amerikanischen Secessionskriege waren, der in unsere Kindheit fiel. Werner mußte irgendwo von ihnen gehört oder Abbildungen gesehen haben, die sich in seiner Phantasie zu zwei feuerspeienden Seedrachen umgestalteten. Der »Merrimac« ist sogar in diesen Tagen noch einmal aufgetaucht: es war dasselbe Schiff, das während des spanisch-amerikanischen Krieges im Hafenkanal von Cuba ein glorreiches Ende fand, und diese Nachricht hat mir meinen jungen Freund mit allen Geschichten jener Zeit plötzlich wieder ganz lebendig vor die Seele gerufen.

37 Unsere Beziehungen waren also durch die Seeschlacht an den Tag gekommen, und ich muß mich nachträglich wundern, wie sie so lange verborgen bleiben konnten. Natürlich hütete ich mich wohl, zu gestehen, wie nahe ich daran gewesen war, von Werner ertränkt zu werden, sondern stellte meinen Sturz ins Wasser als ein zufälliges Mißgeschick dar, das man bei der Seichtigkeit des Flußbettes nicht tragisch nahm. Dagegen waren meine Eltern sehr überrascht, mich in so anrüchiger Gesellschaft zu finden, und das Verbot, mit Werner umzugehen, wurde strengstens erneuert.

Doch dies hinderte mich nicht, am nächsten Abend wieder auf der Obstwiese zu warten, bis er über die Mauer stieg, und als man uns dabei ertappte und Werner den Garten verbot, wußten wir uns anderswo zu finden. Man drohte mir mit Einsperren und sogar mit Schlägen. Ich war nie geschlagen worden, und der Gedanke, daß eine Hand mich in unfreundlicher Absicht berühren könnte, war mir fürchterlich; aber von Werner konnte ich nicht lassen. Wagte er alles für seine romantische Welt, so wagte ich alles für seine Gesellschaft.

Er hatte eine Schwester Namens Anna, ein blasses, verkümmertes Geschöpf, das ein paar Jahre älter, aber viel kleiner war als er und sich sehr gesetzt und wohlerzogen benahm. Sie kränkelte immer und hatte etwas Scheues, Trauriges in ihrem Wesen. Es hieß von ihr: »sie ist eifersüchtig.« Darunter konnte ich mir nichts Bestimmtes vorstellen, aber es erhöhte den 38 unbehaglichen Eindruck, den dieses Kind mir auf den ersten Blick gemacht hatte.

Die Geschwister liebten einander nicht, denn Anna brachte jedes Versehen ihres Bruders zur Anzeige. Deshalb mochte ich sie auch nicht leiden, obgleich sie sich eine Zeit lang Mühe gab, mich zu gewinnen, was mir als der viel jüngeren doch hätte schmeicheln müssen. Aber Werner sagte: »Das thut sie nur, weil du zu mir hältst,« – und Werner's Worte waren mir das Evangelium.

Diese Anna kundschaftete jetzt das neue Versteck aus, das wir hinter der Schloßmauer unfern unserer Häuser gefunden hatten. Dort lagen zu unbekanntem Zweck ein paar behauene Stämme aufgeschichtet, auf denen wir spielten. Werner zog einen von ihnen so weit aus dem Haufen hervor, daß wir uns beide rittlings darauf setzen konnten, er peitschte den Balken mit einer Gerte, wir schwippten beide aus Leibeskräften, und das nannten wir »Carrousselfahren«. Der Balken bewegte sich zwar nicht im Geringsten, weil er zu fest eingekeilt war, wir ritten aber gleichwohl durch die Lüfte und erlebten die wunderbarsten Abenteuer. – Don Quixote und sein Sancho können nicht überzeugter auf dem »Zapfenhölzern« gesessen haben. Mein Freund sang dazu mit schmetternder Stimme wilde Kriegslieder – indianische Schlachtgesänge und ähnliches, in, wie ich glaube, sehr freien Rhythmen, denn er hatte sie selbst verfaßt. Mich begeisterten sie jedenfalls gewaltig, besonders weil der Feind nicht zum Vorschein kam, und ich schrie aus vollem Halse mit.

39 Da stand mit einem Male die blasse Anna vor uns und sagte: wenn wir sie mitspielen lassen, so wolle sie versprechen, uns nicht anzugeben. Aber Werner gerieth in den größten Zorn und jagte sie mit seiner Gerte davon.

Stehenden Fußes ging sie zu meinen Eltern und theilte ihnen mit, wo ich zu finden sei. Bei dieser Gelegenheit aber zeigte sich meines Vaters pädagogische Weisheit im hellsten Lichte; er sah ein, daß er mit keinem Machtwort gegen meine Leidenschaft aufkommen konnte, und zog es vor, seine Autorität nicht weiter aufs Spiel zu setzen. Ich wurde einfach von Christine nach Hause geholt und bekam kein böses Wort wegen meines Ungehorsams zu hören. Im Gegentheil, des anderen Tags machte die Mutter einen Besuch bei Rektors, und die Folge war, daß Werner die Erlaubniß erhielt, in unserem Haus und Garten unter Aufsicht der Großen mit mir zu spielen. Dagegen wurde auch ich zu Rektors eingeladen, und die Anna kam zu uns, denn meine Mutter fand es unpassend, daß ich mit dem Bruder Freundschaft haben wollte und mit der Schwester nicht.

Werners Ruf hatte sich nämlich gebessert, seitdem er nicht mehr von Hause weglief, noch seine Kameraden verführte, sondern seine Freistunden als »Merrimac« zubrachte. Auch hatte sich seit lange Niemand beschwert, von ihm angelogen worden zu sein, vielleicht, weil er an mir eine immer willige Abnehmerin seiner phantastischen Einfälle hatte. Mitunter kam es jetzt auch den Großen bei, ihn so zu 40 sehen, wie der untrügliche Instinkt der Kinder ihn von allem Anfang an erkannt hatte. Besonders mein Vater gab sich gern mit ihm ab und bemerkte einmal gegen die Mutter, es stecke ein ganz eigener Geist in dem Jungen, denn er thue, ohne altklug zu sein, bisweilen Aeußerungen, die für manchen Erwachsenen zu tief wären.

Ein eigener Geist war auch wirklich in ihm. Er wußte viele Dinge voraus, die richtig eintrafen, besonders solche, die sich auf ihn selbst bezogen, und die ganze Art eines Menschen bezeichnete er oft mit einem einzigen Wort.

So lebhaft mir noch jeder Zug seines Wesens in Erinnerung ist, so wenig könnte ich die Züge seines Gesichts beschreiben. Nur seine Augen sehe ich noch ganz deutlich vor mir, sie hatten zuweilen einen Glanz und Ausdruck, den ich in keinem anderen Auge mehr gesehen habe, es war wie das Licht einer anderen Welt, das aus ihnen schien. Und noch eine Einzelheit ist mir geblieben: er hatte ein kleines blaues Äderchen auf der Stirn zwischen den Augenbrauen, das unsre Christine das »Kirchhofblümchen« nannte; denn sie pflegte zu sagen, daß Kinder mit solchen Adern auf der Stirn nicht groß würden.

Nachträglich muß ich mich wundern, wie Werner es fertig brachte, seine Freundschaft mit einem kleinen Mädchen gegen die ganze Meute seiner Schulkameraden aufrecht zu erhalten, denn auch die Welt der Kinder hat ihre Konventionen. Bei uns waren die »Mädeln« (ein Wort, das nur mit schief gezogenen 41 Mundwinkeln ausgesprochen wurde) von den »Buben« tief verachtet, und wer sich mit ihnen abgab, der sank zum gleichen Pariatum herab. Eine Zeit lang drohte auch Werner dieses Schicksal. Denn eines Tages, als sie aus der Schule kamen, umringten ihn seine Kameraden und sangen ihm ein Spottlied zu, das gegen die »Mädlesfüßler«, das heißt solche, die den Mädchen nachgingen, im Schwang war. Aber sie waren mit ihren Hänseleien an den Unrechten gekommen. Werner gerieth in einen seiner sinnlosen Wuthanfälle, die Alle an ihm kannten. Ohne zu denken, daß er Einer gegen Viele war, warf er sich auf den, der ihm zunächst stand, und obgleich die ganze Bande sich an ihn hängte, richtete er den armen Teufel mit Stoßen, Schlagen und Treten entsetzlich zu. Er selbst ging blutend und zerbissen, aber doch als Sieger aus dem Kampfe hervor, denn er hatte den Platz behauptet und sagte zu seinen Kameraden:

»So, Ihr habt gesehen, daß ich mir nichts befehlen lasse. – Jetzt sage ich freiwillig: ich spiele nicht mehr mit der Ada«.

Er kam zu mir in den Garten und rief mir zu: »Adieu, Ada, ich spiele nicht mehr mit Dir, es schickt sich nicht, Du bist ja nur ein Mädchen.«

Sprach's, drehte mir den Rücken und kletterte über die Mauer zurück. Ich stand wie vom Blitz getroffen und fand kein Wort der Erwiderung. Mehrere Tage blieb er aus; ich ging in dieser Zeit wie geistesabwesend herum und verschluckte meine Thränen, 42 damit die Großen nichts merken sollten. Mein Bruder sah mich oft schadenfroh von der Seite an, denn er wußte ganz genau, was vorging, und er äußerte zuweilen sentenziös: »Die Mädeln gehören zu den Mädeln und die Buben zu den Buben.«

Aber schon nach ein paar Tagen kehrte Werner von selbst zu mir zurück, denn er konnte meine Gesellschaft nicht auf die Länge entbehren. Zu seinen Kameraden sagte er: »Daß Ihr nur wißt: ich spiele wieder mit der Ada –« worauf ihm diese einmüthig antworteten: »Spiele, mit wem Du willst, das kann uns einerlei sein.«

Fortan ließen sie ihn in Ruhe, und unsere Freundschaft erlitt keine weitere Trübung mehr. Werner bedurfte meines unbegrenzten Glaubens und meines nimmersatten Zuhörens. Mir konnte er auch anvertrauen, was er einem Knaben nicht anvertraut hätte: das Geheimniß seines Lebens. Er haßte seinen Vater von der frühesten Kindheit an. Schon in seinen allerersten Vorstellungen stand sein Vater als der Zuchtmeister da, der für jede Uebertretung den Stecken bereit hat. Nie erinnerte er sich eines guten Wortes oder einer Liebkosung von ihm, ja er würde eine solche verabscheut haben, mehr als die Hiebe, die er erhielt. Seinem Vater einen starren Trotz zu bieten, in nichts ihm nachzuleben, bei Drohungen zu lachen und bei Mißhandlungen mit keiner Wimper zu zucken, das war für jetzt sein höchster Ehrgeiz. Aber später – da sollten sie schon sehen. Da sollte es ihnen leid thun, daß sie keine Liebe in ihm erweckt 43 hatten, auch der Mutter und der Anna. Denn er war ja viel mehr als sie Alle, und es war ja sicher und ausgemacht, daß er ein sehr mächtiger und reicher Mann werden würde; die Seinigen aber sollten keinen Theil an seinem Glücke haben, denn er wollte weit, weit fort, so weit, daß sie ihn gar nicht mehr zu Gesicht bekämen.

Dann pflegte ich sehr beklommen zu fragen: »Ich auch nicht, Werner?«

Worauf er gewöhnlich antwortete: »Dummes Mädel, Du gehst ja mit –« als ob sich das von selbst verstünde.

Mit dieser Aussicht half ich ihm gern an seinen Luftschlössern bauen. Es sollte alles ganz herrlich werden in der Zukunft. Ein Haus wollten wir haben, das auf einer ganz kleinen Insel mitten im Meere lag, und woran bei Tag und Nacht die Wellen brandeten. Und in buntbeflaggten Schiffen wollten wir fahren, auf Kameelen wollten wir in die Wüste reiten. Wenn er nur erst einmal zehn Jahre alt war – und dann zwölf – und schließlich fünfzehn –

»Fünfzehn!« rief ich schwindelnd vor der Höhe dieser Zahlen – »aber dann sind wir ja uralt!« – Denn schon das zehnte, das für mich noch in weiter Ferne lag, erschien uns als der Wendepunkt, hinter dem die Welt der Großen sich aufthut. Wäre es nur erst so weit! Wir zählten die Monate und die Tage, die uns noch von diesem erlösenden Zeitpunkt trennten. Denn daß sofort Alles anders werden mußte, wenn Werner das zehnte Jahr erreicht hatte, 44 das stand über jedem Zweifel: er wußte es von dem Prinzeßchen.

Noch immer wollte er mir nicht sagen, wer das Prinzeßchen eigentlich war, aber so viel hatte ich begriffen, daß es nicht in Fleisch und Bein wie andere kleine Mädchen umherging. Gar zu gerne hätte ich es einmal gesehen, aber er that sehr geheimnißvoll damit, und nur, wenn ich dringend wissen wollte, wie es aussehe, antwortete er:

»So wie Du, wenn Du Dein weißes Kleid anhast.«

Ich glaube, daß Werners Phantasie ihn zu großen Uebertreibungen verleitete, wenn er von seines Vaters Härte und von den Verfolgungen, denen er ausgesetzt war, erzählte. Die traurige Wahrheit, die ich natürlich erst viel später durchschaute, war die, daß die beiden Naturen geschaffen waren, einander zu verkennen und abzustoßen. Werner hatte unglückseliger Weise gar keinen Sinn für Thatsachen, er schob dieselben hin und her und sprang mit ihnen um, wie es ihm eben paßte, und was er andern sagte, das glaubte er selber felsenfest. Diese Eigenheit und die ganze Neigung zu fabulieren hielt der Alte für diabolische Einwirkung und trachtete, sie mit Stumpf und Stiel in ihm auszurotten. Er war ein beschränkter Pedant von enger Redlichkeit und eiserner Strenge: nach Werners Schilderungen aber erschien er als der scheußlichste Tyrann und Wütherich. In Wahrheit hing er jedoch viel mehr an Werner, als an der Tochter, und ganz im Grund seiner Seele war er 45 sogar äußerst stolz auf diesen begabten Sohn, von dem alle mit Bewunderung sprachen. Nur hielt er es für seine väterliche Pflicht, ihm dies niemals zu zeigen und dem Knaben mit systematischer Strenge zu begegnen, was zu beiderseitiger unheilbarer Verbitterung führte. Die Mutter, eine brave, spießbürgerliche Frau, war viel zu unbedeutend, um zwischen Sohn und Vater zu vermitteln. Sie hetzte sogar, durch Anna aufgestachelt, obgleich auch sie sich mächtig viel auf ihren Werner einbildete. Darum schloß sie auch der Knabe, wiewohl mit gemäßigterem Groll, in die Abneigung gegen seinen Vater ein. Ich war von einem womöglich noch größeren Abscheu gegen die Seinigen erfüllt und half ihm die abenteuerlichsten Fluchtpläne spinnen. Es wurde verabredet, daß wir beide unser kleines Taschengeld in die Sparbüchse legen sollten bis zu dem großen Augenblick, wo wir den Flug in die Welt antreten würden. Und was mich betrifft, so habe ich auch das Abkommen treulich gehalten, denn all die größeren und kleineren Silbermünzen, die ich im Laufe des Jahres von Eltern und Tanten geschenkt bekam, wanderten in das aufgesperrte Maul eines glänzend schwarzen porzellanenen Mohrenkopfes, dem sie nur wieder zu entreißen waren, wenn man ihn selbst zerschmetterte. Wie viel er enthielt, das wußte ich selber nicht, aber häufig labte ich mein Ohr an dem Geklapper der Silberstücke, was mir manchen »Alten Geizhals« von meinem Bruder eintrug. Wer dagegen gar nicht sparen konnte, das war Werner. Was er besaß, verbrauchte er sogleich 46 oder ließ es sich von seiner Schwester abbetteln, denn er war zu stolz, um jemals eine Gabe, um die man ihn anging, zu verweigern. Die Anna besaß ein Kästchen mit Schlüssel – damals unter Kindern ein unerhörter Besitz –, und darein verschloß sie alles, was sie ergattern konnte. Sie ließ uns andere niemals einen Blick hinein werfen, aber ich wußte durch Werner, daß es ganz voll war von schönen Sachen, die unsere große Sehnsucht erregten, wie Farben und Farbenschalen, bunten Bleistiften und anderen Herrlichkeiten, und ganz hinten in einer Ecke stand eine Puppentasse, in der sie ihr Gespartes aufbewahrte. Wie wichtig uns dieser Kasten erschien, und wie wir uns dennoch mit unsren wenigen Habseligkeiten, die aller Welt gehörten, so hoch über die reiche Knauserin erhaben dünkten, das ist eine Empfindung, die ich noch heute nachfühlen kann.

Wenn ich die Daten nachrechne, so sehe ich, daß unsere Freundschaft etwa zwei und ein halbes Jahr gedauert hat, in meiner Erinnerung aber ist es ein ganzes Menschenleben. Tage waren wie Jahre und Jahre wiederum wie ein einziger Tag. Der Frühling wurde zum Sommer, der Sommer zu Herbst und Winter, und wir lebten in immer gleicher Fülle des Daseins, wozu auch unsere kleinen – für uns so großen – Nöte und Schmerzen gehörten. Goldene Kindheit, die im Grunde unser wahres Dasein ist! – Denn was später kommt, ist nur eine vergrößerte und vergröberte Wiederholung.

Das »Prinzeßchen« lebte noch immer als 47 mythische Person in meiner Vorstellung, denn Werner that sehr geheimnißvoll damit, nur bisweilen sagte er:

»Warte, in der Vakanz, wenn ich einmal recht viel Zeit übrig habe, führe ich Dich zu ihr.«

Und er erzählte mir, daß sie mitten im Walde in einem Rosengärtchen wohne, das noch von keinem als von ihm entdeckt worden sei. Ein Schulfreund, dem er einmal davon gesprochen, habe es einen ganzen Nachmittag vergeblich gesucht und ihn dann als einen Lügner verschrien. Das Gärtchen sei nämlich nicht für Jedermann sichtbar, und er selber habe es darnach lange Zeit nicht wieder finden können. Jetzt laufe er jeden Sonntag morgen dort hin, wenn er sich nämlich um die Kirche drücken könne, und zur Beglaubigung brachte er sogar einmal ein Geschenk vom »Prinzeßchen« mit: einen flaumigen, ganz mit grünem Haar umsponnenen Ball, der an einem Rosenzweig gewachsen war und einen wunderbaren, wildfrischen Geruch ausströmte. Er sagte, es sei ein »Schlafapfel«, und wer ihn des Nachts unter sein Kopfkissen lege, der bekomme davon die herrlichsten Träume. Natürlich legte ich ihn gläubig jeden Abend unter mein Kissen; ob ich eine Wirkung davon verspürte, erinnere ich mich jedoch nicht mehr.

So sehr ich auch darnach brannte, den Garten des »Prinzeßchens« zu sehen, dauerte es doch einen ganzen Sommer, bevor mir eine erneute Unpäßlichkeit meiner Mutter, die mit einer Verschickung Christinens zusammenfiel, die Gelegenheit gab, mich für einen Nachmittag zu entfernen.

48 Es war ein göttlicher Herbsttag, als wir zwei kleinen Leute Hand in Hand die sogenannte »lange Steige«, einen steilen Waldpfad hinter der Stadt, hinauf klommen. Der Wald lag noch in voller Sommerschönheit, nur da und dort mit einem Anflug von Vergoldung. Wir liefen quer durch Laub und Nadelholz und gelangten auf eine tief versteckte Waldblöße, die geheimnißvoll von einem wuchernden Rosengebüsch umhegt war. Mein Gefährte zeigte mir ein ganz in der Hecke verborgenes, fest verschlossenes Pförtchen mit verrosteten Angeln. Wir arbeiteten mit unseren Leibern eine Öffnung durch die dünnste Stelle der Hecke, die Werner schon des Öfteren durchgelassen hatte, und drangen in den Zaubergarten ein. Er war völlig verödet und verwildert, aber dabei das Traumhafteste, was ich je gesehen habe. Nur Rosen wuchsen darin, Rosen in allen Schattierungen und in einer für die Jahreszeit ganz überraschenden Fülle. Wem gehörte der Garten? Ich habe es nie erfahren. Vielleicht einem stillen Sonderling, der sich diese märchenhafte Einöde geschaffen hatte und dann weggestorben war, indem er sie gleichgültigen Erben überließ, die nichts damit anzufangen wußten. Denn niemals begegnete man dort einer lebenden Seele. Nach Werner gehörte der Garten dem »Prinzeßchen«. Wir gingen darin auf und ab, bogen die Rosen an ihren hohen Zweigen zu uns herunter, berochen sie, freuten uns an den rothgoldenen Käfern, die in den Kelchen saßen. Das Prinzeßchen ließ sich zwar nicht blicken, aber das bemerkte ich eigentlich nicht. Und 49 als mir Werner nachher erzählte, daß das Prinzeßchen dagewesen sei mit einem goldenen Krönchen auf dem Kopf und uns die unglaublichsten Sachen gezeigt habe, ließ ich mir's auch gefallen.

Es war alles so seltsam und weltverlassen. Zwischen den grünen Rasenflecken erkannte man noch die Spuren ehemaliger Kieswege, auf denen die Wurzeln der Rosenbäumchen junge Schößlinge trieben. Am hinteren Ende des Gartens lag eine Cisterne, die zu halber Höhe mit grünlich faulem Wasser angefüllt war. Ein Laubfrosch quakte darin. Leuchtende Schmetterlinge jagten sich über den Beeten, und große Amseln mit gelben Schnäbeln kamen zutraulich nahe heran gehüpft. Ganze Ströme von Wohlgeruch wogten durch den Garten, und der köstlich frische Duft der »Schlafäpfel« mischte sich darein, die massenhaft an der Hecke wuchsen. Ich suchte sie zu brechen, aber sie zerkratzten mir mit ihren Dornen die Hände; dagegen schnitt Werner mit seinem Taschenmesser so viele davon ab, als nur in unseren Taschen Platz finden wollten.

Plötzlich hielt er inne und sagte:

»Horch! – Gleich wird es regnen.«

Ich staunte, denn das Stück Himmel über uns war völlig blau, die Sonne schien, und die Vögel sangen, aber Werner hatte es gesagt, und Werner mußte es wissen.

»Hat das Prinzeßchen Dir das gesagt?«

»Nein, der Fink sagt es.«

»Was sagt er denn?« fragte ich verwundert.

50 »Hörst Du nicht? Er sagt: Schütt'! Schütt'! Schütt'!«

Ich horchte, und nun vernahm ich es gleichfalls deutlich: »Schütt'! Schütt'! Schütt'!«

»Wir müssen gehen, damit Du nicht naß wirst,« sagte er und lief voran, der Oeffnung zu, die wir in die Hecke gerissen hatten. Aber noch ehe wir uns ganz durchdrängen konnten, rauschte es in den Bäumen, wie vom Fittich eines Riesenvogels, und ein gewaltiger Regen ging nieder. Die Sonne verbarg sich, die Vögel waren alle verschwunden, nur der Fink rief noch ein paarmal sein Schütt'! Schütt'! immer lauter und durchdringender, als ob er jemanden zu warnen hätte; dann verstummte auch er, und man hörte nichts mehr als das Prasseln des Regens auf den dichten Baumkronen und das dumpfere Niederrauschen auf dem gelichteten Grund.

Werner hatte mich bei der Hand gefaßt, wir duckten uns beide unter einen hohen Erlenbusch am Rand des Waldes voll Schrecken über die so jählings eingebrochene Dunkelheit; denn wenn Werner einmal von der Phantasie gepackt war, so fürchtete er sich fast noch mehr als ich. Doch der Regen hörte ebenso plötzlich auf, wie er gekommen war, die Sonne drang noch einmal hervor, und wir jagten in großen Sprüngen durch den Wald, die »lange Steige« hinab nach Hause, wo wir mit trockenen Kleidern, aber ganz durchweichten Schuhen ankamen. Ich gab vor, unter einem Birnbaum auf der Obstwiese den ganzen Regen verschlafen zu haben, denn durch den Umgang mit 51 Werner war meine gepriesene Wahrheitsliebe neuerdings bedenklich ins Wanken gerathen.

Seit jenem Tag hatte ich nichts anderes mehr im Kopf als das Prinzeßchen und seinen Garten. Dieser wurde in der Erinnerung immer schöner und die Dinge, die dort geschehen waren, immer märchenhafter, denn so oft wir davon sprachen, dichtete Werner neue Züge hinzu, die alle willig von mir als erlebte anerkannt wurden. Ich gerieth auf den Gedanken, meine große Staatspuppe als »Prinzeßchen« zu kleiden. Sie erhielt ein weißes, durchsichtiges Kleid mit goldenen Sternen, das ich aus einem alten Ballkleid meiner Mutter herausschnitt; Werner verfertigte ihr ein Krönchen aus Goldpapier, das schön zu ihren flächsernen Haaren stand, und damit nicht zufrieden, behängte ich sie noch mit allen Kostbarkeiten, die ich finden konnte, eigenen und fremden, und ich schonte auch den Schmuckkasten meiner Mutter nicht, die mich in ihrer unbegrenzten Güte nehmen ließ, was ich wollte, ohne nur zu fragen, wo ich es hinbrachte. Werner fühlte sich zwar zu sehr in der Würde seines Geschlechts, um selber mit der Puppe zu spielen, aber er machte mich als Sachverständiger darauf aufmerksam, wo es ihr noch fehlte, um ganz »Prinzeßchen« zu sein. Dann setzten wir sie also herrlich angethan im hintersten Winkel unserer Holzkammer, wo ich sicher war, daß Erich sie nicht entdecken würde, aufrecht auf einen mit Seidenfetzen behängten Schemel und besuchten sie täglich. Das gab eine herrliche Unterhaltung für die jetzt beginnenden 52 nassen Herbsttage. Wir brachten ihr Geschenke wie einem wundertätigen Madonnenbild und trugen zu diesem Zweck wie die Raben alles glänzende, dessen wir habhaft werden konnten, zusammen. Was auf ihr selbst keinen Platz hatte, das wurde um sie her aufgehäuft. Auch führten wir Tänze vor ihr auf, von denen angenommen war, daß sie ihr besonders wohlgefällig seien. Dafür gab sie Antwort, wenn wir sie befragten; denn das »Prinzeßchen« wußte alle Dinge, die vergangenen und die künftigen. Wenn ich sie anredete, sprach sie mit Werner's Stimme, und ihm antwortete sie mit der meinigen. Aber sie war ganz unberechenbar. Denn mitten in der ausgelassensten Lustigkeit gab sie seltsame Schicksalssprüche von sich, aus denen die verdüsterte Seele des Knaben wie im Traume sprach. Armer Werner, sie hatten ihn schon zu viel gequält mit ihrer Pädagogik und ihren unglücklichen Besserungsversuchen und hatten ihm den unbefangenen Kindersinn getrübt. So einmal, als ich wissen wollte, wie das Schloß aussehen würde, das Werner mir zu bauen versprochen habe, wenn er groß wäre, antwortete die Puppe zu meinem Befremden:

»Er kann Dir das Schloß nicht bauen, Du dummes Kind, weil er gar nicht groß wird.«

Und auf meine Frage, warum er denn nicht groß werde, kam es mit der bestimmtesten Ueberzeugung:

»Weil der Werner sterben muß.«

Einen Augenblick war ich betreten, und er selber auch, denn er sagte solche Dinge ohne Absicht in 53 völliger Geistesabwesenheit; aber gleich darauf tollten wir wieder wie zwei Besessene durch die Holzkammer.

Unter anderen Gaben hatte Werner der Puppe auch eine große goldene Münze, die oben durchlöchert war, mitgebracht. Ich zog einen Goldfaden hindurch und hing sie der Puppe um den Hals; wir nannten diesen Schmuck ihren »Vollmond«.

Natürlich fiel mir nicht ein, zu fragen, woher die Münze gekommen sei. Werner hatte sie aus dem Kästchen seiner Schwester, das unglücklicherweise einmal offen geblieben war, herausgenommen. Da er selber alles hergab, hatte er keinen klaren Begriff vom Mein und Dein. Ohnehin war das Kästchen ganz voll von kleinen Sachen, die ihm geschenkt worden waren, und die er auf Befehl seiner Eltern oder aus eigener Freigebigkeit der Schwester überlassen hatte. Daß die Münze – das Geschenk einer Pathin – ein Werthgegenstand war, überlegte er nicht und ich noch weniger. Aber die Anna entdeckte den Verlust und erhob ein großes Geschrei. Sie erinnerte sich auch, den Kasten offen gelassen zu haben, während Werner im Zimmer war. Dieser wurde ins Verhör genommen, aber er leugnete hartnäckig. Nun fiel der Verdacht auf das Dienstmädchen, deren Habseligkeiten ohne Erfolg durchsucht wurden. Auch bei den Kindern der Hausgenossen wurde nachgeforscht, und Werner ließ das alles in unbegreiflicher Verstocktheit geschehen. Wenn er bekannt hätte, so wäre er gezwungen worden, mir die Münze wieder abzufordern, und dazu konnte sein Stolz sich nicht bequemen.

54 Nun geschah es eines Tages, als wir uns mit der Puppe unterhielten, daß die Anna unerwartet hereinkam. Sie hatte uns gesucht und, angelockt durch den Klang unserer Stimmen, unser Versteck ausfindig gemacht. Das blasse Mädchen warf einen langen Blick auf die Puppe, wurde noch blässer und ging schnell hinaus.

Gegen Abend rief man mich zu meiner Mutter. Ich fand dort die Rektorin, die verweinte Augen hatte. Meine Mutter sagte ganz ruhig:

»Kind, Du hast unter Deinen Sachen ein Spielzeug, das nicht Dein ist, und das Du wieder hergeben mußt. Es ist die goldene Münze der Anna. Werner hat sie Dir gegeben, aber er hatte kein Recht dazu, weil sie ihm nicht gehörte.«

Mir wurde bänglich zu Muth, obgleich ich die Lage keineswegs übersah, und ich sagte weinerlich:

»Ich habe keine Münze.«

»Freilich hast Du sie,« sagte meine Mutter bestimmter, »die Anna hat sie am Hals Deiner Puppe gesehen, und Du wirst jetzt sogleich gehen und sie herbringen.«

Da sie mir aber nicht ganz trauen mochte, fügte sie hinzu:

»Nein warte, wir gehen selber mit.« Und ich mußte wohl oder übel die beiden Frauen in unsere geliebte Holzkammer führen, wo der aufgeputzte Fetisch thronte.

Die Rektorin bezeichnete alsbald die Münze als die vermißte. Ich aber stürzte mich darauf zu, drückte 55 die Puppe und das Schmuckstück an meine Brust und betheuerte hartnäckig, es sei keine Münze, es sei der »Vollmond«.

Meine Mutter war wie immer die Güte und Ruhe selbst. Sie redete mir zu, den »Vollmond« gutwillig herzugeben, ich solle dafür eine andere Goldmünze zur Entschädigung erhalten, und das corpus delicti wanderte in die Tasche der Rektorin, während ich in großer Angst, an den Rock meiner Mutter geklammert, immer wiederholte: »Es ist gewiß keine Münze, es ist der Vollmond.«

Ich kann noch hören, wie die Rektorin sich von meiner Mutter verabschiedete: »Ach, liebe Frau Justizräthin, Sie dürfen mir glauben, der Junge ist ein Nagel in meinen Sarg –« und den gelassenen Ton, mit dem meine Mutter antwortete:

»Nehmen Sie es doch nicht so schwer, Frau Rektorin, das sind ja nur Kindereien.«

Ich schlief schon lange, aller Bekümmernisse enthoben, als sich im Nachbarhause etwas Entsetzliches ereignete.

Der Rektor war über Land gewesen und kam erst ganz spät nach Hause. Aber die Anna, die es nicht erwarten konnte, ihm das Vergehen ihres Bruders mitzutheilen, war ausgeblieben, und bevor er den Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, war er von der Sache unterrichtet. Er hatte mit anderen Schulmeistern zusammengesessen und sich vermutlich in seinen pädagogischen Principien bestärkt, denn er holte augenblicklich seinen Stecken und ließ sich von der zitternden 56 Anna in Werner's Zimmer leuchten. Dieser war schon fest eingeschlafen, aber ohne Achtung vor der Heiligkeit des Schlafes riß eine rauhe Hand ihm die Decke weg, und mitten in seine Träume hinein fielen die brennenden Gertenhiebe des unsinnigen Vaters. Die Scene war so schaurig, daß selbst die rachsüchtige Anna vor Schrecken das Licht fallen ließ. Das Gebrüll des vor Ueberraschung, Schmerz und Schlaftrunkenheit ganz rasend gewordenen Knaben lockte die Vorübergehenden an das niedrige Parterrefenster. Wohlwollende Bürger riefen dem in sein Profoßenhandwerk verbissenen Rektor zu, doch sein eigen Fleisch und Blut zu schonen; aber dieser verbat sich jede Einmischung, indem er sagte, daß er selber wisse, was er zu thun habe, und daß er Gott für die Seelen seiner Kinder verantwortlich sei.

Werner sollte ein Sündenbekenntniß ablegen und die bestohlene Anna um Verzeihung bitten, aber man brachte nicht ein Wort aus ihm heraus. Als der Alte des Zuhauens müde war, riß man den unglücklichen Knaben aus dem Bett, steckte ihn in die Kleider und sperrte ihn für den Rest der Nacht im Keller ein. Dort schrie er aber so, daß der Nachtwächter – denn damals gab es noch das löbliche Institut der Nachtwächter – sich einmischte und den Eltern, wiewohl vergeblich, zusprach, den Knaben wieder herauszuholen. Werner brüllte immer weiter, nur um in der Finsterniß und Einsamkeit seine eigene Stimme zu hören, bis er einschlief.

Am andern Morgen sprach man in der ganzen 57 Straße von dem Vorfall. Man zeigte sich heimlich das Kellerloch, hinter dem das Kind die Nacht in Todesängsten verbracht hatte, aber niemand wagte den Eltern Vorstellungen zu machen, weil der Rektor eine zu angesehene Persönlichkeit war.

Für Werner war die Tortur noch nicht zu Ende. Abwechselnd begaben sich Vater und Mutter zu ihm in sein Verließ, um ihn bald gütlich, bald durch Zwang zu dem verlangten Schritte zu bringen, aber es war alles umsonst. Auch die Drohung, ihn noch einmal eine Nacht im Keller zu lassen – das Schrecklichste, was es für seine aufgeregte Phantasie geben konnte – vermochte nichts über ihn. Man mußte ihn endlich aus dem Gefängniß entlassen, schon der Nachbarschaft halber, und sein Wille war Sieger geblieben, aber um welchen Preis! Jeder Nerv an ihm zuckte, als er mir die Geschichte seiner Marter erzählte.

»Der Henker! Der Mörder!« schrie er und ballte die Fäuste gegen das Fenster hinauf, hinter dem er seinen Vater wußte. Dann verlor er sich in Zukunftsgedanken. Jetzt wollte er nicht mehr fort aus dem Lande. Er wollte reich werden und ein großes Schloß bauen, gerade seinem väterlichen Hause gegenüber, daß die Seinigen ihm ins Fenster sähen, aber sie sollten seine Schwelle nie betreten dürfen. In einem vergoldeten Wagen wollte er fahren und ausspucken, wenn Eltern oder Schwester zu Fuß vorübergingen.

Meine Mutter kam zu uns in den Hof herunter und strich ihm liebevoll über das Haar. Sie redete 58 ihm zu, sich dem Willen seines Vaters zu unterwerfen und die Anna um Verzeihung zu bitten, damit wieder alles ins Geleise komme; aber bei Werner war nichts mehr auszurichten, sobald er einmal Gewalt gespürt hatte. Seine Familie ließ ihn jetzt einfach laufen. Der Vater sprach kein Wort mehr mit ihm, und nur gelegentlich, wenn er ihn ansah, murmelte er: »Hallunke! Verlorener Mensch!« und dergleichen. Die Anna drückte sich scheu an ihm vorüber, und seine Mutter wußte aus Furcht vor dem Alten nicht, wie sie sich zu dem Sohne stellen sollte.

An jenem häßlichen Tag war unser Paradies in Stücke gegangen. Werner war auf einmal ein Anderer. Auch sein Gesicht hatte sich verändert, es schien länger und hagerer, die Mundwinkel waren vom furchtbaren Weinen nach unten gezogen, und das blaue Aederchen auf der Stirn trat stärker hervor. Zwar kamen wieder Stunden, wo wir spielten und lachten, aber sein Blick behielt etwas Starres und Trauriges.

Ich weiß nicht, wie lange Zeit nach jenem Vorfall verflossen war, als Werner von unseren Spielstunden weg blieb. Es fiel mir am ersten Tag nicht auf und auch am zweiten kaum, denn wir hatten einen Kinderbesuch im Hause, durch den ich vollauf beschäftigt war. Dann erzählte mein Bruder, Werner sei schon seit zwei Tagen nicht in die Schule gekommen, weil er krank sei, und es fehlten noch mehrere seiner Kameraden aus demselben Grunde. Am nächsten 59 Tage blieb auch er von der Schule weg, aber ohne krank zu sein: es grassirte ein schweres Scharlachfieber in der Stadt, und die Schule war wegen der Ansteckungsgefahr geschlossen.

Unser Besuch war wieder gegangen, und die Tage wurden mir sehr lang ohne meinen Freund. Ich hatte mit angehört, wie meine Mutter Christinen einschärfte, jeden Morgen hinüber zu gehen und zu sagen:

»Einen Gruß von der Frau Justizräthin, und die Frau Justizräthin läßt fragen, wie es Werner geht.«

Ich lief ihr jedesmal entgegen, um die Nachricht zuerst zu empfangen, daß es dem Werner besser gehe, aber es drückte mich, ihn selbst nicht sehen zu dürfen. Als ein Tag um den andern hinging, ohne daß der Werner aufstand und zum Spielen kam, ließ es mir keine Ruhe mehr. Ich war ein schüchternes Kind, und gewöhnlich hatten die Eltern Mühe, mich zu überreden, wenn ich in ein fremdes Haus gehen sollte. Gar bei Rektors hatte ich seit jenem Vorfall mit der Münze die Schwelle nicht mehr betreten. Aber die Sehnsucht nach meinem Spielkameraden wurde zu heftig. Ich pflückte eine Hand voll Astern in unserem Garten, nahm den Strauß und mein Herz in beide Hände und lief, als ich mich einen Augenblick unbewacht sah, ohne mir zum Zögern Zeit zu gönnen, in das Nachbarhaus.

Die Hausthür war offen, ich strich durch ein paar leere Zimmer und stieß endlich auf die Rektorin, 60 die mich verwundert ansah und schnell auf den Gang hinaus führte.

Ich übergab ihr die Blumen und brachte athemlos das Sprüchlein vor, das ich mir gemerkt hatte:

»Einen Gruß von der Frau Justizräthin, und die Frau Justizräthin läßt fragen, wie es Werner geht.«

Die Frau war so bekümmert, daß ihr nichts dabei auffiel.

»Ach Gott,« sagte sie, »dem Werner geht es heute gar nicht gut. Der Doktor ist schon zweimal dagewesen und will in einer Stunde wieder kommen« – dann fügte sie hinzu, die Blumen würden dem Kranken gewiß Freude machen, aber ich sollte lieber nicht ins Haus kommen, denn die Krankheit sei ansteckend.

Ganz nachdenklich wollte ich mich davon schleichen, da rief sie mich noch einmal zurück.

»Bist denn Du das Prinzeßchen, von dem er immer spricht?«

»Nein, ich bin es nicht,« antwortete ich.

»Ja, weißt Du etwas davon? Wer ist sie denn?«

»Das Prinzeßchen ist eben das Prinzeßchen,« erwiderte ich mit den Worten, die Werner so oft mir gegenüber gebraucht hatte.

»Ach, geh', Ihr seid wunderliche Kinder,« sagte die Frau und ging wieder zu ihrem Patienten.

Am Abend stellte mir die Mutter die gleiche Frage. Man wußte durch Erich, dem es ein 61 Kamerad erzählt hatte, daß Werner in seinen Phantasien immer zu einem Prinzeßchen zu reden glaubte, und daß er sich dann mit veränderter Stimme selber Antwort gab.

»Wer ist denn dieses Prinzeßchen?« fragte mich die Mutter, worauf Erich altklug einwarf:

»Das Prinzeßchen, das ist eben das Fieber.«

Ich wußte weiter nichts, als daß das Prinzeßchen ganz allein in einem Rosengarten wohnte, daß es ein Krönlein auf dem Kopfe trug, und daß es von sich selber sagte, es sei das Prinzeßchen vom Kinderland.

»Das Tödchen!« schrie unsere Christine entsetzt. – »Gott steh' uns bei – es geht wieder um, es sucht sich Spielkameraden.«

»Unsinn!« sagte meine Mutter entrüstet und hieß sie schweigen.

Aber Christine ließ sich nicht »den Mund verbieten«, wie sie es nannte; sie war einheimisch in der Gegend und kannte sich aus. Es war »das Tödchen«, dabei blieb sie. Es hatte sich auch gezeigt damals vor zwölf Jahren, bevor die Masern ausbrachen, wie die Rike bei Rektors drüben sich noch wohl erinnern mußte. Damals hatten viele Kinder es gesehen, wie es am Ilgenbrunnen Wasser trank, und Alle, die es gesehen hatten, mußten sterben. Denn jedesmal, wenn das »Tödchen« kam, suchte es sich die schönsten Kinder aus und nahm sie mit sich fort als seine Spielkameraden.

Mein Gang war unentdeckt geblieben, und ich 62 fand sogar den Muth, ihn zu wiederholen, aber meinen Freund bekam ich nicht zu Gesicht. Diesmal fand ich die Anna, die in einem Winkel kauerte und mich mit ganz irren Augen ansah. Ich war überrascht, daß sie den Kopf an die Wand stieß und auf den Knien rutschte und ächzte und schrie:

»O Gott, nimm mich zu Dir und laß den Werner am Leben! O Gott! O Gott!«

Und so immer fort trotz meiner Gegenwart.

»Schrei doch nicht so, er kann Dich ja hören,« sagte ich entrüstet über dieses Gebahren.

»O, wenn Du wüßtest!« sagte sie und konnte vor Angst die Worte fast nicht heraus bringen. – »Ich bin ja schuld – ich hab' so oft den lieben Gott gebeten, daß er den Werner sterben lassen soll, damit die Eltern wieder mich allein lieb haben wie früher, ehe er auf der Welt war. – Und verklagt hab' ich ihn beim Vater – ach, und jetzt macht der liebe Gott es wahr –«

Und dazwischen durch vernahm man aus dem Nebenzimmer die Stimme des Kranken, der in lauten, ganz fremdartig klingenden Tönen mit sich selber sprach. Dort wäre ich so gerne hinein gegangen, aber ich fürchtete mich.

Da ging plötzlich die Thür auf, und heraus kam die Rektorin mit ungekämmtem Haar und begann gleich gegen eine Bekannte, die von der anderen Seite eingetreten war, zu jammern:

»Ach, mein Werner stirbt. Mein Werner stirbt. – Ach, und ich hab' ja keinen Platz bei der engen 63 Wohnung, ich weiß ja nicht einmal, wo ich ihn hin legen soll, wenn er todt ist.«

Dabei hatte sie mechanisch einen Wischlumpen erfaßt, mit dem sie in den Ecken herum fuhr.

Und dennoch liebte sie ihren Sohn, davon konnte ich mich später überzeugen; aber so waren damals die Hausfrauen in unserem Lande – und sind es vielleicht zum Theil noch heut.

Der starke, junge Körper wehrte sich noch mehrere Tage. Sein Vater suchte sich mit ihm zu versöhnen und trat, so oft er nach Hause kehrte, gramgebeugt an sein Bett. Aber Werner sah ihn gar nicht, er war immer in seinem Zwiegespräch. Nur kurz vor seinem Ende erkannte er ihn. Da schoß ein Blitz des Hasses aus seinen Augen. – »O Du – Du,« lallte der Knabe und erhob noch eine Faust gegen seinen Peiniger. – Dann wurden seine Augen wieder starr, und er redete mit zwei verschiedenen Stimmen weiter bis zuletzt. Nach einer Stunde verschied er. – Es war gerade der Vorabend seines zehnten Geburtstages.

Die Rike war es, die uns sein Ende oftmals und ausführlich erzählte. Sie behauptete auch, er habe wiederholt in seinen Delirien den Tag und die Stunde seines Todes voraus genannt, aber das lasse ich dahin gestellt.

Wie genau erinnere ich mich noch an Alles, was mit Werner's Sterben zusammenhing. Man wollte mir zuerst seinen Tod verheimlichen, aber ich wußte augenblicklich Alles.

64 Schmerz empfand ich keinen, ich sah sogar mit Neugier zu, wie man den schwarzen Sarg herunter trug, und wie immer mehr Kränze darauf gelegt wurden, bis das Tuch mit dem weißen Kreuze völlig verschwunden war. Ich sah auch die Schuljungen vorüber ziehen, die am Grabe singen sollten, eine endlose Reihe, und darunter meinen Bruder, den ich in seinem schwarzen Anzug fast nicht erkannte. Unter der Hausthür stand die Rike in schwarzer Schürze mit unserer Christine zusammen, und beide tauschten bedeutungsvolle Reden und Winke.

»Es ist wieder da gewesen,« sagten sie, »auch drüben bei Amtsrichters liegt eine Leiche.«

So weit war Alles noch ganz neu und anziehend. Aber der Rest des Tages wurde mir entsetzlich lang. Man konnte nicht einmal mehr hinüber huschen und fragen, wie es Werner gehe. Das Begräbniß hatte in den Morgenstunden stattgefunden. Am Nachmittag hielt ich es nicht mehr aus und lief ganz allein auf den Friedhof. Dort, wußte ich, hatten sie ihn hingetragen.

Das war eine Expedition, und ohne die Hülfe meines Freundes! Ich stolperte zwischen Gräbern herum und suchte das seinige. Ich weiß nicht, wie es zuging, daß ich die Stelle dennoch fand, denn ich wagte nicht, zum Todtengräber zu gehen und zu fragen. Es war ein frischer, mit Blumen zugeschütteter Erdhügel, ganz nahe der Mauer. Ich sah ihn lange an und – dachte gar nichts. Endlich fiel mir ein, daß ich ihm doch auch etwas geben müsse. Ich zog den letzten unserer »Schlafäpfel« aus der Tasche 65 und steckte ihn am Kopfende in die Erde. Denn ich hatte vom »süßen Schlummer in Grabesschoße« reden gehört, und so, dachte ich, werde der Werner wenigstens schöne Träume haben.

Aber dann die Entbehrung, ihm das Alles nicht erzählen zu können! Noch viele, viele Abende stieg ich in unseren Garten hinunter und wartete an der Mauer, ob er nicht wieder komme.

»Unsinn, er ist ja todt,« sagte ich zu mir selber, »er kann ja nicht wieder kommen –« aber ich konnte die Worte nur denken, einen Sinn hatten sie nicht für mich. Ich konnte mir niemals vorstellen, daß er für ewig gestorben sei. Nur mitunter wurde ich ungeduldig und rief das »Tödchen«, daß es mich gleichfalls holen sollte, denn ich war eifersüchtig, wenn ich es immer allein mit Werner denken mußte.

– – – Es ist jetzt ein Menschenalter her, aber ich kann sagen, daß ich diese Liebe nie vergessen habe, obgleich ich nach Kinderart leicht genug über den Verlust hinweg kam. Ja, und obwohl ich später noch viele Freundschaften und zuletzt sogar eine glückliche Ehe geschlossen habe, ist es mir doch, wenn ich an jene goldenen Tage zurückdenke, als ob mir nie wieder ein Mensch so viel gewesen sei. Und manchmal muß ich denken, daß, wenn Werner Horst zum Mann erwachsen wäre, mein Leben und das Leben Vieler sich reicher entfaltet hätte. Ob glücklicher, wer weiß es?

Der alte Rektor folgte seinem Sohne nach wenig Jahren ins Grab. Die Anna dagegen blühte auf und wurde ein schönes Mädchen. Meine Mutter 66 sagte oft, es sei, als ob sie jetzt erst Licht und Luft zum Gedeihen hätte. Sie hat sich auch später sehr gut verheirathet und ist jetzt eine der angesehensten Frauen der Stadt – berühmt durch ihre Wirthschaftlichkeit und andere häusliche Tugenden.

Vor einigen Wochen hielt ich mich – zum ersten Mal seit zwanzig Jahren – wieder ein paar Tage in dem Städtchen auf, das meine Kinderspiele gesehen hatte. Von den beiden Nachbarhäusern steht kein Stein mehr, denn die ganze Straße ist umgebaut. Dagegen besuchte ich die Festwiese, den Schloßgraben, die »lange Steige« und den Wald, der größten Theils ausgerodet ist. Das Rosengärtchen ist natürlich verschwunden; an der Stelle, wo es gelegen haben muß, erhebt sich jetzt eine Spinnerei, die mit dem Dampf ihrer Schlöte weithin die Atmosphäre verdickt. Die zauberische Stille, die sonst über der ganzen Stadt lagerte, habe ich nur auf dem sogenannten Alten Friedhof wieder gefunden. Er heißt jetzt der »Alte«, weil er längst außer Gebrauch gesetzt ist, und darum sind auch die Gräber aus jener Zeit noch alle erhalten. Mit seinem üppigen Baumwuchs und seinen Monumenten dient er jetzt nur noch zum Spaziergang für beschauliche Seelen und als Lustort für unzählige Amseln. Nie habe ich wieder so viele Amseln beisammen gesehen. Sie pfiffen von den Bäumen und kamen mit ungeschickten Sprüngen bis dicht vor meinem Füße gehüpft.

Ich suchte lange, bis ich an der Mauer die kleine Trauerweide erkannte, die jetzt ein mächtiger Baum 67 geworden ist, und darunter ein kleines, eingesunkenes, von rostigem Eisengitter eingefaßtes Kindergrab. Auf dem flachen, verwaschenen Steine war noch mit Mühe der Name »Werner Horst« zu entziffern. Und ich staunte, wissen Sie worüber? – Daß das Grab so klein war. In meiner Vorstellung war Werner Horst ein Mann gewesen.

Allmählich, als ich in Erinnerung versank, schwanden mir die Größenverhältnisse, ich wurde selber wieder klein und sah das Grab, wie es meinen siebenjährigen Augen erschienen war. Und nie habe ich zuvor so deutlich gefühlt, daß das Alter eigentlich gar keinen Unterschied macht. Ob wir sieben oder siebzehn oder gar siebenunddreißig sind, wir bleiben immer dieselben Menschen, mit denselben Wünschen, Anlagen und Bedürfnissen.

Die Sonne schien so freundlich im Untergehen und warf ihr Goldlicht auf die eingesunkenen Gräber; die vergessenen Blumen dufteten, und plötzlich bewegten sich meine Lippen und sagten, ohne daß ich es wußte und wollte:

»Hier liegt ein Dichter.«

Ich erschrak über meine eigene Stimme und sah mich um, ob Niemand zugehört habe. Der Friedhof lag völlig einsam, nur die Amseln sangen und hackten mit ihren gelben Schnäbeln im Gras.

Und ich sagte mir, daß ich vielleicht unbewußt die Wahrheit ausgesprochen hatte.

* * *

Meine Freundin schwieg eine lange Weile. Dann sprach sie mit einem ganz eigenen Ausdruck wehmüthig heiterer Grazie die wundersamen Verse von Mörike vor sich hin:

»Ihr kommt, Winde, fern herüber,
Ach, von des Knaben,
Der mir so lieb war,
Frischgrünendem Hügel.

Und hier – die volle Rose streut geschüttelt
All' ihre Blätter vor meine Füße.«

 


 


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