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Der Meermann.

Der verdiente, unlängst verstorbene Algenforscher Balduin Semmler machte vor etlichen Jahren, als in der Welt noch Friede herrschte und die Völker harmlos miteinander verkehrten, an der tyrrhenischen Küste die Bekanntschaft des Meermanns. Nicht unsres nordischen sagenberühmten, sondern einer bis dahin unbekannten südländischen Abart. Das ging so zu: Er hatte zum Zweck des Algensammelns eine Küstenstrecke gewählt, wo durch wiederkehrende Meeresströmungen zu gewissen Zeiten die Tiefseepflanzen besonders reichlich abgelagert werden. Das Häuschen, das er bewohnte, lag auf tellerflachem Strande so nahe ans Wasser gebaut, als die Tücke des Meeres es zuläßt, und gehörte zu einer landeinwärts gelegenen dörflichen Ansiedlung, die zum größten Teil aus Frauen bestand. Die jüngeren Männer, ein Geschlecht von Seeleuten, waren fast alle draußen auf langer Fahrt. Kamen sie vorübergehend nach Hause, so gaben sie sich mit großer Ausdauer dem Trunke hin, denn es wächst im Sande jenes Küstenstreifens ein Wein von verführerischer Güte und Billigkeit. Dabei leisteten ihnen die Alten Gesellschaft, die von ihren Seefahrten daheim bei Weib und Kindern ausruhten. Die Bestellung der Felder und der sonstigen eigentlichen Geschäfte, ausgenommen das bißchen Fischfang, lag zumeist in den Händen der Weiber, die davon ein solches Übergewicht bekamen, daß die Häuser durchweg nicht nach den männlichen Besitzern, sondern nach deren Frauen benannt wurden.

Nur das einstockige Häuschen, in dem Semmler sich eingemietet hatte, machte von der Regel eine Ausnahme. Es hieß das Haus des Seeräubers. Der Besitzer hatte nämlich seit einer Reihe von Jahren sein wässriges und dürftiges Handwerk mit einem ergiebigeren vertauscht, indem er eine stattliche, aber nicht mehr recht seetüchtige Fischerbarke, eine sogenannte Paranzella, mietete, sie schön bunt anstrich und darauf einen Weinschank mit Garküche errichtete. An einer sehr urtümlichen Feuerstatt auf Deck hantierte der Wirt selber hemdärmelig mit großer Geschicklichkeit, indem er Fische in Öl und Tomatenbrühe schmorte und andere gaumenreizende Gerichte herstellte, die vorzüglich schmeckten, wenn man sie ausreichend mit Wein begoß. Ein leichter Brettersteg führte auf die schwimmende Osteria hinüber. Zum Vergnügen der Ausflügler, die am Sonntag scharenweise von den Marmorbergen ans Meer herunterkamen, war auch ein großes Netz an der Barke angebracht, das mit Leichtigkeit niedergelassen werden konnte. Jeder Zug kostete zwei Soldi, fast immer kam es leer herauf; fing sich einmal ausnahmsweise ein Fisch darin, so wurde er gleich in siedendem Öl gebrozelt und gehörte dem Gewinner. Wenn Kinder oder Bergarbeiter um den Weg waren, so stand das Netz keinen Augenblick stille. Bänke und Tische mit Gläsern standen umher, mitunter wurde auf dem engen Deck sogar getanzt; im untern Schiffsraum aber befanden sich große Weinvorräte, zu deren Bewachung der vierzehnjährige Fortunato, ein Teufelsjunge, des Nachts an Bord mit dem Revolver schlief. Er war Semmlers besonderer Freund, denn er verdiente sich durch Aufstöbern schöner Algen für den Fremden ein kleines Taschengeld. Einen besonderen Schmuck dieser eigentümlichen Osteria bildete eine roh gemalte, sehr grelle Farbenskizze, die unterhalb des Sonnensegels befestigt war, und die ein kämpfendes Korsarenschiff darstellte; ein Farbenkünstler, der am Strand malte, hatte sie bei der Abreise zurückgelassen. Nach diesem Bilde, das gewissermaßen als Wirtsschild diente, nannte man die verankerte Schenke kurzweg ›den Korsaren‹, welche Bezeichnung dann mit der Zeit auf den Wirt selber überging.

Bei Einbruch der Dunkelheit wurden an Bord bunte Papierlaternen in den Landesfarben angezündet, und nun fanden sich erst die richtigen Gäste ein, die nichts mehr nach Geschmortem fragten und nur noch tranken. Denn der ›Korsar‹ war der einzige Ort, wo ein anständiger Mensch einen Tropfen trinken konnte; in die Bettola auf der Piazza gingen nur die Lumpe. So schied sich die Einwohnerschaft ganz von selbst in zwei reinliche Hälften: Lumpe und anständige Leute. Unter den letzteren saß dann der Wirt am Abend und trank. Es kostete ihn nichts, die Gäste hielten ihn meist in seiner eigenen Schenke frei, dafür tischte er ihnen seine weit und breit bekannten Abenteuer auf. Nach diesen Geschichten hieß die Paranzella bei den Deutschen, die an der Küste verstreut lebten und zuweilen des berühmten Weines wegen beim Seeräuber einsprachen, auch die ›Lügenbude‹. Erstaunlich war die Erfindungsgabe dieses Mannes, der die unsterblichsten Lügenmärchen alter und neuer Zeit übertrumpfte. Und dabei machte er nirgends eine Anleihe, da er in seinem Leben kein Buch gelesen hatte; er schöpfte alles aus der eigenen Phantasie. Es war noch ein kleiner Sarde da, braun und sehnig mit verschmitztem Gesicht, der ihm im Lügen die Stange hielt. Wenn beide einmal gleichzeitig ihren guten Tag hatten, so brüllten die Gäste vor Vergnügen, und es ging niemand vor Mitternacht nach Hause. Gespielt wurde gleichfalls, versteht sich, mit ungestempelten Karten. Auch andere heimliche Dinge trugen sich dort zu, von denen jedermann wußte und niemand sprach. Neugierige Fremde wollten schon seltsame Lichtzeichen beobachtet haben, mit denen der Seeräuber des Nachts aufs Meer hinauswinkte. Gelegentlich wurde das Hafenkommando neugierig, was wohl der Bauch des Korsaren außer den Fiaschi enthalte, und schickte ein paar Finanzsoldaten herüber, um zu untersuchen. Aber das waren umgängliche Leute und zudem so schwach an Zahl, daß sie gar keinen Wert darauf legten sich mit den Strandsassen zu verfeinden. Ihrem Kommen ging jedesmal ein warnendes Lüftchen voran, das alle in der Nase kitzelte; wenn sie da waren, wurden sie mit dem besten Wein bewirtet und fanden alles in der schönsten Ordnung. Sie erstatteten ihren Bericht beim Hafenmeister, und eine Weile blieb der Seeräuber wieder ungestört.

Eines Morgens ging Semmler früh mit Sonnenaufgang an den Strand. Die See war mehrere Tage stark bewegt gewesen und hatte sich erst in dieser Nacht vollends ganz beruhigt: solche Morgen versprachen immer die schönste Ausbeute an Algen. Richtig hatte er kaum ein paar Schritte auf dem feuchten Sande gemacht, als er ein Prachtstück fand vom entzückendsten Farbenschmelz: ineinanderfließendes Rot und Grün von einem zarten Silberhauch übergossen. Es war eine Art, nach der er lange gesucht hatte. Und nicht bloß ein Stück fand er von der seltenen Gattung, sondern in kurzen Abständen gleich ihrer mehrere, wenn auch nicht alle von gleicher Schönheit. Ein solches Finderglück war ihm seit Wochen nicht beschert gewesen. Menschen gab es in dieser frühen Stunde noch keine, um so befreiter atmete der neugeborene Strand. Der Spaziergänger konnte so recht mit Lust die verschlungenen Arabesken verfolgen, die das huschende Eidechsenvolk über Nacht mit seinen Füßen und Schwänzchen im Sande eingezeichnet hatte, und daneben die zierlichen Krakelfüße der Möwen und Strandläufer. Krabben säbelten auf krummen Beinen daher, und wenn man sie mit der Fußspitze berührte, verkrochen sie sich tief in den nassen Sand. Es war wie am Schöpfungstage vor der Erschaffung Adams: man fühlte sich selbst noch wie ein Stück Natur im wehenden Schöpferhauch.

Plötzlich erblickte Semmler im Sande etwas Ungeheuerliches, vor dem sich seine Augen unwillkürlich schlossen und sein Verstand entsetzt zurückwich. Es war die Spur eines nackten menschlichen Fußes, aber von einer Größe weit über menschliches Maß hinaus. Man sah deutlich fünf Riesenzehen abgedrückt und die ungeheure Sohle wie von einer übermenschlichen Last tief in den Sand eingepreßt. Ein linker Fuß. Und dort in einem Abstand, den keine menschliche Spannweite erreichen konnte, der dazu gehörige rechte. Der Körper, der diesen Schritt gemacht hatte, trug unsere Form, aber er gehörte nicht unserer Gattung an! War über Nacht Besuch aus einem anderen Planeten gekommen? Es sah geradezu unheimlich aus, als ob der Inhaber dieser Füße, wenn er jetzt daherstapfte, den frühen Spaziergänger, der ohnehin keiner von den Längsten war, aus reinem Unbedacht zertreten könnte. Dieser ging den Fußstapfen nach, sie endigten bald auf dem trockenen Sande, wo der Wind sie verweht haben mußte. Dann folgte er ihnen rückwärts, und sein Erstaunen wuchs: sie führten ins Meer. Auf der feuchten Strecke, die das Wasser schon wieder verschleierte, war die letzte eben noch kenntlich mit der ungeheuren großen Zeh, die Ferse meerwärts gerichtet. Als er seinen eigenen Fuß zum Vergleich hineinstellte, war der Abstand einfach komisch. Doch schon füllte sich die Vertiefung mit dem steigenden Wasser, und ihre Umrisse nahmen zusehends ab. Auch die übrigen Fußspuren begannen unter der aufquellenden Feuchtigkeit zu schwinden. Und weit und breit keine Menschenseele, die er zum Zeugen der naturwidrigen Erscheinung nehmen konnte, ehe die Elemente sie wieder auslöschten! Er prägte sich genau die Stelle ein: sie lag schrägüber von seiner Wohnung. In dieser Richtung hatte in letzter Nacht weit draußen im Meere ein rötliches Licht gebrannt, dessen Schein durch das seitliche Fenster auf sein Bett gefallen war und ihn geweckt hatte. Konnte da irgendein Zusammenhang sein?

Er packte seine Algen ins befeuchtete Taschentuch und trug sie nach Hause. Sobald er sie in frisches Wasser gelegt hatte, klopfte er an die Hütte, in der seine Wirtsleute schliefen, eine elende Holzbaracke inmitten des Rebengartens hinter dem eigentlichen Haus. Es dauerte einige Zeit, bis auf sein Rufen und Pochen ein mißmutiges Grunzen antwortete. Der Mann war augenscheinlich wieder einmal spät nach Mitternacht zu Bett gegangen; an solchen Tagen pflegte er tief in den Morgen hinein zu schlafen, und seine Laune war alsdann nicht die rosigste. Aber auch die Frau ließ sich noch nicht blicken, die sonst um diese Zeit schon immer ihre Hühner und Schweine gefüttert hatte.

Semmler klopfte nochmals: Alter Seeräuber, kommt endlich heraus, wenn Ihr noch sehen wollt, was für erstaunliche Menschenfüße unser Herrgott wachsen läßt.

Ein halblauter Fluch und ein Gepolter von herumgeworfenen Gegenständen waren die Antwort.

Darüber kam dem Wartenden plötzlich – er wußte nicht – wie ein Traum aus der vergangenen Nacht in Erinnerung.

Ihm hatte geträumt, ein ehemaliger Schulkamerad, der schon in ganz früher Jugend mit seinem Vater nach Kuba ausgewandert und seitdem Besitzer einer großen Tabakspflanzung in Portorico geworden war, komme ihm durch den Rebengang, in dem er jetzt stand, entgegen. Er erkannte ihn gleich, obschon er ihn seit Jahren nicht gesehen und auch wer weiß wie lange nicht an ihn gedacht hatte. Als er ihn anrief, antwortete der Ankömmling schnell und fröhlich: Freilich bin ichs. Ich habe alle meine Geschäfte drüben aufgesteckt und bin herübergekommen, dem Seeräuber seinen Pinienwald abzukaufen, den ich durch ein ganz neues Verfahren in eine Tabakspflanzung verwandeln will.

Auf die Einwendung, daß es nur dürrer Sandboden sei, entgegnete der Kubaner: Der gerade ist am allereinträglichsten, man braucht ihn nur gut mit Algen zu düngen, und darin besteht meine Erfindung.

Während sie noch redeten, befanden sie sich schon mitten in dem verwandelten Pinienwald, der sich gleichsam aus dem Boden herausgedreht hatte, um die beiden aufzunehmen. Dabei schlug dem Träumer ein mächtig starker, beizender Geruch entgegen. Er wunderte sich jedoch nicht im geringsten, denn es war ihm im Traume völlig klar, daß wenn man den Boden mit Algen des Meeres dünge, der Tabak infolge der Salzlauge schon gebeizt wachsen müsse; das schien ihm das Ei des Kolumbus zu sein, und er freute sich, daß es gerade sein Freund gewesen, dem der folgenreiche Fund aufstieß. Dagegen befremdete es ihn, daß an den Tabakspflanzen, die genau so hoch standen wie zuvor die Pinien und ihnen auch merkwürdig ähnlich sahen, schlanke, längliche Zapfen niederhingen, die nichts anderes waren als die fertigen Zigarren.

Der Freund sagte vergnügt: Das ist eben meine Neuerung. Von jetzt an kann es keine Klagen über schlechtes Deckblatt noch Füllung mit Frauenhaar oder ähnliche Scherze mehr geben, denn was die Natur selber macht, ist vollkommen. Jetzt können alle Tabaksfabriken schließen, und ich werde der reichste Mann der Welt.

Darüber war der Träumer erwacht, aber zu seiner Verwunderung wollte der Tabaksgeruch nicht weichen. Durch das offene Fenster schien die scharfe Beize hereinzudringen, das ganze Haus schien davon erfüllt zu sein. Es fiel ihm ein, daß es auch Geruchshalluzinationen gebe und daß diese für ein Zeichen von Nervenzerrüttung gelten. Doch als er darüber nachdenken wollte, lullte ihn das Meer wieder ein, und morgens beim Aufstehen war das Traumbild zusamt der Begleiterscheinung verflogen. Aber seltsam! Jetzt eben, wo er sich unter dem Rebengang auf den närrischen Traum zurückbesann, war auch die Geruchstäuschung wieder da, denn es roch in der frischen Morgenluft abermals nach Tabak.

Die Seeräuberin war mit dem Futterkübel herausgekommen. Diese Frau war seit dem ersten Tage Semmlers Alpdrücken. Sie hatte ein Gesicht, das einmal schön gewesen sein mußte, jetzt aber aussah wie eine vorgebundene Maske mit eingeschnittenem Lächeln in den Mundwinkeln. Um nichts in der Welt hätte er ihr die Maske abnehmen mögen, um zu sehen, was allenfalls dahinter sei. Als einmal ein Sonntagsausflügler beim Baden ertrank und alles schreiend und jammernd an der Unglücksstelle zusammenlief, da hatte sie dem Schreckensauftritt mit demselben wohlwollenden Lächeln zugesehen, mit dem sie jetzt Guten Morgen sagte. Nebenbei war sie die Gewinnsucht in Person. Fast in jeder Rechnung, die sie ihm vorlegte, fand sich irgendein fragwürdiger Posten, den es am besten war ohne Erörterung zu begleichen, sonst kehrte er das nächste Mal in vergrößerter Gestalt zurück. – Vergrillt und brummig folgte ihr der Alte, sein gichtisches Bein nachziehend. Er murmelte etwas von einer schlaflosen Nacht und Gliederreißen, seinem alten Übel, das er der vielen Feuchtigkeit zuschrieb, der er im Leben ausgesetzt gewesen; nach der Meinung anderer rührte es vielmehr von der Feuchtigkeit her, die er innerlich zu sich nahm. Nach solchen schlaflosen Nächten sah er neben seiner wohlerhaltenen Ehehälfte ganz zerfallen aus. An jenem Küstenstrich nehmen sich die Frauen durchgehends jüngere Männer. Von Rechtswegen pflegt es ein Abstand von drei bis fünf Jahren zu sein, das harte Leben auf dem Meere und der Wein gleichen den Unterschied bald aus. Semmlers Hauswirt hatte sich etwas mehr anstrengen müssen, denn für ihn galt es einen zehnjährigen Vorsprung einzuholen, aber es war ihm doch über Bedarf gelungen. So, wie er dastand, das Gesicht von tausend Runzeln geackert, schien er der weit Ältere zu sein. Aber dennoch sah man viel lieber in diese Zerstörung, die noch einen Rest von seemännischer Gutmütigkeit zeigte, als in die glatten Züge seiner Seeräuberin.

Der Alte hörte Semmlers Schilderung von den Riesenfußstapfen kopfschüttelnd an und folgte ihm mit ungläubigem Lächeln: jener wußte schon, daß er alles Wunderbare abzulehnen pflegte, das nicht aus seiner Phantasie geboren war. Natürlich kamen sie zu spät, das Meer war inzwischen gestiegen und hatte die Spuren vollends weggesogen. Der Seeräuber geriet nun in die beste Laune, die frische Morgenluft schien seinem Brummschädel wohlzutun.

Sie wanderten zusammen zu dem kleinen Flüßchen, das tausend Schritte vom Haus ins Meer ging, – es hatte keinen Namen, alle nannten es nur das Flüßchen. Da – o Himmel, was für ein Anblick! – der steile Rand, den die Leute erst gestern dem verschlammten Bette gegraben hatten, war an einer Stelle unter dem gewaltigen Tritt eines nackten Riesenfußes eingestürzt. Die Fußspur war an den eingebrochenen Stellen deutlich zu erkennen, und innen lag ein mächtiger Sandbrocken, über den das Wasser rann.

Am jenseitigen Ufer war ein ebensolcher Einbruch und eine Fußspur, die aufwärts deutete. Der Alte stand und starrte, das Lächeln war aus seinem Gesicht geschwunden.

Teufel, Teufel!

Mit einem Schritt über den Fluß! Nun seht Ihr's selbst. Was sagt Ihr dazu?

Was soll ich dazu sagen? Nichts sage ich. Ich verstehe es nicht.

Man macht sich aber doch über alles, was man sieht, einen Gedanken.

Ja, was machen Sie sich für einen?

Darauf konnte Semmler nichts erwidern, denn der seinige schlummerte noch ungeboren tief unter der Schwelle der Erkenntnis.

Aus dem Meere ist er gekommen, soviel ist gewiß, antwortete er. Ich sah die Stelle, wo das Ungeheuer triefend aus dem Wasser gestiegen sein muß. Dort drüben begannen die Spuren.

Da erhellte sich das Gesicht des Alten mit einem Male.

Ja, ja, es gibt so Dinge.

Er sagte es in dem schlaugeheimnisvollen Ton, mit dem er zu seinen ausschweifendsten Erdichtungen auszuholen pflegte. Der Mann hatte, wie schon gesagt, die ungeheuerste Seemannsphantasie an der ganzen Küste; es genügte, daß man ihm ein Stichwort lieferte, so wuchsen ihm von selbst die Schwingen, und er vergaß dann die irdischen Nebenzwecke, die sonst das Gespräch mit ihm zu einem diplomatischen Verfahren machten. Was seinen Geschichten an Wahrscheinlichkeit gebrach, das pflegte er durch eine verblüffende geographische Genauigkeit nach Längen- und Breitengraden zu ersetzen; freilich durfte man seine Angaben hernach nicht mit der Karte vergleichen wollen. Dafür verlangte er auch keinen buchstäblichen Glauben, sondern war zufrieden, wenn er die Lacher auf seiner Seite hatte. Kaum daß ihm der Aufstieg des Ungeheuers aus dem Meere einen Anhalt gab, so war schon sein Geist in voller Tätigkeit, und er brachte eines seiner blühendsten Lügenmärchen zum Vorschein. Im Stillen Ozean, so behauptete er, zwischen Desolation Island und Kap Horn, ungefähr auf dem 54. Grad südlicher Breite, sei einmal eine Insel untergegangen, und alle ihre Bewohner ins Meer geraten.

Ihr wollt sagen, daß sie ertrunken sind? fragte sein Zuhörer.

J wo! Nicht einer ertrank von den Halunken. Sie konnten es aushalten, sie hatten Zeit sich anzugewöhnen. Die Insel versank ja nicht plötzlich, sie zerbröckelte so ganz allmählich. Die Leute konnten noch lange auftauchen und auf den Klippen sitzen, bis ihre Atmung sich angepaßt hatte.

Semmler war von diesem verheißungsvollen Anfang gleich ganz gewonnen. – Mir scheint, ich sehe sie sitzen und schnappen, sagte er. Ich sah einmal zu, wie Kaulquappen zu Fröschen wurden; die hatten eine ähnliche Not, sich zwischen dem Nassen und dem Trockenen heimisch zu machen, nur im umgekehrten Fall. Aber bitte, von was lebten Eure Meermenschen, nachdem die Umwandlung gelungen war?

Von was sie vorher auch gelebt hatten, von Fischen, Muscheln, Austern. Auch Wasservögel verschmähen sie nicht, wenn sie gelegentlich einen fangen können.

Die Schlemmer. Und bei dieser Lebensweise sind sie zu solchem Wuchs gediehen?

Sie hatten gar nicht nötig zu wachsen. Die Leute dort herum sind alle Riesen. Haben Sie denn nie einen Patagonier gesehen?

Semmler verneinte. Es war ihm zwar wenige Wochen zuvor bei einer Volksbelustigung in Lucca ein halbnackter kupferfarbener Koloß, der allerhand Kraftproben zum besten gab, als Patagonier gezeigt worden; der Riese sah jedoch trotz seinem stumpfen Gesichtsausdruck und seinen schlaffen Haaren so grundeuropäisch aus, daß er nicht wagte, ihn für seine Erfahrungen in der Völkerkunde in Anspruch zu nehmen.

Nun sehen Sie: was die Patagonier sind, wird kein Erwachsener unter drei Meter hoch. Und von demselben Schlag waren jene Insulaner. Seit sie ins Meer gekommen sind, haben sie sich nichts abgehen lassen, mit Arbeiten brauchen sie sich nicht zu plagen, mit Studieren noch weniger, ihre ganze Beschäftigung ist, auf dem Rücken liegen und das Wasser mit der Nase einziehen, um es durch den Mund wieder auszupusten. Da ist es denn kein Wunder, wenn sie körperlich gedeihen.

Seid Ihr je einem von ihnen leibhaft begegnet?

Jawohl, Herr, im Golf von Honduras. Wir lagen dort eine Zeitlang, um Zedernholz einzunehmen; ich war damals noch ein ganz junger Matrose. Aus Langerweile, weil es an jener Küste rein gar nichts gab, fuhr ich eines Abends allein im Ruderboot hinaus. Da war kein Segel, keine Rauchfahne, kein lebendes Wesen weit und breit, nichts als ödes Gewässer. Auf einmal macht es in meinem Rücken: Huhu! und wie ich mich umdrehe, ist hinter mir hart am Boot ein großer struppiger Kopf und ein mächtiger Oberkörper voll Seetang und Muscheln aufgetaucht. Sie können sich denken, wie ich mich in die Ruder legte. Der Kerl muß den Tag guter Laune gewesen sein, denn er verfolgte mich nicht, er ließ es sich am Schrecken, den er mir eingejagt hatte, genügen. Er schrie noch einmal sein Huhu! und schoß köpflings unters Wasser. Ich sage Ihnen, ein scheußliches Ungetüm!

Der arme Seeräuber stand so unter dem Bann seiner Einbildungskraft, daß er sich nachträglich vor Entsetzen schüttelte. Das machte den Zuhörer doch stutzig, ob nicht am Ende etwas Wahres an der Geschichte sei, um so mehr, als der Alte diesmal seinen gewohnten Schluß: Sie dürfen mir glauben, es ist so wahr, als ich hier vor Ihnen stehe – vergessen hatte.

Könnte es nicht vielleicht ein Seelöwe gewesen sein? Die sollen ja bis zu drei Meter lang werden.

Ein Seelöwe?! – Caro Lei! Die Seelöwen gehören ins Reich der Fabel. Ich sah das Scheusal, wie ich Sie hier vor mir sehe, denn es war heller Mondschein. Ich konnte Gott danken, daß es so abgelaufen war. Wenn er gewollt hätte, der Kerl hätte mein kleines Boot auf den Rücken nehmen und es in die Luft werfen können wie einen Fangball.

Gutmütig scheinen sie wenigstens zu sein, ermunterte der andere seine Rede.

Gutmütig sind sie schon, aber gottsträflich dumm. Sie haben alle Wasser im Kopf. Bisweilen hängt sich so ein Lümmel aus Mutwillen am Schiffskiel fest wie ein Gassenjunge an einem vorüberfahrenden Wagen und läßt sich über fünfzig Breitengrade und mehr verschleppen. Aber nur bei Segelschiffen, denn vor der Schraube fürchten sie sich. Ich fuhr einmal auf einem spanischen Segler von Pernambuko, wo wir Kohle gelöscht und Baumwolle geladen hatten, nach Lissabon. Wir hatten steifen Wind, aber wir machten kaum zwei Seemeilen die Stunde. Der Kapitän, ein Portugiese, konnte nicht begreifen, warum es so langsam ging, es war gerade, als zöge uns untersee etwas zurück. Endlich auf der Höhe der Kap Verdischen Inseln kamen wir überhaupt nicht mehr vorwärts. Der Kapitän meinte schließlich, es hätten sich vielleicht am Kiel und Rumpf allmählich so viel Muscheln angesiedelt, daß durch sie die Fahrt behindert werde. Die besten Taucher mußten hinunter und nachsehen, ich war auch von der Zahl. Da hatten wir einen Anblick! Grauenhafter und zugleich lächerlicher läßt sich gar nichts vorstellen. Denken Sie sich zehn bis zwanzig von den Kerls an den Schiffskiel festgeklammert – es können ihrer auch mehr gewesen sein, – höchst scheußlich anzusehen, grünschuppige Riesenleiber, menschenähnlich, aber ohne eine Spur von Gefälligkeit oder Anstand, mit Tang und Algen auf der Brust statt der Haare. (Es überlief ihn wieder in der Erinnerung.) Als sie unser ansichtig wurden, ließen sie vor Schrecken los und sausten alle gleichzeitig in die Tiefe. Das gab dem Schiff einen solchen Ruck, daß es mit vollen Segeln weit hinausschoß, und wir es fast nicht mehr erschwimmen konnten. – Che spavento! schloß er ausdrucksvoll, das doppelte Grauen der fürchterlichen Erscheinung und des drohenden Ertrinkens mit der Stimme malend.

Es ist sehr, sehr bemerkenswert, was Ihr da erzählt, antwortete sein Hörer ernsthaft. Aber haben denn die Staaten nie versucht, Unterhandlungen mit ihnen anzuknüpfen? Die Leute könnten ja bei der Marine großartige Dienste tun.

Die werden sich hüten. Steuern zahlen und sich zum Militär drillen lassen! Dafür sind sie nicht ins Meer gegangen.

Nun, man könnte ihnen ja die Steuern und das andere erlassen.

Wenn sie sich nur zum überseeischen Transport anwerben ließen und zum Tauchen ober zum Heben versunkener Schiffe.

Sehen Sie, die Meerleute sind neben ihrer sonstigen Dummheit auch scheu wie die Hasen. Wenn sie an Land gehen, platschen sie mit ihren Plattfüßen so herum, glotzen alles an, treiben ein bißchen Schabernack, und geht ein Entschlossener auf sie zu, so springen sie mit Geheul ins Meer zurück. Nein, sie sind zu gar nichts zu gebrauchen. Man muß froh sein, wenn man nichts mit ihnen zu tun bekommt. Sie beschädigen auch die Kabel, und es sollen sogar schon Schiffe durch sie zum Sinken gekommen sein. Sie standen vorher auf keiner hohen Stufe, und im Wasser sind sie vollends verdummt.

So war der Alte mit seinen Schnaken glücklich über die rätselhaften Fußstapfen weggeglitten. Als er aber hernach im Schatten der Rebenlaube dem Gast behilflich war die Algen aufzuziehen, obschon er nicht einsah, wozu die hinfälligen, klebrigen Dinger gut sein sollten, da steuerte er plötzlich einen anderen Kurs. Nun sollten die Spuren am Flüßchen überhaupt gar nicht über das natürliche Maß hinausgegangen und nur durch den Druck des Einbruchs erweitert worden sein. Die andern hart am Strande waren ja ohnehin nicht mehr nachweisbar gewesen. Semmler schwieg also und ließ die Sache ruhen.

Da kam ein flinkes, junges Ding eilig von der Pineta her den Rebengang herunter und wollte mit einer Entschuldigung vorbeihuschen. Doch der Alte, der gern junge Mädchen sah, hielt sie mit einem wohlwollenden: Wohin so früh, Erminia? auf.

Das Mädchen diente hinten in der Pineta bei dem Waldhüter Enoch, dem alten Trunkenbold, und sollte rasch zur Apotheke nach San Vito. Aber sie blieb ebenso gern zu einem kleinen Schwatz stehen. Und sie erzählte eine merkwürdige Geschichte.

Der Waldhüter war spät vom Wirtshaus heimgekommen (er gehörte zu denen, die ihre Räusche in der Bettola holten, wo der Wein billiger war, und er stand daher bei dem Wirt des Korsaren in schlechtem Ansehen). Wie er nun so in der halben Dunkelheit durch die Pineta tappte, stieß er plötzlich mit der Nase auf den heiligen Christophorus, denselben, der in San Vito auf die Kirchenwand gemalt ist und der damals bei der großen Überschwemmung, als alle die kleinen Gebirgsflüßchen sich zu einem wütenden Überfall zusammentaten, das Land vor dem Untergang bewahrt hatte. Nur statt des Christuskindes trug er diesmal einen schweren Sack auf dem Rücken, wahrscheinlich einen der Sandsäcke, womit man damals dem Wasser Halt gebot. Der Waldhüter war ein beherzter Mann und hielt es trotz des Größenabstands für seine Pflicht, den heiligen Christophorus zu fragen, was er da zu tun habe. Aber sein Amtseifer bekam ihm schlecht, denn statt aller Antwort erhielt er von dem Heiligen einen Nasenstüber, dessen Gewalt der übermenschlichen Hand entsprach, die ihn austeilte. Heulend und blutig fiel der arme Enoch zur Tür seiner Hütte herein und erzählte seinem Weib die unheilvolle Begegnung. Die aber schalt ihn einen alten Säufer, der einen Baumstamm für einen Heiligen angesehen und sich an dem die Nase blutig gestoßen habe. Der unerwartete Widerspruch versetzte den Trunkenen in jähe Tollwut, er bedrohte die Frau mit dem Gewehr, und als sie aus dem Zimmer stürzen wollte, sprang er nach, ergriff sie am Haar, schlug sie ein paarmal hin und her, daß sie ganz betäubt ward, und warf sie schließlich mit einem Fußtritt zur Tür hinaus. Dann zog er das Mädchen, das sich zitternd versteckt hatte, aus ihrem Winkel hervor und warf sie der Frau nach. Die beiden Frauen verbrachten die Nacht außen im Freien, hinter dem Backofen verkrochen, in der doppelten Angst vor der nächtlichen Waldeinsamkeit und vor dem wütenden Mann. Der aber kam, nachdem er ausgeschlafen hatte, am Morgen ganz sanftmütig heraus und holte die beiden wieder in die Hütte. Doch war sein Gesicht dick verschwollen, und er fürchtete, das Nasenbein sei ihm zerschlagen. Daß ihn der heilige Christophorus so zugerichtet habe, ließ er sich auch jetzt nicht nehmen. Und nun war das Mädchen unterwegs zur Apotheke, um ihm Arnikatinktur oder etwas Ähnliches für seine Nase zu holen.

Schade um Euren Meermann, daß er dem heiligen Christophorus Platz machen muß, sagte Semmler zu seinem Wirt. Der Meermann gefiel mir ja besser. Aber was Enoch gesehen hat, hat er gesehen.

Diesem Säufer mögen Sie ein Wort glauben! war die wegwerfende Antwort. – Sieht er nicht schon seit Jahren Mäuse huschen und Katzen springen, wo kein nüchterner Christenmensch etwas Lebendiges zu Gesicht bekommt?

Semmler entgegnete, soviel er gehört hätte, erscheine dem vom Säuferwahnsinn Befallenen nur kleines Getier, aber keine Riesen, doch der Alte behauptete mit dreister Stirn: Je größer der Rausch, desto größer die Erscheinungen.

Und da Semmler ein Mann des Friedens war, schwieg er lieber und dachte, die Erklärung des Wunders werde sich schon von selber einstellen.

In der Tat, sie blieb nicht aus. Ein paar Tage später kam aus dem nächsten Küstendorf die Nachricht, daß den Strandwächtern ein außergewöhnlicher Fang gelungen sei. Schon seit längerer Zeit waren sie einer weitverzweigten Schmuggler- und Hehlergesellschaft auf der Spur und hatten sich in jener Ortschaft auf die Lauer gelegt. Da war ihnen ein Riese, der ungeheure Lasten von Schmuggelwaren an Land trug, in die Hände gelaufen. Die eigentlichen Schmuggler freilich waren in ihrem Boot entkommen, denn die Küste ist dort weit hinaus flach und die Größe ihres Lastträgers erlaubte ihnen, an einer weit entlegenen Stelle zu halten und abzuladen, wo ein Mann mittleren Wuchses schon hätte schwimmen müssen. Ein paar nachgesandte Schüsse taten ihnen keinen Schaden. Der Riese aber, der sich einer bewaffneten Übermacht gegenübersah, ließ sich erstaunt und gutwillig fesseln und abführen. Beim ersten Verhör war nichts aus ihm herauszubringen, er schien ein harmloser Tölpel, der sich seiner Verantwortung nicht bewußt war und seine Auftraggeber nicht kannte. Als er aber mit geringer Bedeckung zur nächsten Bahnstation geführt werden sollte, ersah er den Augenblick, wo der eine seiner Begleiter ein wenig zurückblieb, und schlug dem andern, der neben ihm ging, plötzlich seine schweren Handschellen mit solcher Wucht über den Kopf, daß der Mann lautlos zusammenbrach und liegen blieb. Dann raste er, noch gefesselt, mit riesigen Sätzen davon. Bevor der Zurückgebliebene zum Schuß kommen konnte, war er schon in einer Senke des sandigen Bodens verschwunden. Man hörte aber, wie er dort die schweren Fesseln gegen einen Stein zerschlug und sich freimachte. Dann tauchte er noch einmal in größerer Entfernung auf und setzte seine Flucht mit vermehrter Geschwindigkeit fort. Der übriggebliebene einzelne Mann mochte auch nicht allzu hitzig in der Verfolgung des gefährlichen Enaksohnes auf dem weiten, öden Strande gewesen sein. Später wurde der Flüchtling noch einmal gesehen, wie er mit erstaunlicher Behendigkeit über eine hohe Kirchhofmauer sprang. Bis aber Verstärkung zur Stelle war und der Kirchhof umstellt und durchsucht wurde, war von dem Riesen jede Spur verschwunden. Die Toten konnten keine Auskunft geben, wohin er sich gewandt hatte. Die Umwohner aber wußten, wie gewöhnlich in solchen Fällen, gar nichts. Nun streiften die Wächter des Gesetzes Tag und Nacht in größeren Abteilungen die Küste ab, um zu verhindern, daß er über das Meer entweiche, denn daß er zu Lande nicht weit kommen konnte, ohne gefaßt zu werden, lag auf der Hand. Der entsprungene Riese war das Tagesgespräch des ganzen Ortes, aber insgeheim mochte manchem dabei nicht wohl in seiner Haut sein.

Semmler schenkte der Sache scheinbar keine Beachtung und beschäftigte sich nur mit seinen Algen. Gleichwohl hatte er den Eindruck, als ob in dem Gebaren seiner Wirtsleute neuerdings etwas Lauerndes läge, als ob sie ihm nicht mehr trauten. Da er von den großen Fußstapfen schwieg, brachte der Alte selbst die Rede darauf. – Sie erinnern sich genau und wären auch bereit es zu bezeugen, daß die Spuren nur vom Meere nach dem Flüßchen und nirgends anders hingeführt haben? fragte er.

Jener antwortete obenhin, daß er dazu freilich bereit wäre, daß er aber vorziehen würde, ganz aus dem Spiele zu bleiben.

Das ist immer das beste, meinte der Alte mit Nachdruck.

Nun hatte der Gast seinen Wink. Es hieß vorsichtig sein: die harmlose Zutraulichkeit, die man ihm bisher bewiesen hatte und die auch für den Augenblick echt war, täuschte ihn nicht darüber, daß sich im Gemüt dieser Leute versteckte Falten befanden. Was sich darin barg, mochte ihnen zum Teil selber unbekannt sein. Aber er wußte: plötzlich trat es hervor und bestimmte ihr Handeln. Wie gut, daß er nicht auch von dem Tabaksgeruch gesprochen hatte. In dieser Hinsicht schienen sie keinen Verdacht zu hegen, denn so scharf ihre Augen und Ohren waren, ihr Geruchssinn stand nicht auf gleicher Höhe, also setzten sie auch bei den anderen keine feinere Nase voraus.

Indessen war aber das Abenteuer des Waldhüters ruchbar geworden und zog die Untersuchung auch in diese Gegend, wobei sich jedoch nicht der geringste belastende Umstand ergab.

Man war mitten in den Hundstagen, und die Glut stieg noch immer. Besonders die Nächte waren kaum zu ertragen, kein Lüftchen wehte an Land, die durchhitzte Wohnung abzukühlen, und die Zanzaren, die durch die offenen Fenster eindrangen, musizierten die ganze Nacht. Wiederholt kündigte Semmler seinem Wirt die Absicht an, auf dem Deck des ›Korsaren‹ zu schlafen, um sich die kühlere Meerluft um die Stirne wehen zu lassen und die Sternschnuppenschwärme zu beobachten, die gerade in diesen Nächten in unerhörter Pracht und Fülle fielen, aber der Alte wußte es auf allerlei Weise zu hintertreiben.

Eines Abends erschienen die Finanzwächter am Strand, um einen mit Marmor beladenen Dreimaster, der nach Marseille bestimmt war, vor der Abfahrt zu untersuchen, ob sich nicht der gefährliche Übeltäter darauf versteckt habe, denn es durfte kein Schiff mehr in See stechen, bevor nicht jedes Rattenloch nach dem Flüchtling durchstöbert war. Als sie von der erfolglosen Bemühung durstig auf den ›Korsaren‹ kamen, schenkte ihnen der Wirt von seinem Besten ein und setzte sich zu ihnen, um sie zu unterhalten; seine Frau und Tochter bedienten. Der Sarde war auch da nebst ein paar Männern vom Ort. Die Nacht war stockdunkel, aber an Bord brannten festlich die grün-weiß-roten Laternen. Auch hatte man zu Ehren der bewaffneten Macht ein dreifarbiges Tüchlein gehißt, denn der Seeräuber war ein gewaltiger Patriot, wie die meisten seiner Volksgenossen, solange ihm das Vaterland nicht an den Geldbeutel griff.

Als Semmler abgespeist hatte, setzte er sich gleichfalls zu den Leuten. Sie waren eben dabei, den Wirt wegen seiner Aufschneiderei zu necken. Einer fragte ihn nach den Fischmenschen, denn sein neuestes Märchen hatte sich herumgeredet, offenbar gefiel es ihm selber zu gut, um es dem Fremden allein zu gönnen. Er erzählte wieder, wie er die Ungetüme am Schiffskiel hängen sah, mit vielen schönen Varianten. Die Weiber mischten sich auch ins Gespräch und kicherten.

Nehmt Euch nur in acht, sagte einer der Carabinieri zu der hübschen Carolina, die aufwartete. Euch könnte es schlecht gehen, wenn einer von ihnen an Land käme und Euch wegfinge. Denn, nicht wahr, sie rauben gern schöne Mädchen? fragte er den Alten.

Ja, antwortete dieser bedächtig, in Schweden droben habe ich einmal so einen Fall erzählen hören, aber ich glaube nicht recht daran. Was sollten sie denn mit einer Wasserleiche anfangen? Es könnte höchstens aus unmenschlicher Dummheit geschehen sein.

Nun gab er allerhand Züge von der Dummheit der Meerbewohner zum besten, die ein tobendes Gelächter erregten.

Aber der Sarde konnte seinem Rivalen nicht lange die Ehre lassen, sondern legte nun gleichfalls los. Die Stimmen wurden immer lauter, und die Gläser leerten sich immer rascher. Auch Semmler trank aus Durst mehr als gewöhnlich, der Wein war sündlich stark, und im Verein mit der ausgestandenen Tageshitze ging er ihm ganz schnell ins Hirn. Es ermüdete ihn, den Erzählungen des Sarden zuzuhören, weil er dessen Aussprache schwer verstand. Also schlich er sich nach einiger Zeit weg und legte sich auf eine Bank hart an der Reeling. Dort außerhalb des Sonnendachs lag sich's köstlich, der Seewind strich ihm über die heiße Stirn, die Paranzella schaukelte sachte. Er lag gegen Nordost gewandt, um nach dem Perseus hinaufschauen zu können, aus dessen Himmelsraum die Sternschnuppen kommen sollten. Doch sie fielen in jener Nacht von allen Seiten in solcher Menge und Größe, wie er sie noch nie gesehen hatte. Es kostete ihm Mühe, die Augen offenzuhalten. Die Stimmen klangen ihm allmählich ferner, er hörte noch, wie der Sarde fragte: Wohin ist denn der deutsche Herr gekommen? und wie die Seeräuberin unehrerbietig antwortete: Er ist nach Hause getorkelt. Dann verhallten die Stimmen, und er wußte eine Zeitlang nichts mehr von sich.

Als er sich besann, war es tief in der Nacht, denn sein erster Blick fiel auf den hochgestiegenen Perseus am Himmel. Aber es war ihm noch nicht recht klar, wie es kam, daß die Gestirne ihm ins Gesicht schienen. Erst die Härte der Bank und das Wiegen des Schiffes erinnerten ihn, wo er sich befand. Es war jedoch nicht mehr das leichte, seitliche Schaukeln wie vor seinem Einschlafen, es war ein rhythmisches Steigen und Sinken wie auf breiter, ruhiger Dünung. Er hob leise den Kopf, da erblickte er an Stelle des Sonnendachs ein geschwelltes Segel: sie fuhren! Sie mußten sogar schon weit vom Lande sein, denn die Inselgruppe, die man vom Strand aus gerade vor sich hatte, war seitlich verschoben; man konnte sie jetzt im Sternenschein deutlich erkennen. Er begriff zunächst nur eins: daß er am klügsten tat, sich ganz still zu verhalten und abzuwarten, wie das Rätsel sich lösen würde.

Eine Zeitlang hörte man keinen Laut als das Knarren des Segels.

Er überlegte. Wenn ein Segel aufgezogen war, so mußten auch Hände da sein, es zu bedienen, sie konnten ihn ja nicht zusamt der Paranzella der Gnade der Wellen übergeben haben. Wahrscheinlich fischten sie und hatten ihn mitgenommen, ohne es zu wissen. Es brannte kein Licht mehr an Bord, aber die Sterne waren jetzt hell genug, daß man das ganze Mitteldeck überschauen konnte. Nur an den Seiten lagerte Schatten und Dunkelheit, dort hatten sie sich vermutlich ausgestreckt und dösten. Zu sehen waren sie so wenig wie der am Ruder.

Plötzlich durchschnitt ein Pfiff die Stille, ein jähes Krachen und Schlagen des Segels, das Fahrzeug drehte bei, und jetzt wurden Steuerbord voraus in geringer Entfernung die Lichter und Umrisse eines Dreimasters sichtbar. Von dort herüber kamen hastige Ruderschläge. Zugleich huschte es von nackten Füßen auf Deck: er erkannte zuerst den fixen Jungen, der nach der Luke lief und wollte eben Fortunato! rufen, biß sich aber schnell auf die Lippen und blieb stille. Diesem folgten der hurtige Sarde und dann in gemäßigter Eile, hinkend wie immer, der Seeräuber. Jetzt aber hob sich's aus der Luke riesengroß, und auf Deck stand – der Patagonier von der Festwiese, der heilige Christophorus, der Meermann, alles in einer Person! Er sah aber gar nicht gefährlich aus, sondern sehr verschüchtert, und es wurden auch mit seiner Gewichtigkeit wenig Umstände gemacht. Sie stießen ihn in barscher Weise nach der Schiffsleiter, man hörte seinen gewaltigen Aufsprung in dem kleinen Boot, das unten angelegt hatte.

Als er außer dem Bereich seiner Hände war, rief ihm der Alte giftig nach:

Fahr nach Frankreich oder zum Teufel, du Tolpatsch, der uns das ganze Geschäft verdorben hat.

Unterdessen mochte das Weib mit einem Zündholz schnell ihre drunten aufgestauten Vorräte gemustert haben, denn sie beugte sich über Bord und rief ihm gleichfalls einen frommen Segen nach: Für den Wein, den Ihr mir ausgetrunken habt, mögt Ihr beim ersten Schritt an Land den Hals brechen.

Antwort kam keine mehr, die Ruderschläge entfernten sich rasch. Wieder klatschte und flatterte das Segel, Schritte liefen hin und her, das Schiff drehte ab. Der blinde Passagier hielt sich stille. War ihm die Sache bisher belustigend gewesen, so begann er sich jetzt mit einem Male unbehaglich zu fühlen. Wenn sie den lästigen Zeugen entdeckten? Es war fast unmöglich, daß ihnen seine Anwesenheit auf die Dauer verborgen blieb. Noch lag er in der Dunkelheit, teilweise verdeckt von einem Haufen Taue. Doch schon dämmerte es schneller und schneller. An Bord wurde geschwatzt und gepfiffen. Ein Wind erhob sich kalt und schneidend, aber noch eisiger zog ihm der Schreck das Herz zusammen. All sein Denken war noch ein Flehen um beschleunigte Fahrt.

Plötzlich entstand ein Gepolter neben seinem Ohr. Zwei Arme hatten in den aufgestapelten Haufen gegriffen und, alles war durcheinandergerollt. Matte Helligkeit drang durch seine geschlossenen Lider. Zugleich wurde es totenstille um ihn her. Er fühlte, daß ihn vier Augenpaare anstarrten und sich dann untereinander berieten. Jedes einzelne Gesicht, das sich über ihn beugte, meinte er mit geschlossenen Augen leibhaft zu erkennen: den Sarden, der die andern durch Zeichen herbeigerufen hatte, den alten Spaßmacher, in den er auch kein allzugroßes Zutrauen setzte, und das Weib mit dem tödlichen Lächeln. Zwar der Junge, der sich dabei befand, schien ihm anhänglich zu sein, aber konnte ihm das viel helfen? Er war darauf gefaßt, im nächsten Augenblick über Bord geworfen zu werden. Wenn er sich auch bis zum äußersten wehrte, was vermochten zwei Arme gegen mindestens sechs! Und gewiß würden sie ihm ein Gewicht mitgeben, das ihn für alle Zeit am Wiederauftauchen verhinderte.

Sekunden wurden ihm zu Ewigkeiten. Er fürchtete sich durch das laute Schlagen seines Herzens zu verraten.

Endlich hörte er den Alten flüstern: Ach was! Laßt ihn in Frieden! Er hat stark getrunken und schläft wie ein Toter.

Ein stummer Dank und Segenswunsch stieg aus der Brust des Liegenden.

Aber wenn er sich verstellt, zischte das Weib ganz nahe an seinem Ohr.

Deutsche verstellen sich nie. Dafür sind sie zu einfältig. Ehe er aufwacht, sind wir zu Hause.

Die Schritte entfernten sich. Ihm schien's nach dem Geräusch, als würde noch ein Segel aufgesetzt. Das Fahrzeug flog nur so durch die Wellen. Am Himmel lichtete sich's mehr und mehr. Mit jeder Meile, die man sich der Küste näherte, wuchs seine Sicherheit. Aber er lag noch immer steif wie ein Stück Holz. Als er die ersten Segel in der Ferne ziehen sah, die im aufgehenden Frührot rosig glänzten, wußte er, daß er gerettet war. Er döste sogar noch einmal ein und verschlief die Ankunft, denn als er von Bord ging, lag der ›Korsar‹ friedlich an der alten Stelle, die Sonne war aufgegangen, und keine Seele befand sich mehr an Deck.

Am Strand begegnete er dem Inhaber, der geschäftig herumhinkte.

Haben Sie gut geschlafen, Herr? war seine Frage. Mein neuer Wein ist ein bißchen stark.

Semmler behauptete in dem mürrischen Ton, den manche nach einer durchzechten Nacht an sich haben, daß er vom Wein keine besondere Wirkung verspürt habe und nur der Sternschnuppen wegen zurückgeblieben sei.

Nun, war das Schauspiel schön? fragte der Wirt listig.

Prächtig. Ich saß die halbe Nacht wach, um zuzusehen.

Das war der sicherste Weg, den Alten vom Gegenteil zu überzeugen.

Er schmunzelte in sich hinein. In Worte übersetzt hieß dieses Lächeln: Die Deutschen lügen also auch, nur talentlos.


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