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Genesung.

Strahlende Nachmittagssonne lag über Venedig, als der deutsche Konsul Friese mit dem jungen Marinemaler Gerlach am Bahnhofquai aus der Gondel stieg.

Es war noch früh im Jahr, aber schon brachte des herrlichen Wetters wegen jeder Schnellzug die nordischen Reisenden in Scharen über die Alpen.

Der Bahnhof dröhnte von Lärm, nicht von dem notwendigen, fast elementaren Getöse der großen Verkehrscentren, sondern von dem eigentümlichen, gewaltsamen Geräusch, womit die Venetianer instinktmäßig die sonst geisterhafte Stille ihrer nie von Wagen befahrenen Plätze und Gassen ausfüllen. Lohndiener und Hotelportiers lungerten streitend und gestikulierend umher, die Dampfschaluppen schrillten, und mit ihnen um die Wette pfiffen und schrieen die Gondoliere in ihren schlanken, auf dem grünen Wasser schaukelnden Fahrzeugen.

Konsul Friese war in schlechter Laune, und der Lärm vermehrte seine Verstimmung. Er hatte rasch gespeist und sich in Eile erhoben, nur um jetzt zu hören, daß der Schnellzug von Verona dreißig Minuten Verspätung habe. Er sollte mit Gerlachs Hilfe einen kranken Neffen in Empfang nehmen, der von schwerem Leiden Heilung im Süden suchte. Aber Neffe hin, Neffe her, man ist doch selber auch ein Mensch, und es ist ein harter Spruch, ohne Mokka und Cigarre vom Tische aufzustehen, besonders für einen Junggesellen, der es mit der Pflege seiner Person ernst nimmt.

Unter der Halle traf er mit Doktor Treu, dem Arzt der deutschen Kolonie, zusammen, der gleichfalls zum Empfang des Kranken herbeschieden war.

Der Konsul entschuldigte sich, daß er des Doktors kostbare Zeit in Anspruch nehmen müsse.

»Ihre Kollegen da oben im Norden,« sagte er bissig, »wissen sich zu helfen: wenn ein Patient ihnen zu viel Mühe macht, wird er einfach in den Süden geschickt. Dort mögen dann die andern zusehen.«

Der Doktor lächelte unmerklich und antwortete, daß man sich allerdings in Deutschland häufig übertriebenen Hoffnungen auf die Wirkung des südlichen Klimas hingebe. Dann sagte er: »Der Patient ist eine Ihnen nahestehende Person?«

»Mein Brudersohn. Ein zartes Pflänzchen, das von Jahr zu Jahr so hingefristet wird,« antwortete Friese achselzuckend und gab dem Arzt einen knappen Bericht über Persönlichkeit und Lebensgang seines Neffen, wozu Max Gerlach, der Schulfreund und Altersgenosse des Erwarteten, noch einige Ergänzungen und Berichtigungen fügte.

Walther Friese war in Venedig als ein gesundes und kräftiges Kind geboren, war aber bei der Uebersiedelung seiner Eltern nach Norddeutschland noch zu jung gewesen, um den klimatischen Sprung ohne Schaden zu überstehen. Die ersten deutschen Winter hatten ihm eine Reihe gefährlicher Erkrankungen gebracht, aus denen sich allmählich ein schwerer Herzfehler entwickelte, der mit den Jahren wuchs und zu immer erneuten Störungen führte. Aber in Geist und Körper des Kranken wohnte eine zähe, fast unbegreifliche Widerstandskraft. Schon mehr als einmal hatten die Aerzte ihn aufgegeben, und nach wenigen Wochen stand er doch wieder auf den Beinen, wie ein Halm, den der Sturm niederwerfen, aber nicht brechen kann. Zwar an völlige Herstellung dachte man seit lange nicht mehr, aber der Arzt gab Hoffnung, daß durch einen Winter im Süden das Leiden zum Stillstand kommen und der Kranke Zeit finden würde, zu erstarken. Seit dem Spätherbst war die Reise nach Italien geplant, und Walther hatte es durchgesetzt, daß er Venedig zum Aufenthalt wählen durfte. Er hatte der Stadt seiner Kindheit eine leidenschaftliche Anhänglichkeit bewahrt. Venedig war seit Jahren sein einziges Sinnen und Trachten. Aber das traurige Wind- und Nebelland wollte ihn nicht lassen. Kurz bevor er abreisen sollte, hatte ihn ein neuer Anfall gepackt, der schwerste von allen. Als Gerlach Deutschland verließ und Walther ihm seine Grüße »dorthin« auftrug, schien er am Ende seiner Kraft, und die Angehörigen waren täglich auf das Schlimmste gefaßt. Nur der Kranke selber ließ nicht von der Hoffnung und rief ihm noch über die Schwelle ein »Auf Wiedersehen in Venedig!« nach. Den ganzen Winter lag er zwischen Leben und Sterben. – »Nun scheint es, daß er sich abermals durchgerissen hat,« fügte der Konsul trocken hinzu. »Ob das ein Glück ist, müssen wir abwarten.«

Er sagte es mit kühler und zurückhaltender Miene, denn wo die Sache ihn nicht persönlich betraf, da neigte er zur Spartanertugend, und einem kränkelnden Individuum großes Wohlwollen entgegenzubringen, hätte er für ein Vergehen gegen die göttlichen Rechte der Gesundheit gehalten. Ohnehin war er diesem jüngsten Neffen ein wenig gram, weil es ihn schon seit Jahren langweilte, daß Walthers Krankheit ein stehendes Kapitel in den Briefen seines Bruders und seiner Schwägerin bildete. Erst als der junge Gerlach dieser Schwägerin, die den Sohn begleitete, als eines seltenen und außerordentlichen Wesens gedachte, belebten sich des Konsuls Züge und er sagte: »Doktor, machen Sie die Augen weit auf. Eine Frau wie diese sehen Sie nicht alle Tage.«

Die schöne Daniela hatte ihn schon entzückt, als sie noch in Triest bei ihrem Schwager, dem damaligen Direktor der Filiale eines großen Wiener Bankinstitutes, lebte. Als dann sein Bruder Wilhelm die vermögenslose Waise heimführte, hatte er das sehr schön und ritterlich gefunden und war der Kavalier und glühende Bewunderer seiner schönen Schwägerin geworden. Er half ihr malen und musizieren, er wurde der Spielkamerad ihrer Kinder und träumte mit ihr den Traum der Schönheit, während der schweigsame, hart arbeitende Wilhelm seinem einzigen Traume nachging, die Familie reich zu machen. Bei diesem täglichen Zusammensein war die Leidenschaft in beider Herz geschlichen, eine stumme, köstliche Leidenschaft, die sich kein unerlaubtes Wort, keinen heimlichen Blick gestattete, aber Geist um Geist und Seele um Seele hingab. Und Arthur Friese, der verfeinerte, ästhetische Genußmensch, der das Alltägliche verachtete, schwelgte Jahre hindurch in dieser idealen Liebe wie im Duft der allerherrlichsten und seltensten Blume, bis ihm der Taumel dennoch zu Kopfe stieg und er an sich riß, was seinem Bruder gehörte. Jener heiße Sommer, in dem Wilhelm sich nicht entschließen konnte, die Stadt zu verlassen und Arthur statt seiner die Familie nach dem nahegelegenen Feltre bringen mußte, war ihrer Liebe verhängnisvoll geworden. Damals, in der Einsamkeit der Berge und der glühenden Stille der Sommerlandschaft, wo die Liebenden keine andre Stimme mehr hörten als die der Natur, war die Leidenschaft zu mächtig geworden und hatte das reine Glück ihrer geistigen Gemeinschaft zertrümmert. An diese Stunde dachte Arthur nicht gern zurück. Er wußte, daß Daniela sich und ihm nie vergeben hatte. Die Erinnerung an Feltre stand wie ein Schatten zwischen ihm und der geliebten Frau. Daniela wehrte ihm von nun an jede Annäherung, und sein Verhältnis zum brüderlichen Hause wurde so gelockert, daß sein jüngster Neffe Walther, der im folgenden Jahre zur Welt kam, ihm von allen Kindern Danielas am fremdesten blieb. Eine finanzielle Katastrophe führte endlich auch die äußere Trennung herbei: Wilhelms Spekulationen schlugen fehl und er wurde mit den Seinigen genötigt, den schönen Palast am Rio San Polo zu verlassen und nach dem Norden von Deutschland zu ziehen.

Das war nun gegen fünfzehn Jahre her, eine lange Zeit zum Vergessen. Und Arthur Friese vergaß auch wirklich, was sein Bewußtsein belasten konnte, aber den Liebreiz seiner Schwägerin vergaß er nicht. Er lebte als Junggeselle, weil kein Mädchen den Vergleich mit Daniela aushielt. Es war freilich mehr Eitelkeit als Liebe, denn um keinen Preis hätte er eine Frau aufführen mögen, die hinter der Frau seines Bruders zurückstand, wenn diese auch längst über alle Berge war. Und somit: »Besser allein als schlecht gepaart,« wie das italienische Sprichwort sagt. Das Leben war ja reich genug an Interessen. Zwar die Konsulatsgeschäfte überließ er seinem Sekretär und mit Repräsentationspflichten brauchte er sich nicht oft zu quälen, aber seit den letzten Jahren arbeitete er an einem grundlegenden Werk über den venetianischen Handel im Mittelalter, zu dem er Tag für Tag im Archiv der Frari die Notizen zusammentrug. Die Abende verbrachte er in einem Zirkel gleichdenkender Freunde, die wegen ihrer Ausschließlichkeit und ästhetischen Verfeinerung im Scherz »die Unerreichbaren« genannt wurden. Sein Vermögen, das intakt geblieben war, verwandte er an das langsame und bedächtige Sammeln seltener Kunstschätze. Und das venetianische Leben, das allen seinen Eigenheiten Vorschub leistete, hatte den glänzenden, feinsinnigen Arthur Friese, ohne daß er es selber merkte, so ganz allmählich zum verknöcherten, mit kleinlichen Gewohnheiten behafteten Egoisten und Tüftler gemacht.

Eine Bombe, die in sein stilles Haus gefallen wäre, hätte ihn daher nicht mehr erschrecken können, als das Telegramm seines Bruders, worin dieser bat, für Frau und Sohn Quartier zu suchen. Nicht daß er für seinen Frieden gefürchtet hätte – er war jetzt im Alter, wo die Pulse ruhig schlagen. Aber er hatte die alte Liebe so schön in den Schrein seiner Erinnerungen herübergerettet; hier lag sie wohl einbalsamiert und künstlich zurechtgelegt: das sollte jetzt alles durcheinandergerüttelt und wieder dem Zufall preisgegeben werden.

Es ist etwas eigenes um ein Wiedersehen nach so langer Zeit. Die Gegenwart hat etwas Ernüchterndes neben dem Glanz der Erinnerung, und man ist auch nicht immer so glücklich, gleich das rechte Wort zu finden. Deshalb waren ihm die beiden fremden Zeugen sehr willkommen, die der Begegnung gleich von vornherein etwas ganz Bestimmtes und Formelles gaben, und er hatte sich seine Rolle genau vorgezeichnet: ein stummer Handkuß und dann den Neffen in die Arme geschlossen – das Weitere mußte sich von selbst ergeben.

Der Zug brauste endlich in die Halle, und der Konsul stellte sich mit Doktor Treu in die Nähe der Schranken, während Max Gerlach die Wagenreihen absuchte.

Da tauchten in dem Menschenknäuel, der dem Ausgang zustrebte, zwei ungewöhnliche Gestalten auf: eine schlanke, weißhaarige Dame in sehr bescheidenem Anzug, das bleiche Gesicht voll Liebe und Kummer, und ein blonder, blutjunger Mensch, dessen Schönheit überraschend war. Unter der Menge trivialer, geleckter Alltagsmenschen sahen die zwei so weltfremd aus, als ob sie von einem andern Planeten herabkämen.

Der junge Mensch trug einen langen runden Mantel und war mit vielem Handgepäck belastet, das ihm die Dame offenbar widerwillig überließ, denn sie sah sich ängstlich rings nach Hilfe um.

Als sie des Konsuls ansichtig wurde, warf sie einen zweifelnden Blick auf seine beginnende Beleibtheit und sagte mit sanfter, fragender Stimme: »Arthur?«

Gleichzeitig wand sich schon der junge Gerlach zu ihnen hindurch, und man hörte ihn rufen: »Hier bin ich, Walther! – Frau Friese, hierher!«

Im Nu hatte er dem Ankömmling sein Gepäck entrissen und schob die beiden geschickt durch eine eben entstandene Lücke zwischen den Schranken hinaus.

Nach wenigen Augenblicken stand man im Freien beisammen, Hände wurden geschüttelt, Begrüßungen wurden getauscht, und Doktor Treu, der den Ankömmlingen schon durch die Empfehlung ihres Hausarztes bekannt war, mußte sich selber vorstellen, denn der Konsul hatte die Sprache verloren. Er starrte nur in das blasse Märtyrergesicht der Frau, die ihm als eine völlig Fremde erschien. Was hatten diese vierzehn Jahre aus der schönen Daniela gemacht!

Man konnte ihr nicht mehr ansehen, ob sie jung oder alt, schön oder häßlich war; ihr ganzes Gesicht war Seele geworden, aber eine leidende, schmerzzerrissene Seele. Ihr Rücken war gekrümmt, und eine Schulter stand tiefer als die andere, wie von einem unerträglichen Schmerz herabgezogen. Die weißen Haare über dem noch glatten Gesicht erinnerten an die Sage von Personen, die in einer Nacht ergrauten. Mit einem Blick streifte er über ihren Anzug hin – ihre schöne elegante Einfachheit war seinen Augen immer so wohlthuend gewesen, aber diese Einfachheit war nicht mehr elegant, sie war dürftig und unscheinbar, als ob die Trägerin sich hinter ihrem mausgrauen Mantel den Augen entziehen wollte.

Es dauerte einige Zeit, bevor es dem verblüfften Konsul ins Bewußtsein drang, daß der Anblick des Neffen dagegen eine erfreuliche Enttäuschung brachte.

»Du bist ja ein Prachtjunge geworden,« sagte er endlich, indem er Walther wohlwollend bei der Schulter berührte.

Gleichzeitig überschüttete Gerlach seinen Freund mit derben, aber wohlgemeinten Glückwünschen und sagte dann zum Konsul gewendet: »Diesmal hat er wirklich sich selber übertroffen.«

Walther blickte mit strahlendem Gesicht von einem zum andern und sagte kein Wort, als fürchtete er, aus einem seligen Traum zu erwachen. Er wandte sich nur mit stummem Lächeln zu der Mutter, wie um zu sagen: »Hörst du's? Siehst du's?« und diese nickte ihm in zärtlichem Verständnis zu.

Man stieg in die Gondel, die rasch und lautlos durch die grünen, schaukelnden Wasser des Canal grande strich. Die feuchtwarme Lagunenluft streichelte die Gesichter der Reisenden und wurde von ihnen mit Wonne eingesogen. Wie Traumbilder im hellen Sonnenschein zogen mächtige Renaissancekirchen und zierliche gotische Paläste an ihnen vorüber, von der Flut bespült, die ihre prachtvollen Umrisse in der Tiefe wiederholte. Fassade an Fassade, Balkons und Loggien, von Blumen bedeckt, eine verwirrende Fülle von Säulen und Pilastern, Spitzbogen und Schnörkeln, da und dort eine farbige Freske, eine Spur von Vergoldung an den Mauern, aber alles von heimlicher Zerstörung benagt, durch die Zeit und das Wasser geschwärzt, eine Reihe bettelhafter Könige.

Der Maler nannte im Vorüberfahren ihre Namen und machte Walther auf diese und jene Einzelheit aufmerksam. Niemand hätte die beiden Freunde, wie sie so beisammen saßen, für Gleichaltrige gehalten, und der derbe, untersetzte Gerlach mit seinem Gesicht voll Sommersprossen legte in den Verkehr mit Walther eine Zartheit und Zuvorkommenheit, wie wenn er ein junges Mädchen vor sich hätte.

Walther redete wenig, aber die lebhaften Vorgänge seines Inneren spiegelten sich in seinem ausdrucksvollen Gesicht. Dem Konsul war es eine wahre Wohlthat, in dieses Gesicht zu blicken. So oft sein Auge auf Daniela fiel, wandte es sich scheu und betroffen ab und irrte zu ihrem Sohn zurück, denn die Schönheit war seiner Bewunderung gewiß, wann und wo er sie fand.

Seit den Jahren seiner Liebe hatte ihm kein Gesicht so gut gefallen wie dieses. Frühe Reife des Geistes paarte sich darin mit einer Unschuld, die nicht von dieser Welt war. Alles, was er einst an der Mutter bewundert hatte, war hier aufs neue verkörpert, nur ins Kräftige, Jünglingshafte übersetzt. »Und,« dachte er bei sich selber, »man mag sagen, was man will, die Krone der Schöpfung ist doch der Jüngling.« – Aber es waren auch Friesesche Familienzüge darin, die ihn an seine eigene Jugend erinnerten. Besonders der Schnitt der Augen und die edle Bildung der Stirn – man hatte ihn selber in jungen Jahren ja nicht umsonst den schönen Friese genannt. Wahrlich, ein solches Werk der Natur war mehr wert als das schönste Stück seiner Sammlung, und er bedauerte, es nicht ohne weiteres in sein eigenes Haus versetzen zu können. Sein Bruder Wilhelm, der sich stets vom Schicksal verfolgt glaubte, war doch wahrhaftig ein glücklicher Mensch. Was hatte denn das Leben ihm gegeben?

Unter diesem Eindruck begann er gegen die Schwägerin: »Ich habe euch zwei Zimmer in einem kleinen, gut geführten Gasthof an der Riva gemietet. Es wäre zwar Raum genug auch in meiner Wohnung gewesen, aber ich dachte – ich wußte nicht, ob es euch angenehm sein würde – ob Wilhelm finden würde, daß es sich schickt,« fügte er verlegen hinzu.

»Ich danke dir, du bist sehr freundlich. Wir sind jetzt alte Leute, für die sich alles schickt, aber es ist bequemer so,« war Danielas gelassene Antwort.

Der Konsul schwieg und sah vor sich nieder. Es wurde ihm immer unbehaglicher in der Nähe der stillen, blassen Frau, die innerlich ebenso verändert war wie äußerlich, und für die er selber offenbar gar nichts mehr bedeutete.

In der That, ihre Gedanken gingen auch jetzt über ihn hinweg, wie sie es seit lange thaten. Durch ein ganzes Leben der Pflichterfüllung und der Entsagung hatte sie das Vergangene aus ihrer Seele hinweggewischt. Arthurs Verhalten in diesen Unglücksjahren, seine eisige Gleichgültigkeit bei ihren schweren Schicksalen war ein Rätsel, das sie längst nicht mehr beschäftigte; sie hatte es neben andern unlösbaren Rätseln begraben. Noch mehr, sie war selbst gestorben mit allen ihren Wünschen, Kämpfen und Erinnerungen, mit ihren Irrtümern und mit ihrer Reue. Was von ihr übrig war, das lebte in Walther. Auf ihn war der bessere Teil ihres Ichs übergegangen, während seine Geschwister dem pflichttreuen, aber nüchternen Vater nachschlugen.

Und dieser Jüngste, Schönste war nur ein flackerndes Licht im Windzug. Mit jedem ersten Schnee war sie in Gefahr, ihn zu verlieren. Dann kamen die langen Winter, wo er nicht aus dem Hause durfte, während die Geschwister auf dem gefrorenen Fluß vor seinem Fenster Schlittschuh liefen. Die Mutter teilte seine Gefangenschaft. Sie wachte mit ihm in den Schreckensnächten, wo er an hochgetürmten Kissen lehnend nach Atem rang. Es kamen die heißen Sommer mit den lustigen Bergpartien und Nachenfahrten für die Aeltesten – Walther saß wie immer daheim bei der Mutter. Er zeichnete, sie las ihm vor, und so wuchsen sie in ihrer Unzertrennlichkeit immer fester zusammen, bis sie nur noch eine einzige Person bildeten. Ihr Denken wurde im Lauf der Zeit ein so gemeinsames, daß sie oft durch Blicke, Lächeln und kleine Kopfbewegungen lange Zwiegespräche führten, von denen ein anwesender Dritter nicht das geringste wahrnahm.

Und so zartfühlend Walther war, die Mutter betrachtete er ganz und gar als sein Eigentum. Die andern hatten ja das ganze Leben mit allen seinen Schätzen, er hatte nichts auf der Welt als sie. Doppelt gehörte sie ihm, weil der Vater, eine herbe und strenge Natur, das Gemüt des Kranken wenig zu schonen verstand und weil die Geschwister ihn oft unbedacht verletzten, indem sie durch den Anblick ihrer Jugendfreuden ihn an das eigene Siechtum erinnerten. Maler zu werden, war der Traum seiner Seele, und als Max Gerlach zur Akademie abging, hatte er die schwersten Stunden seines Lebens durchgemacht. Alle glaubten an sein Talent, aber seine Kräfte waren den Anforderungen eines strengen Studiums nicht gewachsen, und der Vater wünschte ihn zu einem Beruf heranzubilden, der ihn, falls er am Leben blieb, ernähren könnte. In den Zeiten, wo es ihm besser ging, führte er ihn nach und nach in die Buchhaltung ein und beschäftigte ihn auf seinem Bureau. So war Walther auch hier gezwungen, zu verzichten.

Und doch war er nicht ganz unglücklich. Die Entfernung von der Welt hatte ihm eine Reinheit der Seele bewahrt, aus der die schönsten Blumen der Poesie hervorwuchsen. Er dachte nicht über sich und sein Schicksal nach. Das wenige, was ihm von der Natur zugänglich war, umfaßte er mit solcher Liebe, daß er vielleicht mehr genoß als die Kräftigen, Gesunden. Wenn eines seiner Rosenstöckchen die ersten Blüten trieb oder wenn das Philodendron ein neues Blatt entwickelte, so hatte er einen Festtag. Und diese kindliche Freude am Allerkleinsten bei einer seltenen Geistesbildung verlieh ihm die große Liebenswürdigkeit, mit der er jeden, der ihm nahe kam, unwiderstehlich bezauberte.

Auch die Reise nach Venedig schien ein unerreichbarer Traum zu sein. Seit Jahren war sie ihm versprochen, und von Winter zu Winter hoffte er darauf. Wie oft, wenn er schon anfing, seine Vorbereitungen zu treffen, hatte der Vater plötzlich mit finsterem Gesicht erklärt: »Es geht nicht!« – Der alte Herr Friese ließ sich in solchen Fällen auf keine Begründungen ein, nur aus seiner Schweigsamkeit und seiner verschlossenen Miene konnten die Angehörigen abnehmen, daß das Geschäft wieder eine Krisis durchmachte. Walther mit den verfeinerten Fühlfäden, die das Leiden in ihm entwickelt hatte, erkannte wohl unter des Vaters rauher Form seine innere Bekümmernis und verbarg die eigene, aber sein unterdrückter Gram sprach beredter als laute Klagen. In diesen Stunden büßte Daniela alles ab, was sie sich vorzuwerfen hatte. Ein dunkles, doch unabweisbares Gefühl verhinderte sie, die Geschwister irgend um seinetwillen zu verkürzen oder von dem Vater ein außergewöhnliches Opfer zu verlangen. Nur an ihrer eigenen Person konnte sie kargen und sie legte sich seit Jahren jede denkbare Entbehrung auf. Aber weder diese Ersparnisse noch der Erlös aus ihrem Schmuck reichte weiter aus, als um die täglichen kleinen Nebenbedürfnisse des Kranken zu bestreiten. Sie hätte gern mit ihrem Herzblut die Erfüllung seines Wunsches erkauft, nur vor dem letzten, einzigen Mittel wich sie zurück: ihren Schwager um Hilfe anzugehen. Dagegen hatte Wilhelm es diesem mehrfach nahe gelegt, seinen Neffen auf einen Winter zu sich einzuladen, aber Arthur hatte nicht verstehen wollen; er begriff gar nicht, daß man ihm mit einer solchen Zumutung kommen konnte.

Da fiel ihr ganz unerwartet im vergangenen Herbst ein kleines Legat von seiten eines entfernten Verwandten zu, und schon war die Abreise eine beschlossene Sache, als Walther aufs neue erkrankte. Schreckliche Tage folgten, an denen die Pflegerin fast den Mut verlor. Das Gesicht des Kranken, in dem sich eine Stirnfalte wie ein stummer Vorwurf eingrub, sagte ihr fort und fort: »Zu spät!« Aber der Winter schleppte sich hin wie so mancher Winter vor ihm mit kümmerlicher Besserung zwischen bösartigen Rückfällen, bis endlich draußen das Eis zerging und die milderen Lüfte dem Kranken Kraft und Hoffnung wiedergaben. Zwar so kleinlaut wie diesmal war ihr Hausarzt noch nie gewesen, aber es kam doch ein Tag, wo er den Patienten für reisefähig erklärte, und schon der folgende Morgen sah Sohn und Mutter auf der Eisenbahn.

Man hatte ihnen empfohlen, sich unterwegs ein paar Rasttage zu gönnen, aber Walther duldete es nicht. Nur mit Mühe hatte er sich bewegen lassen, in Bozen zu übernachten. So oft ihm die Mutter eine Haltestation vorschlug, bat er so dringend: »Nach Venedig! Nach Venedig!« daß sie nachgab und mit ihm weiter fuhr, bis das Ziel seiner Sehnsucht erreicht war.

Es war wie ein Traum, daß sie jetzt wirklich auf dem Canal grande fuhren mit der glühenden Frühlingssonne über ihren Häuptern und dem lautlosen Gleiten der Gondel unter sich. Sie suchte Walthers Augen, aber diese waren geschlossen, von der blendenden Helligkeit überwältigt. Die Freunde dämpften ihre Stimmen, denn sie glaubten, er schliefe.

Ein leiser Stoß der Gondel weckte ihn aus seinem Sinnen. Das Becken von San Marco lag vor ihnen, von Masten und Segeln besät, zur Linken von den Prachtpalästen der Piazetta, zur Rechten von der lachenden Insel San Giorgio Maggiore begrenzt, und ganz unten am Horizont vom Lido wie von einer langen grünen Schranke abgeschlossen.

Die Kuppeln der Kirche della Salute glänzten in ihrem zarten Grau mit den tausend phantastischen Zieraten, die sie umgeben. Auf der andern Seite leuchtete der Giardino reale mit seinem jungen Blätterschmuck, der sich in schöner Abstufung mit dem dunklen Saftgrün der Magnolien mischte. Dahinter wurden die Fensterreihen des Palazzo reale sichtbar, die Kreuze und Kuppeln von San Marco glänzten, und hochweg über alle blinkte der goldene Engel des Campanile.

Ein silberner Duft lag über der Stadt und dem Wasser, wie ein Schleier von Feenhänden gewoben. Der Himmel war hoch und völlig wolkenlos, von dem matten Stahlblau, das er gewöhnlich über der Lagune ausbreitet, der zunehmende Mond, noch lichtlos, schwamm wie ein winziges, weißes Federwölkchen droben. Ein großer Dreimaster, dessen Tauwerk mit Hunderten weißer Lappen seltsam behängt war, lag nahe der Mündung des Canal grande, von kleineren Booten umgeben. Das Ganze hatte etwas Unwirkliches, wie eine Erscheinung oder ein Gemälde.

Der Kranke hatte sich aufgerichtet, alle Müdigkeit war aus seinem Gesicht gewichen.

»Venezia!« sagte er langsam mit unaussprechlichem Ausdruck und trank mit weit offenen Augen das märchenhafte Bild.

Die Wirklichkeit war noch tausendmal schöner, größer und selbst phantastischer als seine verschwommenen Erinnerungen.

Hier die Piazzetta mit ihren Prachtbauten und dem Gewirre der schwarzen Gondeln – sah es nicht aus, als ob Hunderte schwimmender Särge von weither gelandet wären, um selige Geister nach einer stillen, marmornen Toteninsel zu führen? Aber nicht zum Ruhen in lastenden Sarkophagen, sondern zu einem erhöhten, vom Körper befreiten, im reinen Schauen beseligten Dasein. Der Dogenpalast mit seinen herrlichen Kolonnaden und dem kolossalen ungegliederten Oberbau – stieg er nicht wie eine Traumgeburt über den stillen Wassern empor? Und die Riva degli Schiavoni mit ihrem weißen Marmorpflaster, ihren Brücken, Palästen und Monumenten, die sich, von Menschen wimmelnd und von Masten begleitet, in schönem Bogen bis zu dem Baumgedränge der Giardini publici hinunterschwang, die unendlichen Wasser mit den rot und gelben Segeln und dem Tanz der Sonnenstrahlen – wie beschämte dieser Glanz der Erfüllung all die nebelhaften Bilder seiner sehnsüchtigen Ungeduld.

»Da sagen sie: Neapel sehen und sterben!« rief der Kranke, und eine fliegende Röte ging über sein blasses Gesicht. »Ein thörichtes Wort, ich weiß ein besseres: Venedig sehen und auferstehen!«

Er war wie berauscht, er schwenkte den Hut nach der Salute hinüber und bog sich weit aus der Gondel, um den geflügelten Löwen von San Marco auf seinem granitnen Sockel zu begrüßen.

Als sie an der Riva gelandet waren, taumelte er und wäre fast ins Wasser gestürzt, denn er wollte all die Schönheit, die von daher und dorther auf ihn eindrang, gleichzeitig mit den Augen verschlingen. Gerlach faßte ihn unter und zog ihn bis vor die Thür des Gasthofs, wo er sich verabschiedete. Dann kam der Onkel und führte den Kranken am Arm die Treppe hinauf.

Die Zimmer lagen in einem hellen Mezzanin, zu dem nur wenige breite Stufen hinanführten, und machten der Wahl des Konsuls alle Ehre. Ein großes Südzimmer sah gerade auf die Riva, das anstoßende, etwas tiefer liegende Gemach, zu dem eine Marmorstufe hinabführte, hatte die Fenster auf der von einem kleinen Kanal bespülten Westseite und war in diesem Augenblick gleichfalls von Sonne durchflutet. Es sah mit dem von Mauern begrenzten Blick auf das grüne, glucksende Wasser so geheimnisvoll und echt venetianisch aus, daß Walther sich nur ungern in die Anordnung des Doktors fügte, der ihm sofort das große Südzimmer zum Schlafen anwies. Die schweren Gardinen mußten noch zuvor herabgenommen werden, und das große Bett in der Ecke rückte der Doktor selber um ein paar Zoll von der Mauer ab.

»Und nun haben die beiden Reisenden nichts Besseres zu thun, als sich zu stärken und dann gleich ein wenig zu rasten,« sagte er, als alles fertig war. »Ich werde morgen in der Frühe hören, wie Ihnen die Reise bekommen ist.«

Damit reichte er Walther die Hand und zog den Konsul, der noch zögerte, mit sich aus dem Zimmer.

Daniela, die nebenan mit Aufschnallen des Gepäcks beschäftigt war, heftete einen fragenden Blick auf ihn.

Der Doktor verstand sie und antwortete, nach dem Hut greifend: »Wir wollen ihn heute, wo er so glücklich ist, nicht mehr mit ärztlichen Fragen belästigen. Auch Sie brauchen Ruhe. Morgen, wenn ich ihn genau untersucht habe, erzählen Sie mir einmal die ganze Krankengeschichte.«

»Die hat unser Hausarzt für Sie aufgeschrieben,« antwortete die Frau, indem sie ihm noch an der Treppe ein geschlossenes Couvert überreichte.

»Und was hat er euch für Verhaltungsmaßregeln mitgegeben?« fragte der Schwager, als sie allein waren.

»Keine.«

»Keine?«

»Keine. Er sagte: Lassen Sie ihn alles thun, was ihm Freude macht, er fühlt schon selber, wie viel er sich erlauben darf. Du kannst dir denken, wie unser Rekonvaleszent auf diese Weisung pocht. Doch da er sich bis jetzt keinen Schaden gethan hat und mir eher gekräftigt als ermüdet scheint, muß ich ihn wohl gewähren lassen.«

Diese Mitteilung zeitigte in der Seele des Konsuls einen großen Entschluß.

War ihm sein Neffe auf den ersten Blick wie ein Werk aus Künstlerhand, ein schönes Bild oder eine kostbare Vase erschienen, so hatte sich während der kurzen Ueberfahrt der Eindruck seines Wesens vervielfältigt und vertieft. Walthers Empfänglichkeit rührte ihn und seine Bewunderung that ihm wohl, da er als alter Venetianer sich Fremden gegenüber so halb und halb wie der Mitschöpfer dieser Herrlichkeiten vorkam. Er erkannte mit einemmal, was seinem eigenen Leben fehlte und warum das schöne Haus am Canal grande mit seinen Kunstschätzen und seinem Luxus doch nur ein totes Museum war. Es ging ihm auf, wie reich das Leben werden konnte durch die Nähe eines mitgenießenden, mitverstehenden Wesens. Dieser war ja von seinem Stamm, war seines Geistes Kind, Daniela hatte ihn unter dem Herzen getragen zu einer Zeit, wo er selbst sich noch für den Mittelpunkt ihrer Gedanken halten durfte. Der Hauch der Jugend, der von der liebenswürdigen Gestalt ausging, erfrischte den Alternden und erschien ihm wie ein Schutzmittel gegen die heranschleichenden trüberen Jahre. Er wünschte den Neffen um sich zu behalten, ihn sich gänzlich anzueignen. Nach dem natürlichen Lauf der Dinge waren Wilhelms Kinder doch seine Erben. Warum also nicht diesen einen, der ihm gefiel, schon zu Lebzeiten in alle Vorteile einsetzen und selber noch den Gewinn seiner Nähe ernten? Nur Walthers zarte Gesundheit stand seiner Absicht im Wege: dieses seltene Gefäß, in das er so gern seine innerste Gedankenwelt übergegossen hätte, sah aus, als ob es ihm unter den Händen zerbrechen könnte.

Aber der Ausspruch des behandelnden Arztes beruhigte ihn völlig. Nun hielt er nicht länger mit seinem Plane hinter dem Berg. Denn wenn er einmal schlüssig war, duldete er keine Verzögerung und er glaubte auch das Verhältnis zur Schwägerin so am besten ins Geleise zu bringen.

»Den Walther, weißt du, gebe ich nicht mehr her,« sagte er. »Der Junge muß bei mir bleiben, wenn du nach Deutschland zurückkehrst. Sei ganz ruhig, er wird mir nicht zur Last fallen, im Gegenteil: er muß mein leeres Haus erst lebendig machen.«

Da sie ihn kalt und schweigend anblickte, fuhr er dringlicher fort: »Ihr braucht ihn ja gar nicht, ihr habt ja noch den Willy und den Arthur. Ich habe niemanden. Außerdem bei euch im Norden siecht er hin, ich will ihn euch gesund und stark machen, und wir wollen ein Götterleben zusammen führen.«

»Niemals!« rief Daniela heftig, und eine plötzliche Flamme lief über ihr bleiches Gesicht.

Aber sie faßte sich gleich und wurde wieder blaß, noch blässer als vorher.

»Wenn du vor fünf, sechs Jahren diesen Vorschlag gemacht hättest, so wärest du unser Retter, unser Heiland geworden,« sagte sie ruhig, aber mit großem Nachdruck. »Damals hätte vielleicht ein Aufenthalt im Süden ihn zum gesunden Menschen gemacht. So wie die Dinge jetzt stehen, werde ich mich keine Stunde mehr von ihm trennen. Und kein Haar von seinem Haupte soll einem andern gehören als seiner Mutter.«

Arthur Friese stand verblüfft und wortlos diesem unerwarteten Ausbruch gegenüber. Als er die Treppe hinabstieg, fühlte er, daß er die bleiche Frau da oben haßte. Um ihretwillen war er ein einsamer Mann geworden – so erschien es ihm jetzt – und sie hatte den Mut, ihm das einzige abzuschlagen, was ihn in den späteren Lebenstagen für sein versagtes Familienglück entschädigen konnte. Im Augenblick, wo er ihren Dank verdienen wollte, schlug sie gar noch einen Ton des Vorwurfs an. Aber sie sollte sehen, daß man ihn nicht so leicht abwies, ihn, Arthur Friese, der noch immer gewußt hatte, was er wollte. Was er soeben noch halb und halb als Vergünstigung von seiner Seite aufgefaßt hatte, die Adoption Walthers, das wurde ihm durch Danielas schroffes Nein so begehrenswert, daß er beschloß, all seine Kräfte an dieses Ziel zu setzen: er wollte um den Besitz ihres Sohnes mit ihr kämpfen, ihn an sich ziehen, auch gegen ihren Willen. An Waffen fehlte es ihm nicht: sein Kunstsinn, seine ganze Geisteswelt, alle Genüsse, die er dem Neffen bieten konnte, stritten für ihn, am meisten die Reize Venedigs, in denen er den Führer machen wollte. Aber er sah jetzt, daß man nicht mit der Thüre ins Haus fallen darf, er wollte es klug anfangen, sich den Boden bereiten. Walthers Freiheitsdrang wollte er benutzen, um ihn nach und nach von der Mutter loszureißen.

Wenige Schritte von der Hausthür kehrte er um, stieg geräuschlos die Treppe wieder hinauf und trat, nachdem er ein wenig gelauscht hatte, rasch ins Zimmer seines Neffen.

Walther stand noch immer am Fenster und sah der Dampfschaluppe nach, die, eine lange Furche hinter sich lassend, nach dem Lido hinausfuhr.

»Höre,« sagte der Onkel geheimnisvoll, nachdem er die Thüre leise zugeklinkt hatte. »Ich weiß, deine Eltern sind immer zu ängstlich im Geldausgeben gewesen. Wir Frieses sind noch lange nicht am Bettelstab. Du mußt deine eigene Kasse führen, ganz für dich im stillen, damit du alles thun kannst, was dir Vergnügen macht.«

Er nahm ein ansehnliches Bankbillet aus der Brieftasche und wollte es dem Neffen zustecken.

Dieser schob die Hand mit dem kostbaren Blättchen zurück, die er dabei lächelnd drückte.

»Warum so hochmütig?« fragte der Onkel.

Aber Walther schüttelte nur den Kopf und zog ein gehäkeltes grünseidenes Beutelchen hervor, das strotzend mit Gold gefüllt war.

»Vom Vater,« flüsterte er leise.

Der Konsul blickte überrascht auf, denn er wußte, daß sein Bruder kein Freund von überflüssigen Ausgaben war.

»Ja, denke dir, es ist vom Vater,« fügte Walther treuherzig hinzu. »Er war so gut in den letzten Tagen, ich habe ihn nie so gesehen. Diesen Beutel steckte er mir noch beim Abschied für meine Privatausgaben zu. Es sei mein Salär, sagte er, für die Bureauarbeit, die ich ihm im vorigen Sommer gethan habe.«

Dabei schüttelte er die Börse, daß die Goldstücke klirrten.

»Nun, da gratuliere ich,« sagte der Konsul, »und gebe dir den Rat, die goldenen Vögel lustig fliegen zu lassen. Wenn sie alle sind, kommst du zu mir und holst dir neue.«

Als der Onkel gegangen war, legte Walther Rock und Weste ab.

»Es ist zwar schade um die schöne Zeit,« dachte er, ins Bett steigend, »aber ich muß der Mutter die Liebe thun.«

Nun lag er wohlig ausgestreckt. Die Mutter kam mit Erfrischungen, die er durch ein leises Kopfschütteln ablehnte. Dann schlich sie auf den Zehenspitzen ans Fenster und schloß die Läden halb. Er ließ sie gewähren und regte sich nicht, nur aus halb geschlossenen Lidern blinzelte er nach dem Sonnenstreif, der wie ein blinkender Dolch durch den Spalt des Ladens ins Zimmer fiel.

»Wie schön ist doch das Leben,« dachte er und weiter gar nichts. Ein Glücksgefühl umgab ihn ruhig und sicher, wie die Atmosphäre. Mit jedem Atemzug sog er Wohlbehagen und Gesundheit ein.

Er schlief nicht und sann auch nicht; das Leben stellte sich in hundert freundlichen Gestalten um sein Bett, und alles Schwere war wie in ein tiefes, tiefes Meer versunken.

»Und die Menschen sind gut,« war sein zweiter Gedanke.

Des Onkels rasche Zuneigung, das Gesicht des neuen Doktors, das schon wie das Gesicht eines alten Freundes aussah, Gerlachs treue Kameradschaft gaben dem innigen Wohlbefinden eine Bürgschaft der Dauer.

Doch lange konnte er nicht ruhen; die Uhr die neben ihm auf dem Tischchen tickte, mahnte unbarmherzig an den Niedergang des schönen Tages.

Leise stand er auf, kleidete sich wieder an und horchte an der Thür der Mutter. Da sich nichts regte, glaubte er, sie habe sich auch zur Ruhe gelegt und schlummere. Aber innen stand sie auf den Strümpfen und hielt ihr Ohr ans Schlüsselloch. Sie hatte alle seine Bewegungen wahrgenommen und wußte ganz genau, daß er sich fortschleichen wollte.

»Er hat eine Verabredung mit Gerlach,« dachte sie und nahm sich trotz ihrer Sorge vor, ihn nicht zu stören.

Auch Doktor Treu hatte vorhin beim Weggehen, nachdem er einen Blick auf die knappen Zeilen des Hausarztes geworfen, in seiner herzlichen Art gesagt: »Der Kollege hat recht, lassen Sie ihn sein Glück genießen –«

Und dieser Rat entsprach ihrem eigenen Gefühl. Man hatte ihn so lange gehütet und von allem ferngehalten und ihn damit doch nicht gesund gemacht. So sollte er wenigstens einmal wissen, wie es einem Freien, Gesunden zu Mute ist.

»Schlürfe du aus dem Vollen, mein Liebling,« sagte sie leise, während er so geräuschlos wie möglich in die Schuhe fuhr, Hut und Mantel nahm und zur Korridorthür hinausschlich, und sie gönnte ihm den heimlichen Triumph, seine Hüterin überlistet zu haben.

Vom hohen Fenster seines Schlafzimmers blickte sie ihm lange nach, wie er an der Riva hinschlenderte. Ein Strom von Gold überflutete ihn, der vom glühenden Himmel niederrann und die Riva, den Kanal, die Lagune mit ihren Schiffen und Inseln, alles, so weit das Auge reichte, in eine Verklärung einschloß. Er drang auch zu den offenen Fenstern herein und färbte die weißen Gasthofwände mit dem Widerschein einer fernen Feuersbrunst. Die silbernen Schleier waren weggezogen, und der Himmel enthüllte eine flammende Glorie: lange Schleppen von Purpur, Safran und Violett schleiften im Westen hin wie Prachtgewänder des königlichen Gestirns, das zur Ruhe ging. Schichtenweise lagen sie übereinander und stuften sich zu immer zarteren Tinten ab bis unten am Saum des Horizontes, wo sie in ein ganz unwahrscheinliches lichtes Meergrün überflossen. Die Mündung des Canal grande warf den roten Schein zurück und verstärkte ihn durch den Reflex rötlicher Mauern und Türme, der breite Giudeccakanal mit seinen zahllosen Masten erwiderte das Feuerzeichen, wobei die dalmatinischen Holzschiffe, die dort verankert lagen, dem lichten Brand einen dunklen Schattenstreifen entgegenstellten. Das ganze Becken von San Marco entzündete sich, daß San Giorgio Maggiore in flüssigem Metall zu schwimmen schien.

Walther ging ganz nahe am Rand des Wassers, den Mantel auf dem Arm, den er ein wenig am Boden nachschleifen ließ, wie es seine Gewohnheit war. Niemand drehte sich nach ihm um, und die Mutter fühlte, wie wohl ihm das thun mußte. In ihrem kleinen, geschäftigen Städtchen pflegten ihm die Leute wegen seines schleichenden Ganges und seiner blassen Gesichtsfarbe auf der Straße nachzublicken – hier in Venedig, wo alles schlenderte und trippelte und wo es gar keine roten Wangen gab, konnte er sich fühlen wie jedermann.

Tiefe Dankbarkeit für das Glück dieses Tages quoll in Danielas Herzen auf, und auch der Antrag des Schwagers, so bittere Empfindungen er zuerst in ihr geweckt hatte, schmeichelte ihrem Mutterstolz.

»Wie sie dich schon alle lieben, mein Sonnenkind,« rief sie ihm jubelnd in ihrer Seele nach.

Plötzlich erbleichte sie vor einem Gedanken, der in ihr aufstieg. Aber sie wollte ihn nicht denken, diesen Gedanken, sie löschte ihn aus, sie bannte ihn weit hinweg aus ihrem Herzen. In der zarten blassen Frau wohnte eine eiserne Willenskraft. Durch strenges Wollen hatte sie den einen Flecken ihres Innern ausgetilgt und fühlte sich berechtigt, zu vergessen. Was niemand wußte, wovon der Nächstbeteiligte keine Ahnung hatte, das wollte auch sie nicht wissen, das war nur wie ein Traum durch ihre Seele gezogen. Dieses Kind gehörte ihr ganz allein, niemand sollte teil an ihm haben, am wenigsten jener selbstsüchtige Mann, in dem jetzt plötzlich die Stimme der Natur erwachte. Er sollte nie erfahren, was es war, das ihn so mächtig zu ihrem Liebling hinzog. Nicht wissen, wie nahe Walther ihm stand, das war die einzige Strafe, zu der sie den Zerstörer ihres Friedens verurteilte.

Auf der nächsten Brücke blieb Walther stehen und lehnte sich mit beiden Armen über das Geländer. Vor ihm lag das große Kriegsschiff noch immer unbeweglich im Wasser, während der leichte Wellenstoß der steigenden Flut die kleineren Boote hob, daß sie an dem dunklen Bug emporzustreben schienen, so glich es einer Gluckhenne mit ihren Jungen. Max Gerlach hatte ihm vorhin bei der Einfahrt gesagt, daß es ein Schulschiff der Kriegsmarine sei. Die aufgehängten Lappen im Tauwerk, die sich jetzt in lauter flatternde rosige Wimpel verwandt hatten, waren Wäschestücke der Kadetten. Als kleiner Junge hatte Walther sich gewünscht, ein Seemann zu werden; heute lächelte er über diesen Wunsch, denn er wußte sich etwas Besseres, sonst hätte ihm in seiner gehobenen Stimmung selbst diese Laufbahn nicht mehr unerreichbar geschienen.

Sein kühnes Sicherheitsgefühl teilte sich wie auf geheimnisvollen Telegraphendrähten der am Fenster stehenden Mutter mit. Auch ihr schwoll das Herz von ungewohntem Lebensmut. Draußen lag ein großer Lloyddampfer der Linie Venedig –Triest zur Abfahrt klar. Der Anblick weckte ihr längst entschlafene Erinnerungen; die Weite der Welt, die sie in ihrem stillen Erdenwinkel fast vergessen hatte, kam ihr wieder ins Bewußtsein und ließ sie unwillkürlich tiefere Atemzüge holen. Sie wollte nicht mehr ängstlich sein und mit dem Schicksal um die Stunde feilschen. Sie wollte nicht mehr fragen: wie lange? wenn nur ihr Liebling einmal glücklich war.

Als er schon längst verschwunden war, stand sie noch immer und starrte in die Glorie. Die Sonne war völlig hinunter, und das Firmament verglühte langsam. Nur die Salutekuppeln leuchteten immerfort wie von einem inneren Feuer entzündet, sie verloren jetzt ihre massive Körperlichkeit und wurden durchscheinend, als ob jede aus einem einzigen Karfunkel geschnitten wäre. So bleibt, wenn das Schöne hinweg geschieden ist, die Erinnerung zurück und lebt inmitten einer farblos gewordenen Welt ihr festliches, selbständiges Dasein weiter. – Daniela stand am Fenster, bis die Kuppeln der schönen Kirche ausgeglüht wie tote graue Schlacken zum fahl gewordenen Himmel aufstarrten.

Walther bog, nachdem er noch eine Weile unter dem Treiben der Gondoliere an der Piazzetta gelungert hatte, nach dem Markusplatz ein, der um diese Stunde zwischen der Nachmittagsmusik und der abendlichen Promenade wie ein großer, halb verödeter Festsaal dalag. An einem der Tischchen nahm er eine Erfrischung zu sich und wanderte dann langsam über die Piazza hin, ganz versunken in einen Tagestraum von Venedigs Glanz und Größe, von der Zeit, wo diese Prachtbauten noch nicht die erhabenen Monumente eines Friedhofs waren, sondern das Leben des Tages lebten. Das Gehen auf den breiten, glatten Marmorfliesen durchdrang ihn mit einer aristokratischen Empfindung, er erschien sich selber plötzlich als etwas sehr Mächtiges und Vornehmes, mit dem strotzenden Beutel Gold in der Tasche als der Herr all dieser Herrlichkeiten.

Da sagte eine lachende Stimme hinter ihm: »Herr, Sie verlieren Ihren Mantel.«

Er fuhr zusammen und zog den Mantel an sich mit dem er die halbe Piazza gefegt hatte. Das kleine Blumenmädchen, das ihn angeredet hatte, war schon vorüber, nur ihren wiegenden Gang und die graziöse Gestalt konnte er von hinten noch erkennen. »Wie gut sind hier die Menschen!« dachte er und blickte ihr dankbar nach.

Unter den neuen Prokuratien fesselten die Goldschmiedeläden seine Aufmerksamkeit, denn er liebte alles Glänzende, und ein Mädchen konnte nicht mehr Sinn für Schmuck und Geschmeide haben. Eine goldene Halskette von feiner venetianischer Arbeit reizte ihn ganz besonders. Es war ein zierliches Gewinde vielfach verschlungener kleiner Kettchen, die an allen Kreuzungsstellen mit Perlen durchsetzt und ringsum mit Perlen wie mit Tropfen behangen waren.

Der Gedanke, dieses Schmuckstück zu kaufen und seiner Mutter mitzubringen, paßte ganz in seinen Traum. Ehe er es bedachte, stand er schon auf der Schwelle und wurde von dem Händler vollends hineinkomplimentiert.

Der Preis erschreckte ihn nicht, denn trotz seiner gelegentlichen Beschäftigung mit Zahlen war er dem Gelde gegenüber das reine Kind. Mit seinem Beutelchen fühlte er sich reich genug, um ganz Venedig zu kaufen, und die Anerbietungen des Onkels, von dem er stets gehört hatte, daß er sehr wohlhabend sei, ließen ihm seinen Besitz als etwas Unbegrenztes erscheinen.

Er bezahlte ohne Besinnen mit seinem Gold.

Als ihm der Händler darauf ein paar schmutzige Papierscheine zurückgab, hielt er diese für einen freiwilligen Abzug zu seinen Gunsten, denn an das hohe Agio des Goldes dachte er gar nicht. Abermals sagte er zu sich selber: »Wie gut sind doch die Menschen hier,« – und sehr zufrieden mit seinem Kaufe ging er von dannen.

Wie die blinkende Kette zu dem verhärmten Gesicht und dem nonnenhaften Anzug der Mutter passen sollte, fragte er sich nicht, denn trotz seiner zweiundzwanzig Jahre war für ihn die Mutter noch immer die schönste aller Frauen.

Unter dem Uhrturm lehnend, versank er jetzt in den Anblick der goldenen Rosse auf dem Portal von San Marco. Sie schlürften eben mit geöffneten Nüstern und Mäulern das letzte Gold des Himmels, sie glichen dem Gespann des Sonnengottes; von ihren Mähnen sprühten Funken, daß der Anblick kaum zu ertragen war. Ein Freiheits- und Lebenstaumel überkam ihn, er fühlte sich emporgerissen, als sollte er mit den bäumenden Rossen hinaus in die blauen Lüfte brausen.

Da sagte eine Stimme neben ihm: » Bellissimo!«

Zwei halbverschleierte Damen waren, aus der Merceria kommend, an ihm vorübergestreift, eine von ihnen, nicht mehr jung, aber auffallend schön, hatte diese Worte gesprochen, und jetzt wandte sich auch die Begleiterin zurück, um ihn anzusehen.

» È un artista,« hörte er sie sagen.

Walther stand wieder auf der Erde, aber der Fall war so sanft, daß er lächelte. Ja, ein Künstler, er fühlte es in seiner Seele, und was noch nicht war, das mußte werden!

Er bog in die Straße ein, aus der die Damen gekommen waren, und atmete noch eine Zeitlang den Wohlgeruch, den sie zurückließen. In der Merceria, die voll Menschen war, flammten schon einzelne Laternen auf, und aus den erhellten Schauläden glänzte es von Mosaiken und feinen, gemalten Glaswaren. Zuletzt erstieg er eine breite, von Menschen wimmelnde Brücke, zu der Treppen von mehreren Seiten emporführten, und oben angekommen, blieb er von Staunen überwältigt am Geländer stehen. Er war in eine verzauberte Welt geraten. Hier schloß den Kanal eine Doppelreihe von hohen Palästen ein, die sich mit zahllosen epheuumsponnenen Terrassen, mit Balustraden und massigen Fensterkonsolen breit und dunkel über das Wasser legten. Dämmerung lagerte auf dem Kanal, in der die Einzelheiten eben noch kenntlich waren. Eine schmale steinerne Brücke schwang sich in kurzer Entfernung von der seinigen schattenhaft hinüber. Drüben aber am andern Ufer, wo schon die Laternen brannten, gähnte ihn zur Seite eine dunkle Oeffnung an. Sie führte in einen überdeckten, hart am Wasser laufenden Bogengang, den Sottoportico delle aeque. Ein reizender Erker mit tausend Schnörkeln und Zieraten stand am Eingang und war hell von den Laternen beschienen; um so seltsamer und unterirdischer stach das Innere des Portikus, der tiefer als das Niveau der Straße lag, von der erleuchteten Merceria ab.

Den Jüngling zog es magisch in jene Richtung. Er stieg die wenigen seitlichen Stufen, die nach dem Eingang führten, hinunter und durchschritt den Bogengang, der aus dem Innern eines dort liegenden Bazars etwas Licht erhielt, bis er hinter niedrigem Eisengitter eine Wassertreppe fand. Dort lag eine gedeckte Gondel einladend im Wasser.

Walther winkte dem Gondolier und wollte eben, von ihm gestützt, die Gondel besteigen, als der Portikus sich mit Wohlgeruch erfüllte und ein halberwachsenes Mädchen mit einem Blumenkorb am Arme rasch vorüberging.

Er erkannte die zierliche Person, die ihn auf der Piazza angesprochen hatte. Ihr blasses Gesicht mit den dunklen Augen blickte so anmutig aus dem schwarzen Kopftuch hervor, daß er sich nicht enthalten konnte, zu fragen: »Wohin mit den schönen Blumen, Kleine?«

»Nach Hause,« erwiderte sie, indem sie sein Gesicht und den bescheidenen Anzug mit raschen Blicken musterte.

»Warum hast du deine Blumen nicht verkauft?«

»Weil sie niemand wollte,« kam es halb trotzig zurück.

»Wärest du zu mir gekommen, ich hätte dir abgekauft.«

Die Kleine kam geschmeidig wie eine Eidechse heran und hielt ihm unter einer Flut von schmeichelnden und bittenden Reden, die er nicht verstand, ihren Korb empor.

»Suche mir selbst ein paar Rosen aus,« sagte er, »die schönsten, die du hast, dann sollst du auch heut abend noch etwas Gutes erleben.«

Sie wühlte in dem Korb und brachte eine Handvoll zarter gelber Theerosen und eine purpurne Centifolie an langem Stiel heraus, die einen wunderbaren Duft verbreitete. Er nahm sie aus ihrer Hand und reichte ihr aus seinem Beutelchen, das schon eine starke Abnahme zeigte, ein großes Goldstück.

Die Kleine stand verblüfft und hielt das Gold zweifelnd in der Hand. Erst als er schon in die Gondel gestiegen war, sprang sie ihm nach, die Wassertreppe hinunter und streckte ihm den ganzen Korb entgegen.

Aber die Gondel schwamm schon der breiten Brücke zu. Da wandte sich das Mädchen, lief im Flug unter dem Portikus zurück, die Stufen hinauf und erreichte das Geländer, als eben die Gondel unter dem Brückenjoch zum Vorschein kam. Sie reckte ihren kleinen Körper so weit sie konnte und schüttete ihren Korb auf den Vorüberfahrenden aus. Ein Blumenregen ergoß sich über das schwarze Fahrzeug, weiße und gelbe Narzissen, Rosen, Nelken in allen Farben, breite Farnwedel und große Rispen blühenden Flieders, die einen langsamer, die andern schneller fallend, bedeckten das Gondeldach und erfüllten die Luft mit Wohlgerüchen.

Walther, der sich bei dem unerwarteten Bombardement erhoben hatte, las die Blumen zusammen, dankte, winkte mit dem Strauß, während der Gondolier langsamer ruderte und ihm von oben neue Blumengrüße um das Gesicht flogen, denn der Korb hatte seinen Inhalt nicht auf einmal hergegeben, und was noch im Geflechte festhing, wurde von dem Mädchen einzeln nachgesandt.

Viele, die ihr Ziel verfehlt hatten, kamen in der Kielwelle langsam hinterher geschwommen. Das Mädchen lehnte noch immer unter einem Auflauf von Neugierigen am Geländer, während die Gondel davonglitt und bald von dem nächsten Brückenbogen verschlungen wurde.

Walther hatte sich wieder gesetzt, mit einem Berg von Blumen neben sich, und ließ das Märchen seinen Fortgang nehmen.

Eine Zeitlang begleitete ihn das schwindende Tageslicht. Doch die Häuser, die eine Strecke weit vom Wasser etwas zurückgetreten waren, um rechts und links ein schmales Trottoir freizulassen, schlossen sich bald aufs neue zusammen und deckten den Kanal mit Dunkelheit. Ihre vielen blumengeschmückten Balkons waren nur noch tiefschwarze Flecken. Weit herabkletternde Epheuranken schienen mit gespenstischen Armen nach der Gondel zu langen, die schattenhaft vorüberstrich, von Fledermäusen mit geräuschlosem Flügelschlag begleitet. Sie glich mit dem rhythmischen Tauchen der Ruder einem geheimnisvollen, atmenden Wesen, einer von kleinen schwarzen Gespenstern umflatterten Geisterkönigin. Es war schaurig, als schwämme man auf einem Totenfluß an düsteren Unterweltspalästen vorüber, und wenn sich das leise glucksende Wasser an der Bootswand brach, so klang es wie ein Seufzer aus noch tieferer Tiefe. Der Mond, dessen Sichel meist durch die hohen Dächer verdeckt war, gab eine ungewisse Helle, und nichts erinnerte mehr an das Leben der Oberwelt, als ein einzelner, lichtschwacher Stern, der gerade über der Wasserstraße stand. Aber bei der Riva del Carbon wurden sie von hellem Lichterglanz empfangen. Dort gehörte man der Menschenwelt wieder an, und das bewegte Wasser des Canal grande ließ den Zusammenhang mit der lebendigen Meerflut spüren. Jetzt erst erinnerte sich Walther wieder, daß die Mutter zu Hause wartete, und er befahl dem Gondolier, nach links zu wenden. Doch auf der Heimfahrt überkam ihn die Versuchung, noch rasch einen Blick auf sein einstiges elterliches Haus am Rio San Polo zu werfen. Man fuhr in die halb dunkle Wasserstraße ein, in der schon viele Fenster erleuchtet waren und schmale Lichtstreifen über das Wasser warfen.

Walther blickte sich suchend um, er wußte nicht mehr genau, welches Haus das seinige war. Das zur Rechten mit dem breiten Balkon im ersten Stockwerk sah ihn wie mit einem verhaltenen Lächeln an. Waren das nicht die Marmorstufen, die er oft mit seinen Kinderfüßen erstiegen hatte? Er ließ sich näher heranrudern, um die Farbe der Pfähle zu erkennen.

Da ging die Hausthür auf, und eine schöne, klare Stimme rief: »Kommst du endlich?«

Ein Strom von Licht fiel aus dem offenen Eingang in die Gondel, und auf der Treppe mitten in dem Glanze stand eine entzückende Gestalt.

Ein Mädchen in hellem Kleid mit unbedecktem Kopf, den lichtes Haar wie eine Glorie umgab, war mit dem Hut in der Hand herausgesprungen und bog sich dem Heranfahrenden entgegen.

Der Gondolier, der an eine Verabredung glaubte, hielt schon das Fahrzeug an der Treppe fest. Wie im Traum, wo das Wunderbarste sich von selbst versteht, erhob sich Walther und stieg, von dem Gondolier gestützt, aus der Gondel.

Das Mädchen war zurückgewichen, als sie ein fremdes Gesicht erblickte, aber nur einen Schritt.

Da er neben ihr stehen blieb, stand sie gleichfalls unbeweglich, und die beiden schönen jungen Menschen sahen sich eine Zeitlang schweigend an.

Er dachte nichts als: »Das ist sie!« – als ob er sie längst gesucht hätte, als ob er sicher gewesen wäre, sie hier in diesem Haus, auf dieser Treppe zu finden.

Sie fragte endlich: »Wen suchen Sie?«

»Ich hörte Sie rufen und kam,« war Walthers einfache Antwort.

»Ich glaubte, es sei Memo, der mich nach Hause bringen soll«, erklärte sie unschuldig.

»So denken Sie, ich sei Memo,« antwortete er mit seinem sonnigsten Lächeln, »und lassen Sie sich von mir nach Hause bringen.«

Sie sah ihn verwundert, doch ohne eine Spur von Mißtrauen an und schwieg zu seinem Vorschlag.

»Aber ich kenne Sie ja gar nicht,« antwortete sie zögernd, als er ihn wiederholte.

»Nein? – Und mir ist, als hätten wir uns längst gekannt. – Ich bin in diesem Haus geboren,« setzte er zuversichtlich hinzu.

Ein Schweigen, dann kam die Frage: »Sie wollten also jemanden hier besuchen?«

»Nein, ich wollte nur das Haus wiedersehen, denn ich komme von einer langen Reise. – Ist Ihre Wohnung weit weg?«

»O, ganz nah. Schrägüber von der Salute.«

»So kommen Sie doch,« sagte er dringend.

Sie machte noch Einwände. »Wenn Memo unterdessen käme?«

»Er kommt nicht mehr, er hat es vergessen.«

»Mit wem sprichst du denn, Gemma? Wer steht da unten?« rief jetzt eine tiefere Frauenstimme vom Balkon herunter.

»Amici!« rief das Mädchen zurück, gedankenlos die übliche Formel brauchend.

»Also wenn Sie mich für einen Freund erkennen, warum wollen Sie nicht mit mir fahren?« fragte Walther.

»Wer sagt denn, daß ich nicht mitfahren will?« rief sie und sprang jetzt ohne weiteres in die Gondel. Sie setzte sich auf der Mittelbank zurecht und sah mit Verwunderung Walthers mühseligem Einsteigen zu, das ihm selber glücklicherweise gar nicht zum Bewußtsein kam. Die vorsichtige Art, wie er seinen Körper bewegte, machte den Eindruck, als ob er etwas sehr Kostbares und sehr Zerbrechliches unter dem Mantel trüge.

Nun schien sie eine plötzliche Beklommenheit vor dem schönen jungen Menschenbilde zu befallen, das wie aus einer anderen Welt herabgestiegen war. Sie setzte umständlich ihren bändergeschmückten Hut auf und nannte dem Gondolier den Namen ihrer Wohnung, während Walther sich entfernt von ihr auf einer Seitenbank niederließ.

»Die schönen Rosen!« sagte sie befangen und neigte sich auf den Berg von Blumen neben ihrem Sitz nieder. »Darf ich mir eine davon nehmen?«

»Sie gehören ja alle Ihnen,« antwortete Walther, als ob es ganz selbstverständlich wäre, daß alles, worauf ihr Auge fiel, ihr eigen sei. »Sie waren zuerst für meine Mutter bestimmt, aber sie gönnt sie Ihnen gern.«

Das Mädchen lachte.

»Sie kennt mich ja nicht; wie könnte sie mir etwas gönnen wollen?«

»Ich meinte, was mir Freude macht, das macht auch ihr Freude; also dürfen Sie nicht zweifeln, daß sie die Blumen gern in Ihren Händen sehen würde.«

»Es muß schön sein, eine solche Mutter zu haben,« antwortete sie ernsthaft und beinahe ungläubig.

»Haben Sie keine Mutter mehr?«

»Ich? O freilich, eine junge Mutter, eine schöne Mutter. Sie sieht aus, als ob sie meine Schwester wäre. Aber sie hat keine Zeit für mich,« setzte sie nachdenklich hinzu.

Walther wurde gleichfalls nachdenklich, daß es auch solche Mütter gebe, hatte er noch nicht gewußt.

Das Mädchen hatte unterdessen die ganze Blumenmasse auf den Schoß gelegt und wühlte mit innigem Entzücken darin umher, indem sie bald eine einzelne Blume gegen ihr Näschen hob, bald ihren Kopf in der ganzen Fülle vergrub.

Dann begann sie wieder zu plaudern in dem weichen Dialekt, der den Venetianerinnen wie orientalisches Zuckerwerk im Munde zerfließt. »Sie sind sehr gütig gegen mich, aber ich will nicht unbescheiden sein. Ich werde Ihnen die Blumen binden. Einen Strauß für Ihre Mutter, einen für mich, und ich will ehrlich teilen.«

Damit fing sie an, gewissenhaft die Blumen zu sondern und sie in zwei gleichen Teilen zu ihrer Rechten und Linken aufzuhäufen. Walther, der unverwandt auf ihre Finger sah, wünschte, daß dieses Geschäft nie ein Ende nehme. Endlich hatte sie zwei große lockere, völlig gleiche Sträuße zusammengestellt, zwischen denen die Farnkräuter nickten. Um sie zu binden, löste sie das blaßgrüne Band aus ihren hängenden Flechten und ließ es von Walther in zwei Hälften zerschneiden, mit denen sie die beiden Sträuße sorgfältig umwand. Nur die dunkle, hochgestielte Centifolie war übrig geblieben.

»Von dieser Art ist nur eine da, die können wir nicht teilen, darum soll sie Ihnen gehören,« sagte sie, ihm die Rose reichend.

Walther glühte vor Freude. Er wollte die Rose durch das Knopfloch seines Rockes schieben, aber er kam nicht zurecht; der lange Stiel und die Dornen waren ihm hinderlich. Da nahm sie ihm das Mädchen ohne Umstände weg, kürzte den Stiel, streifte die Dornen ab und steckte ihm die Blume an die Brust.

»Was ist Ihnen?« fragte sie erschrocken, denn er war bei ihrer Berührung zusammengezuckt, als sei ihm ein Dorn von ihrer Rose bis ins Herz gefahren, und sie konnte ihn trotz der schwachen Beleuchtung erbleichen sehen.

»Was ist Ihnen?« fragte sie noch einmal ängstlich. »Fühlen Sie sich unwohl?«

Er schüttelte mit glücklichem Lächeln den Kopf, denn er erinnerte sich nicht mehr, daß er jemals krank gewesen, daß man ihn vor jedem rauhen Lüftchen, vor jeder Erregung, selbst vor der Freude behütete.

Sie fuhren unter den Lichtern des Canal grande hin, einen Strom von Wohlgerüchen aus ihrer Blumengondel hinter sich lassend; es war, als schwämme mit dem schönen jungen Menschenpaar der Frühling selbst über die dunklen Fluten.

Das Mondlicht, das zu den Fenstern des Gondeldachs hereinsah, und der matte Laternenschein im Innern ließen eines die Züge des andern deutlich erkennen, und sie sahen sich abwechselnd lange an, wobei immer das eine die Augen abwandte, um dem andern zum Beschauen Zeit zu lassen.

»Dort drüben ist schon mein Haus,« rief sie plötzlich. »O, wie schnell das gegangen ist!«

Er saß bestürzt mit dem Ausdruck der Bekümmernis und einer schüchternen Bitte im Gesicht, während jeder Ruderschlag sie dem Ziele näherbrachte. Aber er sagte nichts als: »Morgen wird es mir sein, als ob ich geträumt hätte.«

Sie sah ihn erwartend an, da faßte er sich ein Herz und fragte: »Würde man Sie denn sehr vermissen, wenn Sie etwas später kämen?«

»Wer soll mich vermissen! Die Mutter ist nicht zu Hause. Niemand erwartet mich mehr. Sie glauben, ich sei bei meiner Freundin geblieben.«

»O dann –« begann er und wagte seine Bitte nur durch einen Blick zu vollenden.

»Wenn es Ihnen nicht zu viel ist, wenn Sie die Zeit haben,« antwortete sie mutiger als er, »so würde ich gerne noch ein wenig weiter fahren. Nur um die Spitze der Salute herum. – Der Abend ist so schön und – sollten Sie es glauben? – ich bin noch nie auf der Lagune gefahren.«

Nur einen Augenblick schoß ihm der Gedanke an die ängstlich wartende Mutter durch die Seele, aber ehe er ihn recht gefaßt hatte, war er im Taumel des Entzückens untergegangen. Sein ganzes Gesicht strahlte; er winkte dem Gondolier, und beide setzten sich wieder auf ihren Bänken zurecht, wie im neu gesicherten Besitz eines großen Glücks.

Das Boot fuhr mit kräftigem Schwung an Gemmas Hause vorüber. Im zweiten Stockwerk sah man ein einziges Fenster erleuchtet, dort hinauf deutete das Mädchen und sagte: »Hier wohnt mein Vater. Er ist alt und kränklich und geht früh zur Ruhe; um diese Zeit fragt er nicht mehr nach mir.«

»Und Ihre Mutter nimmt Sie nicht mit, wenn sie ausgeht?«

»Wie sollte sie denn?« lachte das Kind. »Ich bin ja noch viel zu jung, im Mai werde ich erst fünfzehn.«

»Merkwürdig, auch ich bin im Mai geboren,« rief Walther.

Nach Feststellung dieser Thatsache war es ihm, als sei er ihr um ein Beträchtliches nähergerückt, und er wagte die Frage, womit sie sich denn den ganzen Tag beschäftige.

»Ei,« antwortete sie mit naivem Erstaunen, »ich spiele Karten mit Papa, ich füttere den Morino – das ist unser Hund – und besuche meine Freundin. – Sie ist viel älter als ich und schon verheiratet,« setzte sie mit Wichtigkeit hinzu.

Er sah sie bewunderungsvoll an und dachte, daß sie etwas unendlich Stolzes und Vornehmes sein müsse, die Tochter eines alten, kranken, abgesetzten Dogen. Was sie ihm sonst von ihrem Leben erzählte, hörte er nur, soweit es sich mit dieser Vorstellung vertrug. Einzig von jenem Memo hätte er gerne gewußt, wer er war, doch scheute er sich, zu fragen.

Aber als ob sie seinen Wunsch erriete, fuhr sie in ihrem Geplauder fort: »Und dann ist noch der Memo da. Er ist mein Bruder aus des Vaters erster Ehe und er thut mir alles zuliebe. Er bringt mich jeden Tag zu meiner Freundin. – Aber das dürfte er doch nicht wissen, daß ich mit einem fremden Herrn auf der Lagune spazieren fahre.«

»Ich bin kein fremder Herr,« antwortete Walther, und da er fühlte, daß dieser Ausspruch einer Begründung bedurfte, fügte er hinzu: »Ich bin in dem Hause geboren, wo Ihre Freundin wohnt.«

Daß dies ein Band zwischen ihnen sei, ließ sie gelten, und nun wollte sie auch seinen Namen wissen, auf den er sich erst besinnen mußte, so gänzlich war er aus Raum und Zeit entrückt. Sie sprach ihn richtig nach und sagte dann: »Ich heiße Gemma. Sie haben es schon gehört. – Es giebt auch einen Stern, der Gemma heißt; kennen Sie ihn? Ein Freund meiner Mutter hat ihn mir gezeigt.«

Sie deutete mit der Hand nach dem Himmelsgewölbe, aber in ganz unbestimmter Richtung.

Walther suchte mit den Augen am Firmament, an dem Tausende und Tausende von Sternen funkelten. Sie strahlten jetzt heller, und das ganze Gewölbe schien höher hinaufgerückt, weil der Mond schon untergegangen war. Walther kannte die meisten unter ihnen, aber Gemmas Stern konnte er zu seiner Bekümmernis nicht entdecken.

Doch sie dachte schon nicht mehr an ihre Frage, denn ihre Aufmerksamkeit ward anderswohin gezogen.

Sie that plötzlich einen lauten Freudenschrei: mehrere Sternschnuppen waren rasch nacheinander gefallen, und da gleich darauf ein paar zerstreute Lichter über dem Wasser aufblitzten und ruhig stehen blieben, sah es aus, als ob die gefallenen Sterne im Meere weiter glänzten.

Sie hatten die Spitze der Salute umschifft, und vor ihnen breitete sich die Lagune mit ihren erleuchteten Inseln ins Unendliche aus. Auch Gemmas Gezwitscher verstummte allmählich unter dem Banne der Wundernacht. Die beiden jungen Menschenkinder saßen jetzt nebeneinander, ihre Kleider streiften sich und ihre auf die Bank gestützten Hände näherten sich einander von selbst, doch ohne sich zu berühren.

»Gemma! – Gemma! – Gemma!« wiederholte Walther leise mit unaussprechlicher Andacht.

Wie lange sie fuhren, wußte niemand als der Gondolier, der am Ende wieder in breitem Bogen der Stadt zuwendete. Und nun erschien ein neues, noch magischeres Schauspiel vor ihren Augen. Das Ufer war hell erleuchtet, und sein Glanz strahlte aus dem Wasser zurück, wie ein umgekehrtes Firmament. Dahinter flammten die ferneren Lichter der Piazza und ließen dort noch größere und geheimnisvollere Wunder ahnen. Der lange Bogen der Riva mit endlosen Lichterreihen glich dem feurigen Doppelschweif eines Kometen. Der Lichteffekt war zauberhaft, und ein leichtes Wellenspiel verwandelte seinen Widerschein im Wasser zu zahllosen Flammenspießen, die auf und nieder zuckend eine unnahbare, beleuchtete Feeenstadt umgürteten. Näher und näher kam das zauberische Bild, der Gondolier ruderte immer rascher, man konnte schon den Säulengang des Dogenpalastes erkennen und zwischen den feststehenden Lichtern kleine bewegliche Lichtlein: die Laternen der Gondeln, die an der beleuchteten Riva hinhuschten.

Die Fahrt ging zu Ende, sie bogen in den Canal grande ein. Walther sah jetzt dem Ziel ohne Bangigkeit entgegen, beide lächelten einander zuversichtlich und glückselig an, als ob sie von je zu einander gehört hätten.

Plötzlich fiel ihm das Geschmeide ein, das er gekauft hatte, ohne seine Bestimmung zu ahnen. Er zog es aus der Tasche, entfernte geräuschlos die Umhüllung und wickelte es heimlich und schnell um den Blumenstrauß, der neben ihm auf der Bank lag.

Dann reichte er ihr den frisch gebliebenen Strauß und bat sie um den ihrigen, den sie noch immer im Arme hielt und so oft mit warmen Fingern gestreichelt hatte, daß die Blumenköpfchen ganz matt herunterhingen.

Sie ließ sich den Tausch gefallen, nachdem er ihr versichert hatte, die Blumen würden sich in seinen Händen erholen und am andern Morgen frisch und strack im Glase stehen. Er mußte ihr das Geheimnis dieser Auferweckung mitteilen, und sie versprach mit den ihrigen das gleiche zu thun.

Walther lachte mit seinem stillen inneren Lachen, denn er sah sie schon in ihrem Zimmer stehen, wie sie den Strauß aufband und wie die goldenen Kettchen zu ihren Füßen niederklirrten. Diese Vorstellung machte ihn so glückselig, daß er jetzt sogar Eile hatte, sich von ihr zu trennen, um nur nicht vorzeitig entdeckt zu werden. Doch das Geschmeide lag sicher unter dem Seidenband, und Gemma hielt den Strauß ahnungslos im Arm. Mit wenigen Ruderschlägen war das Haus vollends erreicht.

Noch ein fester Händedruck, ein gestammelter gegenseitiger Dank und ein wiederholtes »Auf Wiedersehn!« – dann entsprang sie aus der Gondel und im nächsten Augenblick war sie in der offenen Hausthür verschwunden.

Selig träumend fuhr er allein zurück, dem Lichterglanz der Piazzetta entgegen. Aber er schloß die Augen, er konnte nichts weiter genießen. Seine Pulse bebten, die Glücksfülle in seinem Busen war kaum mehr zu bewältigen. Er dachte darüber nach, wie viele Fäden, von Anbeginn gesponnen, an diesem einen Punkte hatten zusammentreffen müssen, um die heutige Begegnung zu ermöglichen, und er sagte fort und fort zu sich selber: »Es ist ein Wunder; das war das Glück.« – – –

Auch der Gondolier lernte jenes Tags an Wunder glauben, denn ihm erschien das Glück ebenfalls, wenn schon in andrer Gestalt. Noch Jahre danach erzählte er von der Spazierfahrt des schönen fremden jungen Nabob, der so unscheinbar gekleidet war und doch das Gold mit vollen Händen um sich streute wie ein König.

Die Mutter erschrack, als sie nach langen, bangen Stunden des Harrens in Walthers Augen blickte, die wie Diamanten glänzten, denn diesen Glanz hatte sie sonst nur in seinen Fiebernächten an ihm gesehen. Aber sie machte ihm keine Vorwürfe über sein langes Ausbleiben und mochte ihn auch nicht mit Fragen bedrängen.

Vor dem Schlafengehen fing er von selbst zu reden an. Er fiel ihr um den Hals und dankte ihr wieder und wieder, daß sie ihn herbegleitet hatte.

»Wie gut, daß wir gleich gereist sind! Wie gut, daß du nachgabst, als ich sagte: morgen! Jetzt weiß ich erst, warum so viel daran lag, daß wir gestern schon in Bozen waren, daß ich gerade heute, diesen zwanzigsten März, Schlag acht Uhr vor unsrer alten Wohnung war.«

»Warum lag denn so viel daran?« fragte sie erstaunt. »Hattest du eine Begegnung dort?«

Er drückte lächelnd die Augen ein und antwortete nicht.

»Darf ich nicht wissen, mit wem?«

Er schwieg aufs neue; nach einer Weile sagte er: »Mit dem Glück.«

»Woran erkanntest du, daß es das Glück war?«

»Ich sah es ihm an.«

»Und wie hieß es denn?«

Das wollte er nicht sagen, aber er faßte die Mutter zärtlich in die Arme. »Sei nicht böse; sieh, diese Blumen hat es für dich gebunden. Gieb mir ein Glas, damit ich sie gleich ins Wasser stellen kann.«

Er wickelte das Seidenband von dem Strauß und strich es mit liebevollen Fingern glatt. Dann beschnitt er sorglich jeden einzelnen Stengel und besprengte die müden Kelche mit Wasser, das er in den Mund nahm und geschickt mit hohlen Backen auf sie ausblies.

»Warst du denn nicht mit Gerlach?« fragte sie unruhig.

Er sah sie listig von der Seite an und antwortete nicht, sondern bemühte sich eifrig um die Blumen, wobei er mehrmals leise auflachte, denn er dachte sich jetzt Gemma mit dem Geschmeide in der Hand bei ihrem Blumenstrauß stehend.

Der roten Rose widmete er eine besondere Sorgfalt und stellte sie in ein eigenes Glas neben sein Bett. – »Denn diese eine ist mein,« sagte er mit Stolz zu der Mutter.

Daniela hatte schon in seinen klaren Zügen gelesen, daß nichts Unreines an ihm vorübergestreift war. Dennoch suchte sie ihn mit instinktiver Eifersucht auf andre Gedanken zu bringen.

»Sieh, was unterdessen für dich gekommen ist,« sagte sie, ihn in die Ecke des Zimmers führend. »Die Staffelei, die Leinwand, schon aufgespannt, und ein ganzes Kistchen voll Farbentuben.«

Walther ging umher und fuhr mit der Hand über die Gegenstände, die der freundliche Onkel geschickt hatte, wie ein Kind, das sein Spielzeug liebkost. Aber er betrachtete nichts genauer, vor seinem Geiste stand nur Sie. Er sah sie wieder auf die Wassertreppe treten und hörte sie: »Kommst du endlich?« rufen, und wieder und wieder sagte er zu sich selber: »Es geschehen Wunder. Das war das Glück.«

Sonst war ihm die Mutter des Abends beim Entkleiden behilflich, weil ihm das Bücken wehe that, aber heute ließ er es nicht zu. Er wollte an diesem glücklichen Tage nicht an sein Siechtum erinnert sein.

Als er zu Bette lag, wickelte sie ihn nach ihrer Gewohnheit fest in die Decken ein, stellte den Schirm vor das Nachtlicht und setzte sich neben sein Bett, aber sie redeten nicht mehr zusammen.

Nur einmal richtete er noch den Kopf in die Höhe und sagte mit triumphierendem Tone: »Weißt du, Mütterchen, ich werde doch noch ein Maler.«

Dann entschlief er. Sie saß noch lange und horchte auf seine leisen Atemzüge, bevor auch sie zur Ruhe ging.


Doktor Treu war der erste, der am nächsten Morgen im Gasthof erschien, um zu fragen, wie die beiden Reisenden geruht hätten. Man sagte ihm, daß Sohn und Mutter noch schliefen.

Als er zwei Stunden später wiederkam, fand er Daniela auf ihrem Zimmer mit einem Strauß köstlich duftender Blumen auf dem Tisch, die sich in der Nacht völlig aufgerichtet hatten.

»Wir haben beide herrlich geschlafen, Walther und ich,« antwortete sie auf sein Befragen.

»Und wie fühlt er sich jetzt?«

»Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen. Um acht Uhr war ich in seinem Zimmer, da lächelte er mich so selig an, ohne die Augen zu öffnen, daß ich ihn nicht in seinen Gedanken stören mochte.«

Sie plauderten eine Zeitlang, dann wünschte der Arzt seinen Patienten zu sehen. Sie erhob sich sogleich und huschte ins Nebenzimmer. Der Arzt hörte sie leise den Namen ihres Sohnes nennen.

»Ich weiß nicht, ob er schläft oder sich verstellt,« flüsterte sie dann an der halb offenen Thüre. »Er hält die Augen geschlossen und lächelt immerzu.«

»Walther!« rief sie noch einmal lauter, aber keine Antwort kam.

Jetzt trat auch Doktor Treu ins Zimmer und näherte sich dem Bett.

Der goldene Morgen drang durch die geschlossenen Läden und verbreitete einen milden Schein, noch ohne das in Dämmerung schlummernde Zimmer der Wirklichkeit zurückzugeben.

Treu beugte sich tiefer über den Schlafenden, indem er leise bat, die Läden zu öffnen, und legte ihm die Hand aufs Herz. So stand er eine Zeitlang laut- und regungslos, während die Sonne unwiderstehlich das Gemach durchflutete und alle die im Schatten des Nichtseins begrabenen Gegenstände, die Bilder an der Wand, das Teppichmuster, die rote Rose im Glas und die seidene Börse, die daneben lag, ins Leben erweckte.

Erst als die Mutter herankam und ängstlich fragte: »Was ist ihm?« trat er schweigend zurück und ließ ihr den Platz frei.

Marmorblässe lag über dem Gesicht des Schläfers wie ein dichter weißer Schleier, den keine Hand mehr heben kann. Sie faßte nach seiner auf der Decke ruhenden Rechten und fuhr zurück, denn sie fühlte eine Hand, die schon seit Stunden erkaltet war.

Drei Tage später fuhren ihn die Freunde in einer ganz mit Blumen zugeschütteten Gondel nach jener stillen, von Möwen umflogenen Insel, nach der die letzte Reise aller Venetianer geht.

Seine Prophezeiung war erfüllt: er hatte auf venetianischem Boden die Genesung gefunden.

Als sie unter dem Sonnenhimmel seinen Sarg noch einmal öffneten, schien sein Lächeln noch strahlender geworden zu sein. Die rote Centifolie, die noch immer nicht welken wollte, hielt er in den gefalteten Händen, und unter seinen breiten Lidern lag ein ganz eigener Ausdruck von freudiger List, als wollte er sagen: »Wenn ihr wüßtet, was ich weiß –.«

Auch der Vater war zur Beerdigung aus Deutschland eingetroffen. Ihn hatte die Nachricht nicht unvorbereitet gefunden, nur daß er sie nicht so früh erwartete. Aber er wunderte sich, seine Frau so ruhig zu sehen. Daniela weinte nicht, sie schien nicht einmal zu trauern, es war als gönnte sie ihren Liebling der südlichen Erde, nach der er so glühend begehrt hatte.

Sobald sie Walther in sein Marmorgrab gebettet hatten, kehrten die Eltern zu ihren Pflichten in Deutschland zurück.

Der Konsul blieb wieder allein, um in der großen, stillen Wohnung am Canal grande sein altes Leben fortzusetzen. Er hat nie erfahren, wer es war, den er an jenem sonnigen Märztag auf San Michele zur ewigen Ruhe betten half. Nach Walthers Begräbnis hatte er sich zwei Tage lang eingeschlossen. Es war eine ganz neue Erfahrung, die er gemacht hatte, denn trotz seiner fünfundfünfzig Jahre hatte er den Tod noch niemals so nahe gesehen.

Aber am dritten Abend erschien er wieder im Klub der »Unerreichbaren« und erzählte mit der ihm eigenen psychologischen Schattierungskunst die Gedanken und Empfindungen, die ihm dabei gekommen waren.


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