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Meeresstille, fürchterlich! – Kein Lüftchen, das sich regt, und Tag für Tag die See glatt wie Öl. Die Nächte so still, daß man vor lauter Stille nicht schlafen kann. – Wie friedvoll ruht sich's beim rhythmischen Nachtgesang des Meeres, dem lauten Anrauschen und dem dumpfen Zurückfluten, in dem man die angeschwemmten und wieder mitgerissenen Muscheln und Kiesel rollen hört. Wenn das große Schlummerlied schweigt, sind die nächtlichen Stunden voller Unruhe und fremder, seltsamer Gedanken. Ein ängstlicher Halbschlaf, von irren Träumen durchzuckt, ist das einzige Geschenk einer solchen Nacht.
Und jeden Morgen beim Aufstehen dasselbe Bild: ein blaßblauer Schirokkohimmel, der ohne Grenze mit dem Meer verschwimmt und drunter die unbewegliche Metallplatte, stahlblau und tückisch blinkend. Unter der Mittagsglut, wenn der Strand verödet, wird die Unbeweglichkeit geisterhaft. Verschlafene Fläche, was brütest du wieder einmal für böse Träume aus?
Endlich heute gegen Abend bricht der Bann. Da ich allein am Strand gegen die Flußmündung wandere, sagt auf einmal ein feines Stimmchen: bla – bla – bla, und ein erstes Wellchen legt sich zerrinnend zu meinen Füßen. Ein anderes kommt und sagt gleichfalls bla – bla – bla und zerfließt, indem es einen ganz zarten Lavaronestreifen zurückläßt, jenes Spülicht des Meeres, das an diesem Strand bisweilen ganze Bänke bildet. Es war wie ein Signal, denn jetzt wird es mit eins auf dem weiten Spiegel lebendig. Wie tausend mutwillige Mädchen hüpfen die Wellen auf, hier ein Spritzen, dort ein Klatschen, ein silbernes Lachen dazwischen, dann hin und wieder wie eine Kampfansage der wohlbekannte harte Aufschlag ans Ufer, der tönt, als käme er von einer hölzernen Riesenpritsche her.
Am Flüßchen, dessen weitausgebauchte, halbvertrocknete Mündung nur ein schmaler aber eilender Wasserlauf durchrinnt, ist eine ausgelassene Gesellschaft beisammen. Man sieht sie nicht, denn sie sind wasserhell, man kennt sie nur am Lärm, den sie machen, und an ihrem süßlichen Geruch. Es muß im Gebirge geregnet haben. Die Flußtöchter sind mit den Bergwassern herabgekommen, sie sitzen am Strand, verzehren rohe Seefische und Krabben unter gierigem Geschmatz und lassen sich von ihren Mühmchen, den Meertöchtern, mit Bernstein und Korallen beschenken. Dafür bringen sie Blumen und Früchte mit, die man weithin im Wasser treiben sieht. Wenn es am Strande plötzlich nach Süßwasser riecht, dann weiß ich, sie sind wieder da und haben mit den Meermühmchen gemeinsam einen Unfug vor.
Oder feiern sie heute ein Erinnerungsfest? Ob auch der Sandgraue wieder am Ufer geht und Begegnende erschreckt? Ist am Ende Sankt Anna schon in der Nähe? Aber nein, wir schreiben ja heute erst den 20. O Himmel, den 20. Juli! Wie konnte ich das vergessen! Heut vor zwei Jahren war's – ich weiß es noch, als ob es gestern geschehen wäre.
Es war auch so ein schwüler Tag wie heute. Wie ein ängstliches Harren und Bangen lag es in der Luft und regte die Nerven auf. Am hellen Mittag, als ich mit der Sonne überm Kopf hinausschwamm, fürchtete ich mich vor meinem eigenen Schatten. Der glitt schwarz und ins riesige verzogen unter mir hin wie ein Ungetüm mit ausgestreckten Pranken, die durch breite Schwimmhäute verschönt waren. Ich begriff ja gleich, daß es mein Schatten war, obwohl ich ihn nie zuvor im Meere beobachtet hatte, aber ich fürchtete mich doch, fürchtete mich so sehr, daß ich schleunig umkehrte nach dem bergenden Ufer. Das schwarze Ungetüm machte gleichfalls kehrt und blieb hart unter mir, das verdarb mir jenes Tages die Lust am Baden. Ich wurde weidlich ausgelacht, aber es half nichts. Bei langer Meeresstille beginnt die Phantasie zu wuchern.
Am Nachmittag – wie lebendig steht er mir vor der Seele – erhob sich ein leichter Seewind und weckte die verzauberte Flut. Nun strömte alles nach dem Strand, und das entschlafene Leben regte sich wieder. Nackte Reiter auf ungesattelten Pferden jagten heran und trieben die herrlichen Tiere ins Wasser. Eine Schar bronzebrauner Jünglingsknaben, herrlich schlank, mit nickenden Pinienkränzen um die Stirn, jagten im Wettlauf vorüber, und manche neugeborene Aphrodite stieg aus der Flut und wand sich die Haare aus. Doch in der Nähe der Pension Thalassa erblickte ich erst das Allerschönste: vom Flüßchen her kam auf dem nassen Sandstreifen, dem Grenzstrich zwischen Meer und Land, ein junges Menschenpaar herangeschritten, in kraftvoll biegsamem Gliederspiel zwei wunderbare bewegliche Silhouetten gegen den ungeheuren Meereshorizont. Der Jüngling schlank, gebräunt, von adligstem Körperbau in seinem kurzen schwarzen Trikot, das Mädchen neben ihm von gleicher Größe und gleichem Ebenmaß der festen federnden Gestalt, daß ich an das göttliche Zwillingspaar der Leto denken mußte, wie sie schwingenden Laufs zusammen in den Gigantenkampf eilen. So hatte ich sie kurz zuvor auf einem archaischen Bildwerk in Delphi gesehen. Ob sie wohl auch Geschwister sind, die zwei Allerschönsten? mußte ich denken. Sie glichen sich nicht nur im Wuchs, auch die reingeschnittenen steilangesetzten Köpfe hatten etwas Verwandtes. Aber das vertraute Ineinandergreifen aller ihrer Bewegungen deutete auf eine innigere körperliche Verwachsenheit. Die Göttin ließ das dunkle Haar frei vom unbedeckten Haupte fließen. In ihr kurzes schwarzes Gewand, das an den herrlichen Hüften anklebte und oberhalb der schlanken Knie endigte, fuhr der Seewind, und unsagbar schön war die Bewegung der kühn ausschreitenden Beine, die die Farbe eines getönten Marmors hatten. Ihre erhobenen Arme zeigten dem Begleiter einen Punkt in der Ferne und ließen die Linien des Körpers noch schöner heraustreten. Plötzlich erreichte sie eine Welle, und nun sprangen beide hochauf und patschten knietief im Meerschaum, ein entzückendes Bild. Dann schritten sie wieder lang und kraftvoll auf dem feuchten Sande aus, und ein Strom von goldenem Abendlicht rann an der Profillinie der beiden Körper nieder. Welch ein Gang war das! Eine heroische Musik menschlicher Glieder!
Aber siehe, es gab etwas, das noch schöner war als die zwei Allerschönsten. Aus einer der zerstreuten Baracken kam ein kleiner Gott herausgesprungen, dem eine buntgekleidete Mulattin folgte. Er hatte ein entzückend geformtes schlankes Körperchen von solcher Grazie, daß alles andere vor ihm verschwand und er ganz allein da zu sein schien. Ein winziges rosenfarbenes Höschen war mit gekreuzten Bändern über den bloßen braunen Oberleib befestigt, unter dem weißen Zeughut quollen bräunlich blonde Locken in Masse hervor. War's ein kleiner Liebesgott oder der eben geborene Hermesknabe, der gleich seine Schelmereien spielen lassen wird? Von einer menschlichen Mutter konnte doch dieser Inbegriff aller Anmut nicht stammen.
Als das schöne Paar seiner ansichtig wurde, eilten sie ihm rufend entgegen. Der junge Mann schwang ihn auf die Schulter und das Kind zirpte vor Freude wie ein kleines Vögelchen. Aber gleich strebte es von den Armen des Mannes zu der schönen Frau hinüber, die den Kleinen leidenschaftlich an sich riß und ihn abküßte, wie nur Mütter küssen, und ihn jubelnd hochhob, als wollte sie dem Himmel ihr Meisterstück zeigen. Jetzt wußte ich, von welcher Mutter dieser Inbegriff aller Anmut stammte. Niemals werden meine Augen wieder eine solche Götterfamilie beisammen sehen.
An jenem Abend hatte ich noch spät einen Besuch in der Pension Thalassa zu machen. Die Nacht war mondlos, und Finsternis lag wie ein dichtes schwarzes Gewebe über Meer und Land. Nur hart am Ufer gab das Wasser einen matten Glanz, der die nächsten Schritte erhellte. Die lauter werdende Stimme des Meeres verschlang jeden menschlichen Ton. Solche Abende haben etwas Unheimliches, denn im Sande ist kein Schritt hörbar, und Begegnende, die sich erst Stirn an Stirn erblicken, fahren beiderseits zurück wie vor nichts Gutem. Ich war froh, als ich in den Bereich des Lichtkegels trat; der aus der Thalassa fiel.
Im Garten saßen die Landsleute, die ich suchte, beisammen, und die Inhaberin der Pension, eine gediegene Norddeutsche, die durch Gott weiß welche Laune des Schicksals den Notar dieses Ortes, Herrn Durante, geheiratet hat, setzte sich zu uns.
Sie müssen bleiben und meine Argentinier kennenlernen, sagte sie zu mir. Ein so schönes Menschenpaar haben Sie gewiß noch nicht gesehen.
Bei dieser Ankündigung konnte ich nicht zweifeln, von wem die Rede war. Und in der Tat, bald darauf trat der Götterjüngling, den ich am Strand bewundert hatte, in den Garten und an unsren Tisch. Er wurde als Herr José Perret aus Rosario vorgestellt. Dann erschien auch sie, die Allerschönste, nachdem sie ihren kleinen Liebesgott hatte zu Bett bringen helfen. Ines war ihr Name. In der Nähe war sie fast noch wunderbarer in ihrem weichfließenden roten Seidenkleid mit dem weiten Halsausschnitt, den ein feines Pelzstreifchen verbrämte; auch durch die Kleider hindurch fühlte man unter der schönen Ruhe ihrer Bewegungen die Schnellkraft der jungen Glieder. Sie stammten beide aus eingewanderten deutschen Familien, waren aber drüben geboren, Germanenblut durch südliche Sonne verschönt. Das erklärte ihre rassemäßige Ähnlichkeit. Das Deutsch sprachen sie mit einem leichten Anhauch von Fremdartigem, während das Kind, wie sie bedauernd sagten, bis jetzt nur Spanisch verstand.
Eine neu herzugekommene Insassin des Hauses beklagte sich über die große Dunkelheit am Strande. Da bemerkte der Argentinier, daß er selber vorhin fast erschrocken wäre, denn ein sandgrauer Mann sei lautlos vor ihm aufgetaucht und habe ihm Stirn an Stirn ins Gesicht gestarrt.
Ein sandgrauer Mann? Wie sah er denn aus? fragte die schöne Frau neugierig.
Blaß, mit schlaffem Haar, ein Seemannsgesicht.
Auch andere am Tisch wollten den Sandgrauen gesehen haben, aber er hatte sie nicht angeblickt, sondern war achtlos vorbeigeglitten.
Seien Sie morgen beim Baden vorsichtig, sagte unvermittelt Frau Durante.
Der Götterjüngling lachte. Vorsichtig sein in Ihrer Badewanne! Und bei solchem Wetter!
Das Wetter kann sich ändern, und unser Meer hat gefährliche Tücken.
Mein Mann ist an der atlantischen Küste aufgewachsen, sagte die Schöne, und er ist der beste Schwimmer in ganz Spanisch-Amerika. Unzählige, die schon verloren schienen, hat er aus dem Wasser geholt. In unsrer Brautzeit hat er mir manchen Schrecken eingejagt, wenn er bei Sturmwetter hinausschwamm und zuweilen stundenlang ausblieb. – Jetzt ängstige ich mich nicht mehr, denn ich weiß, er kommt wieder, er hat einen Pakt mit dem Wasser, das ihm kein Leides tut.
Wenn man das Meer von kleinauf kennt, sagte der junge Mann, hat man es in der Tat nicht zu fürchten, man kann mit ihm spielen wie der Tierbändiger mit der Bestie. Ich brauchte nur furchtlos mit der Strömung zu treiben, zuletzt kam immer eine, die mich ans Ufer trug.
Aber seien Sie doch vorsichtig, Herr José, wiederholte die Hausfrau eindringlich und wollte, wie es schien, noch etwas hinzusetzen. Allein vor einem Blick ihres Mannes, der herzugetreten war, verstummte sie.
Bis in den späten Abend hinein saßen wir im Garten der Thalassa unter der langen dichtbewachsenen Rebenlaube und den leise schaukelnden Windlichtern im Gezweig. Wie waren sie anziehend, die beiden Schönen, Glücklichen! Die ganze Thalassa widerstrahlte von ihrem Glück. Ich ging nach Hause mit dem Gefühl, daß hier einmal das Menschendasein, das sonst immer von irgendeiner Seite verkümmert, zu voller Blüte aufgegangen war.
Als ich mich in der Dunkelheit heimtastete – vorsichtig, um nicht in eins der vielen Sandlöcher zu fallen, – tauchte eine Gestalt so jählings vor mir auf, daß ich erschrak. War's der Sandfarbene? Nein, es war mein guter Freund, der Badewärter und Fischer Lorenzo, den ich erst an der Stimme erkannte.
Guten Abend, Euer Gnaden!
Guten Abend, Lorenzo. Was gibt es Neues?
Morgen haben wir Seesturm.
Endlich!
Am nächsten Morgen war das ganze Meer in einer drehenden Bewegung, daß der bloße Blick vom Ufer aufs Wasser Schwindel erregte. An solchen Tagen meidet der Landeskundige das Bad. Und richtig waren auch schon die ganze Küste entlang an hohen Stangen die Rettungsgürtel aufgehängt, und da und dort staken rote Fähnchen im Wasser, um vor den gefährlichsten Stellen zu warnen. Denn dieser Strand ist einem unaufhörlichen Wechsel unterworfen. Wo gestern eine Sandanschwemmung lag, ist heute vielleicht ein tiefer Schacht im Wasser; der Unkundige, der hineintritt, ohne schwimmen zu können, versinkt. Bei Sturm hat auch der gute Schwimmer seine Not, wieder heraufzukommen, wenn große Wellen über ihn niederbrechen und zugleich der Trichter nach unten zieht. Und dann sind noch die geheimnisvollen unterseeischen Strömungen da, mit denen nicht zu scherzen ist. Wie manchen, der am Morgen lustig den Ball am Ufer schlug, haben wir am Abend mit nassem Haar auf der Bahre liegen sehen. Und immer unter den Fröhlichsten wählt sich das Untier seinen Mann. Es fängt ihn mit einem schnellen Griffe weg, drückt ihn ein paarmal an seine große wogende Brust, dann taucht es ihn unter, und wenn es noch eine Weile mit ihm gespielt hat, wirft es ihn an den Strand: da habt ihr ihn! – Nicht einmal schön zu sehen ist das Meer an solchen Tagen: es setzt eine gelbe Mähne auf und zieht sich in sich selbst zurück wie ein Raubtier, das auf den Ansprung lauert. Dann wandert man lieber landeinwärts und sucht den Wald oder liegt, von Hecken geborgen, auf duftender Thymianbank in der sommerlichen Wiese mit der weißen Zackenkrone der nahen Marmoralpen über dem Haupt.
Als ich gegen Mittag von meinem Waldspaziergang heimkehrte, standen am Ufer die Menschen Kopf an Kopf. Viele waren auf die Dächer der Baracken geklommen und starrten mit Ferngläsern hinaus aufs Meer. Aber da war nichts zu sehen als die gelbgraue, zornig wühlende Masse, auf der jetzt schon die weißen Wellenkämme liefen. Vor der großen Baracke der Thalassa gab es einen Auflauf. Eine Frau, von Männern gehalten, schlug wie rasend um sich und tat, als wollte sie sich ins Meer stürzen. Es war Letizia, die Badefrau, ein gewaltiges Mannweib, das immer halb betrunken war, aber vorzüglich schwamm und deshalb die Aufsicht über die große Baracke hatte.
Daß mir das geschehen mußte, schrie sie heulend, hättet ihr mich hinaus gelassen, ich hätte ihn aufgefischt und zurückgebracht.
Die Umstehenden zuckten die Achseln, sie wußten, daß man aus solcher Schraubendrehung keinen zurückbringt, und die Letizia wußte es besser als alle. Jetzt erblickte ich erst Ines, die mit nassen Haaren neben der schreienden Frau stand. Ihr Gesicht war völlig weiß, ihre Unterlippe zuckte, aber sie sagte, als ich zu ihr trat: Er kommt wieder. Er ist noch immer wiedergekommen.
Da wußte ich, was geschehen war.
Draußen war ganz nahe vom Ufer eine starke Leine gezogen, die die Gefahrgrenze anzeigte und zugleich den Badenden zum Festhalten diente. Als ich kam, war ja niemand mehr im Wasser, aber es hatten sich doch verschiedene hinausgewagt. Lauter Fremde, versteht sich, denn kein Einheimischer badet an solchem Tag. Und unter ihnen die Argentinier, Mann, Frau und Kind. Der Vater hielt den schönen Knaben auf dem Arm, der gewaltig schrie und sich nicht tauchen lassen wollte. Da trug er den Zappelnden an den Strand zurück. Die Mutter folgte, und während sie das Kind tröstete, sprang der junge Mann jauchzend wieder in die Flut und warf sich, den Kopf voran, unter die stürzende Welle. Einen Augenblick tauchte er jenseits des Seiles wieder auf, aber dort erfaßte ihn der Tanz, und verschwunden war er. Das Schreckensgeschrei der Umstehenden riß die Frau in die Höhe. Ihre Augen suchten umher. José, José, nimm mich mit, schrie sie und sprang wie rasend nach, aber die zugeeilte Rettungsmannschaft hielt sie fest, während alles aus dem Wasser flüchtete. Ein Boot war nicht zur Stelle und hätte sich auch in der Brandung, die jetzt auftobte, nicht halten können. Die Männer liefen mit den Rettungsgürteln den Strand entlang, aber da war niemand, dem man sie zuwerfen konnte. Nur einmal glaubte man weit draußen in der Richtung auf die große Landungsbrücke einen Kopf und einen Arm zu erblicken, aber schnell stürzte die tobende Flut darüber, und man sah nichts mehr als Schaum und Gischt und brechende Wellen.
Seltsame Geschöpfe, die Menschenkinder! Wird da mitten unter Spiel und Lachen einer aus ihren Reihen blindlings weggerissen, so unterbrechen sie wohl für einen Augenblick ihr Gewohntes, starren und staunen. Aber mit dem Unfaßbaren weiß die Phantasie nichts anzufangen, und bald wird man des Starrens und Staunens müde. Die Reihen schließen sich, und das Opfer, das für alle bezahlt hat, wird vergessen. Daß diese zischende Wassermasse soeben ein herrlich blühendes Leben, ein vollkommenes Menschenglück verschlungen hatte, wem es das eigene Weitersein nicht störte, dem sagte es nichts, es drang nicht ein in seine Vorstellung. Wie der Mittag vorrückte, verloren sich die Gaffer, ein jeder heimwärts zu seinen Kochtöpfen. Nur wenige Teilnehmende blieben zurück aus den Insassen der Thalassa und den Freunden des Hauses; wir lösten uns den langen Nachmittag ab, um die unglückliche Ines nicht allein zu lassen, die nicht vom Ufer wich. Man wollte ihr das Kind bringen, aber sie stieß es von sich, daß die Mulattin es weinend ins Haus zurücktrug. Ihm gab sie die Schuld an dem Unglück, denn hätte der Kleine nicht vor dem Wasser gescheut, so wären sie beisammengeblieben und alle drei heil zurückgekehrt. Aber sie sagte nichts als die drei Worte: Er kommt wieder.
Zuweilen gab es ein Zusammenlaufen am Ufer. Im Schatten einer brechenden Woge meinte man bald da, bald dort eine menschliche Gestalt zu erkennen. Das riß die unglückliche Frau aus der Erstarrung, sie war jedesmal unter den ersten an der Stelle, aber die Welle zerrann und hatte nichts gebracht.
Wie der Tag vollends hinging, weiß ich nicht mehr. Als das quälendste ist mir die dumpfe Abspannung im Gedächtnis, die sich der Seele bemächtigte angesichts der völligen Ohnmacht vor dem Element. Das brüllte jetzt und raste, lief gegen das Ufer Sturm und riß die seichteren Wasser mit zurück, daß mitunter der Grund weit hinaus aufgähnte und dann gleich wieder vom tobenden Sturz bedeckt wurde. Es war undenkbar, daß ein Mensch in solchem Schwall noch atmete. Aber Ines wiederholte immer in kurzen Abständen vor sich hin: Er kommt wieder. Er ist noch immer wiedergekommen! – als ob es eine Zauberformel wäre, an der sie ihr Glück verklammert hielte.
Am Abend gab es einen neuen Schrecken. Ein Teil der Einwohnerschaft und die Badegäste hatten sich auf die Landungsbrücke gestellt, um dem tollgewordenen Kraken zuzusehen, der sich tief unten gelb und schaumbedeckt in seinem Bette wälzte. Ganz vorn an der äußersten Spitze, die in einen dichten Schleier von Gischt gehüllt war und fort und fort von den Stößen der Brecher bebte, stand ein Häuflein Unerschrockener, unter ihnen Frau Ines. Sie war mit hinausgeeilt, als sie hörte, daß die Strömung ihre rückläufige Bewegung nach der Brücke begonnen habe und daß man erwartete, den Ertrunkenen dort antreiben zu sehen. Zwei Mann von der Rettungsmannschaft, das grüne Kreuz am Arm, bewachten sie, daß sie nicht hinabspringe, denn immer, wenn die Welle brach, schien sie etwas langes Schwarzes auszuspeien, das einem menschlichen Körper glich, aber nur ihr eigener Schatten war. Plötzlich barst die Brücke, an deren Pfosten Stunde um Stunde die Brandung rüttelte, in der Mitte auseinander. Über die gestürzten Pfeiler wälzte sich mit Gebrüll der tolle Krake und spie seinen Geifer hoch herauf. Die Vornstehenden waren abgeschnitten, eine Lücke von mehreren Metern klaffte zwischen ihnen und der Fortsetzung der Brücke nach dem Lande zu. Mit Jammergeschrei rannten die Weiber herbei, deren Männer sich auf der gefährdeten Spitze befanden und jeden Augenblick samt dem Gebälk in der Sturzflut verschwinden konnten. Das Rettungswerk war nicht gefahrlos, denn auch von den anderen Pfeilern wankten verschiedene und die Arbeiter mochten sich dem zitternden Brückenstumpf nicht anvertrauen. Einige Mutigere wagten es, ein Brett herüberzuschieben; es war zu kurz. Geheul vom Lande her, das im Toben des Meeres unterging, begleitete diese Versuche. Endlich war die Verbindung hergestellt, die Abgeschnittenen, zur Vorsicht noch an zugeworfene Seile geknüpft, kamen einer nach dem andern herüber; auch Ines wurde willenlos mitgeschleift. Die Weiber vom Ort schalten hinter ihr drein, das Mitleid war einer Erbitterung gewichen, die in Fremdenhaß auszugehen drohte. – Was haben sie zu uns zu kommen, diese Ausländer, hieß es, und unsere Männer in Gefahr zu stürzen? Können sie nicht daheim ertrinken, statt unsere Küste in Verruf zu bringen?
Ines sah und hörte nichts mehr. Man brachte sie zu Bett und gab ihr Morphium. Als sie eingeschlafen war, kam Frau Durante aus ihrem Zimmer und warf sich schluchzend auf den Stuhl.
Der arme, arme José! So jung und schön und so endigen! Und ich hatte ihn doch so sehr gewarnt.
Wie kamen Sie denn dazu, ihn schon gestern zu warnen? Wußten Sie denn, daß wir heute solchen Sturm haben würden?
Ihr Mann, der Notar, der danebenstand, ergriff das Wort:
Es ist ein alter Volksglaube hier am Strand, daß das Meer auf Sankt Anna sein Opfer wolle.
Aber wir haben ja erst den 20. heut. Bis zu Sankt Anna ist es noch eine volle Woche.
Da richtete die Frau den Kopf auf und sagte leise:
Vor einem Jahr hatten wir einen russischen Offizier in der Pension. Er setzte den ganzen Strand durch seine Schwimm- und Tauchkünste in Verwunderung, die er von den Donschen Kosaken gelernt hatte. Eines Abends erzählte er, daß ihm in der Dämmerung ein sandfarbener Mann ins Gesicht geblickt habe und plötzlich verschwunden sei. Man lachte über den geheimnisvollen Sandgrauen. Aber am andern Mittag lag der Russe mit nassem Haar drüben in dem kleinen Anbau aufgebahrt.
Aberglauben! sagte der Notar grimmig und ging hinaus.
Am Abend bot die lange Küste einen unvergeßlichen Anblick. Am Rande des Wassers schossen zuckende Lichter hin, die bisweilen in der Dunkelheit hoch aufflammten und jäh erloschen, um sich an anderen Stellen wieder zu entzünden. Man konnte sie für Irrlichter halten. Es waren Radfahrer, deren Papierlaternen der Wind in Brand steckte; sie suchten die Küste ab nach dem ausgespülten Leib. Ein Schwager des Ertrunkenen, der die Reise von Rosario mitgemacht hatte und sich in Monsummano aufhielt, war auf die Schreckensdepesche im Auto gekommen und hatte eine Belohnung für denjenigen ausgesetzt, der die Leiche zuerst sichten würde. Eine ganze Freiwilligenschwadron hatte sich danach aufs Rad geworfen, um in der Dunkelheit die Küste abzusuchen, denn alle waren überzeugt, in dieser Nacht würde der Tote angeschwemmt werden. So lange hatte das Meer noch keinen behalten. Aber der Morgen kam und die Flut hatte ihn nicht gebracht.
Unglückliche Ines! Wohltuende Bewußtlosigkeit umhüllte sie für diese Nacht, während ihr Bruder und die gute Frau Durante abwechselnd an ihrem Bette saßen. Aber das Erwachen war um so grausamer.
Gegen Morgen rief sie mit leiser Stimme, ohne die Augen zu öffnen in bittendem Ton ihren Gatten: Du bist da, José! Ich weiß, daß du wieder da bist, ich fühle dich. Sag' es mir, José, daß du da bist.
Als keine Antwort kam, riß sie entsetzt die schweren Lider auf, sah das leere Bett neben dem ihren, begriff! Mit einem Schrei schnellte sie heraus, schlug von der nur halbgewichenen Betäubung zu Boden, raffte sich wieder auf und sprang ans Fenster. Was sie da sah, war fürchterlich. Der Seesturm war zu einer unerhörten Wut gestiegen. Die Linie des Horizonts befand sich immerzu in wechselnder Bewegung, denn auf der hohen See erhoben sich bald da, bald dort Berge von Wasser, standen einen Augenblick inselhaft und brachen dann in sich zusammen. Gegen das Ufer zu war alles Gischt und Brandung. Der weiße Geifer flog in Schaumbällen weit übers Land. Und draußen in den siedenden Höllentrichtern wurde ihr Geliebter umhergewirbelt. Keine menschliche Phantasie malt sich diese kalte Verzweiflung aus.
Es blieb nichts übrig, als sie in ständiger halber Betäubung zu halten. In lichten Augenblicken suchte man ihr beizubringen, ihr Gatte sei weit von hier gefunden worden und schon beerdigt, um sie auf die Abreise vorzubereiten. Aber sie faßte es nicht, sie wartete weiter. Zuweilen fragte sie nach dem Kinde. Doch dieses fürchtete sich vor dem veränderten Aussehen der Mutter und klammerte sich schreiend an die Mulattin fest. Dann ließ sie sich beruhigen und durch eine neue Gabe Morphium einlullen.
In der folgenden Nacht brach noch obendrein ein Gewitter aus, wie die Küste in Jahrzehnten keines gesehen hatte; es trieb die ganze Ortschaft aus den Betten. Die Blitze fielen Schlag auf Schlag unter erderschütterndem Krachen, sie fielen zumeist ins Meer, nur die hohe Pinie im Garten der Thalassa wurde getroffen. Frau Ines schlief einen Totenschlaf, auch dieser Strahl, von dem das Haus gerüttelt wurde, erweckte sie nicht.
Gott nimm sie zu dir, laß sie nie wieder erwachen, sagte ihr Bruder mit angstgefalteten Händen.
Sie erwachte endlich doch, aber nur ein Teil von ihr, die Hälfte ihres Bewußtseins blieb umnachtet. Und noch immer trieb ihr Geliebter draußen auf den entsetzlichen Wassern. In welchem Zustand?
Am vierten Morgen glättete sich das Meer, das Gebläse war in der Nacht still geworden. Als ich am Strande ging, der voll von Muscheln und Quallen lag, fand ich diesseits der Flußmündung eine Gruppe Weiber und Kinder um ein Tuch stehend, unter dem sich eine menschliche Gestalt abzeichnete. Ein paar Amtspersonen standen daneben.
Er war es, unter dem meterhohen Lavarone, den die Flut über Nacht absetzte, hatten sie ihn gefunden.
So war er doch zurückgekehrt an den Strand, von dem es ihn weggetragen, an den Ort, der seine Liebe barg. Nur Gott allein weiß, wo er unterdessen gewesen war, an welchen Klippen und Steinen, an welchen Pfosten und Dämmen sich der arme Leib zerschlagen hatte, ehe ihn das Wasser friedlich an die Flußmündung trug. Auf Wunsch des Schwagers wurde er einbalsamiert, um nach der Heimat zurückgeführt zu werden. Als das traurige Geschäft zu Ende war, erschien Ines bleich wie ein Gespenst unter der Tür, man hatte sie nicht länger halten können.
Jetzt muß ich dich schön machen, sagte sie liebkosend und begann sein feuchtes Haar zu kämmen und zu schlichten. Darauf ging sie geschäftig wieder fort und brachte eine Flasche der edelsten Veilchenessenz, die sie über den Toten ausgoß:
Veilchen, José, dein Lieblingsduft! Unsere Veilchen von Rosario.
Sie sprach spanisch zu ihm, ihre Liebessprache, und bewegte sich wie zwischen Traum und Wachen. Man ließ sie still gewähren und begriff noch gar nicht, daß sie irre war.
Am selben Tage noch fuhren die Argentinier im Auto ab; der Wagen mit der Leiche folgte an die Endstation. Sie haben niemals wieder Nachricht gesendet. Vor kurzem erst erfuhr Frau Durante zufällig durch einen Herrn aus Buenos Aires, daß die schöne Ines ein Jahr nach der schrecklichen Katastrophe in einem Asyl gestorben sei.
Hat das Leben einen Sinn? Hat der Tod einen? Warum durften die zwei Schönsten, Glücklichsten nicht wie ein anderes Paar zusammen grau werden? Warum dem kleinen Liebesgott eine liebeleere Waisenkindheit? Warum? Warum? ›Ein Narr wartet auf Antwort‹.
Nach der Abreise der Argentinier wurde das Meer blau und leuchtend, und bald darauf tummelte sich wieder Groß und Klein vertrauend in der Flut.
Als ich am Abend heimwärts ging, da sagte die leiseste aller Wellen neben mir blab-blab und legte einen winzig feinen Lavaronestreifen am Ufer ab. Noch einmal kam sie und sagte noch leiser blab-blab, ehe sie entschlief. Dann breitete sich wieder völlige Meeresstille über den tiefblauen Spiegel.
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