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Kurz vor Ausbruch des Weltbrands wurde ich als Journalist auf Ferien in ein wenig bekanntes italienisches Seebad an der tyrrhenischen Küste verschlagen und habe die hier erzählte kleine Geschichte, wie sie sich zutrug, noch warm an Ort und Stelle aufgezeichnet. Zeitungen gab es in dem kleinen Fischernest keine, und niemand beachtete das aufsteigende politische Gewölk. Die farbigen Skizzen, die ich mit Dilettantenfreude von den waschenden Weibern in der stillen Flußmündung und den badenden Kindern im Uferwasser anfertigte, bewahre ich als wehmütigen Beweis, daß jene friedeseligen Tage kein Traum, sondern Leben und greifbare Wirklichkeit gewesen sind.
In dem kleinen Strandhotel, dem einzigen des Orts, waren wir, abgesehen von den Ausflüglern, deren Gesichter täglich wechselten, unser acht: der Marinemaler Hans Merian, der damals in den Anfängen seines Ruhmes stand, mit seiner blonden stillen Gattin, ein theosophisch angehauchter Livländer, Herr von Griebenthal, der sehr schön Violine spielte, kein Fleisch und keinen Alkohol genoß und das wunschlose Leben eines Buddha führte, Professor Farina, der Germanist von der florentinischen Hochschule, mit seiner klugen deutschen Frau, sowie ein amerikanisches Ehepaar, Mr. und Mrs. Speke aus Boston, von denen ich nichts zu sagen weiß, als daß sie mitanwesend und immer artig waren. An unseren Mahlzeiten nahmen überdies noch zwei Münchner Damen teil: Frau v. Pöchlar und ihre musikalische Tochter Asta, meine nächste Tischnachbarin. Die beiden waren, ohne sich dessen bewußt zu sein, die Sterne unseres Kreises.
Der alten Dame mit dem zartgebauten Körper und dem kleinen, feinen Gesicht, von dem das Stoffliche schon ganz geschwunden und nur der seelische Niederschlag geblieben schien, konnte niemand sich ohne herzliche Verehrung nähern. Sie bekannte sich, wie Herr von Griebenthal, zur indischen Weltanschauung und enthielt sich gleichfalls der Fleischkost. Ein Luftkreis von vornehmer Liebenswürdigkeit und Rücksicht umgab sie wie ein sehr feiner, sehr aristokratischer Wohlgeruch aus Großmutterschränken, den heutige Fabriken so gar nicht mehr herstellen können.
Fräulein Asta von Pöchlar – ja, wie soll ich nun von ihr sprechen, nachdem ich mich in jenen sechs Wochen vergebens bemüht hatte, ein Schubfach zu finden, worin ich sie einreihen könnte? Ich will mich begnügen, von ihrer Gegenwart zu sagen, daß man sie fühlte, wenn sie unhörbar hereintrat, und daß man meinte, sie habe etwas Anregendes oder Unterhaltendes gesagt, auch wenn sie schwieg. Auf ihre äußere Erscheinung möchte ich nicht das Wort ›schön‹ anwenden, nur hatte ich immer den Eindruck, die schmale Botticelligestalt mit den losen, flatternden Gewändern und dem leichten Spiel der Glieder komme eben von einer frischen Seebrise aus luftigeren Reichen hergeweht. Von ihren Augen, über die ich am meisten nachgedacht habe, kann ich nur aussagen, daß solch glasheller grünlicher Schimmer, durch den man doch den Grund nicht sah, mir sonst nirgends vorgekommen ist. Menschenliebe, die das ganze Wesen der Mutter ausmachte, schien nicht Fräulein v. Pöchlars stärkste Seite zu sein. Sie besaß ein eigenes Geschick, sich die Aufmerksamkeit, die sie erweckte, vom Leibe zu halten, und niemand kam ihr nahe. Nur an der Mutter, die etwas herzleidend war, hing sie mit ängstlicher, fast abgöttischer Zärtlichkeit und betreute die kleine Frau mit einem Eifer, der bisweilen in Tyrannei ausartete. Sie bewachte jede ihrer Mienen und trennte sich nur von ihr, wenn sie schwamm. Und Frau v. Pöchlar war an dieses Verwobensein so gewohnt, daß es schien, als ob sie nur durch den Jugendhauch der Tochter noch körperlich lebe, während ihre Seele schon in eine höhere Daseinsform eingegangen sei. Kurz, ich habe nie ein so ungleiches und dabei so unzertrennliches Menschenpaar gesehen wie diese beiden. Man konnte nicht ohne Beklemmung an die Zeit denken, wo der Tod die eine oder ein Mann die andere wegholen würde. Ob ich dieser Mann sein mochte, war auch so eine von den Fragen, über die ich mich während unseres sechswöchigen Zusammenseins nicht entscheiden konnte. Zum Glück war die Entscheidung überflüssig, denn Fräulein v. Pöchlar behandelte mich von der ersten Stunde mit einer allerliebsten spielenden Gleichgültigkeit, die sie noch mit reizvollen kleinen Stacheln zu besetzen wußte. Sie war nämlich den Zeitungsschreibern nicht gewogen, die sie samt und sonders im Verdacht gesellschaftlicher Indiskretion hatte. Doch besserte sich unser Verhältnis zusehends, nachdem die Zahl der Tischgäste durch Kollege Kräkeler vermehrt worden war, der ihre stille Bosheit auf sich ablenkte. Es gelang ihm dies mittels eines schwarzen ledernen Taschenbüchleins, in das er unter dem Tisch eilige Einträge machte, angeblich, um die ihm zuströmende Gedankenfülle nicht nutzlos verschäumen zu lassen, in Wirklichkeit, weil er nicht gern ein nahrhaftes Körnlein der Unterhaltung zu Boden fallen ließ, womit er seine Feuilletons speisen konnte. Denn Kollege Kräkeler ist nicht mit hervorragenden Einfällen gesegnet, dafür um so mehr mit Betriebsamkeit und Gedächtnis. Auch verfügt er über ein vielsagendes Lächeln und ein eindrucksvolles Schweigen, daher er in der Gesellschaft wie beim großen Publikum das Ansehen eines überlegenen Kopfes genießt, das er sich sehr bald auch in unserem Strandhotel zu erwerben wußte. Nur Fräulein Asta v. Pöchlar durchschaute den Undurchdringlichen auf den ersten Blick.
Wo die Damen v. Pöchlar sich aufhielten, da erschien in kurzem auch Herr v. Griebenthal. Er musizierte mit der Tochter und führte mit der Mutter Gespräche voll Brahmanenweisheit. In der Alten verehrte er das tiefe selbstlose Gemüt und eine angeborene metaphysische Geistesrichtung, Eigenschaften, die sie mit ihm selber gemein hatte, an jene aber fesselte ihn ein geheimnisvoller innerer Zwang. Die Bekannten lächelten zu dem aufmerksamen Ernst, womit der alte Herr dem jungen Mädchen huldigte; es hatte jedoch damit eine tiefere Bewandtnis.
Fräulein v. Pöchlar hat okkulte Kräfte, an die sie selbst nicht glaubt, vertraute er mir einmal an. Wenn sie wollte, könnte sie höherer Erleuchtungen teilhaftig werden. Aber sie wehrt sich dagegen und will von der übersinnlichen Welt nichts wissen.
Diesen okkulten Kräften ging er nach, wenn er wie ein alter Courschneider um das Fräulein scharwenzelte.
Eines Morgens war ich gerade dabei, gemeinsam mit dem jungen Pöchlar, dem jüngsten Zuwachs unserer Tafelrunde –, Enkel der Frau v. Pöchlar, Seekadett und achtzehn Jahre –, meinen Grönländer ins Wasser zu schieben, als das Fräulein den Strand entlang kam, im flatternden gürtellosen Morgengewand, die sehr langen feuchten Haare offen herabhängend, und uns mit dem Sonnenschirm winkte.
Denken Sie, was ich heute beim Baden für einen merkwürdigen Fund getan habe, rief sie uns von weitem entgegen. Eine Flasche – eine ganz mit Muscheln bedeckte Flasche, die in den Wellen trieb! Ich hatte große Mühe, sie zu erschwimmen, da sie mir immer wieder entschlüpfte, bis ich ganz ermattet mit ihr das Ufer erreichte.
Und was enthielt die Flasche? fragte ich.
Raten Sie!
Etwa Sekt? fragte der junge Seemann mit wohlwollendem Spott.
Nein, aber eine Schriftrolle.
Und was steht auf der Schriftrolle?
Ja, wer sie lesen könnte! Es sind seltsame, unverständliche Schriftzeichen, die keiner europäischen Sprache angehören.
Der junge Pöchlar blieb breitbeinig vor seiner Tante stehen und sagte in seiner gelassenen Seemannsart: Ich will gerne glauben, daß du eine Flasche gefischt hast. Es werden ja täglich Flaschen genug über Bord geworfen. Ich will sogar glauben, daß sich besagte Schriftrolle darin befindet. Aber dann darf ich wohl annehmen, daß meine verehrte Tante sie selbst hineingesteckt hat.
Ich? Zu welchem Zweck? fragte sie erstaunt.
Er zuckte die Achseln und lächelte.
Nein, Ewald, deine Vermutung ist ungereimt.
Doch der junge Mann blieb bei seinem Unglauben.
Nun, damit du dich überzeugst, gebe ich dir mein Ehrenwort, daß ich nichts dergleichen getan habe.
Kann man die Flasche sehen? fragten wir jetzt beide begierig.
Warum nicht?
Wir setzten uns zu dreien nach dem kleinen abgelegenen Strandhäuschen in Bewegung, das die Damen Pöchlar sich gemietet hatten, damit das Klavierspiel der Tochter die Gesellschaft nicht belästige. Doch unterwegs sagte das Fräulein bedenklich: Ich habe die Flasche im Gebüsch des Vorgärtchens versteckt, ohne die Mutter von dem Funde wissen zu lassen, damit sie sich nicht beunruhige. Kommen Sie doch lieber erst in einer halben Stunde, wenn sie ihren Strandspaziergang angetreten hat, daß wir die Schrift gemeinsam in Ruhe untersuchen können.
Als der junge Pöchlar und ich eine halbe Stunde später in Begleitung Kräkelers, der sich auf die Nachricht von dem Funde hin angeschlossen hatte, das Häuschen betraten, war auch Herr v. Griebenthal schon dort und betrachtete eben prüfend die Flasche. Die Mutter Pöchlar stand dabei und warf scheue Blicke auf den Fund, den man ihr nun doch nicht hatte verheimlichen können.
Der Form nach konnte es eine gewöhnliche Apollinarisflasche sein, die lange im Wasser gelegen hatte, denn sie war über und über mit Sand und einer dicken Schicht kleiner hochrückiger Seeschnecken bezogen, die sich nicht nur auf der Flasche selbst, sondern auch noch auf dem bröckligen Kork und rings um diesen angesiedelt hatten und eine reizende Inkrustierung bildeten, eines jener wundersamen Kunstgebilde, die der Spieltrieb des Meeres hervorbringt. Vom Druck der Finger war ein Teil der Müschelchen abgefallen, und man sah, daß das Innere zur Hälfte mit einer hellen Flüssigkeit angefüllt war, worin eine halbgeöffnete Schriftrolle mit großgemalten unverständlichen Zeichen schwamm.
Eine Flaschenpost, sagte Griebenthal, mir den Fund reichend, wahrscheinlich von einem fremden Schiff in Seenot.
Frau v. Pöchlar wich weit von dem unheimlichen Fund zurück. Die Tochter legte wie beschützend beide Arme um sie und führte sie mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer. Unterdessen ging die Flasche von Hand zu Hand. Was wollte uns dieses ganz von Naturweben umsponnene Glas mit der rätselhaften Schrift in seinem Bauche erzählen? Vielleicht von einer Tragödie, über der sich längst, wer weiß wann und wo, die Fluten geschlossen hatten! Unzweifelhaft ein Flaschenbrief, und ein arabischer, wie es scheint, der von einem Schiff in Seenot stammt, wiederholte Griebenthal, und Kollege Kräkeler fügte verbessernd hinzu: Oder von einem, dessen Mannschaft meutert.
Da ich kein Kenner nautischer Dinge bin, enthielt ich mich einer eigenen Hypothese.
Inzwischen war das Fräulein zurückgekommen und drehte die Flasche vorsichtig, um den Muschelbelag zu schonen, nach allen Seiten gegen das Licht.
Wozu sie nur das Wasser hineingegossen haben? sagte sie.
Nun, das ist klar: damit die Flasche einiges Gewicht bekommt, entschied Kräkeler.
Und wofür braucht sie das Gewicht?
Damit sie nicht zu schnell schwimmt.
Soll das vom Übel sein?
Bisweilen, antwortete er mit seinem überlegensten Lächeln und hüllte sich in Undurchdringlichkeit.
Der junge Pöchlar äußerte gar keine Meinung, dagegen entkorkte er die Flasche und verkostete den Inhalt. Es schien abscheulich zu schmecken. Pustend eilte er vor die Tür, um auszuspucken, und stieß auf Hans Merian, der eben mit Malschirm und Kasten vorüberging. Kaum hatte dieser von dem Fund vernommen, so stellte er sein Geräte ab und trat ins Haus.
Ein Flaschenbrief!
Wahrscheinlich ein arabischer!
Von einem gestrandeten Schiff!
Oder von einem, dessen Mannschaft meutert! rief es ihm entgegen.
Der Kadett aber ging nun dem Rätsel planmäßig zu Leibe, indem er das Wasser vollends abgoß und die Rolle herauszuziehen suchte, was nach längeren Bemühungen mittels einer von seiner Tante gelieferten Häkelnadel gelang. Endlich lag sie ausgebreitet und geglättet auf dem Tisch.
Die Schrift war wundervoll. Große kräftige Züge in breitem Strich – die Tusche war im Wasser gar nicht geflossen – und von den merkwürdigsten Formen, runden und eckigen; zuweilen schien es wie ein Anlauf zu menschlicher Bildung, dann löste sich's wieder in notenähnliche Striche und Schnörkel auf. Die Zeichen standen in kürzeren oder längeren Gruppen beisammen, deren keine der anderen glich, einige davon mit einer kühnen gemeinsamen Schweifung umschlossen und jede durch einen kurzen Zwischenraum von der Nachbargruppe getrennt. Das Verwundern, Untersuchen und Hypothesenaufstellen begann aufs neue. Die Meinung überwog, daß die Schrift arabisch sein müsse.
Die Augen des Malers waren immer runder und größer geworden, die Aufregung trieb ihm den Schweiß in sein gutes, offenes Gesicht.
Ob die Schrift arabisch ist, weiß ich nicht, sagte er. Aber sicher gehört sie einer der orientalischen Sprachen an, die an den Küsten des Mittelmeers gesprochen werden. Wir wollen die Flasche zu Professor Farina bringen, er treibt diese Sprachen im Nebenfach. Ich sah ihn soeben aus dem Wasser kommen, er muß noch in seiner Badehütte zu finden sein.
Er stapfte mit Flasche und Schriftrolle über den heißen Sand. Wir anderen folgten. Auch das Fräulein konnte sich's nicht versagen, dabei zu sein, so ungern sie die alte Dame mit dem schwachen Herzen allein zu Hause ließ. Richtig fanden wir den Professor im Bademantel vor seiner Schilfbaracke. Gleich sammelte sich eine Anzahl Neugieriger um uns, die den Fund anstaunten. Frau Farina hatte sich zuerst seiner bemächtigt und machte auf die eigentümliche Beschaffenheit des Stoffes aufmerksam, der kein Papier, sondern dichtgewebtes Leinenzeug war, das sich fast wie Pergament anfaßte.
Während der Professor die Schrift untersuchte, fragte der Kadett seine Tante unvermittelt: Hast du eigentlich den Lappen aus einem Bettuch eurer Hausfrau geschnitten?
Das Fräulein sah ihn starr an und schwieg.
Dann wandte er sich an Griebenthal, der gespannt über des Professors Schulter sah: Merken Sie nicht, daß sie ihren Spaß mit uns treibt?
Fräulein von Pöchlar scherzt nicht mit so ernsten Dingen, wies ihn dieser zurecht.
O meine Tante ist unergründlich. Sie führt, wenn es ihr beliebt, uns alle an der Nase.
Ich muß gestehen, daß auch ich ihr nicht völlig traute. Allein sie hatte ein Ehrenwort gegeben, daran war nicht zu rütteln. Sie würdigte auch den Neffen gar keiner Antwort und folgte nur aufmerksam den Mienen des Professors.
Statt ihrer entgegnete der Maler: Fräulein von Pöchlar ist eine große Meisterin auf dem Klavier, aber zu einer solchen Malerei würde noch etwas anderes gehören. Ihre Tante ist an diesen Buchstaben unschuldig. Die zu erfinden wäre auch unsereiner nicht imstande. Man sieht ihnen ja die innere Notwendigkeit an; dergleichen bringt ein einzelnes Hirn gar nicht hervor.
Die Schrift ist echt, entschied der Professor, aber lesen kann ich sie nicht. Arabisch ist es nicht und Türkisch ebenso wenig. Es ließe sich vielleicht an das Armenische oder Abessinische denken, aber mit diesen Sprachen bin ich nicht vertraut. Wir wollen die Rolle mitnehmen und daheim mit meinen Büchern vergleichen.
Wir wanderten allesamt nach dem Strandhotel, wobei wir einen immer wachsenden Schweif von Neugierigen – sowohl Badegästen als Strandbewohnern – hinter uns herzogen. Dort drängte sich alles um den kleinen Rohrtisch im Vorraum, wo wir atemlos den Schriftvergleichen des Professors folgten. Leider fand sich in seinem Koffer nichts als eine armenische Übersetzung von Byrons Manfred, die aus dem bekannten Kloster von San Lazzaro stammte und sich zufällig unter das Gepäck verirrt hatte. Ein größeres Werk über die Entstehung der Buchstaben mit Schriftproben aus allen Sprachen der Erde war in seiner verschlossenen Wohnung in Florenz zurückgeblieben. Der erste Blick auf die armenische Schrift konnte auch den Laien überzeugen, daß die unsere nichts mit ihr gemein hatte. So kam man auf dem Wege der Ausschließung auf das Abessinische.
Auch der Stoff, woraus die Rolle bestand, wurde eingehender Prüfung unterzogen. Zarte und rauhe Finger betasteten ihn, und man befand, daß er aus einem Segel geschnitten und mit Tusche bemalt sei. Aber freilich werde in unseren Breiten kein solches Segeltuch verfertigt. Doch wollte ein alter Seekapitän auf marokkanischen Schiffen Segel aus ähnlichem festem Stoff gesehen haben.
Ein Flaschenbrief in abessinischer Sprache, auf marokkanisches Segeltuch gemalt, das war das erste Ergebnis unserer Untersuchungen.
Unsere Gesellschaft spaltete sich in drei Parteien, wovon die eine auf das Schiff in Seenot, die andere auf die meuternde Mannschaft schwur, und eine dritte, schwächere, die nur aus Hans Merian und seiner Gattin bestand, sich für einen Staatsgefangenen auf einsamer Insel, vielleicht einen ehrgeizigen Verwandten des damals noch lebenden Negus Menelik, entschied.
Aber am Abend bekam die Sache wieder ein anderes Gesicht. Zur Tafel erschien, wie gerufen, ein ehemaliger Diplomat, der vor Zeiten in politischer Sendung am Hofe Meneliks gelebt hatte und des Amharischen mächtig war. Als Professor Farina ihm die aufgefischte Schrift vorlegte, erklärte er augenblicklich, das sei kein Abessinisch, das Abessinische sehe völlig anders aus. Nach ihm wies die Schrift auf einen viel ferneren Osten; ihre Eigentümlichkeiten erinnerten ihn am meisten an das Chinesische, was auch anderen schon aufgefallen war. Herr Farina bekannte sich in den mongolischen Sprachgruppen als unzuständig und schlug vor, die Schrift einem befreundeten Orientalisten, der auf diesem Gebiet der erste sei, nach Turin zu senden. Dagegen erhoben wir anderen Einspruch, weil doch in einem Fall, wo es sich vielleicht darum handle, schleunige Hilfe zu bringen, der philologische Belang in zweiter Reihe stehe. Der Diplomat erbot sich, den Fund durch Vermittlung eines Freundes dem Ministerium des Äußeren in Rom vorlegen zu lassen, das zweifellos zuständige Persönlichkeiten zur Hand habe und auch gegebenenfalls gleich in der Lage wäre, durch Funkspruch eine dem Inhalt entsprechende Maßregel zu veranlassen. Dagegen aber wandte sich Mr. Speke, der als praktischer Amerikaner den Weg über das Ministerium für viel zu zeitraubend hielt. Nach ihm konnte die Schrift ebensogut japanisch wie chinesisch sein, und er sah daher das japanische Konsulat in Livorno für die geeignete Stelle an, schon weil jeder gebildete Japaner auch des Chinesischen mächtig sei. Dem widersprach nun die Partei des Gefangenen, der sich ja auch im Gewahrsam der japanischen Regierung befinden und durch einen Bericht des Konsulats möglicherweise geradezu dem Messer ausgeliefert werden konnte.
Man trennte sich, ohne schlüssig geworden zu sein und mit Meinungen, die geteilter waren als je. Des anderen Tages war der Diplomat abgereist und damit der bequeme Weg an das Ministerium verpaßt. Ein paar Tage verstrichen ungenützt, während deren man sich gegenseitig Vorwürfe machte, dem Hilferuf der Bedrängten untätig gegenüberzustehen. Frau und Fräulein v. Pöchlar mischten sich niemals in den Streit, aber sie hörten aufmerksam zu, und man sah der alten Dame ein heimliches Erzittern an, sooft von dem Flaschenbrief die Rede war. Sie schien zu fürchten, daß das Unheil, das an diesem Gegenstand haftete, sich in geheimnisvoller Weise der Finderin anhängen könnte. Diese dagegen blieb, wie in allem, was nicht ihre Mutter oder sie selbst persönlich betraf, völlig kühl und äußerte auch gelegentlich Zweifel, ob sich nicht jemand einen Scherz mit uns gemacht habe, worauf aber Griebenthal erklärte, er halte es für unwahrscheinlich, daß es Menschen gebe, die schlecht genug für einen solchen Streich wären.
Nur einer genoß den Fund, und das war Kollege Kräkeler.
Endlich einmal ein Stoff, sagte er, aus dem sich etwas machen läßt, vorausgesetzt, daß der Herr Kollege ihn nicht mit Beschlag belegt.
Keine Sorge! antwortete ich. Mir genügt mein Gepinsel, ich gehe nicht auf den Fang von Seeschlangen aus, am wenigsten von solchen ohne Kopf.
Er erwiderte herablassend, daß ich da ganz hübsch seinen Titel erraten hätte. Die Seeschlange ohne Kopf, so sei sein gestern geschriebenes Feuilleton von ihm benamst worden. Und richtig sah man ihn des anderen Tages mit einem Einschreibemanuskript zum Postamt wandern, wo Fräulein v. Pöchlar, die ebenso wie ich auf die Abgabe der Briefe wartete, einen bedeutungsvollen Blick mit mir tauschte.
Die Schrift hatte Professor Farina an sich genommen, und man sah ihn des öfteren in der kleinen Rebenlaube damit beschäftigt, ihre Zeichen mit denen eines unterdessen von auswärts bezogenen Werkes zu vergleichen. Aber dem Inhalt kam man damit um keinen Schritt näher. Um sein und unser aller Gewissen endlich zu entlasten, wollte nun Hans Merian das Ding einfach ans nächste Hafenamt abliefern, wo man schon wissen werde, was zu geschehen habe.
Allein jetzt erhob auf einmal Fräulein v. Pöchlar Einsprache, weil das Fundstück ihr Eigentum sei, das sie überhaupt nicht hergebe, nachdem sie fast ihr Leben daran gewagt habe. Und als der Maler ihr gutes Herz anrief, da es sich ja offenbar um gefährdete Menschenleben handle, deutete sie auf den Muschelbelag der Flasche, die hinter einem Schrankfenster aufgestellt war, und sagte kühl: Wenn die Muscheln nicht lügen, so brauchen die Absender dieser Botschaft seit lange keine Hilfe mehr.
Da mischte sich Kollege Kräkeler mit Schärfe ein: Gnädiges Fräulein, ich gestatte mir unterwürfigst zu bemerken, daß man Rettungsversuche auch dann noch unternimmt, wenn es nach menschlicher Berechnung zu spät ist.
Auch Frau Farina, sonst des Fräuleins große Bewundererin, machte eine halblaute Bemerkung über solche Fischblütigkeit.
Nun aber rückte Griebenthal zur Hilfe an: Fräulein v. Pöchlar hat es gar nicht so gemeint. Übrigens bekenne ich mich gleichfalls zu der Ansicht, daß die Schrift nicht weggegeben werden darf. Sobald wir den behördlichen Weg einschlagen, müssen wir uns auf eine endlose Verschleppung gefaßt machen, und die ganze Sache wird uns aus den Händen genommen.
Ja zum Donnerwetter! rief der Maler laut. Irgend etwas muß doch geschehen. Wenn wirklich ein Schiff in Not ist oder die Mannschaft meutert, so können wir doch die Leute nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.
Wahrend noch gestritten wurde, erschien eine hagere vornehme Gestalt im Saal, der Kontreadmiral Lanza, der auf einer der benachbarten Villen seinen Urlaub verbrachte; wir kannten ihn alle von Ansehen. Er begrüßte Professor Farina und einige andere italienische Herren und entschuldigte vor der Gesellschaft sein Eindringen mit dem Anteil, den er an unserem Fund nehme; durch seinen Freund, den ehemaligen Gesandten in Addis Abeba, sei er davon unterrichtet. Dann entfaltete er zum Vergleich einen umfangreichen chinesischen Paß, den er zu diesem Zweck aus Rom verschrieben hatte. Da erhob sich Frau v. Pöchlar, die irgendeine tragische Enthüllung zu erwarten schien, warf einen ersterbenden Blick auf ihre Tochter und schlich, an allen Gliedern bebend, hinaus. Das Fräulein löste sich ungern aus der neugierigen Gruppe, die den Admiral umstand, und folgte ihr. Ich war gewohnt, die Damen des Abends nach Hause zu begleiten und mochte sie auch heute auf dem dunklen Strandweg nicht allein lassen. Die zarte alte Frau lief, sobald sie im Freien war, als ob ein chinesisches Gespenst aus dem Paß entsprungen wäre und sie verfolgte; wir Jungen mußten uns schicken, um mit ihr Schritt zu halten.
Gleichwohl war, als ich zurückkam, die Gesellschaft schon auseinander gegangen. Ich fand nur noch Griebenthal, der mir erzählte, daß nach der Vergleichung mit dem Paß auch das Chinesische ausgeschaltet worden sei. Der Professor neige jetzt zu der Ansicht, daß die Schrift einem indischen Idiom angehöre. Von nun an blieb sie im Glasschrank des Eßzimmers eingeschlossen, wo jedermann sie sehen und niemand sie berühren konnte. Und wer nur auf einen Tag unseren Strand besuchte, der kam, sie zu besichtigen. Ein bekannter französischer Missionar, der in einem Nachbarort zur Kur weilte, ließ sich eigens deshalb herüberrudern, denn an der ganzen Küste sprach man von unserem Fund. Er sagte, daß ihm in keiner indischen Schriftart solche Schnörkel wie bei einzelnen Gruppen des Flaschenbriefes bekannt seien; aber jedenfalls müßten diese symbolisch gedeutet werden als Schlange, die sich in den Schwanz beißt, somit als Sinnbild der Ewigkeit: die betreffenden Stellen seien religiösen Inhalts. Damit waren wir um eine neue Hypothese bereichert.
Herr Farina hatte unterdessen eine ganze einschlägige Bibliothek zusammengebracht und war zu dem Schluß gekommen, daß die Schrift überhaupt keiner entwickelten Kultursprache angehöre.
Ich vermute, daß sie auf dem Übergang zwischen Bilder- und Zeichenschrift steht, sagte er, und daß sie noch die Fähigkeit besitzt, mit wenigen Strichen, die vom Laut unabhängig sind, einen langen, verwickelten Vorgang auszudrücken. Ich habe eine weibliche Gestalt entdeckt, die auf einem umgekehrten Schiffskiel zu sitzen scheint, also vielleicht die Geschichte eines Schiffbruchs erzählen will. Jede dieser Einzelgruppen haben wir uns als einen längeren gedrängten Abschnitt vorzustellen, der, in eine Kultursprache übersetzt, einen beträchtlich größeren Raum ausfüllen würde.
Damit ging die Frage ganz ins philologische Gebiet über, und der Eifer flaute ab, denn wie sollten wir hoffen, dem Schreiber einer so unverständlichen Schrift zu helfen. Zwar erklärten die Insassen des Strandhotels jeden Tag: Es muß etwas geschehen, aber es blieb immer beim alten. Die glühende Hitze, die gerade herrschte, und der anstrengende Müßiggang des Badelebens legten jedes Beginnen von vornherein lahm. Man schwamm und ruderte, man lag auf dem heißen Sand und brachte jedesmal einen Wolfshunger nach Hause. Selbst das Merkbüchlein des betriebsamen Kollegen schlummerte in seiner Tasche. Und der geringste Widerstand wurde zu einem unübersteiglichen Hindernis. Besonders war es jetzt Griebenthal, der sich jedem Eingreifen widersetzte.
Es gibt nichts Zufälliges, sagte er mir einmal, als wir an einem Schirokkoabend spät noch beim Phosphorschein des Meeres am Strand spazierengingen. Wenn die Flasche den Indischen Ozean durchschwommen hat, um durch die Straße von Bab el Mandeb und den Suezkanal ausgerechnet an unseren Strand und in den Händen Fräulein v. Pöchlars anzulangen, so hat das etwas zu bedeuten.
Ja, was denn aber? fragte ich.
Daß sie es ist, die die Schrift entziffern soll.
Wie soll das Fräulein den Schlüssel finden, der den Gelehrten fehlt?
Durch Innenschau.
Sie wird sich bedanken. Sie wissen, daß sie auf die Mächte des Zwischenreichs nicht gut zu reden ist. Sie will im warmen Menschenland bleiben.
Ich will sie nicht daraus vertreiben. Aber wenn ein Ruf an sie ergeht, wird sie ihm Folge leisten müssen.
Unterdessen war unser Kadett von einer mehrtägigen Strandwanderung mit einem Altersgenossen zurückgekehrt und lachte, als er die Flasche noch immer wie ein Heiligtum im Schranke verwahrt sah.
Wie schade, daß der Erfinder dieses Streichs nicht sehen kann, was er angestellt hat, sagte er und erregte dadurch den alten Streit aufs neue.
Immer wieder die unselige Flasche, seufzte Frau v. Pöchlar. Wäre sie doch nie an unseren Strand geschwommen.
Ich will es nur gestehen, sagte ihre Tochter, daß ich ganz der Meinung meines Neffen bin. Ich hielt den Fund von allem Anfang an für einen Scherz und schwieg nur, weil ich dem Täter das Spiel nicht verderben wollte.
Wer soll der Täter sein? fragte man von allen Seiten.
Vermutlich sitzt er unter uns.
Wer, wer?
Nun, ohne Zweifel ein Künstler mit Stift und Pinsel.
Ihre Augen hafteten zuerst spitzbübisch an Hans Merian, der die Schwurhand zur Abwehr erhob, und glitten dann forschend zu mir herüber.
O gnädiges Fräulein, Sie erweisen meinem bescheidenen Talent eine zu große Ehre.
Sie ist es selbst! platzte der Kadett los.
Seine Tante sah ihn vernichtend an: Wenn nicht du es bist, mein Junge!
Dann wandte sie sich an die Gesellschaft und sagte: Ich habe mein Ehrenwort bereits gegeben. Wenn die anderen Anwesenden das gleiche tun wollen, so werden wir bald wissen, woran wir sind.
Alle willfahrten ihr, der Professor mit einigem Widerstreben, weil er es kindisch fand, nach so gewichtigen Zeugnissen immer aufs neue an der Echtheit der Schrift zu zweifeln. – Welch ein Maß von Kenntnissen und Übung wäre nötig, um so etwas willkürlich zu erfinden, sagte er.
Danach rückte der Fund wieder in seine alten Ehren ein. Auch Fräulein v. Pöchlar gab sich achselzuckend geschlagen. Sie nahm von nun an öfters die Schrift und vertiefte sich darein. Schließlich meinte sie: Wenn man erst einmal anfängt zu glauben, könnte man sich bald auch einbilden, sie zu verstehen, so bekannt sehen einen die Zeichen an.
Man soll sie verstehen, sagte jetzt Griebenthal mit Nachdruck und stellte sich neben das Fräulein.
Wie das? fragte sie.
Wenn Sie Ihre Augen und Ihre Gedanken unverwandt, ohne abzuirren oder nachzulassen, auf die Schrift heften, so werden Sie verstehen.
Man sah, wie sie sich ordentlich mit den Augen darein verbohrte.
Über dieser Schrift könnte man den Verstand verlieren, murmelte sie.
Nun raffte sich Frau v. Pöchlar zu einem plötzlichen Willensentschluß auf: Jetzt aber dulde ich es nicht länger. Asta, komm! sagte sie, legte gebieterisch ihre Hand auf die der Tochter und zog sie mit sich.
Das Fräulein folgte gern oder ungern. Griebenthal sah mich still und eindringlich an. Die anderen hatten nicht sonderlich auf den Vorgang geachtet.
In diesen Tagen begab sich's, daß ein neues Ereignis das alte, das schon zu verblassen begann, ablöste. Es war nichts Geringeres als ein todwunder Wal, den das Meer wenige Meilen abseits unserer Ansiedlung an die Küste getragen hatte. Aus nah und fern wallfahrteten die Einheimischen und Fremden nach dem Ort, das ungeheure Tier verenden zu sehen, dem aus einer mächtigen Bauchwunde – ob von Harpune, Felsriff oder zufälliger Rammung durch ein Unterseeboot herrührend – das Leben entströmte. Die Wege hin und her waren schwarz von Menschen. Das Tier lag regungslos in dem feuchten Ufersand eingekeilt, nur an den Naslöchern war noch eine ganz schwache Atmung wahrzunehmen. Aus dem Strandhotel stellte sich, wer nur konnte, mit dem Kodak ein. Kollege Kräkeler schrieb ein zweites Feuilleton; ob er es ›die Seeschlange mit dem Kopf‹ betitelte, weiß ich nicht. Hans Merian und ich verbrachten die ganze Zeit bei dem toten Ungetüm, um es von allen Seiten zu zeichnen, zu malen und zu photographieren, obgleich Mückenschwärme es umsurrten und die Luft in seiner Nähe bald nicht mehr angenehm war. Am dritten Tage endlich erschien ein kleiner Dampfer, der den Koloß ins Schlepptau nahm, weil er anders nicht weggebracht werden konnte, und ihn durch die Wellen nach Livorno zog, wo er ausgelassen und für ein Museum präpariert werden sollte. Es war ein seltsames Bild, wie der formlose Riesenklumpen hinter dem Dampfer herschwamm, aus der Ferne wie ein kleineres Fahrzeug anzusehen, das allen Bewegungen des größeren folgte. Erst als die zwei Silhouetten vom Horizont verschwunden waren, kehrten wir alle in die alten Gewohnheiten zurück, und jetzt war es das Ehepaar Merian, das sich zuerst wieder mit seinem Gefangenen auf der Insel beschäftigte. Sie fanden, es sei doch eigentlich eine ganz unverantwortliche Fahrlässigkeit, daß wir den Flaschenbrief, mit dem wir selber nichts anzufangen wußten, nicht längst der Hafenbehörde übergeben hätten und daß es jetzt höchste Zeit sei zu handeln mit oder ohne Fräulein v. Pöchlars Einwilligung. Diesmal stimmte auch Griebenthal zu, da er sich in seinen Erwartungen enttäuscht sah. Es wurde beschlossen, dem Fräulein ihren Fund, den sie neuerdings in eigene Verwahrung genommen hatte, abzufordern und dem in der Nähe befindlichen Hafenamt zu übermitteln.
Zusammen begaben wir uns eines Abends zu den Damen Pöchlar, die schon seit mehreren Tagen bei den gemeinsamen Mahlzeiten fehlten. Wir waren auch sonst an Zahl geschmolzen, denn das Spekesche Ehepaar befand sich schon auf der Heimreise nach Amerika, unser Professor aber hatte in aller Frühe für zwei Tage nach Florenz gemußt.
Die Damen saßen bei angezündeter Lampe über ihren Stickrahmen, und der Kadett klimperte auf der Gitarre.
Als Frau Farina den Zweck unseres Kommens erklärte, war das Fräulein sogleich einverstanden.
Ich will froh sein, wenn wir das Ding los sind, sagte sie. Meine Mutter hat seit dem Fund keine ruhige Stunde mehr, und auch ich schlafe schlechter, seitdem er im Hause liegt. Wenn Sie wüßten, wie es mir heute nacht seltsam ergangen ist. Ich träumte, daß ich wach im Bett läge – wie man ja wunderlicherweise träumen kann – und daß ich über die Schrift nachdächte. Da wurde mir so, ich weiß nicht wie, daß ich aufstehen und Licht machen mußte, versteht sich im Traum, und die Schrift auf dem Tisch vor mir ausbreiten. Es langweilt Sie doch nicht, wenn ich meinen Traum erzähle?
Wir flehen Sie fußfällig darum an.
Sie fuhr fort: Es war mir, als hätte ich den unwidersprechlichen Auftrag erhalten, die Schrift zu übersetzen und als wäre ich auch dazu imstande. Die Zeichen erschienen mir nicht mehr schwarz, sondern bläulich glühend. Und ganz von selber, so kam es mir im Schlafe vor, teilte sich ihr Inhalt meinem Geiste mit. Nach meinem Empfinden saß ich die ganze Nacht und übersetzte. Sooft eine Gruppe entziffert war, verlosch sie. Aber als ich am ersten Geräusch vom Strande her erwachte, lag ich in meinem Bett und alles war geträumt. Nur die Kerze, die ich am Abend frisch aufgesteckt und dann gelöscht hatte, war bis auf ein winziges Stümpfchen herabgebrannt.
Und der Inhalt der Schrift? fragten alle aus einem Munde. An den erinnern Sie sich nicht mehr?
Nur ein einziges Wort habe ich behalten: es heißt Narwan!
Nar–wan, buchstabierte sie noch einmal langsam und deutlich, auf jedem Buchstaben ausruhend.
Narwan? Was soll das bedeuten?
Es ist der Name der Insel, soviel weiß ich noch. Auch ihre Lage nach Längen- und Breitengraden war mir mitgeteilt worden nebst einer langen, langen Geschichte, aber beim Erwachen war alles verflogen. Nur noch ganz dunkel schwebt es mir vor, sie liege irgendwo im Indischen Ozean, der Küste Asiens gegenüber.
Asta, ach Asta, seufzte Frau v. Pöchlar geängstigt, wie immer, wenn von der geheimnisvollen Schrift gesprochen wurde.
Sonst erinnern Sie sich an nichts? fragte Griebenthal in einem ganz inquisitorischen Ton, den man noch nie an ihm gekannt hatte.
Nichts, als daß von einem verschollenen Schiff die Rede war, dessen Insassen im Indischen Ozean Schiffbruch und unendliche Nöte gelitten haben und jetzt auf der Insel Narwan gefangen sind.
Und von wem stammen die Aufzeichnungen? verhörte Griebenthal.
Der Schreiber ist keiner von ihnen, sondern ein Eingeborener von Narwan, und ich weiß noch, daß seine Denkart mir im Traume fremder erschien als seine Schrift. Aber weiter fragen Sie mich nichts, denn das ist das letzte, was mein Gedächtnis hergibt.
Wenn Sie jetzt die Schrift wieder ansehen, kommt Ihnen dann keine Erinnerung? fragte er, die Rolle vor ihr ausbreitend.
Nein. Aber ich sehe Dinge, die ich vorher nicht sah, – einen Schiffsschnabel, seltsam geformte Waffen – einen Männerkopf mit Glatze –
Wo, wo? fragten alle.
Und das hier – ist es nicht ein Knabe, der einen Kranz hält oder eine Brezel?
Gut. Sie sollen aber auch den Sinn verstehen, befahl Griebenthal.
Wie kann ich das?
Geben Sie mir Ihre Hand, damit ich Ihren Willen stärken kann, und nun blicken Sie unverwandt in die Schrift.
Die Mutter geriet in heftige Unruhe. Treiben Sie sie nicht weiter. Treiben Sie mein armes Kind nicht weiter. Sie wissen nicht, wie sie sich schaden kann.
Aber Griebenthal hatte kein Erbarmen. Asta warf noch einen halben Blick auf ihre Mutter, die ihr flehende Zeichen machte, allein sie schien bereits von einer fremden Gewalt beherrscht.
Ich verstehe die Schrift, sagte sie plötzlich mit veränderter Stimme.
Setzen Sie sich, gebot Griebenthal, und ich bitte alle zu schweigen.
Man hörte keinen Atemzug mehr. Nur die Mutter sagte noch einmal warnend: Asta! Aber schon begann das Fräulein zu lesen, erst stockend und tastend, dann immer rascher, als würde ihr die fremde Gedankenwelt mit jedem Wort geläufiger. Kräkeler stenographierte unter dem Tisch. Da er mir aber später die Einsicht in sein Stenogramm verweigerte, bin ich mit der Wiedergabe des Gehörten ganz auf mein Gedächtnis angewiesen.
Das Fräulein las etwa folgendes: Dies ist das erstemal, daß eine Kunde von der Insel Narwan zu den Völkern der Erde gesendet wird. Unser oberstes Staatsgesetz verbietet es. Die Frauen haben dieses Gesetz gemacht. In Narwan regieren ganz allein die Frauen. Man weiß, daß es eine Zeit gab, wo die Herrschaft in den Händen der Männer war, aber von dieser Zeit darf öffentlich nicht gesprochen werden. Es heißt, daß sie mit einem großen Blutbad endete, dem nur die jüngsten und schönsten der Männer entgingen. Unsere Zeitrechnung beginnt mit dem Regierungsantritt unserer ersten Königin Narwana, die sie die Große nennen. Von ihr hat die Insel ihren jetzigen Namen. Die Satzungen, die sie einführte, werden heilig gehalten bis auf diesen Tag. Wir glauben an ein höchstes Wesen, dessen wahrer Name nicht ausgesprochen werden darf, im gemeinen Leben nennen wir es Tmu.
Oft sind schon im Lauf der Zeit Schiffe, die von weither kamen, an unserer Insel gestrandet. Die Fremden wurden immer freundlich aufgenommen, genährt und gekleidet, nur in ihre Heimat durften sie nie mehr zurückkehren, damit keine Nachricht von unserem Dasein in die Welt dringe und andere Völker anlocke, in Scharen hierher zu kommen und unsere Ordnungen zu ändern. Unter ihnen befinden sich Männer, die in ihrer Heimat groß waren, sie sind mit ihren Schiffen verschwunden, und niemals werden die Ihrigen wissen, wohin sie gekommen sind. Wir in Narwan wissen es. Sie haben bei uns höhere Ehren erlangt als je ein eingeborener Mann der Insel, aber keiner ihres Geschlechts darf mit ihnen sprechen. Durch diese Fremden sind viele Gegenstände ferner Länder zu uns gekommen. Auch ist man durch sie in Narwan über die Lage, Beschaffenheit und Einrichtungen jener Länder vollständig belehrt. Jedoch nur die Frauen wissen von diesen Dingen und behalten alle die große Wissenschaft für sich, denn wir Männer werden von den Frauen in Unwissenheit erhalten, und man lehrt uns von Jugend an, daß das Nichtwissen des Jünglings schönster Schmuck und Vorzug ist. Weil wir so gelehrt werden, darum sind wir Männer von Narwan ungelenk mit der Zunge, langsam im Denken und nicht geschickt zur Tat. Unser einziges Verlangen ist unseren Herrinnen zu gefallen, und von allem, was Kraft des Geistes oder des Herzens erfordert, sagen wir: es ist Frauensache.
Jedes Jahr wird aus den männlichen Geburten ein Fünfteil ausgewählt und in die Schulen gebracht. Dort unterweist man sie im anmutigen Betragen, im Singen, Tanzen und all den Künsten, die das Auge der Frau ergötzen. Diese Knaben nennt man die ›Väter‹, denn ihre Bestimmung ist es, das menschliche Geschlecht fortzupflanzen. Die übrigen heißen in unserer Sprache, ›das Wegesende‹; sie sind von der Vermehrung ausgeschlossen, und mit ihnen endigt ihr Geschlecht. Sie werden in festen ummauerten Höfen oder umhegten Plätzen eingesperrt und zum Ziehen des Pflugs, zum Tragen der Lasten und zum Bedienen der Werkstätten benutzt. Das Wegesende ist böswillig, dumm und träge und kann nur mit dem Stachel zur Arbeit gebracht werden. Im Gebrauch der Waffen wird es so wenig unterwiesen wie die Väter, denn dieser ist das ausschließliche Vorrecht der Frauen. Die Königin hat eine Leibwache von fünftausend Lanzenmädchen, die ihre Person beschützen und die Insel gegen feindliche Überfälle sichern.
Wenn die Knaben zur Liebe reif sind, führt man sie geschmückt und gesalbt zum Hain der Sieben Teiche. Dorthin kommen im Frühling die Bräute zur Gattenwahl. Der Hain der Sieben Teiche ist so schön, daß die ganze Erde nicht seinesgleichen hat. Dort gibt es viele kleine Inseln, wo die Bäume ihre blühenden Äste bis zur Erde senken, Wasservögel nisten im Gebüsch des Ufers, und die Inseln sind im Frühling voll Lautenklang und Lachen und Liebesgeflüster. Wenn der Liebestag zu Ende ist, so kehren die Bräute nach Hause, die Jünglinge bleiben im Hain der Sieben Teiche zurück, und bald kommen neue Bräute, und wieder geht durch die Insel der Sieben Teiche Lachen, Lautenklang und Liebesgeflüster. Nur der Königin ist es gestattet, den Knaben, der ihr wohlgefällt, für sich allein zu behalten und in ihrem Palaste wohnen zu lassen.
Ich, Askra Sakhi, der ich diese Zeilen schreibe, war groß über alle Jünglinge von Narwan durch die Gunst der Königin Tulbend. Mein Glück dauerte bis zu dem Tage, wo das beschädigte Schiff der Bartmänner aus Europa von den Frauen mit Gewalt an unseren Strand gezogen wurde. –
Fräulein v. Pöchlar machte eine Pause. Diesen Augenblick benutzte Frau Farina, um mißtrauisch zu fragen: Und das alles steht auf der einen Schriftseite?
Ich bitte nicht zu unterbrechen, sagte Griebenthal mit Nachdruck.
Er sah auf einmal ganz unheimlich aus. Sein hageres Gesicht hatte etwas Eulenartiges bekommen, und die tiefliegenden, sonst immer freundlichen Augen brannten ganz innen wie glühende Kohlen.
Frau v. Pöchlar wollte die Unglücksschrift vom Tische nehmen, aber Griebenthal legte schwer die Hand darauf.
Lesen Sie weiter, gebot er dem Fräulein.
Und Asta las mit einer fremden singenden Stimme, die von weither zu kommen schien, wie auswendig fort: Es waren viele Geräte und Instrumente an Bord, die den Männern aus Europa zu Zwecken der Wissenschaft gedient hatten. Diese wurden alle herausgeholt und dann das Schiff in Brand gesteckt wie alle fremden Schiffe, die auf Narwan landen. Die Männer, die ganz erschöpft waren, pflegte man gut und brachte sie wieder zu Kräften. Zwar konnte niemand von den Einheimischen mit ihnen reden, aber auf der Nordspitze der Insel wohnt schon seit vielen Jahren ein ganz einsamer fremder Mann von gelber Hautfarbe und klein von Wuchs, der alle Völker der Erde kennt, unsere Sprache erlernt hat und wie einer der Unseren geworden ist. Er verstand viele künstliche Dinge zu fertigen, die ihm die Gunst der Königin eingebracht hatten, darunter eine Sonne, die die ganze Nacht im königlichen Palaste scheint. Weil er außer seinen wirklichen noch ein paar Zauberaugen besitzt, die er nach Belieben vor- und rückwärts schrauben kann, um damit auf das Meer zu schauen, nennt ihn das Volk Muni Kawa, das bedeutet ›Schneckenauge‹. Dieser Muni Kawa wurde zu den Bartmännern geführt, und es gelang ihm, sich mit ihnen zu verständigen.
Eines Tages schickte die Königin Tulbend ihren Gästen Blumenkränze, was in der Sprache von Narwan heißt: Ihr seid bei mir zum Mahle geladen. Nicht schön war der Anblick der Männer Europas unter den Blumenkränzen, als sie in den Saal der Königin Tulbend traten. Viele von ihnen trugen seltsame Gläser vor den Augen, einigen reichte die Stirn bis zum Hinterhaupt, andere hatten graue, stachlige Bärte. Aber unter ihnen war ein Knabe, der war auf ihrem Schiff der Geringste gewesen, denn er hatte die Bohlen gescheuert, das Geschirr gewaschen und manchen Fußtritt von den Bartmännern eingenommen. Den wollten sie nicht mitbringen, weil sie sich seiner schämten. Doch der Knabe drängte sich keck in den Saal, denn er hatte auch einen Blumenkranz erhalten. Er war schön von Wuchs, und der Blumenkranz stand lieblich zu seinem schwarzen krausen Haar. Und er gefiel der Königin so wohl, daß sie ihn an ihrer Seite sitzen ließ. Die Bartmänner aber saßen verteilt zwischen den Frauen des Hofes, und es kränkte sie, daß der Knabe, den sie verachteten, über alle erhöht saß. Hinter jeder der Frauen stand ein Jüngling mit einem Saitenspiel, und alle verharrten in tiefem Schweigen, denn es gilt in unserem Lande nicht für ziemlich, daß ein Mann in Gegenwart der Frauen unaufgefordert die Stimme erhebe. Ich, Askra Sakhi, stand hinter der Königin und dem Knaben. Nur den fremden Gästen löste die Königin das Schloß des Mundes, indem sie nach den Sitten ihrer Länder fragte, und ihre Antworten übersetzte Schneckenauge. Da vernahmen die Jünglinge von Narwan zum erstenmal, daß in Europa die Männer regieren. Und allen erbebte das Herz, daß die Lauten von selbst in ihren Händen erklangen. Alsbald ließ die Königin die Gespräche verstummen und befahl den Lautenschlägern zu spielen. Der Knabe aber sprang auf und tanzte zum Klang der Musik einen Tanz seiner Heimat, wobei er die Arme erhob und sich wirbelnd um sich selber drehte, und am Schluß kniete er nieder und legte seinen Blumenkranz zu den Füßen der Königin. Da reichte sie ihm aus ihrem eigenen Becher zu trinken und sprach zu ihm in lieblichem Tone: Meinem jungen Freunde gefalle es jetzt, von seiner Seefahrt zu erzählen.
Der Knabe begann und log, daß er der Führer dieses Schiffes gewesen und daß alle diese Grauköpfe und Bartmänner ihm gedient und was für große Taten er verrichtet hätte gegen Sturm und räuberische Seefahrer. Die Königin aber glaubte alles, denn ihr Herz fand Freude an dem Knaben, und meine betrübten Augen mußten sehen, wie sie sich immer näher rückten und wie unter dem Tisch ihre Knie sich fanden. Die Bartmänner aber zürnten heftig, und der mit dem Stachelbart, ein großer starker Mann, der das Schiff geführt hatte, fuhr auf und hieß den Knaben in seiner Sprache schweigen. Da ließ der Knabe die Länge seiner Zunge sehen, was nicht schön und bei den Bartmännern, wie es scheint, eine Beleidigung ist. Denn der Alte sprang voll Wut in die Höhe und gab dem Knaben an der Seite der Königin einen mächtigen Schlag auf die Wange. Der Knabe schrie, die Königin warf sich zum Schutze über ihn und befahl, den Bartmann zu verhaften. Der aber wehrte sich, die anderen Fremden sprangen ihm bei, sie schwangen die Tischmesser, zerschmetterten die Geräte des Zimmers, und im Nu war alles voll Lärm und Blut und Getümmel. Viele von unseren Jünglingen hielten aber zu den Fremden, denn da sie gehört hatten, daß in Europa die Männer regieren, wollten sie den Frauen nicht länger gehorchen. Auch ich, Askra Sakhi, war unter ihnen. Der fremde Knabe aber lag, mit einem Messer im Rücken, tot am Boden, und die Königin wehklagte laut, und alle Frauen verloren den Mut, als sie diese Taten sahen. Wir aber schlugen uns durch, zogen durch alle Straßen und riefen die männliche Jugend von Narwan zur Freiheit auf. Wir erbrachen auch die ummauerten Höfe und die festen Zäune und bewaffneten das Wegesende mit Sensen und Heugabeln. Und wir hätten jenes Tages die alte Ordnung in Narwan unter der Führung der Fremden umgestürzt, wenn der große Tmu uns gnädig gewesen wäre. Aber die Jünglinge, deren Herz an den Frauen hängt, fielen von uns ab und unterwarfen sich aufs neue. Sie vereinigten sich mit den Lanzenmädchen und griffen uns von zwei Seiten an, und es kam zu einer gewaltigen Schlacht, wobei viele von den Fremden erschlagen wurden. Das Wegesende, das keine Führer mehr hatte, zerstreute sich und warf die Waffen weg, und die meisten kehrten freiwillig in ihre Höfe und hinter ihre Zäune zurück. Ich selbst aber wurde mit den Bartmännern aus Europa gefangen gesetzt. Man klagt mich an, den fremden Knaben im Getümmel getötet zu haben, und der Zorn der Königin ist so groß, daß sie mich schon dem Knaben nachgesendet hätte, gäbe es nicht ein Gesetz in Narwan, wonach keiner der Väter am Leben bestraft werden kann. Die Bartmänner sitzen in enger Haft, und man weiß nicht, was ihr Schicksal sein wird. Muni Kawa, der an dem Aufstand keinen Teil genommen hat und frei bei ihnen aus und ein geht, hat ihnen Schreibzeug gebracht und jeden veranlaßt, seine Geschichte in der Sprache seines Landes niederzuschreiben und sie in einer der gläsernen Flaschen, die mit den Schiffen hierhergekommen sind, gut zu verschließen. Auch mir riet er, einen Flaschenbrief zu schreiben, ob vielleicht an irgendeiner Küste eine der unseren ähnliche Sprache gesprochen und unsere Schrift verstanden wird. Diese Flaschen will er alle zusammen auf der Nordspitze der Insel, wo die Strömung am stärksten ist, dem Ozean übergeben. Und wir beten zu dem großen Tmu, daß von den Flaschen wenigstens eine die Küste eines fremden Landes erreiche und daß von jenem Lande die Männer sich aufmachen, um Narwan aus den Händen der Frauen zu erlösen und uns Gefangenen die Freiheit wiederzugeben. Am Tode des Knaben aber bin ich unschuldig, so wahr Tmu, der unser aller Vater ist, mir helfe. –
Das Fräulein hatte geendet und sah sich wie erwachend um. Kollege Kräkeler klappte sein Merkbuch zu und wischte sich die Stirn. Griebenthal küßte dem Fräulein die Hand. Alle schwiegen zunächst. Der Maler saß wie verzaubert und staunte mit großen treuherzigen Kinderaugen dem Gehörten nach.
Frau Farina fand zuerst ihren Humor wieder: Als Frau, sagte sie, lege ich keinen Wert darauf, Gefangene zu befreien, die sich gegen die weibliche Oberhoheit vergangen haben. Mögen sie in Narwan bleiben und meinetwegen ihr Dasein in den Ställen beim Wegesende beschließen.
Jetzt wurde der Kadett von einer unbändigen Lustigkeit ergriffen. O Narwan, Narr–wan, Narrenwahn, vergönne mir der große Tmu, an deiner Küste zu stranden, bevor mir die Haare ausfallen und auf meinem Kinn ein Stachelbart wächst! – Dabei warf er die Glieder in die Luft und begann einen Insulanertanz aufzuführen, mit dem er, wie er sagte, das Herz der Königin Tulbend bezwingen wollte.
Frau v. Pöchlar hielt sich die Ohren zu, das Fräulein ergriff einen Fliegenwedel und jagte den lärmenden Neffen zur offenen Haustür auf den dunklen Strand hinaus, wo er unter dem Sternenhimmel seinen Tanz fortsetzte. Wir alle folgten.
Beim Hinausgehen sagte Merian kopfschüttelnd: An Narwan zu glauben ist unmöglich, aber daß das alles schlankweg erfunden sei, nur so im Handumdrehen erfunden, halte ich für noch unmöglicher.
Herr Merian, Sie sind doch der beste aller Männer, rief ihm das Fräulein nach, und sich verbessernd setzte sie hinzu: versteht sich, nach Herrn v. Griebenthal.
Die beiden Gläubigen gingen von hinnen, ohne zu fragen, womit sie eigentlich das Lob verdient hatten.
Als ich auf dem Heimweg gegen Griebenthal einige Scherzworte über die Insel Narwan fallen lassen wollte, kam ich an den Unrechten.
Es versteht sich, sagte er, daß in der kurzen Schrift nicht alles stehen kann, was uns das Fräulein vorlas; sie blickte ja auch gar nicht mehr hinein. Aber warum sollten sich nicht bei der Berührung des Stoffs in ihrem Geiste die Zustände des Ortes gespiegelt haben, aus denen er herkommt? Ich leugne nicht, daß sie aus Mutwillen allerlei dazugefabelt hat, ich habe es sogar jedesmal an ihrem Puls gespürt. Es gibt überhaupt keine reine Übermittlung geistiger Botschaften, weil das Medium mit seinen menschlichen Eigentümlichkeiten dazwischensteht. Aber die Echtheit der Mitteilung im ganzen wird davon nicht berührt.
Ich versuchte keinen weiteren Widerspruch. Jedenfalls hatte das Fräulein erreicht, worauf es ihr anzukommen schien: niemand dachte mehr daran, ihr den Fund abzufordern, und nach der Entdeckung der Insel Narwan war von keiner Anzeige beim Hafenamt mehr die Rede.
*
Der Sommer war vorgerückt, mein Urlaub ging zu Ende. Auch die Damen v. Pöchlar rüsteten zum Aufbruch. Auf den Vorabend ihrer Abreise luden sie alles, was noch von der Tafelrunde übrig war, zur Pfirsichbowle in ihr Strandhäuschen.
Als wir uns an ihrem köstlichen Gebräu gelabt hatten, begann das Fräulein: Wir dürfen nicht auseinandergehen, ohne daß ich den verehrten Anwesenden für den Anteil gedankt habe, den Sie, der eine mehr, der andere minder warm (dabei blickte sie lächelnd in der Runde) meiner Flaschenpost und den unglücklichen Gefangenen auf Narwan entgegenbrachten. Um Askra Sakhi und die Königin Tulbend haben Sie sich ja wohl keine ernstlichen Sorgen gemacht. Aber über den Flaschenbrief selbst, der so viele Gemüter an diesem Strand beschäftigte, bin ich Ihnen eine Aufklärung schuldig. Nicht nur das ängstliche Gewissen meiner Mutter, das mir keine Ruhe mehr läßt, auch der eigene Ehrgeiz drängt mich dazu, denn es ist schmerzlich, sein Licht immer unter dem Scheffel brennen zu lassen. Sie, Herr Merian, haben das Gutachten abgegeben, daß ich viel zu talentlos sei, um solche Buchstaben zu malen –
Bitte sehr, entgegnete der Angeredete, meine Meinung ging dahin, daß weder Sie noch ein anderer Mensch –
Gut. Mein Neffe wiederholt mir seit drei Wochen: Wenn ich nicht durch Herrn v. Merian wüßte, daß du zum Malen durchaus kein Geschick hast, so würde ich dich für die Täterin halten. Nun wohl, ich bin die Täterin. Die rätselhafte Schrift habe ich geschrieben, und zwar mit der größten Geschwindigkeit, ohne alles Studium noch Vorbereitung, wie mir's gerade in die Finger kam, denn die Zeit drängte. Ich gestehe, ich bewunderte sie selbst und wäre nicht imstande, sie ein zweites Mal herzustellen. Aber der Drachenritter muß die Zunge des Drachen zeigen, damit ihm geglaubt wird. Hier ist mein Wahrzeichen.
Dabei legte sie zwei feste weiße Zeugstreifen auf den Tisch.
Sie haben soviel über die Herkunft des Stoffes gestritten, auf den die Schrift geschrieben ist. Betrachten Sie ihn gut, er ist wirklich in unseren Breiten gewachsen. Er ist ein Stück durchtränkter Leinwand, das ich in einer alten Kopierpresse als Löschblatt fand und mit mir nahm. Ich ahnte nicht, wie gut es mir dienen würde. Daraus schnitt ich den Inhalt für die Flasche zurecht. Sie sehen: die abgeschnittenen Streifen passen der Schriftrolle wie die Drachenzunge dem Drachenkopf.
Fräulein v. Pöchlar, ich verehre Sie, so wahr der große Tmu mir helfe, und werde niemals wieder an Ihren allseitigen künstlerischen Fähigkeiten zweifeln, sagte Hans Merian und leerte feierlich sein Glas, während seine Frau ging und Asta umarmte.
Und was sagt nun die Presse zu der Enthüllung?
Rasch ergriff ich den Bowlelöffel, um die Gläser frisch zu füllen.
Aber Kollege Kräkeler lehnte sich mit abweisender Miene in den Stuhl und sagte spitz: Es ist leicht, über die Gefoppten zu lachen, doch läßt sich die Gläubigkeit einigermaßen entschuldigen, wenn man bedenkt, daß Fräulein v. Pöchlar geruhte, ein Ehrenwort zu geben.
Ja, und mit dem reinsten Gewissen, rief diese, indem sie ihn groß und fest ansah.
Das geht über meinen gemeinen Menschenverstand, antwortete er kühl.
Es ist sehr einfach. Ich war im Bad und sah die Flasche mit der Muschelhülle draußen treiben, und weil ich an einen Flaschenbrief dachte, schwamm ich ihr nach. Sie enthielt nichts als ein wenig Wasser. Kein Gedanke an ein solches Unterfangen war in meiner Seele. Ich scherzte nur, indem ich den Herrn erzählte, es befinde sich eine Schrift in ihrem Bauch. Da sagte mir mein Neffe auf den Kopf zu, daß ich den Streich verübt hätte. Mit vollem Fug und Recht gab ich ihm mein Wort, nichts dergleichen getan zu haben. Dann aber ging ich hin – und tat's!
Alle lachten und riefen Beifall.
Ich hob mein Glas: Ich bin gewiß, die Empfindung aller Anwesenden auszusprechen, wenn ich Fräulein v. Pöchlar unserer unbegrenzten Bewunderung versichere. Sie haben unseren Scharfsinn während dieser erschlaffenden Sommertage zu unermüdlichen Leistungen angespornt, Sie haben unsere geographischen, ethnographischen, linguistischen Begriffe in ungeahnter Weise erweitert und ganz neue Vorstellungskreise erschlossen. Wie eintönig wäre unser Leben gewesen ohne den Ausblick auf Narwan! Sie haben auch die Presse in Brot gesetzt und das Auge aller Gebildeten auf diese stille Küste gezogen. Einheimische und Badegäste schulden Ihnen dafür den tiefsten Dank. Ich bitte alle Anwesenden, einzustimmen in den Ruf: Fräulein Asta von Pöchlar, die Entdeckerin von Narwan, die Begründerin einer neuen überseeischen Verbindung, lebe hoch!
Hoch, hoch, hoch! schrie alles durcheinander. Als Griebenthal mit seinem Glas zu der Gefeierten trat, sagte sie mit schelmischer Zerknirschung: Sie wollten nicht glauben, daß es so schlechte Menschen gebe. Wie stehe ich jetzt vor Ihnen da?
Er küßte ihr ritterlich die Hand: Es kommt immer darauf an, wie und durch wen eine Sache geschieht, gnädiges Fräulein.
Da riß sie sich aus dem Andrang der Gäste los, eilte ans Klavier und spielte einen flammenden Marsch.
Frau v. Pöchlar drückte mir gerührt die Hand. Wie froh bin ich, daß es nun alles am Tage und auch verziehen ist, sagte sie. Ich fürchtete, das Angstkind komme gar nicht mehr mit Ehren aus dem Wirrsal, das sie angerichtet hat, heraus.
O verehrte gnädige Frau, wie schlecht kannten Sie Ihre Tochter! –
… Nach der Abreise der Damen war der Strand wie ausgestorben. Ich eilte, meinen Koffer zu packen.
Als ich aus der Ortschaft zurückkehrte, wo ich mir den Wagen zur Eisenbahn bestellt hatte, begegnete ich Griebenthal, der mit der Ruhe eines Weisen langsam am Strande hinwandelte und sein altes Gleichmaß völlig wiedergefunden hatte.
Nun, Herr v. Griebenthal, glauben Sie noch immer an die Insel Narwan? konnte ich mich nicht enthalten zu fragen.
Weshalb sollte ich nicht mehr daran glauben? antwortete er gelassen. Der Menschengeist kann nichts erfinden, das nicht irgendwie auf Wahrheit beruhte. Alle Entdeckungen senden ihre Strahlen voraus. Alle Märchen enthüllen sich einmal als Tatsachen. über kurz oder lang wird man auch die Insel Narwan entdecken oder das, was zu ihrer Spiegelung im Geiste des Fräuleins Anlaß gab.
Er sah mich dabei mit ruhiger Sicherheit an. Ob er im Ernste sprach, weiß ich nicht.