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In dem Hochparterre des großen, mehrstöckigen Hauses waren tagaus, tagein die Läden geschlossen, und niemals drang ein Laut von innen nach der Straße. Man hätte die Räume für unbewohnt halten müssen, wäre nicht in den späten Abendstunden ein finster blickender Mann mit schwarzem Haar und Bart und gewählter Kleidung dort aus und ein gegangen. Auch sah man zu jeder Stunde der Nacht einen hellen Lichtschein durch die Läden dringen, der über alle Zimmer gleichmäßig verbreitet war.
Der Finsterling war seit Jahr und Tag das Rätsel des Stadtviertels. Man wußte nicht, was er trieb, noch woher er gekommen war, denn er verkehrte mit keiner Seele, und schon längst dachte niemand mehr daran, sich ihm zu nähern, weil die Wohlwollenden oder Neugierigen, die sich früher ab und zu an ihn herangedrängt hatten, übel angekommen waren. Die Nachbarschaft betrachtete ihn mit Mißtrauen, und wenn ihm Kinder auf der Straße begegneten, rissen sie vor seinem Anblick schleunig aus. Man glaubte, er müsse sich eines Vergehens wegen versteckt halten, und ein dunkles Gerücht wollte sogar wissen, daß der einsame Mann ein Menschenleben auf dem Gewissen habe; da jedoch seine Papiere in Ordnung waren und er regelmäßig seine Steuern bezahlte, war ihm nichts anzuhaben. Er seinerseits belästigte niemanden, nur mit seinen Hausgenossen schien er sich schlecht zu vertragen, wenigstens wechselten häufig die Mieter des oberen Stockwerks, und es hieß dann jedesmal, daß der wunderliche Insasse des Parterres sie hinausgeärgert habe. Das war aber auch alles, was über ihn in die Oeffentlichkeit drang. So wurde man es allmählich müde, sich über ein Geheimnis, zu dem man keinen Schlüssel fand, den Kopf zu zerbrechen, und schließlich gab niemand mehr auf den Menschenfeind und seine fledermausartigen Gewohnheiten acht.
Die Familie Stein, die seit dem Frühjahr den ersten Stock bewohnte, war schon durch das Gerücht gewarnt und hütete sich, mit dem unfreundlichen Hausgenossen in Berührung zu kommen. Es zeigte sich aber bald, daß man ihn nur in Ruhe zu lassen brauchte, um vor seinen Anfeindungen völlig sicher zu sein, denn der Einsiedler ging seines Weges, ohne sich in das Thun und Lassen der neuen Ankömmlinge im geringsten zu mischen. Ilse, die junge Musikschülerin, konnte zu jeder Tageszeit stundenlang auf ihrem Flügel üben, ohne daß aus dem Parterre eine Klage laut wurde. Begegnete man sich zufällig im Hausflur, so ging man mit einem kurzen, aber höflichen Gruße aneinander vorüber, im übrigen sah man sich gegenseitig als nicht vorhanden an.
Seine eigenen Dienstboten wußten über den Sonderling nichts auszusagen, als daß er Müller hieß, Herr Doktor tituliert wurde und Privatgelehrter war. Er galt für wohlhabend, und in der That, eine Lebensweise wie die seinige war nicht mit beschränkten Mitteln zu vereinigen. Seine Wohnung glich nach dem Zeugnis der wenigen, die sie zu sehen bekamen, einem Raritätenkasten, so war sie vollgestopft mit Büchern, Bildern, Karten, kostbaren Instrumenten und mit Sammlungen aller Art. Er hielt einen Kammerdiener und einen Koch, die ihr Amt mit geräuschloser Pünktlichkeit zu versehen hatten und nicht im Hause schliefen. Um Mitternacht speiste er und ging dann regelmäßig bis gegen zwei Uhr morgens spazieren. Den Rest der Nacht benützte er zum Lesen und Schreiben und zur Herstellung und Regulierung von allerlei künstlichen Mechanismen, deren Uhrwerke man in der Stille ganz deutlich ticken hörte; währenddessen mußten alle Räume taghell erleuchtet sein. Bei Sonnenaufgang legte er sich schlafen.
Ein paar Monate waren verflossen, als unerwartet zwischen Parterre und erstem Stock eine Annäherung stattfand.
Zum Haus gehörte ein nicht großer, aber schöner und dichter Garten, zu dem nur der Mieter des Parterres den Schlüssel hatte; dieser aber setzte nie den Fuß hinein – aus Verdruß, so hieß es, über die Balkons der oberen Stockwerke, die nach dem Garten sahen. Auch Ilses Zimmerchen hatte einen solchen Balkon, und das strebsame Kind benützte ihn gerne, um des Nachmittags, wenn die Zimmer vor Schwüle dampften, mit irgend einem ernsten Buche draußen zu sitzen und zu lesen.
Eines Tages nun entglitt ihr das Buch – es war ein Band von Plutarchs Lebensbeschreibungen – und fiel von der Balustrade in den Garten.
Ilse wartete, bis sie am Oeffnen der Läden erkannte, daß Doktor Müller aufgestanden war. Dann schickte sie das Mädchen hinunter und ließ um den Gartenschlüssel bitten, damit sie ihr Buch aus der Nelkenrabatte holen lassen könne.
Das Mädchen kam alsbald zurück mit dem Buch, das Herr Müller selbst aus der Rabatte geholt hatte, und mit dem Schlüssel, den er dem Fräulein für künftige Fälle zur Verfügung stellte. Aus der knappen Form der Botschaft glaubte Ilse eine Beschwerde wegen Störung herauszuhören, und sie sandte augenblicklich den Schlüssel zurück mit der etwas spitzig gehaltenen Versicherung, daß sie künftig achtsamer sein und den Herrn des Gartens kein zweites Mal bemühen werde.
Sie glaubte die Sache abgethan, als zu ihrer nicht geringen Verwunderung In der Vorlage: »Bewunderung«. ( Anm.d.Hrsg.) Doktor Müller in eigener Person mit dem zurückgewiesenen Schlüssel erschien. Er entschuldigte sich zuvörderst, daß seine Botschaft nicht richtig ausgerichtet worden sei, indem ihm nichts ferner gelegen habe, als sich durch die Anfrage um den Schlüssel belästigt zu fühlen.
Er bedauere schon lange, daß der schöne Garten, zu dessen Besuch er niemals Zeit finde, so ganz unbenutzt liege, und es würde ihn freuen, wenn die neuen Hausgenossen sich als die Herren desselben betrachten wollten. Sie möchten die Annehmlichkeiten des Gartens als einen Ausgleich der Unbequemlichkeiten ansehen, die durch einen Hausgenossen von so abweichenden Gewohnheiten gelegentlich verursacht werden könnten.
Einem so lockenden Anerbieten war nicht zu widerstehen, und der Schlüssel wurde nach einigem Zögern mit vielem Danke und mit der Versicherung angenommen, daß man im ersten Stock noch niemals die geringste Unbequemlichkeit von seiten des Parterres verspürt habe, was die reinste Wahrheit war.
Darauf trat Herr Müller, der wohl seit Jahren kein so langes Gespräch geführt hatte, den Rückzug an. Unter der Thür blieb er noch einmal stehen, indem er sich an Ilse wandte, und schien etwas sagen zu wollen. Er sagte aber nichts, sondern geriet plötzlich in Verwirrung, wechselte die Farbe, was seinen harten Zügen einen seltsamen Ausdruck gab, und nahm einen ganz schroffen und unvermittelten Abgang.
Ilse sah ihm betroffen nach. Sie wußte nicht, warum, aber sie hatte in diesem Augenblick die sichere, unabweisbare Empfindung, daß von diesem Manne Unheil ausging, und daß er selbst einmal kein gutes Ende nehmen werde. Doch das entzückte Lob der Eltern, die über die Liebenswürdigkeit und Zuvorkommenheit des unerwarteten Besuchs nicht Worte genug finden konnten, verwischte den peinlichen Eindruck aus ihrer Erinnerung.
War das der gehässige Menschenfeind, der mit der ganzen Welt auf dem Kriegsfuß stand und immer darüber nachdachte, wie er seine Mitbewohner ärgern und aus dem Hause treiben konnte? Nein wahrlich, schlimmer war nie ein Mensch verkannt worden, und Müller mußte seine guten Gründe gehabt haben, wenn er den früheren Mietern schroff begegnet war.
Sein Auftreten zeugte von guter Herkunft und vortrefflicher Erziehung, nur daß ihm die lange Abgeschlossenheit etwas Unsicheres gegeben hatte, das er augenscheinlich hinter einem schroffen Wesen zu verbergen suchte. Alles in allem kam das Steinsche Ehepaar zu dem Schluß, daß es zwar angenehm und interessant wäre, mit Doktor Müller näheren Umgang zu pflegen, daß jedoch dem Sonderling gegenüber die äußerste Vorsicht geboten sei, um ihm nicht beschwerlich zu fallen. Offenbar war er des menschlichen Verkehrs so entwöhnt, daß ihm das Sprechen selber Mühe machte, denn er hatte sogar seine übrigens wohlklingende und nur etwas zu tiefe Stimme nicht mehr recht in der Gewalt.
Es mußten herbe Enttäuschungen, schwere Schicksalsschläge gewesen sein, die den kräftigen, mit glücklichem Aeußeren begabten, anscheinend gesunden Mann in der Blüte der Jahre zur Weltflucht getrieben hatten, und die drei Menschen, die so unerwartet mit ihm bekannt geworden waren, gedachten seiner fortan mit der freundlichsten Teilnahme. Den Gerüchten, die in der Oeffentlichkeit über ihn umgingen, wurde gar kein Wert beigelegt – es war nur natürlich, daß seine ungewöhnliche Lebensweise die Phantasie der Leute in Thätigkeit gesetzt hatte, und daß sein scheues Wesen von den Oberflächlichen als schlechtes Gewissen gedeutet wurde.
Wie es nun auch in Wahrheit um ihn stehen mochte, jedenfalls hatte man in der Familie Stein alle Ursache, Gutes von ihm zu denken. Der Garten mit seinen schattigen Bosketts und Lauben war ein Labsal, das man bald nicht mehr entbehren zu können glaubte. Die überwachsenen Wege wurden gesäubert, die verwilderten Beete beschnitten und gepflegt, und es blieb den glücklichen Nutznießern nichts zu wünschen übrig, als daß der Spender dieser Freuden sie mit ihnen teilen möchte.
Dieser aber hatte sich aufs neue tief in seine Höhle verkrochen und kam nicht mehr zum Vorschein. Vater Stein hatte natürlich gleich des andern Tages im Parterre seine Karte abgegeben, war aber nicht empfangen worden. Somit ehrten die Steinschen Müllers Zurückgezogenheit und machten keine weiteren Versuche, ihm ihren Dank zu bezeigen. Sie beschränkten sich darauf, ihm lästige Geräusche fern zu halten und seinen Gewohnheiten so viel wie möglich Rechnung zu tragen. Ilse band sich mit ihrem Klavierspiel freiwillig an die Stunden, wo sie hoffen konnte, ihn am wenigsten zu stören, und wenn sie fortan nach Mitternacht die Hausthür knarren hörte, so dachte sie teilnehmend: »Jetzt macht er sich auf den Weg,« und ihre Phantasie begleitete ihn auf seinen nächtlichen Wanderungen.
Obgleich er ihr niemals in den Weg trat, schien es dem jungen Mädchen, als ob zwischen ihm und ihr ein heimlicher Faden angesponnen wäre. Wenn sie ihm begegnete, warf er ihr lange, forschende Blicke nach, die sie mehr empfand als sah und die sie sich bei seinem sonstigen Wesen nicht recht zu deuten wußte. Daß ihre Erscheinung auffiel, war ihr zwar nichts Neues, denn sie war eine schlanke, anmutige Jugendgestalt mit einer ernsten Lieblichkeit im Antlitz, die zu Herzen ging. Aber Müllers Blicke suchten nicht ihr Aeußeres, sie drangen mit bohrender Schärfe nach innen, als ob sie ihr das heimlichste Empfinden und Denken abfragen wollten.
Ilse fühlte sich zu dem Einsamen hingezogen, denn sie war selbst durch Anlage und Erziehung eine einsame Natur. Sie redete nie ein überflüssiges Wort und führte Krieg mit allem Schiefen, Unwahren und Verschwommenen. Der väterliche Einfluß, der im Hause Stein überwog, hatte sie über ihre Jahre hinaus gereift und ihren Sinn frühzeitig auf ernste Dinge gelenkt. Sie lebte ganz in einer geistigen Welt. Mädchenfreundschaften hatte sie keine, und seitdem ihr einziger Bruder auswärts studierte, fehlte ihr aller kameradschaftlicher Verkehr. So weckte der schweigsame Hausgenosse, in dem sie verwandte Saiten ahnte, ein heimliches Interesse, das ihr selbst nicht völlig bewußt wurde.
Neuerdings gab sie sich mit Leidenschaft der Pflege und dem Genuß des Gartens hin. Sie war selig, wenn sie mit Gießkanne und Rechen hantieren konnte, und hatte zu jeder Pflanze und jedem Baum ein persönliches Verhältnis. Wenn ihr im Haus die Wände zu eng wurden, so eilte sie zu ihren Blumen hinunter und oft warf sie sich mit einem Schrei auf den Rasengrund, um im Uebermaß jugendlicher Lebenslust den Erdboden ans Herz zu drücken.
Auch des Abends saß sie gerne im Freien und studierte aus einer Sternkarte, die ihr der Vater geschenkt hatte, den Fixsternhimmel, indem sie beim Schein eines Windlämpchens die Zeichen der Karte mit denen des Firmamentes verglich. Jede neue Entdeckung wurde mit Jubel begrüßt. Der strahlende Arktur, die Vega, der zierliche Delphin und all die andern sommerlichen Gestirne waren ihr schon liebe Freunde geworden, deren Platz sie immer mühelos wiederfand. Nur ein Stern erster Größe, den die Karte verzeichnete, wollte sich ihrer Beobachtung nicht stellen. Dort drüben über dem Bergwald, dessen Kuppe vom Garten aus sichtbar war, hätte nach ihrer Berechnung die Capella aufgehen müssen, und Ilse wartete Abend für Abend auf ihr Erscheinen; doch das Gestirn that ihr diesen Gefallen nicht. Die Eltern, die sich zuerst an den astronomischen Studien mit beteiligt hatten, wurden es bald müde, sich die Hälse zu verdrehen, und ließen, sobald es dunkelte, ihr Mädchen allein im Garten. Einstmals nun, als sie sich über ihrer Karte verspätet hatte, vernahm Ilse plötzlich einen Schritt, ein Schatten tauchte vor ihr auf und sie erkannte den rätselhaften Hausgenossen.
Mit einer Stimme, die wie aus der Unterwelt herauftönte, entschuldigte er sich wegen der Störung und erbot sich, den Garten, in dem er sich ganz allein geglaubt habe, sogleich zu verlassen.
Ilse erhob sich befangen und antwortete, daß sie sich ihrer dilettantischen Liebhaberei schämen müßte, wenn sie dadurch den rechtmäßigen Besitzer des Gartens vertrieben hätte, und daß es vielmehr an ihr sei, den Platz, den sie über Gebühr in Anspruch genommen habe, zu räumen.
Dies ließ natürlich Müller nicht zu, ein Wort gab das andere, und man kam zu dem Schluß, daß der Garten groß genug für beide sei. Statt aber nach dieser Erkenntnis seine Wanderung fortzusetzen, blieb Müller stehen und sagte, indem er sich über die auf der Bank liegende Sternkarte beugte, mit seiner Grabesstimme: »Eine gute Karte; ich besitze sie auch.«
Damit war auf einmal das Eis zwischen den beiden gebrochen. Ilse erzählte ihm von ihren vergeblichen Bemühungen, die Capella zu finden, die doch nach Angabe der Karte über dem Horizont stehen mußte, und Müller, der mit dem Nachthimmel aus alter Gewohnheit vertraut war, erklärte ihr, daß sie auch wirklich da sei, zur Stunde aber noch von dem Berg verdeckt werde. Da er keine Eile zeigte, die Unterhaltung abzubrechen, stellte Ilse noch diese und jene Frage an ihn, wobei es sich zeigte, daß er gute astronomische Kenntnisse besaß und sie nicht ungern mitteilte. Er erschien überhaupt wie die richtigen Nachtgeschöpfe in der Dunkelheit lebendiger als am Tage, und obwohl er nur stoßweise und abgerissen sprach, konnte das Mädchen doch erkennen, daß es ihm wohlthat, eine freundliche Menschenstimme zu hören.
Am Ende holte er sogar ein schönes, großes Teleskop aus seiner Wohnung herbei, das er im Garten aufpflanzte, um ihr die zunehmende Mondsichel darin zu zeigen.
Ilse, die den Mond noch nie durch ein Fernrohr gesehen hatte, schrie fast auf vor Erstaunen über den Anblick dieser fernen einsamen Welt mit ihren abenteuerlichen Formationen, ihren Trichtern und Wällen, die weißschimmernden Eiszapfen glichen und über deren ewiger Todesstille soeben eine junge Sonne aufging.
Müller stand geduldig hinter ihr, um das eilende Gestirn, das ihrer Betrachtung nicht standhalten wollte, immer wieder in den Rahmen seines Fernrohrs einzufangen. Unendliche Räume waren vor den beiden aufgethan, während ihre nächste Umgebung mehr und mehr in Stille und Dunkelheit versank. Ilse kam es vor, als schwebte sie selbst auf der stillen, lichtumflossenen Geisterinsel da oben, und in Weltenferne sei ihr keine andere Seele mehr erreichbar, als die ihres geheimnisvollen Führers, der mit ihr die ewigen Einsamkeiten durchwanderte.
Aber plötzlich trat der Mond hinter eine Wolke, und Müller, wie aus einem Traume auffahrend, schob rasch sein Instrument zusammen, nahm das Gestell unter den Arm und entfernte sich mit einer stummen Verbeugung.
Ilse stand unbeweglich, bis er hinter der Thür seines Gartenzimmers verschwunden war, und als sie später ihren Eltern von der seltsamen Begegnung erzählte, mußte sie sich selber fragen, ob sie nicht das alles geträumt habe. Aber wochenlang beschäftigte sie die Erinnerung an das Erlebte und sie hätte viel darum gegeben, noch einmal einen Blick durch das Teleskop ins Land der Wunder thun zu können. Müller ließ sich jedoch kein zweites Mal sehen, es war, als ob es ihn reute, so menschlich mit einem jungen Menschenkind verkehrt zu haben, und Ilse verlor nun mit einemmal den Geschmack an der einsamen astronomischen Beschäftigung.
Doch eines Abends, als die Eltern schon schliefen und Ilse allein mit einem Buch bei ihrer Lampe saß, fiel ein Steinchen gegen ihr Fenster, und unten bei der Nelkenrabatte stand Müller, der ihr hastig winkte, herabzukommen. Ilse verstand sofort, was er ihr mitteilen wollte; sie nahm ein Mäntelchen um und huschte die Treppe hinunter in den Garten.
Die Sterne funkelten groß und mächtig, und über dem Bergwalde lag eine Helligkeit, aus der rote, grüne und blaue Strahlen hervorzuckten; es war die Capella, die mit unerhörtem Glanz, fast mondhell und farbenwechselnd emporstieg. Ilse sah mit andächtigem Entzücken dem Aufgang des Gestirnes zu, das sich einen Augenblick wie ein Flammenzeichen auf die Spitze des Berges pflanzte und dann unter fortdauerndem Strahlenwerfen seinen Siegeszug gegen den höheren Himmel fortsetzte. In ihrer Freude dankte sie dem einsamen Mann, als ob er ihr ein Geschenk gemacht hätte.
Dieser aber nahm ihre freundlichen Worte mürrisch auf. Ein menschenfeindlicher Geist schien sich seiner bemächtigt zu haben, denn als Ilse nach einiger Zeit die Bemerkung machte, daß die Capella auf einer gewissen Höhe ihr Farbenspiel einstellte und nun mit einemmal sogar kleiner erschien, da lachte er höhnisch auf und sagte: »Sie macht es wie unsre irdischen Schönheiten, wenn sie am Ziele stehen und die Blendung nicht mehr nötig haben.«
Ilse sah ihn verwundert an und wußte nicht, was sie mit diesem Ausfall machen sollte. Er lenkte auch sogleich ein, indem er ihr erklärte, daß das Farbenspiel und die scheinbare Größe des Gestirns beim Aufgang nur eine durch den Dunst hervorgebrachte Täuschung der Augen sei. Doch konnte er es nicht lassen, in beißendem Tone hinzuzusetzen: »Es ist alles Täuschung – da oben am Himmel so gut wie hier auf der Erde. Das merken Sie sich beizeiten, mein junges Fräulein.«
Jetzt wurde Ilse seine Nähe unbehaglich; er erschien ihr auf einmal wieder wildfremd, und ein Frost ging von ihm aus, den sie körperlich zu spüren glaubte. Sie zog ihr Mäntelchen zusammen und eilte, aus dem Garten zu kommen.
Aber Müller hielt mit ihr Schritt und fragte mit seiner hohlen Stimme, ob ihr denn die astronomischen Studien bereits langweilig geworden seien.
Ilse antwortete gerade heraus, sie sehe, daß er mißgestimmt sei, und wolle ihn daher lieber seiner eigenen Gesellschaft überlassen.
»O, verzeihen Sie,« entgegnete er in einem Tone zwischen Ergebenheit und Ironie, »ich war mir nicht bewußt, verstimmt zu sein. Es ist leider bei mir der natürliche Grundton, was Sie da gehört haben, und wenn Sie mich deshalb meiden wollen, kann ich nie mehr auf Ihre Gesellschaft hoffen.«
»Aber warum –?« begann Ilse stehen bleibend, da unterbrach er sie durch eine Handbewegung:
»Wollen wir einen Bund schließen? Ich bin ein altes, verrostetes, mißtönendes Instrument, aber ich fühle, daß Sie, gerade Sie mich noch gebrauchen könnten. Ich stelle mich mit allem, was ich kann und weiß, zu Ihrer Verfügung. Warum, hat Sie nicht zu kümmern. Behandeln Sie mich als ein Ding, als einen Stock, den man benützt und weglegt, als eine Leiter, auf der man einen Aussichtsturm ersteigt, meinetwegen als ein Nachschlagebuch. Dagegen fordere ich nur das eine, daß Sie ein Auge zudrücken über meine Unarten und mich nie durch eine Frage an mich selbst erinnern. Ich will vergessen, was ich bin, und will nur suchen, mich Ihnen nützlich zu machen. Wollen Sie?«
»Gerne,« antwortete Ilse einfach, denn sie hatte bei aller Bescheidenheit die der Jugend natürliche Ueberzeugung, daß alle ihr geleisteten Dienste sich in sich selbst belohnten. Dabei reichte sie ihm ihre Hand, die er eine Zeitlang in der seinigen hielt, weder fest noch lose, und sie dann ohne Druck wieder frei gab.
Der seltsame Bund befestigte sich darauf von Tag zu Tage. So oft er sie allein wußte, kam Müller zu ihr in den Garten, sie durchstreiften mit dem Fernrohr die himmlischen Räume, er zeigte ihr nach und nach, wie sie in Sicht kamen, die Monde des Jupiter, den Saturn mit seinem Ring, die Venus als Sichel, und belehrte sie über den Umlauf der Planeten. Er lieh ihr Bücher und Karten, schenkte ihr wunderliche Petrefakten und ähnliches. Bald hatte er von merkwürdigen Naturerscheinungen, bald von seltsamen Beobachtungen aus dem menschlichen Leben zu erzählen. Er eröffnete ihrem Geist weite Horizonte, die sie noch nie erblickt hatte, und sie folgte ihm erfreut und dankbar, wohin er sie führte. Sie war noch so jung und so voll Fragen an das Leben, daß sie in dem gereiften weltabgewandten Mann einen einsamen Weisen, einen Magier zu sehen glaubte, der gekommen sei, um sie höheren Erkenntnissen zuzuführen, und ihre Phantasie wob ihm eine Gloriole aus lauter Mondlicht und Sternenglanz.
Nicht so gut wie mit der Tochter verstand Müller sich mit den Eltern, so wohlwollend ihm auch diese begegneten. Wenn Vater oder Mutter hinzukam, so pflegte er sich als Eindringling im Garten zu entschuldigen und in Bälde zu verschwinden. Auch achtete er wohl darauf, durch kein gesellschaftliches Zugeständnis eine Verpflichtung zu übernehmen, die ihn aus seiner Abgeschlossenheit herausgetrieben hätte. Er hielt daran fest, sich als einen Lebendigtoten, einen nur zur Nachtzeit geistweis Umgehenden ansehen zu lassen.
Ilse verlebte ein paar reiche und köstliche Wochen, in denen der Einsiedler nach und nach einen lange gesparten Schatz von Gedanken, Kenntnissen und Erfahrungen über sie ausschüttete. Jedes Zusammensein brachte ihr eine Ueberraschung und ließ ein Gewühl von Fragen, eine Erwartung neuer noch größerer Dinge in ihr zurück, bis ihr ganzer Tag nur ein Warten auf die Dämmerstunde wurde, die sie mit Müller wieder zusammenführte. Die Eltern schüttelten zwar die Köpfe, aber sie kannten ihr Mädchen und legten der ungleichen Freundschaft kein Hindernis in den Weg.
Aber allmählich trübte sich der Himmel über ihrem Haupt. Je bekannter sie wurden, und je mehr Müller sich vor ihr gehen ließ, desto stärker trat jener bittere Grundton, von dem er einmal gesprochen hatte, in seinen Reden hervor. Es war ein Zähneknirschen gegen die ganze Menschheit, gegen Natur und Schicksal, untermischt mit Selbstanklagen, aus denen der herbe Groll um ein verlorenes Leben klang.
»Wie es noch spielen kann, dieses Kind,« sagte er kopfschüttelnd in einem Tone zwischen Neid und Spott, wenn er Ilse so glücklich unter ihren Blumen sah.
Diese suchte ihn mit jugendlichem Feuer von seinem Pessimismus abzuziehen.
»Sind Sie denn nicht auch ein Kind der Natur?« sagte sie. »Sehen Sie sich doch nur um, wie alles Ihnen entgegenkommt. Die Blumen, die Vögel, die blaue Luft und der Sonnenschein alle möchten Ihnen Liebes thun. – Warum können Sie nicht glücklich sein?«
Er deutete schweigend auf seinen Scheitel, den ein verfrühter weißer Streif durchzog, und entfernte sich.
Von solchen Gesprächen nahm Ilse einen heimlichen Stachel mit nach Hause. Mitunter wenn sie am Flügel saß, sanken ihr in einer plötzlichen lähmenden Traurigkeit die Hände von den Tasten. Warum war sie so jung und reich und konnte doch dem Darbenden da unten nichts von ihrem Ueberfluß abgeben? Und er, der Weise und Starke, der auf jede ihrer Fragen die Antwort hatte, wie kam es, daß er nur sich selber weder raten noch helfen konnte?
Nach monatelangem Verkehr wußte sie von ihm nicht mehr als am ersten Tage, denn er bedeckte seine persönlichen Erlebnisse mit dem tiefsten Stillschweigen. Ein einziges Mal war ihm eine Aeußerung entfahren, die sich auf seine Schicksale bezog.
»Auch ich hätte können ein glücklicher Mensch werden,« hatte er vor sich hin gesagt, »aber ich hatte einen Todfeind –«
Hier war er verstummt, als ob er zu viel gesagt hätte, und es war Ilse nicht gelungen, ihm eine weitere Erklärung zu entreißen. Nur auf die Frage, ob dieser Todfeind denn noch immer Macht über ihn habe, hatte er geantwortet: »Er begleitet mich durchs Leben.«
Aber er sagte es in so ironischem Ton, daß sie wieder nicht wußte, ob es Scherz oder Ernst war.
Doch nahm sie eher das letztere an, denn er liebte es, das Ernste in einen herben Scherz zu kleiden, und die Worte gingen ihr beständig im Kopf herum. Sie brachte sie in Verbindung mit einem ihr zu Ohren gekommenen Gerücht, wonach Müller einen Gegner im Duell erschossen haben sollte. Das Bild dieses Toten, meinte sie, sei der Todfeind, der ihn im Leben nicht mehr heimisch werden lasse, und zu der bewundernden Dankbarkeit, die sie ihm entgegenbrachte, gesellte sich das innigste Mitleid. Sie lauschte ihm ab, welche Musik er am liebsten hörte, und vom Klavier aus sprach sie nur noch zu ihm; sie suchte durch den Feenreigen Mozartscher Melodien sein krankes Gemüt zu beschwichtigen und schüttete den Ueberschwang ihrer eigenen Seele in Beethovenschen Sonaten vor ihm aus. Und immer, wenn sie ihn nicht sah, bildete sie sich ein, er gleiche mit seinem wirren Haarschopf ihrer Beethovenbüste.
Das Wiedersehen brachte dann regelmäßig eine Ernüchterung, weil das Bild, das sie sich von ihm machte, auf die wirklichen Maße nicht passen wollte. Doch wie oft sie auch enttäuscht zurückwich, der Bann war nicht zu brechen. Wo sie ging und stand, fand sie sich von den Zeichen einer tiefen, aber bescheidenen Neigung umgeben. Er rührte sie durch kleine Aufmerksamkeiten, die er in seiner Schroffheit gar nicht als solche anerkannt wissen wollte: Unsichtbare Hände füllten die Kannen, aus denen sie ihre Pflanzen begoß, und wie durch Zauber wuchsen um ihren Lieblingssitz neue seltene Blumen empor. Bücher, nach denen sie zufällig fragte, erschienen auf der Stelle, noch unaufgeschnitten und frisch aus dem Buchladen kommend. Ueberhaupt schien Müller nur noch für sie zu leben. Er ging auf alle ihre Interessen ein, suchte ihre Gedanken, ihre Neigungen, ihre geheimsten Wünsche zu erraten. Aber alle Bemühungen, ihm einen Funken Lebenslust zu entlocken, waren vergeblich. Seine Stimmung verdüsterte sich zusehends. Je freundlicher sie ihn anfaßte, um so schmerzhafter zuckte er zusammen; es war, als ob er nur noch feindselige Berührungen ertragen könnte, und Ilse mußte sich endlich sagen, daß sie ihm mit ihrer Freundschaft mehr wehe- als wohlgethan hatte.
Nun beschloß sie, seine Gesellschaft zu meiden, und erschien des Abends nicht mehr im Garten. Aber jetzt verbrachte er halbe Nächte vor ihrem Fenster, sie hörte, wie er ruhelos auf und nieder ging, den Spazierstock, den er aus Gewohnheit immer bei sich trug, dann und wann wie im Zorn über sich selbst in die Erde stoßend, und seine Unruhe teilte sich der Lauscherin mit, die sich fort und fort in bangem Mitleid fragte, was ihm nur fehle.
Wanderte sie am Morgen mit ihren Notenheften nach der Musikschule, so sah sie Müllers Schatten hinter den Gardinen und wußte, daß er, statt wie sonst um diese Stunde zu schlafen, am Fenster stand und auf ihr Vorübergehen wartete. Als er endlich mit allen seinen Gewohnheiten brach und am hellen Mittag wie ein Gespenst im Garten umherschweifte, nur um einen Blick auf ihr Balkonfenster zu werfen oder ihr helles Kleid zwischen den Bäumen schimmern zu sehen, konnte sie nicht länger zweifeln, daß er sie liebte.
Ein heißer Schreck durchfuhr sie, und beim Gedanken, daß er Gegenliebe fordern könnte, bäumte sich ihr ganzes Innere wie gegen einen feindlichen Ueberfall auf. Aber das dauerte nur einen Augenblick. Sie sagte sich sofort, daß er niemals Gegenliebe fordern würde. Eher würde er in aller Stille Haus und Stadt verlassen und auf immer verschwinden, als durch ein Wort verraten, was in ihm vorging. Und wenn sie ihn nun wirklich verlöre, den Freund, an dem sie so viel besessen hatte? Es fiel ihr auf die Seele, welche Lücke er in ihr Dasein reißen würde, wenn er auf ganz und immer verschwände und sie nicht mehr im stande wäre, ihn zurückzurufen. Ihr Herz neigte sich ihm aufs neue und mit verstärkter Teilnahme entgegen. Warum sollte sie seine edle, verschwiegene Neigung nicht erwidern können und ihm durch das Geschenk ihrer Person vergüten, was das Leben an ihm gefehlt hatte? Er freilich hielt sich nicht mehr für fähig, Neigung einzuflößen, weil er sich viel zu alt und zu verbraucht fand. Oder war es der »Todfeind«, der ihm nach seiner Meinung den Weg zum Glücke verschloß? Es reizte sie, mit diesem Todfeind, der ihr den Freund gefangen hielt, den Kampf zu wagen, wie eine Heldin in sein dunkles Reich hinabzusteigen und den Geretteten mit sich an das Tageslicht heraufzuführen. – Dennoch schwankte sie in quälenden Zweifeln. Sie hatte sich die Liebe so ganz anders gedacht, so viel stärker und elementarer, wie eine mächtige Flutwelle, die den Menschen ergreift und fortträgt, ohne daß er fragen kann, wohin. Es ging ihr nicht ein, daß etwas wie Selbstüberredung dabei sein sollte, und sie fühlte doch deutlich, daß dies bei ihr der Fall war. So stand sie ratlos ihrem eigenen Herzen gegenüber.
Der Zufall wollte, daß sie Müller mehrere Tage nicht zu Gesicht bekam. Vielleicht war er krank, vielleicht schon abgereist, sie scheute sich, nach ihm zu fragen, aber es war ihr weh zu Mute, sie hielt es bei keiner Beschäftigung aus, ihre Blumen freuten sie nicht mehr wie sonst, und die ganze Natur schien ihr zu siechen. Wohl zehnmal des Tages huschte sie in den Garten hinab, um nach den Parterrefenstern zu sehen, ob sich nichts dort regte. Eine siedende Angst war in ihr aufgestiegen, daß ihm hinter seinen geschlossenen Läden etwas Böses widerfahren sein könnte. Sie machte sich Vorwürfe, ihn so ganz sich selber überlassen zu haben, die unheimlichsten Bilder traten vor ihre Einbildung, und es schien ihr, als müßte das Leben, wenn sie ihn verlöre, völlig wertlos für sie werden.
In diesen Augenblicken der Angst that sie sich selbst ein heiliges Gelübde, ihn nicht länger in Ungewißheit zu halten, sondern sobald sie ihn wieder sähe, ihm ein unzweideutiges Zeichen ihrer Neigung zu geben.
Es war, als nehme das Schicksal sie beim Wort, denn während sie noch in diesen Gedanken stand und nach seinen geschlossenen Läden blickte, ging ein Flügel auf, ein schwarzer Kopf erschien in der Umrahmung und verschwand sogleich wieder. Aber gleich darauf öffnete sich die Thür des Gartensalons, Müller kam die Stufen herunter und langsam, widerwillig, wie gezogen näherte er sich der Stelle, wo Ilse stand.
»Gott sei Dank,« fuhr diese unwillkürlich heraus, indem sie ihm beide Hände entgegenstreckte.
Er zog die seinige zurück und fragte barsch: »Was wollen Sie von mir?«
Das Mädchen blickte erstaunt zu dieser unfreundlichen Begrüßung.
»Ich suchte mich von Ihrer Gesellschaft zu entwöhnen,« fuhr er fort, »aber Sie haben mich wieder herbei gezwungen. – Ich spüre es durch die Mauer hindurch, wenn Sie mich rufen.«
Ilse verging der Atem, denn jetzt war der Augenblick da, wo sie den vor sich selber abgelegten Schwur halten mußte, und doch spürte sie soeben aufs neue und stärker als je die rätselhafte Abstoßung, die sein inneres Wesen auf das ihrige ausübte.
Sie begann mit wankender Stimme, daß sie sich wegen seines langen Fernbleibens Sorge gemacht habe, aber er ließ sie gar nicht ausreden.
»Das ist ja Unsinn,« unterbrach er sie in feindseligem Ton, »ein Mädchen wie Sie und ich! – Sie belügen sich – es ist gar nicht möglich, daß Sie solchen Anteil an mir nehmen.«
»Sie wissen, daß es möglich ist, sonst würde ich es nicht sagen,« antwortete sie mit der liebenswürdigsten Einfachheit, aber auch diese herzlichen Worte verfehlten ihre Wirkung, denn Müller wurde nur immer finsterer und schüttelte stumm den Kopf.
Ilse nahm einen gewaltsamen Anlauf. »Sie haben mir einmal das Versprechen abgenommen, Sie nie nach Ihren Schicksalen zu fragen. Ich habe es auch bis heute gehalten. Aber jetzt kann ich Sie nicht länger so unglücklich sehen, Sie müssen mir endlich sagen, was es ist, das Sie quält.«
» Sie quälen mich, sonst nichts und niemand. Machen wir ein Ende,« antwortete er rauh und wandte sich zum Fortgehen, aber mit seiner gewohnten Unschlüssigkeit blieb er nach ein paar Schritten stehen und ließ Ilse herankommen, die teilnehmend seine Hand ergriff.
»Warum machen Sie es mir so schwer?« sagte sie mit freundlichem Vorwurf. »Sie müssen doch fühlen, daß ich Ihnen wohlthun möchte.«
Ein Zucken lief über sein Gesicht, das sich für ein skeptisches Lächeln geben wollte, aber mehr nach verhaltenem Weinen aussah.
Er riß seine Hand los, machte ein paar Schritte von ihr weg und sagte umkehrend: »Ich kann Ihnen nicht für Ihre Güte danken, weil ich sie gar nicht auf mich selbst beziehe. Der Mann, dem sie gilt, existiert nur in Ihrer Phantasie. Wenn Sie mich kennten, wie ich bin, würden Sie mir in einem weiten Bogen aus dem Wege gehen.«
Ilse ließ sich durch diesen Ton nicht irre machen. Sie blieb dabei, daß sie an ihn glaube, auch gegen sein eigenes Zeugnis. Sie wisse durch die Geschwätzigkeit der Nachbarn, daß ein tragisches Ereignis sein Leben verdüstert habe. Nach dem Thatbestand habe sie nie geforscht, denn sie wolle seine Geschicke nur aus seinem eigenen Munde kennen lernen. Was es auch sei – Unglück oder Schuld – er dürfe ihr den Freundesanteil an der Last, die er trage, nicht länger vorenthalten.
Müller bohrte während ihres Redens mit dem Spazierstock finster in der Erde. Jetzt lachte er hart und höhnisch auf.
»Unglück! Schuld! Ja, das ist das romantische Netz, worin sich die Phantasie der Jugend verfängt. Dann glaubt man nur die eigene reine Rechte ausstrecken und das Wort der Erlösung sprechen zu dürfen, damit dem Unglücksmann sein vergangenes Leben wie ein abgetragenes Kleid vom Leibe fällt. Aber lassen Sie sich sagen, Ilse, daß ein jeder nur sich selbst erlösen kann, wenn er das Zeug zu einer Wiedergeburt in sich hat. Können Sie dem, der sich zum Krüppel geboren weiß, das Vertrauen in die eigenen Kräfte und die Freude an sich selber geben, ohne die alle Erdengüter nichtig sind? Ja, nichtig auch die Liebe, so blasphemisch Ihnen das klingen muß, denn im tiefsten Grunde hat und genießt ein jeder nur sich selbst. Oder können Sie Wunder thun? Können Sie dem Verstümmelten das verlorene Glied ersetzen, daß er jubelnd die Krücke ins Gras wirft und mit Ihnen zum Tanze geht? Nein, Ilse, das können auch Sie nicht – und wenn Sie es könnten, Sie würden es nicht einmal wollen.«
»O doch,« murmelte sie niedergeschlagen, »ich würde es wollen.«
»Sie würden nicht. Ich weiß wohl, daß Sie glauben, mir gut zu sein, aber es ist nur Romantik, die Sie blendet. Träte ich Ihnen um einen einzigen Schritt näher, so würde die Blendung weichen und Sie führen mit Grauen zurück. Doch seien Sie ruhig, in diese Lage bringe ich Sie nicht. Dazu bin ich ein zu guter Menschenkenner und wenn Sie wollen, zu eitel.«
»Nein, nein, so ist es nicht. Ich kenne Sie besser,« antwortete Ilse in einem Protest, der immer leiser wurde, während ihr der Kopf allmählich bis auf die Brust heruntersank, wie überwältigt vom Gewicht einer Wahrheit, die sie fühlte, aber nicht verstand.
»So, Sie kennen mich besser?« sagte er und hieb mit dem Stock ein paarmal in die blühenden Rabatten, daß es Ilse war, als ob mit ihren Blumen ihr eigenes Herz entblättert würde. – »Aber haben Sie sich zum Beispiel vorgestellt, wenn ich so malerisch in die Fetzen meines Lebens drapiert vor Ihnen auf und nieder ging und die Teilnahme sah, die ich Ihnen einflößte, daß ich dabei heimlich lachte über mich und über Sie – und am meisten über die späten, viel zu späten Wünsche, die in mir erwacht sind? Und doch konnte ich mir's nicht versagen, ich mußte diese letzte Genugthuung auskosten. Vielleicht war ich auch Komödiant genug, absichtlich zu Ihrer Täuschung beizutragen.«
Er schwieg eine Weile, als ginge er mit sich selber zu Gericht, dann fuhr er fort: »Ja, es war eine elende Schauspielerei, was ich vor Ihnen aufgeführt habe. Aber ich will mich selber strafen, indem ich Ihnen mein wahres Porträt zeichne. Sie sollen die Geschichte meines Lebens hören, nicht wie sie sich im Munde einer mitleidigen Gevatterin ausnehmen würde, sondern so, wie ich selbst sie erlebt habe.«
Er ging ihr voran den Laubgang hinauf, indem er aufgeregt mit dem Stock in die Zweige hieb, daß die Blätter flogen. Ilse folgte in der Erwartung, daß er rede, aber er ging schweigend immer weiter. Endlich blieb er bei der Steinbank stehen, an dem Ort, wo ihre Freundschaft begonnen hatte, hieß Ilse sitzen und setzte sich selber weit entfernt von ihr am äußersten Ende der Bank nieder, als ob sie schon durch Welten geschieden wären.
Dort saß er lange stumm und starrte mit gefurchter Stirne vor sich hin. Dann lachte er noch einmal auf, daß es unheimlich durch die Stille klang, und sagte, als Ilse zusammenfuhr: »Erschrecken Sie nicht, meine Geschichte ist mehr zum Lachen als zum Weinen. – Ich sagte Ihnen einmal – zur Zeit, als ich in der bewußten Draperie einherging –, daß mein Todfeind mich durchs Leben begleite. Sie antworteten: ›Ihr Todfeind ist Ihr Pessimismus,‹ und Sie hatten vielleicht recht, aber mein Rätsel hatten Sie nicht getroffen. Der Feind, den ich meinte, ist – mein Name. Hören Sie das Lächerlichste, was es geben kann.
Mein Vater war der unruhigste und unharmonischste aller Menschen. Sein ganzes Leben bestand aus unglücklichen Versuchen, denn er liebte es, mit allem zu experimentieren, am meisten mit den Schicksal seiner Angehörigen. Aus bizarrem Hang und um, wie er sagte, unsre Charaktere zu stärken, gab er seinen Kindern absonderliche Namen, die uns frühe in Kampf mit der Welt verwickeln mußten. Die Mutter, die ihm keine eigene Kraft entgegenzustellen hatte, fügte sich in seine Launen wie in ein Naturgesetz, und ich glaube, daß sie sehr unglücklich gewesen ist, ohne es selbst zu wissen. Sie hatte das traurigste Gesicht von der Welt und war dabei immer aufgeräumt, weil der Vater es so haben wollte. Wenn sie lachte, so klang es wie aus einer zersprungenen Glocke. So mag sie auch gelacht haben, als er aus Geschichte und Mythologie die tollsten Namen für uns zusammenklaubte. Wäre es wenigstens eine antiquarische Vorliebe gewesen, dergleichen sonst wohl vorkommt, aber ihn trieb lediglich die Gewaltsamkeit und die Sucht zu experimentieren. Meinen Bruder taufte er Romulus, meine Schwester machte er auf Zeitlebens unglücklich durch den Namen Isis, ein jüngerer Sohn Ormuzd starb ihm zum Glück schon in der Wiege – mich, seinen Erstgeborenen, traf er am schwersten durch den Namen Pelops.
Ich konnte noch nicht zusammenhängend reden, als ich schon empfand, daß zwischen mir und der umgebenden Welt etwas nicht in Ordnung war. Wenn ich gefragt wurde, wie ich heiße, so scheute ich mich, zu antworten, denn ich hatte bemerkt, daß die Leute über meinen Namen staunten und lachten, und dieses Lachen verletzte mich, so klein ich war. Aber meine wahre Not begann erst in der Schule. Sie wissen, daß Kinder an allem Fremdartigen Anstoß nehmen, wo aber gar das Fremdartige mit einem Schein von Lächerlichkeit umgeben ist, da sind sie unerbittlich. Ich habe meines Namens wegen ungezählte Prügel bekommen und ausgeteilt. Denken Sie sich die engste und konventionellste Welt, wo seit Jahrhunderten alles im hergebrachten Geleise geht. Aber gerade damit hatte mein Vater gerechnet. Es war noch das Geringste, daß sich nach der Schule häufig die ganze Klasse in zwei Reihen aufstellte und mich nötigte, durch diese Gasse Spießruten zu laufen, wobei mir von rechts und links, von vorn und hinten: Pelops! Pelops! Pelops! zugeschrieen wurde. Viel tiefer schmerzte es mich, wenn mir der eine oder der andere eine Zeitlang Freundschaft heuchelte, um mir dann meinen Namen wie ein Schimpfwort ins Gesicht zu werfen und lachend wegzuspringen. Glauben Sie mir, die Wunden, die unserm Gemüt in der Kindheit geschlagen werden, sind die schwersten von allen, und sie verheilen niemals ganz. Ich schlug oft mit Fäusten auf den Namen Pelops ein, wenn ich ihn so groß und prangend auf meinen Schulheften stehen sah, ich zerkratzte ihn mit den Nägeln, wie wenn ich einen Todfeind körperlich vor mir hätte, denn der geschriebene Name hatte für mich ein eigenes Gesicht, und bisweilen schien es meiner erregbaren Einbildungskraft, daß er mir Fratzen schneide.
Wie oft kamen wir beide Brüder heulend nach Hause und erklärten, nicht wieder in die Schule gehen zu wollen, bevor man uns erlaubt hätte, unsre Namen zu ändern. Dann nannte der Vater uns Feiglinge, und wenn wir aufbegehrten, gab es Hiebe. Die Mutter aber suchte uns auf ihre Weise zu trösten, indem sie mit ihrem traurigen Gesicht sagte: ›Seid doch lustig, Kinder, und nehmt die Dinge nicht so schwer. Wenn ihr größer seid, werden die Verfolgungen schon aufhören.‹
Sie hörten aber nicht auf, sondern wechselten mit den Jahren nur die Form, und mein entwickelteres Ehrgefühl brachte sie mir noch schärfer zum Bewußtsein. Hatten mich die Kameraden in der Quinta einfach ausgelacht und geprügelt, weil mein Name ihnen befremdlich klang. so gab später in der Sekunda und Prima, als wir die alten Klassiker kennen lernten, der Mythus von dem Tantaliden Pelops, den sein Vater den Göttern als Speise vorsetzte, endlosen Stoff zu Sticheleien.
Es schwirrte mir um den Kopf von boshaften Citaten aus griechischen und römischen Schriftstellern, die eigens zu diesem Zwecke aufgespürt worden waren, in die Aufsätze wurden Anspielungen eingeflochten, die tobendes Gelächter erregten, und beim Baden wollte man sich überzeugen, ob wirklich mein Schulterblatt durch die Göttin Ceres angeknabbert worden sei. Möglich, daß die Quäler eher müde geworden wären, wenn sie nicht mein verletzliches Selbstgefühl gekannt hätten. Wenigstens wurde es meinem jüngeren Bruder, der von sehr gelassenem Temperament war, leichter gemacht. Freilich hatte ich auch die ersten Stöße für ihn aufgefangen. – Ich war denn auch, wie Sie aus dem Gesagten schon erkennen, ein mürrischer Kamerad, der ewig auf dem Qui-vive lebte und keiner Seele ein gutes Wort gab.
Auf ein paar glückliche Wochen sehe ich doch zurück, wenn ich an meine Jugend denke, aber sie nahmen ein Ende mit Schrecken. Ich durfte eine Sommervakanz bei entfernten Verwandten meiner Mutter, einer Landwirtsfamilie am Bodensee, zubringen. Dort wußte man seltsamerweise nichts von meinem Namen, man hatte ihn dank der undeutlichen Handschrift meines Vaters ›Philipp‹ gelesen. Ich wurde also mit Philipp angeredet, und diese gewiß nicht schönen Laute tönten meinen Ohren wie himmlische Musik. Natürlich schwieg ich zu dem Irrtum, und unter der Maske des Philipp verlor ich die finstere Scheu, die mir anhaftete, und wurde ein völlig anderer Mensch. Man fand mich unterhaltend und liebenswürdig, und ich selber wunderte mich über die geselligen Talente, die sich mit einemmal in mir entwickelten. Zwischen der ältesten Tochter Elise und mir entspann sich bei Heuwagen und ländlichem Walzer eine zärtliche Hinneigung. Sie hatte ein stilles, sinniges Gemüt, korngelbe Zöpfe und blaue Cyanenaugen, entsprach also durchaus dem Mädchenideal eines damaligen Primaners. Sie trocknete die Blumen, die ich ihr pflückte, und ich bewahrte als Heiligtum einen Handschuh, den sie getragen hatte. Nur wenn sie mit sanfter Stimme mich Philipp nannte, so fuhr mir jedesmal ein Stich durch die Seele.
Drei Wochen dauerte der Traum von Glück. Dann kam ein Brief von meiner Mutter, an mich persönlich adressiert. Sie schrieb so selten, daß ich gerade das am wenigsten gefürchtet hatte. Auf dem Umschlag stand mit ihrer klaren, korrekten Handschrift groß und deutlich geschrieben: An Herrn Pelops Müller.
Der Name muß in dem friedlichen Familienkreis wie eine Bombe gewirkt haben. Ich war gerade über Feld mit meinen Träumen, als der Brief ankam. Der jüngste Sohn, ein vierzehnjähriger Gymnasiast, überreichte ihn mir in Gegenwart der ganzen Familie, nachdem er mir zuvor jede Silbe meines Namens mit teuflischer Langsamkeit vorbuchstabiert hatte, wobei die Eltern verlegen blickten und die größeren Geschwister sich vor Lachen wanden. Nur Elise sah rot und erzürnt zu Boden, sie hatten die Aermste schon halb tot gehänselt, daß sie mir ihr Auge nicht mehr gönnen mochte. Ich warf nur einen Blick auf den Briefumschlag, von dem mein Name mich höhnisch angrinste, einen andern auf Elise, und entfloh aus dem gastlichen Haus, das ich niemals wieder betreten habe.
Mit achtzehn Jahren kam ich zur Universität. Meine Mutter war kurz zuvor gestorben, ohne eigentliche Erkrankung, an der bloßen Müdigkeit. Es durfte ja niemand in meines Vaters Nähe krank sein. Bis zu ihrem Ende hatte sie ihre Aufgeräumtheit beibehalten und ihr trauriges Lachen, das aus einer todesmatten Seele kam, und ihre letzten Worte waren: ›Seid immer lustig, Kinder, daß ist die Hauptsache im Leben.‹
Ihr gramvolles Totengesicht, als sie auf der Bahre lag, hinterließ mir einen unauslöschlichen Eindruck, dennoch konnte ich ihr nie verzeihen, daß sie nicht Mutter genug gewesen war, das Wohl ihrer Kinder gegen die Willkür des Vaters zu schützen.
Ich hatte es beim Vater noch in der frischen Trauer durchgesetzt, nicht auf die Landesuniversität geschickt zu werden, denn dort hätte ich den größten Teil meiner Schulkameraden wieder gefunden. Ich zog nach einer kleinen süddeutschen Hochschule, wo mich niemand kannte. Dort war ich schlechtweg Herr Müller, stud. phil. Was das P. vor meinem Familiennamen bedeutete, wußte nur der Dekan der Fakultät, bei der ich mich immatrikulieren ließ. Für alle andern konnte es Peter, Paul oder Philipp heißen. Nun durfte ich mich frei durch die Straßen bewegen, ohne Spottrufe oder Steinwürfe gewärtigen zu müssen, und dies erschien mir als der Gipfel menschlichen Glücks. Nur daß die Herzenswunde aus der Primanerzeit noch heimlich brannte; aus diesem Grund und um das Schicksal nicht herauszufordern, mied ich jeden Familienumgang und wich so viel wie möglich allen Gelegenheiten, mit jungen Mädchen zusammenzutreffen, aus.
Es herrschte damals ein wilder und roher Ton unter der studierenden Jugend, und geachtet wurde nur, wer in Saus und Braus lebte oder eine sehr gute Klinge schlug. Das erstere war mir bei den knappen Mitteln, die mein Vater auswarf, nicht möglich und widersprach auch meiner Gemütsart; das zweite hielt ich für unentbehrlich, schon um im Notfall den schwachen Punkt meiner Stellung mit der Waffe decken zu können. Ich ging also fleißig auf den Fechtboden und gewann eine ungemein sichere Hand, besonders schlug ich eine Tiefquart, die mir nicht leicht einer nachmachte. – Da Sie selbst einen Bruder auf der Hochschule haben, so werden Sie wissen, welchen Wert man solchen Fertigkeiten im studentischen Leben beimißt.
Als Zimmernachbar hatte ich einen Studiengenossen Namens Neumann, einen schönen stillen Menschen, dessen gesammelter Ernst mich schon beim ersten Kolleg wohlthuend berührte, und an den ich mich jetzt mit einer wahren Verehrung anschloß. Wir harmonierten ebenso in unsern geistigen Interessen wie in unsern Lebensgewohnheiten. Er hatte eine Ordnung und Sauberkeit auf seinem Zimmer, wie man sie sonst bei Studenten nicht findet, und kleidete sich immer mit einer gewissen Eleganz, obgleich er blutarm war. Die Mittel zum Studieren verschaffte er sich durch Anfertigung von Abschriften und durch Nachhilfestunden bei zurückgebliebenen Schülern und nahm niemals auch nur eine zeitweilige pekuniäre Unterstützung an. Ich konnte mich in seiner Nähe einer Art von Beschämung über meine günstigeren Lebensverhältnisse nie entschlagen, und es war mir sogar peinlich, mit ihm von meinen Studien und Lebensplänen zu reden, denn das akademische Lehrfach, auf das ich zuarbeitete, mußte ihm bei seiner Armut auf immer verschlossen bleiben.
Auch er hatte eine unglückliche Jugend gehabt, und das zog mich noch ganz besonders zu ihm hin, denn trotz der Ermahnungen meiner Mutter wollte es mir mit der Lustigkeit nicht gelingen, und ich konnte lustige Menschen nicht um mich sehen. Wir wohnten schon zwei Semester unter einem Dach, und er hatte mich noch nicht nach Eltern und Geschwistern, nach Geburtsort und Lebensverhältnissen, nicht einmal nach meinem Vornamen gefragt; er redete überhaupt nicht von persönlichen Dingen.
Eines Abends, als wir am Flußufer spazieren gingen, erschloß ich ihm unaufgefordert mein ganzes Vertrauen, vielmehr mein Mund floß endlich von dem über, wessen mein Herz voll war. Neumann hörte mir lächelnd und kopfschüttelnd zu, er beklagte mich zwar, daß ich unter einer väterlichen Grille so viel zu leiden gehabt hätte, fand aber doch, die Sache verdiene nicht so ernst genommen zu werden. Ich erhitzte mich in der Schilderung all der Uebel, die mein unglückseliger Name mir zugezogen hatte. Er blieb kalt und suchte mir nachzuweisen, daß ich mehr durch mein argwöhnisches Temperament und den Mangel an Humor in eine schiefe Stellung getrieben worden sei; ich hätte nur immer selber mitlachen dürfen, so wären die Lacher schon allmählich stille geworden. Diese Auffassung fand ich für den Unbeteiligten allzu wohlfeil, denn das Mißtrauen und die Humorlosigkeit, deren ich geziehen wurde, waren ja gerade eine Folge der langen Anfeindungen, und es erschien mir hämisch und ungerecht, die Wirkung für die Ursache und mein Mißgeschick für einen Charakterfehler zu erklären. Wir stritten, er wurde schroff, ich bereute am Ende, mich ihm eröffnet zu haben, und das Gespräch ließ einen geheimen Stachel in mir zurück.
Er selber hatte mein Vertrauen nicht erwidert. Erst später erfuhr ich von andrer Seite, daß sein Vater sich wegen einer unehrenhaften Handlungsweise ertränkt hatte, und dieses Erbteil von Schande, das sein eigenes Leben belastete, machte ihn unduldsam gegen die Klagen eines Freundes, der ihm als der vom Schicksal weit Begünstigtere erscheinen mußte.
Es war schon gegen das Ende meiner Studienzeit, als ich halb gegen meinen Willen bei einer Herbstfeier auf einem benachbarten Landgut eingeführt wurde. Daselbst sah ich ein bildschönes junges Mädchen, das als Winzerin gekleidet war, mit einem Körbchen Trauben einen pantomimischen Tanz aufführen. Sie tanzte mit seltener Grazie und hinreißendem Temperament, indem sie allen Geladenen in reizvollen und immer wechselnden Stellungen aus ihrem Körbchen Trauben spendete, bis jung und alt von einer fiebernden Tanzlust ergriffen wurde. Graubärte kränzten sich die Glatzen mit Weinlaub, Matronen erinnerten sich noch einmal ihrer Mädchenzeit und bekamen behende Füße, die Jugend aber begann ein wahrhaft bacchantisches Rasen, wobei manches Unschöne, Rohe und Eckige, auch von seiten der Damenwelt, mit unterlief. Nur meine Winzerin, die am wildesten tanzte, überschritt nicht einen Augenblick das Maß des Schönen, und jede ihrer Stellungen hätte man gewünscht auf immer festzuhalten.
Ich war der einzige unter den jungen Leuten, der nicht tanzte; ich hatte mich hinter einen viereckigen Pfeiler gestellt, um ungestörter zuzusehen, denn ein solcher Rhythmus menschlicher Glieder war mir wie eine Offenbarung. Aber ich wurde hervorgeholt und unter die Reihen der Tanzenden geschoben. In einem Contretanz kam ich neben die Schöne zu stehen und hatte ab und zu ihre Hand zu fassen, deren Berührung mich fiebern machte. Auf dem Heimweg, wo jedes der jungen Paare eine farbige Laterne trug, hatte ich die mir ganz unfaßbare Ehre, ihr Partner zu werden, und mag sie bei meiner völligen Entwöhnung von allem Damenverkehr schlecht genug unterhalten haben. Weil aber die Abwechslung Vergnügen macht, erregte nach den überschwenglichen Huldigungen, deren Gegenstand sie an diesem Abend geworden war, mein abgemessenes Wesen ihre Aufmerksamkeit. Ich erfuhr, daß sie eine Offizierswaise war und seit kurzem bei ihrem väterlichen Oheim und Vormund, dem Universitätsamtmannn, wohnte. Sie hatte den schönen Namen Myrrha. Dieser Name verfolgte mich fortan, wo ich ging und stand, und vereitelte alle Mühe, die ich mir gab, seine Trägerin zu vergessen. Er schwebte um ihre Gestalt wie ein unfaßbares Aroma und weckte mir eine unklare, aber sinnbethörende Vorstellung von teppichverhangenen Gemächern, goldenen Rauchgefäßen und wohlgeruchatmenden orientalischen Nächten.
An dem gemeinsamen Mittagstisch, den ich mit Neumann und einigen andern begabten Studiengenossen hatte, sprach man neuerdings nur noch von Myrrha. Sie hatte sich ebenso in die Phantasie meiner Freunde hineingetanzt wie in die meinige, denn die meisten waren bei der Herbstfeier zugegen gewesen. Man suchte ihr auf der Straße zu begegnen, und wem es gelungen war, der rühmte sich dessen wie einer Göttergunst. Man schrieb ihr einen weiteren geistigen Horizont und einen höheren Anstand des Betragens als den andern jungen Mädchen zu, und da die Jugend immer willig das Aeußere für ein Symbol des Innern nimmt, so wetteiferte man, ihr die seltensten Gaben zu den schon vorhandenen hinzuzudichten. Nur ich widersprach den lauten Huldigungen mit einer angenommenen Kälte und Skepsis und that mir sogar den Zwang an, die Straßen zu vermeiden, die Myrrha zu gehen pflegte, auch dann noch, als ich erfuhr, daß sie sich schon wiederholt nach ihrem mürrischen Partner erkundigt hatte.
Aber ich sollte meinem Schicksal nicht entgehen. Wir bekamen einen auffallend frühen Winter, und die große Wiese vor der Stadt, die alljährlich durch eine Schleuse überschwemmt und zur Eisbahn hergerichtet wurde, war schon im November fest gefroren. Zu gewissen Tagesstunden tummelte sich die halbe Stadt auf dem Eise. Auch ich wanderte täglich mit den Schlittschuhen hinaus – es war die einzige Ausspannung von anstrengender Kopfarbeit, die ich mir gönnte –, und ich wählte dazu die frühen Nachmittagsstunden, wo ich beinahe allein blieb. Eines Tages aber verspätete ich mich über meinem einsamen Bogenfahren so, daß ich mich unversehens vom Menschengewimmel umgeben fand, und unter der Menge sah ich Myrrha mit einem ganzen Schwarm von Freundinnen und Verehrern. Sie bildeten mit verschlungenen Armen eine Kette und fegten breit die Bahn herab. Aber plötzlich – war's Zufall, war's Absicht? – flog Myrrha in weitem Bogen aus der Kette heraus und geradeswegs gegen meine Brust. Wir mußten uns aneinander festklammern, um nicht beide zu stürzen. Entschuldigungen, Mädchengelächter, Fragen nach dem gegenseitigen Befinden, dann war's um mich geschehen, ich wurde ohne Widerstand in die Kette gezogen. Von Stund an hielt mich der Zauber fest. Ich richtete mich so ein, daß ich jetzt täglich mit ihr zusammentraf und ihr die Schlittschuhe anschnallte. Weshalb sie unter all ihren Verehrern gerade mich Bären bevorzugte, weiß ich nicht. Sie hatte wohl anfangs nur die Absicht gehabt, mit mir zu spielen, um mich für meine Schroffheit und Zurückhaltung zu strafen. Allmählich aber faßte sie ein wärmeres Interesse, und kurz und gut, schon nach ein paar Wochen kam es zwischen uns zu einer heimlichen Verständigung. Ich wurde im Hause des Vormunds eingeführt und galt dort stillschweigend als Myrrhas Verlobter. Freilich stieß ich dort auf eine ganze Mauer engherziger Vorurteile und wichtig genommener Trivialitäten, in denen ich auch Myrrha befangen sah, aber ich hoffte, wenn sie nur erst die Meine wäre, das junge Wesen leicht diesen Einflüssen entziehen und nach meinem Sinne modeln zu können.
Damit kein andrer mir zuvorkomme, faßte ich den heroischen Entschluß, noch in diesem Winter das Examen zu machen und dann öffentlich als Bräutigam aufzutreten. Ich weidete mich im voraus an der Ueberraschung der Freunde, wenn einmal die Bombe platzen würde, denn obwohl man uns wiederholt zusammen gesehen hatte, ahnte bei meiner zur Schau getragenen Kälte und Gleichgültigkeit niemand unser Verhältnis. Einzig mein Freund Neumann, der gleichfalls im Hause des Vormunds verkehrte, war eingeweiht.
Jetzt aber galt es, Zeit und Kräfte zusammen zu halten, denn ich wollte die Prüfung nicht nur bestehen, sondern sie auch mit Glanz bestehen, damit ich von meinem Vater die Mittel zur Habilitierung an einer Universität und zur baldigen häuslichen Niederlassung fordern konnte.
Währenddessen genoß ich aber nicht den Seelenfrieden, den das angestrengte Studium verlangte. Myrrha wollte auf meine Sinnesart nicht die Rücksicht nehmen, die ich von meiner Braut erwarten zu dürfen glaubte. Auf meine Bitte, von den Studentenbällen wegzubleiben, die das große Ereignis des Wintersemesters waren, hatte sie nur ein Achselzucken zur Antwort. Sie war gewohnt, als Ballkönigin zu glänzen, und mochte die gewohnten Huldigungen nicht entbehren. Mir aber war es eine Qual, das Wesen, das ich liebte, durch Schaustellung seiner körperlichen Reize und Fertigkeiten glänzen zu sehen. Auf meine Vorwürfe antwortete Myrrha eigensinnig, daß sie sich als Frau nur zu sehr meiner Sinnesart werde anpassen müssen, aber so lange sie Mädchen sei, wolle sie ihre Freiheit noch auskosten. Neuerdings kam noch ein Wettstreit ins Spiel, denn es war in diesem Winter eine junge Spanierin aufgetaucht, von der man sagte, daß sie noch schöner sei und noch hinreißender tanze als Myrrha. Auf einem Kostümfest am Schluß des Karnevals erwartete man die beiden Rivalinnen öffentlich nebeneinander zu sehen. Die Studentenschaft hatte sich im voraus in zwei Lager geteilt – hie Myrrha – hie Lola – und das Streiten über die Vorzüge der einen und der andern machte mich insgeheim rasend. Mir war es schon verletzend, wenn jemand nur in meiner Nähe den Namen Myrrha aussprach. Ich suchte ihr zu beweisen, daß es unwürdig sei, sich wie ein schönes Rind oder Füllen zur öffentlichen Preisverteilung führen zu lassen, und forderte dringend, daß sie von dem Kostümfest zurückbleibe. Aber Myrrha hatte schon ihren Anzug ausgewählt und übte mit den Töchtern des Vormundes und drei Studenten einen Tanz ein. Ihr war es eine Frage der Eigenliebe, nicht zurückzutreten; wenn sie das Feld ihrer Triumphe verlassen sollte, so mußte es als Siegerin sein. Darüber kam es zwischen uns zu ernsteren Zwistigkeiten, und die Amtmannsfamilie, die eine wachsende Voreingenommenheit gegen mich zeigte, goß nur Oel ins Feuer.
Dazu brannte mir auch noch mein lächerliches Geheimnis auf der Seele. Ich hatte ihr zu Anfang meinen Vornamen absichtlich verschwiegen, weil ich ihre nicht immer gutartige Lachlust kannte, und so oberflächlich waren unsre innerlichen Beziehungen, daß ich jetzt nicht mehr dazu kam, das Versäumte nachzuholen. Auch sie hatte ja das Los, sich durch einen ungewöhnlichen Namen vom großen Haufen zu unterscheiden, aber der Gegensatz war allzu schreiend, denn während ihr Name sie vor aller Augen auf einen von Räucherwerk duftenden Altar stellte, zog der meinige mir den Spott des Pöbels zu. Myrrha pflegte mich im Uebermut ihren ›Seehund‹ zu nennen, weil sie fand, ich gliche mit meinem dichten pelzartigen Haarwuchs und meinem melancholischen Blick einem Seehund, der dazumal in der Stadt gezeigt wurde. Der Spitzname blieb an mir hängen und wurde die Ursache, daß von meinem wirklichen Namen nie die Rede war. Natürlich hatte ich nicht die Absicht, ihn auf die Länge zu verheimlichen, nur während des Kampfes, der sich zwischen uns entsponnen hatte, wollte ich mich nicht auch noch dadurch in Nachteil bringen, daß ich ihrer Spottsucht eine Waffe in die Hand gab. Doch indem ich auf thörichte Weise ein kleines Uebel abzuwehren suchte, beschwor ich ein tausendmal größeres herauf.
Unter allen jungen Männern war Neumann der einzige, den ich ohne eifersüchtiges Mißtrauen in Myrrhas Gesellschaft sah. Ich hatte ihn, der ein sehr guter Schlittschuhläufer war, ausdrücklich zu ihrem Ritter bestellt, damit er in den Stunden, wo ich selber zu Hause an meiner Doktorschrift arbeitete, auf der Eisbahn den Schwarm ihrer Verehrer von ihr fernhalte. Bei meinem festen Vertrauen auf seine Freundschaft konnte es mich nicht anfechten, daß sie ihm oft scherzend vor mir den Vorzug gab und besonders mein Aeußeres gegen das seinige herabsetzte. Einen Nebenbuhler fürchtete ich schon deshalb nicht in ihm, weil seine äußeren Verhältnisse ihn vom Wettbewerb um eine so anspruchsvolle Schönheit ausschlossen. Aber ich hatte vergessen, daß kein Mann ungestraft in Myrrhas Nähe kam und daß sie selbst nicht leben konnte, ohne mit Herzen zu spielen. Welche geheime Fäden zwischen den beiden hin und her liefen, weiß ich nicht, noch was er im Grunde bezweckte, ich weiß nur, daß er treuloserweise ihre Augen auf meinen wunden Punkt lenkte. Möglich, daß er nur in eifersüchtiger Anwandlung mir, dem vom Schicksal Begünstigten, einen geringfügigen Schabernack spielen wollte, als er sie ganz beiläufig fragte, wie ich denn eigentlich mit dem Vornamen heiße. Myrrha mußte zu ihrer eigenen Verwunderung gestehen, daß sie es nicht sicher wußte. Sie hatte bisher das P. auf meiner Visitenkarte als Paul gedeutet, aber Neumann erklärte ihr, ich könne nicht Paul heißen, denn er heiße selber Paul, und die Namensgemeinschaft wäre doch gewiß, wenn sie bestünde, schon lange zwischen uns zur Sprache gekommen. So hatte er, ohne geradezu mein Geheimnis zu verraten, mich mit ein paar ganz harmlos klingenden Worten an meine gefährliche Gegnerin ausgeliefert.
Es war gerade am Vorabend meines Doktorexamens, mit dem ich Myrrha überraschen wollte, daß sie die längst gefürchtete Frage an mich stellte. Da es in Gegenwart der beiden Cousinen geschah, mit denen ich wegen ihres taktlosen, vorlauten Wesens auf dem Kriegsfuß stand, fiel mir nichts Besseres ein als zu sagen: ›Raten Sie.‹
Nun aber legten sich die Cousinen ins Zeug und brachten, nachdem die gebräuchlichen, mit einem P beginnenden Namen abgehaspelt waren, den Kalender herbei.
›Heißen Sie Pankraz? – Oder Pasqual? – Oder Prosper? – Heißen Sie Placidus, Patrizius, Petronius, Pelagius?‹
›Nein, meine Damen,‹ sagte ich ruhig, ›ich heiße weder Pankraz, noch Prosper, noch Pelagius. Sie werden auch mit all Ihrem Witz meinen Namen nicht erraten. Morgen abend sollen Sie ihn aber durch mich selber hören. Bis dahin gehaben Sie sich wohl und zerbrechen sich nicht weiter die Köpfe.‹
Damit ergriff ich den Hut und wollte gehen. Aber die Närrinnen stürmten mir noch auf den Vorplatz nach und riefen: ›Was gilt's, wir erraten ihn doch! Wenn er unter den menschlichen Namen nicht zu finden ist, so müssen wir in der Tierwelt suchen.‹
Und als ich schon auf der Straße war, ging oben ein Fenster auf, und unter Gelächter scholl es herunter: ›Heißen Sie Panther, Puter oder Pavian?‹
Ich eilte, aus dem Bereich der unhöflichen Damen zu kommen, und machte mir um die Sache weiter keine Sorge. Meinen Plan hatte ich mir vorgezeichnet. Fiel nur das Examen so aus, wie ich erwartete, so wollte ich mich am Abend Myrrha als neu kreierter Doktor vorstellen und bei dem Vormund förmlich um ihre Hand anhalten. Der Einwilligung meines Vaters hatte ich mich schon zuvor versichert. Dann im ersten Verlobungsjubel wollte ich ihr auch meinen Namen nennen, auf dessen Absonderlichkeit der neue Titel, wie ich mir einbildete, einen versöhnenden Schimmer gießen würde.
Vielleicht hätten sich die Dinge auch wirklich so abgespielt, wäre die bohrende Neugier der beiden Cousinen, die sich in ihrem Scharfsinn herausgefordert fühlten, mir nicht zuvorgekommen.
Während ich im Examen saß, liefen sie von Pontius zu Pilatus, um meinen Namen zu erfahren. Da weder auf der Post, noch bei meiner Hauswirtin, noch auf der Bank, die mir das Geld aufbewahrte, eine befriedigende Auskunft zu erhalten war, bewogen sie den Alten, der alles that, was die Töchter wollten, sich auf das Universitätssekretariat zu bemühen und meinen Namen in der Matrikel der philosophischen Fakultät zu suchen.
Mit welchem Hallo der überraschende Fund zu Hause begrüßt wurde, läßt sich denken. Die Abneigung zwischen den Cousinen und mir war eine gegenseitige, denn sie konnten mir nicht verzeihen, daß ich Myrrhas Palmenwuchs schöner fand als ihre schiefen knöchernen Gestelle, und hatten sich von Anfang an alle Mühe gegeben, das Verhältnis zu stören. Jetzt hatten sie eine vergiftete Waffe in der Hand. Wäre ich zugegen gewesen, so hätte ich vielleicht ihre Hiebe parieren und die Lacher auf meine Seite ziehen können, aber Myrrha allein war dem Spott, der über die künftige Frau Pelops Müller herfiel, nicht gewachsen. Sie selber hatte so lange in Gemeinschaft mit den Cousinen an allem, was ihnen komisch erschien, ihr Zünglein gewetzt, daß sie es jetzt nicht wagte, auf meine Seite zu treten.
Sie war erst achtzehn Jahre alt, allen Einflüssen zugänglich und so eitel, wie eine Evastochter nur immer sein kann. In kleinlichen Anschauungen aufgewachsen, ließ sie das Außerordentliche nur gelten, wenn es mit großen Ansprüchen auftreten konnte. Ein ›von‹ nach meinem Vornamen hätte alles gut gemacht, aber Pelops Müller auf der Verlobungskarte, Pelops Müller auf der Vermählungsanzeige, Pelops Müller im Munde aller Tanten und Basen, das war für die Eitelkeit und das Vorurteil des verwöhnten Kindes zu viel.
Als ich nach Schluß des Examens zu ihr eilte, den Kopf erfüllt von den überstandenen Fragen und von unserm bevorstehenden Glück, da befremdete mich ihr kalter, verlegener Empfang. Nach einem steifen Glückwunsch und ein paar nichtssagenden Redensarten zog sie sich unter einem Vorwand auf ihr Zimmer zurück und überließ mich den Cousinen, die das Henkersamt an mir zu vollziehen hatten.
Sie begannen mit ironischer Niedergeschlagenheit, daß sie leider nicht so scharfsinnig gewesen seien, meinen Namen zu erraten, aber ich möchte ihnen noch drei Fragen gestatten. Und schnell fragte die Aelteste: ›Heißen Sie Pumpernickel?‹ – Die Zweite: ›Heißen Sie Pechvogel?‹ – Und dann beide aus einem Mund: ›Heißen Sie etwa – Pelops?‹
Ich machte, als ich mich verraten sah, gute Miene zum bösen Spiel.
›Meine Damen,‹ sagte ich, ›wenn Sie geglaubt haben, daß ich mich jetzt wie das selige Rumpelstilzchen selber in der Mitte entzwei reißen würde, so haben Sie sich sehr getäuscht. Ich finde nicht, daß ich mich meines Namens zu schämen brauche. Jedenfalls war sein erster Träger eine sehr respektable Persönlichkeit, nach der sich einer der berühmtesten Länderstriche der Erde nennt.‹
Sie antworteten mit verstelltem Ernst, sie fänden meinen Namen gleichfalls sehr schön und seien daher übereingekommen, ihren Mops, einen abscheulichen, bissigen Köter, mit dem ich auf sehr schlechtem Fuße stand, Pelops zu taufen.
Zugleich rissen sie die Thüre auf und ließen das widerwärtige Tier herein, das sogleich mit Wut auf mich lossprang, und es entstand ein Lärm, daß man sein eigenes Wort nicht mehr hören konnte. Der Hund kläffte, die Mädchen schrien, indem sie das Tier abwechselnd 'hetzten und scheuchten, sie riefen es: ›Pelops, Pelops-Mops!‹ und zerrten meinen Namen in lächerlichen Reimen herum. Die Mutter, eine wohlwollende, beschränkte Frau, saß die ganze Zeit wie auf Kohlen und versuchte umsonst, der Unart ihrer Töchter Einhalt zu thun.
Ich war nicht mehr der thörichte Primaner, der beim ersten Sturm die Flucht ergriff, ich wußte jetzt, was auch ich mit meiner Person zu bieten hatte, und verließ das Haus mit einem überlegenen Achselzucken. Ich glaubte felsenfest an Myrrha.
Wenn das Gebelfer der Cousinen sich erschöpft hat, dachte ich, so wird auch sie sich wiederfinden – und ich war ihr sogar dankbar, daß sie sich dem abgeschmackten Auftritt ferngehalten hatte.
Ich wußte nicht, daß sie unterdessen im Nebenzimmer ihre Pas für das morgige Kostümfest einstudierte, wegen dessen wir uns in den letzten Wochen fast täglich gezankt hatten.
Des andern Tages ließ mich der Vormund zu einer Unterredung rufen. Nachdem er mir zu meinem Erfolg gratuliert hatte, begann er mit verlegenem Räuspern: ›Sie heißen also Pelops?‹ Ich verbeugte mich. – ›Warum heißen Sie Pelops?‹ – Die Frage war so ungereimt, daß ich mich kaum des Lachens enthielt. – ›Ich heiße so, weil mein Vater mir diesen Namen gegeben hat.‹
Ein abermaliges Räuspern, dann hob er wieder an: ›Ja – haben Sie denn vielleicht einen Verwandten, einen Paten, nach dem man Sie so getauft hat?‹
Ich verneinte.
›Nun, so müssen Sie doch zugeben, daß dies ein abgeschmackter Name ist.‹
Ich war sonst der letzte, das zu leugnen, aber diesem Pedanten gegenüber hatte ich mir meine Grenzen streng gezogen. Ich sagte eisig: ›Ich bitte, mir zu glauben, daß ich nicht dabei gefragt worden bin, und als Sohn steht es mir auch nicht zu, den Geschmack meines Vaters zu kritisieren.‹
Er geriet in einige Verlegenheit und hielt dann eine lange, offenbar einstudierte Rede des Inhalts, daß unser Name uns zum Vorbild und zur Nacheiferung gegeben werde, entweder nach den frühen Bekennern des christlichen Glaubens, die der Kalender verzeichne, oder nach den Mitgliedern des regierenden Hauses, am besten aber nach würdigen Personen der eigenen Familie, weil der Mensch unbewußt nach seinem Namen arte. Der Name enthalte gewissermaßen das Programm der künftigen Lebensführung. Wer Pelops heiße, der könne nicht auf normalen Bahnen wandeln, und er müsse darum an meine Werbung um die Hand seiner Nichte die Bedingung knüpfen, daß ich bereit sei, den vertraten Namen abzulegen.
Hatte ich auch früher selbst schon diesen Gedanken gehabt, so empörte mich doch die Zumutung aus fremden Munde.
›Es ist wahr,‹ sagte ich, ›daß der Name eines Menschen sein Schicksal ist. Aber eben darum würde ich es als eine Feigheit ansehen, den meinigen, der mir schon viele Kämpfe zugezogen hat und mir jetzt soeben den neuesten und schlimmsten bereitet, abzuschwören.‹
Ein Streit entspann sich, bei dem mir nach und nach all meine Verstöße gegen die in diesem Kreise herrschenden Anschauungen vorgehalten wurden, gleichsam als ob sie sämtlich in der Absonderlichkeit meines Namens ihre Wurzel hätten. Vermutlich sollte der Namenswechsel nur der Anfang zu einer langen Reihe von Zugeständnissen sein.
Als ich fest blieb, erklärte er mir am Ende rund heraus, daß er aus einer solchen Verbindung kein Glück für seine Nichte erhoffen könne und daß er mich deshalb bitte, meine Besuche in seinem Hause einzustellen.
Ich fragte, ob dies auch Myrrhas Meinung sei, und er antwortete, es stehe mir frei, ihre Meinung aus ihrem eigenen Munde zu hören. Als ich sie aber um eine Unterredung unter vier Augen ersuchen ließ, erhielt ich den schnippischen Bescheid, sie könne mich jetzt nicht sprechen, weil sie mit ihrem Ballanzug für den Abend beschäftigt sei.
Hatte sie geglaubt, mich durch das Versagen ihres Anblickes willfährig zu stimmen, so war sie gründlich im Irrtum. Ich empfand ihre Botschaft als einen Schlag ins Gesicht, und mein überschwellender Grimm riß alle Dämme nieder. Ich heuchelte eine höhnische Gleichgültigkeit, sandte augenblicklich ihr Bild und all ihre kleinen Andenken, die ich immer bei mir zu tragen pflegte, zurück und verließ das Haus auf Nimmerwiedersehen.
Auf der Straße prallte ich gegen Neumann an, der mich aufhalten wollte. Ich riß mich los und rief ihm zu, daß zwischen mir und Myrrha alles zu Ende sei, er könne sich um den freigewordenen Platz melden. Darauf rannte ich stundenlang beim Schein eiskalter Sterne an den beschneiten Flußufern hin, bis meine Verzweiflungswut ausgerast hatte und ich mir das Geschehene zu überlegen anfing. Ich wußte aus Myrrhas eigenem Munde, daß Neumann es war, der den Anstoß zu der ganzen Katastrophe gegeben hatte, und mein kochender Grimm warf sich jetzt ganz auf diesen. Aus dem allzu blinden Vertrauen, das ich in diesen ersten und letzten Freund gesetzt hatte, fiel ich in das gegenteilige Extrem, und mein Argwohn überschritt gleich jegliches Maß, denn ich sah Neumanns Betragen in einem geradezu diabolischen Licht. Das kühle Lächeln fiel mir wieder ein, mit dem er seiner Zeit die Leidensgeschichte meines Lebens angehört hatte, und in meiner Ueberreizung schien es mir jetzt, als habe er mir das abgeschmackte Geheimnis nur entlockt, um es bei passendem Anlaß zu meinem Schaden gegen mich auszuspielen.
Ich eilte nach Hause, um den falschen Freund zur Rede zu stellen, da hörte ich, daß auch er zum Kostümfest gegangen war. Mein böser Engel gab mir ein, in den Frack zu fahren, der für die morgige Promovierung schon bereit lag, und Neumann auf dem Balle zu suchen. Dort erregte mein Erscheinen bei allen, die mich kannten, die größte Verwunderung. Ich wurde gleich unter der Thür am Arm ergriffen und zu einer brünetten Schönheit geführt, die in blitzender Zigeunertracht unter einem Kreis teils kostümierter, teils befrackter Herren stand. Ich begriff nur so viel, daß mir eine Auszeichnung widerfuhr, und daß ich mich demgemäß zu benehmen hatte. In meinem verzweifelten Seelenzustand war mir jedes Mittel der Betäubung recht, und ich ließ mich von der Musik mit meiner Dame in den Wirbel des Tanzes reißen. Durch Elise hatte ich seiner Zeit ein wenig tanzen gelernt, und was mir an Uebung fehlte, ersetzte ich durch maßloses Ungestüm. Meine Dame muß geglaubt haben, daß ich entweder ein fanatischer Tänzer oder bis zum Rasendwerden in sie verliebt sei, denn ich wollte gar nicht mehr aufhören zu tanzen. Aber ich spähte unterdessen immerwährend nach Neumann, den ich so wenig wie Myrrha unter dem Gewimmel der Tanzenden entdecken konnte. Endlich erkannte ich die beiden in einer Fensternische, wo sie, von den Vorhängen halb verdeckt in, wie mir schien, sehr vertrautem Geplauder bei einander standen. Ich stellte mich in der Nähe auf und wartete, aber das Tête-à-tête wollte kein Ende nehmen. Da ergriff mich ein wütender Humor, ich stürzte mich aufs neue in den Wirbel der Tanzenden, indem ich die Cousinen, eine um die andre, von der Mauer wegholte. Endlich sah ich Myrrha im Arm eines Sultans vorüberfliegen, und ihr Auge traf mich mit dem Ausdruck des tiefsten Erstaunens. Alsbald ließ ich meine Tänzerin fahren und stürzte mich auf Neumann, der in diesem Augenblick allein den Saal durchkreuzte. Ich hatte ihn noch soeben mit Myrrha ein Lächeln des Einverständnisses tauschen sehen, und mein siedendes Blut kochte über, denn nach meiner Ueberzeugung konnten sich die zwei nur zusammengestellt haben, um mich zu verspotten. Unter der Thür des Büffettzimmers erreichte ich ihn, er war betreten, ich nannte ihn ohne weiteres einen Schurken, und ehe ich wußte, was ich that, hatte ich ihm vor allen Anwesenden eine Ohrfeige gegeben. Natürlich stürzten sich die Zeugen dazwischen und rissen uns auseinander, und die Folge war, wie ich gewünscht hatte, eine Herausforderung.
Ich ging in dieser Nacht nicht mehr nach Hause, denn ich wollte Neumann erst auf dem Duellplatz wieder entgegentreten. Die Stunden bis zum Tagesanbruch verbrachte ich in einem Gasthofzimmer, und von da begab ich mich, ohne auch nur die Toilette zu wechseln, zu der Ceremonie meiner Promovierung. Der ganze Auftritt ging wie im Traum an mir vorüber, gleichwohl erinnere ich mich, daß der Rektor eine kleine Ansprache hielt, in der er mich als Muster für die ganze studierende Jugend hinstellte. Ich erfuhr, daß ich das beste Examen gemacht hatte, das seit lange in der Fakultät erlebt worden war. Aber in meinem Seelenzustand konnte mir mein Erfolg nichts mehr nützen. Im Gegenteil, die Auszeichnung, die mir widerfuhr, wirkte wie starker Wein, in der Erregung getrunken, sie steigerte meine innere Heftigkeit, denn mit dem Selbstgefühl wuchs auch die Empörung über die mir zugefügte Schmach.
In dem Wirtsgarten eines benachbarten Dorfes fand das Duell statt. Ich hatte mir geschworen, dem schönen Gesicht, das Myrrha so oft mir gegenüber gerühmt hatte, einen Denkzettel anzuhängen, der den falschen Freund zeitlebens an seine Verräterei erinnern sollte. Als wir auf der Mensur standen, schien es mir, als ob ich die ganze, mir von frühester Kindheit feindliche Welt in seiner Person gegenüber hätte, und der große konzentrierte Haß machte mich eiskalt und ruhig. Sobald ich den Gegner, der seinerseits erzürnt und hitzig focht, einen Augenblick ohne Deckung sah, schlug ich meine Tiefquart und spaltete ihm Mund und Nase von unten herauf. Damit war das Duell zu Ende, und wir schieden, ohne uns versöhnt zu haben.
Abends am Stammtisch herrschte allgemeine Betretenheit, niemand konnte sich erklären, was zwischen uns beiden vorgefallen war, und weshalb ich meinen besten Freund so gezeichnet hatte.
Ich hielt eine kleine Rede, worin ich vorgab, Neumann habe sich in taktloser Weise darüber lustig gemacht, daß ich Pelops heiße, und mich dadurch gezwungen, mir Satisfaktion zu nehmen. In meiner noch vibrierenden Aufregung setzte ich hinzu, daß ich meinen Namen, der zwar nicht schön, aber einmal mein sei, gegen jeden vertreten wolle, der allenfalls Lust haben sollte, ihn lächerlich zu finden.
Man antwortete mir einstimmig, daß nur ein Thor sich über den Namen eines Menschen aufhalten könne, worauf ich Champagner kommen ließ und einen Doktorschmaus improvisierte, der in ein lärmendes Bacchanal endigte.
Man erging sich dabei in Erinnerungen an die durchschwärmte Ballnacht und neckte mich, daß ich mit der Königin des Festes, der Zigeunerin Lola, getanzt hatte, ohne es zu wissen. Ich erinnerte mich ihrer nur zur Not. Aber ich war kleinlich genug, um mit inniger Befriedigung zu hören, daß sie mit ihren Castagnetten und ihrem Fandango den Sieg ertanzt hatte, und daß Myrrhas Verehrer in Scharen zu ihr übergegangen waren.
Gleich am nächsten Tag ließ ich mir Visitenkarten stechen mit meinem vollen Namen und dem Doktor davor. Diese gab ich in herausfordernder Weise bei allen meinen Bekannten und besonders in den Familien, wo ich eingeführt war, ab – und ich hatte Gelegenheit, zu bemerken, daß keineswegs alle Töchter guter Familien über meinen Namen so dachten wie Myrrha und ihre Cousinen. Von meinem Examen war etwas in die Oeffentlichkeit gedrungen, und man prophezeite mir in Universitätskreisen eine glänzende Zukunft. Ich hätte mich rächen können durch die sofortige Verlobung mit einer anderen, aber ich fühlte einen Abscheu vor dem weiblichen Geschlecht. Dagegen schwor ich mir zu, eine andre Rache zu nehmen: ich wollte mir eine glänzende Stellung im öffentlichen Leben erwerben und den Namen Pelops Müller so bekannt machen, daß er sich nicht minder geläufig und selbstverständlich aussprechen sollte, als der irgend einer andern wissenschaftlichen Berühmtheit.
Unterdessen setzte ich das wilde Treiben der letzten Tage fort und steigerte mich noch immer weiter in einen künstlichen Rausch hinein, um nicht der nackten Armut meines Daseins ins Gesicht blicken zu müssen. Die andern glaubten, mein junger Ruhm sei mir zu Kopfe gestiegen. Es herrschte gerade ein wildes Sturmwetter, das den Vorfrühling ankündigte, Schneegestöber wechselte mit Regengüssen und Hagel, ich ritt hinaus in den heulenden, tobenden Sturm, und mein Inneres tobte und heulte mit ihm um die Wette.
Von einer solchen wilden Jagd kam ich eines Abends nach Hause, als mich die Nachricht empfing, daß Neumanns Zustand Bedenken errege, weil aus der Verwundung sich die Rose entwickelt habe. Ich hatte seit mehreren Tagen nichts von ihm gehört, denn ich schlief nicht mehr in meiner Wohnung, sondern hatte mich ganz im Gasthof eingerichtet. Doch war mir schon am Mittag aufgefallen, daß die Tischgenossen heimlich zusammen flüsterten und abbrachen, als ich in die Nähe kam. Jetzt wurde mir die Ursache klar. Ich schlief sehr schlecht in dieser Nacht und schickte gleich in der Frühe den Hausknecht zu meiner alten Wirtin, um mich nach Neumanns Befinden zu erkundigen. Da ich meine Unruhe nicht merken lassen wollte, gab ich dem Knecht, einem blöden Burschen, noch eine Reihe andrer gleichgültiger Aufträge mit.
Nach zwei Stunden kam er zurück und berichtete umständlich von dem Pferdeverleiher, der für eine zu Schanden gerittene Mähre entschädigt sein wollte, und von dem Schneider, der mir sagen ließ, mein neuer Anzug könne erst bis zum Abend fertig sein. Dann fuhr er ebenso geschäftsmäßig – der Ton liegt mir noch in den Ohren – mit seiner Meldung fort: ›Frau März‹ – dies war der Name unsrer Hausfrau – ›hat mir diese Bücher für Sie mitgegeben und sie läßt Ihnen sagen, daß Herr Neumann heute nacht gestorben ist.‹
›Was läßt sie mir sagen?‹ fragte ich, denn ich konnte gar nicht glauben, daß ich recht gehört hatte.
Aber zum zweitenmal kam es mit der gleichen stumpfsinnigen Gelassenheit: ›Dies sind die Bücher, nach denen Sie geschickt haben, und der Herr Neumann sei heute nacht gestorben.‹
Ich stand sprachlos und starrte ihn an, denn es war mir wie ein wirrer Traum, aber die Wäscherin, die eben mit einem Korb voll frischer Wäsche ins Zimmer getreten war, bestätigte die Nachricht.
›Es ist wahr,‹ sagte sie, ›ich habe es schon in aller Frühe von dem Bäckerjungen erfahren.‹
Sie erzählte, daß Neumanns Mutter in tiefer Nacht angekommen sei, als die ganze Stadt schlief. Nach vielem Umherirren sei sie von den Bäckern, die allein noch um diese Stunde wach waren, nach der Wohnung ihres Sohnes gewiesen worden, habe ihn aber schon in den letzten Zügen gefunden.
›Machen Sie sich keine Gedanken darüber, es ist Gottes Wille gewesen,‹ fügte die gutmütige Frau, um mich zu trösten, hinzu.
Mir war es, als ob ich einen Schlag auf den Kopf erhalten hätte, so jäh war der Sturz aus dem Alltäglichen in das Furchtbare, Unabänderliche. Doch ich klammerte mich fest an meinen Trotz und gab auch noch dem Toten gegenüber mein Recht nicht auf. Er hatte mein Glück zerstört und ich sein Leben, darum hätten wir, meinte ich, einander nichts vorzuwerfen. Was das eine gegen das andre wert war, fiel mir nicht ein zu wägen. So glaubte ich mich mit dem Toten abzufinden. Nur die Vorstellung von der jammernden Mutter verfolgte mich, wie sie allein bei Nacht durch die fremde Stadt irrte, und von den Bäckersknechten, die sie an das Haus ihres sterbenden Sohnes wiesen. Noch heute steht mir das Bild vor Augen, und wenn ich je bei Nacht an einem qualmenden Bäckerofen vorüberkomme, aus dem der Duft des frisch gebackenen Brotes quillt, so treibt mich die Erinnerung straßenweit von dannen. Den Fluch, den die unglückliche Frau auf den Mörder ihres Einzigen herabrief, hat kein Mund mir hinterbracht, aber er gellte laut in meiner Seele. Um ihn zu betäuben, gab es kein andres Mittel, als das Trinken und Toben fortzusetzen, und ich geriet in einen so unnatürlichen Zustand, daß ich ganz kaltblütig dem Leichenzug, der durch meine Straße mußte, vom Fenster nachblicken konnte.
Meine Fühllosigkeit galt für Seelenstärke und trug mir von vielen Seiten Beifall ein. In studentischen Kreisen fand man, daß ich mich in der ganzen Sache als ›forschen Kerl‹ gezeigt hätte, und wenn ich über die Straße ging, folgten mir die Augen der Mädchen und der jüngeren Frauen mit neugierigem Interesse. Manche heimliche Aufmunterung belehrte mich, daß ich durch mein unglückliches Duell der Held des Tages geworden war.
Wenn es etwas gab, das nach der erlittenen Enttäuschung meinen Pessimismus noch vermehren konnte, so war es dieses Verhalten der weiblichen Jugend. Der alte Weiberhaß triumphierte in mir neben den Regungen einer geschmeichelten Eitelkeit. Ich kam zu dem Schluß, daß man ein wüstes Leben geführt und Blut vergossen haben muß, wenn man diesen Engeln gefallen will, und verachtete sie noch grimmiger als zuvor, indem ich mir vornahm, meinen Vorteil, wo ich nur konnte, auszunützen.
Meine Exzesse unterbrach die Gerichtsverhandlung, die gegen mich eingeleitet wurde, und die mit meiner Verurteilung zu mehrmonatlicher Festungshaft endigte.
In der Gefangenschaft wurde ich endlich wieder ich selbst, die furchtbare Ueberreizung ließ nach, denn ich hatte keine Rolle mehr zu spielen, und die Meinung der Menschen, die mich bisher getragen hatte, drang nicht bis in meine Einsamkeit. Alles, was mich gereizt, gepeinigt, zur höchsten Anspannung getrieben hatte, versank ins Wesenlose, und nur das eine Geschehnis türmte sich vor mir auf wie ein Berg, der jeden Morgen aufs neue überstiegen werden mußte. So schnell, so unabänderlich war das Possenspiel meines Lebens zur Tragödie geworden. Ich sah mich um und begann zu fragen, was mich denn eigentlich so weit getrieben habe, und ich begriff mich selbst nicht mehr. Die Leidenschaft für Myrrha war spurlos aus meiner Seele weggeblasen, ich dachte an sie wie an eine ganz fremde, gleichgültige Person, sie erschien mir zu klein und nichtig, selbst um sie zu hassen.
Aber sie sorgte dafür, daß ich sie nicht ganz vergaß. Eines Tages erhielt ich ein paar Zeilen von ihr, worin sie im leichtesten Tone von der Welt die abgerissenen Fäden wieder anzuknüpfen suchte.
›Haben wir einander jetzt lange genug gegrollt?‹ begann das Briefchen, das durch eine unbegreifliche Fühllosigkeit merkwürdig war. Die Herzensroheit, die ich zur Schau getragen hatte, in dieser Peri war sie Natur. Es konnte ihr ja unmöglich verborgen sein, daß sie selbst die Ursache der tragischen Katastrophe gewesen war, über die sie mit halben Worten leicht hinweg schlüpfte. Was sie in Wirklichkeit zu ihrem Wiederanknüpfungsversuche trieb, habe ich nicht erfahren, vielleicht hatten sich andre, glänzendere Aussichten unterdessen zerschlagen; durch eine Wendung gab sie indessen zu verstehen, daß sie damit ein dem Verstorbenen gegebenes Versprechen erfüllte. Ich stutzte und schrieb augenblicklich zurück, indem ich um Aufklärung bat. Diese wurde mir, und ich erfuhr, was ich mir selbst von Anfang an hätte sagen müssen, wäre ich nicht völlig blind und taub vor Leidenschaft gewesen: daß Neumann, weit entfernt, sich an meiner Niederlage zu weiden, das Fest nur besucht hatte, um die Folgen seiner Indiskretion gut zu machen. Meine Sache hatte er führen, ihr die kleinstädtische Aermlichkeit ihrer Vorurteile klar machen wollen, als er sie damals so lange in der Fensternische zurückhielt. Das war alles so klar, so durchsichtig, es stimmte so vollkommen zu Neumanns Charakter, wie ich ihn immer gekannt hatte, zu seiner nicht adligen noch warmherzigen, aber rechtlichen und ehrenhaften Sinnesart, daß ich nachträglich meine Verblendung gar nicht mehr begreifen konnte.
Mit Myrrha war ich fertig und gab auf ihre Briefe keine Antwort mehr, aber dem andern stand ich plötzlich wehrlos gegenüber. Mit dem trotzigen Pochen auf meine gute Sache war es vorbei, und der Tropfen Gift, der mir im Blute lag, verteilte sich jetzt rasch durch alle Adern. Ueber Büchern und Manuskripten ward mir wehe, daß ich nach kurzem die Arbeit von mir legen und im Zimmer auf und nieder gehen mußte, um mich gegen die aufsteigende Beklemmung zu wehren. Nacht für Nacht träumte ich von Neumann, aber nie sah ich ihn als Gegner mit der Waffe in der Hand, wie er mir zuletzt gegenüber gestanden hatte, sondern immer so wie in den Tagen unsrer Freundschaft, er lebte mein tägliches Leben mit mir und hatte teil an meinen geheimsten Gedanken. Schauerlich war es, daß ich jede Nacht im Traum meine Tagesarbeit mit ihm durchsprechen mußte und daß er es war, der mir die neuen Gesichtspunkte aufschloß und jedesmal den Nagel auf den Kopf traf. Natürlich waren es Erkenntnisse meines eigenen Geistes, die sich erst in der nächtlichen Ruhe meinem Bewußtsein mitteilten, aber ich wagte sie nicht für die meinigen zu nehmen, und wenn ich sie niederschreiben wollte, schien es mir, als sei ich im Begriff, den Toten zu bestehlen.
Das Uebel, das schon durch die Anstrengungen und Nachtwachen, die dem Examen vorangingen, und durch das ungewohnte wilde Leben vorbereitet worden war, brach endlich mit voller Gewalt aus. Ich fiel in eine Aufregung, die sich bei der Eingeschlossenheit und dem Mangel an körperlicher Bewegung bis zur Raserei steigerte. Mehrmals versuchte ich mich von den hohen Festungsmauern herabzustürzen, wurde aber durch die Posten verhindert.
Man nahm mich aus der Festung weg und brachte mich in eine Heilanstalt. Als ich nach mehr als Jahresfrist wieder herauskam – mit dem weißen Streifen über der Schläfe, den Sie hier sehen – war das Nervenleiden zwar gehoben, und mein Gemüt hatte sich beruhigt, aber ich kam innerlich als Greis zurück. Die Hoffnungen auf eine glänzende wissenschaftliche Laufbahn waren dahin, denn jede angestrengte Kopfarbeit zog einen Rückfall des Leidens nach sich. Mir blieb nichts übrig, als meine Zeit mit Spazierengehen, leichten mechanischen Arbeiten und andern Spielereien auszufüllen.
Der Rest meiner Strafzeit war mir unterdessen auf dem Gnadenweg erlassen worden, und ich reiste nach Hause. Dort fand ich die Familie aufgelöst. Der Vater war während meiner Krankheit gestorben und hatte uns Geschwistern ein Vermögen hinterlassen, das unsre Bedürfnisse und Erwartungen bei weitem überstieg. Natürlich konnte dies den Schaden, den er in unserm Leben gestiftet hatte, nicht mehr gut machen. Ihm selber ist es niemals aufgegangen, daß er seinen Kindern, und besonders mir, Charakter und Dasein verpfuscht hat, und er starb, wie er gelebt hatte, in der Ueberzeugung, der weiseste aller Erzieher gewesen zu sein. Meine Schwester hatte, nur um der väterlichen Tyrannei zu entgehen, kurz zuvor einem ungeliebten Manne die Hand gereicht und lebte mit ihm in gleichgültiger, freudeloser Ehe. Meinen Bruder, dem die Schrullen des Vaters gleichfalls die Laufbahn im Vaterland verkümmert hatten, fand ich im Begriff, nach Amerika abzureisen, um dort ein völlig neues Leben anzufangen. Er sollte jedoch sein Ziel nicht erreichen, denn das Schiff, das ihn trug, ging bei einem Sturm spurlos verloren, und sämtliche Passagiere blieben auf immer verschollen.
Meine Schwester Isis, die sich jetzt Mathilde nennt, lag mir an, gleichfalls den Namen zu wechseln und mein Leben in neuen Verhältnissen von vorn zu beginnen. Aber so seltsam es klingt – ich vermochte mich von dem verhaßten Namen nicht mehr zu trennen; er war mir ins Fleisch gewachsen, ich war mir selber nur noch durch ihn verständlich. Und zum kräftigen Anfassen eines neuen Daseins fehlte mir ohnehin der Lebensnerv. Zwar zog ich viele Jahre auf Reisen umher, aber nur als stiller, hämischer Beobachter, nicht als thätiger, handelnder Mensch. Ich suchte mich auf meine Weise mit der Welt abzufinden, indem ich die Unzufriedenheit zum System erhob und mir den Luxus gönnte, ihren Ursprung in den verfehlten Weltplan zu verlegen. Jetzt bin ich in der Selbstkritik weit genug gediehen, um auch diesen Zustand zu übersehen, aber damals wurde mir wieder leidlich wohl, und ich begann mich nun mit stiller Genugthuung als Menschenhasser einzurichten.
Meine Mittel gestatteten mir, ganz meinen Launen nachzugehen und nach keiner Seele mehr zu fragen. Es freute mich, andre diese Macht fühlen zu lassen, denn einen größeren und besseren Menschen hatte das Unglück nicht aus mir gemacht. Mein Inneres war ganz vertrocknet, Schadenfreude war der einzige Genuß, dem ich noch zugänglich war. Wie ein böser Geist zog ich von einer Stadt zur andern, und wo ich mich niederließ, da folgte das Unheil mir auf dem Fuße. Wie ich selber war, so wollte ich die anderen sehen, und ich suchte durch Wort und That in allen, die mir nahe kamen, den Glauben an das Gute und Schöne wie Unkraut auszuroden. Mein eigenes Schicksal wollte ich an den andern rächen, besonders an dem Geschlecht, dem ich die Hauptschuld daran zuschrieb – und ich wurde so klein, daß ich mich nicht schämte, Würmer zu quälen.
Ueber den häßlichsten Teil meiner Geschichte lassen Sie mich rasch hinweg kommen. Ich lernte ein Mädchen kennen, ein gutes beschränktes Geschöpf, das sich in den Kopf setzte, mich zu ›retten‹. Durch halbes Entgegenkommen und halbes Zurückziehen steigerte ich sie in ihren Wahn hinein, bis sie nichts mehr sah noch hörte, nichts mehr wußte noch wollte als mich, und der höchsten Seligkeit durch meinen Besitz teilhaftig zu werden hoffte. Dann stieß ich sie hohnlachend zurück. Die Aermste konnte sich selbst nicht wiederfinden, sie fiel erst in Schwermut, dann in Stumpfsinn, aus dem ein früher Tod sie erlöste. Meiner zerstörten Zukunft hatte ich dieses Sühnopfer geschlachtet, und andre boten sich mir von selber an. Die Liebe, die ich jung, mit warmem, vertrauendem Herzen, nicht erringen gekonnt, die drängte sich mir, als ich alt und kalt und ruchlos geworden war, auf Schritt und Tritt entgegen; ich hatte nicht einmal nötig, mich ihr in den Weg zu stellen, sie kam und suchte mich in meiner Einsamkeit. Ich brauchte nur den Nimbus auszubeuten, mit dem meine gerüchtweise umgehenden Schicksale und meine geheimnisvolle Lebensweise mich umgaben. Kraftlos, wie ich selber war, freute ich mich, andere zu knicken, und ich wurde wie der Basilisk, von dessen Blick getroffen, die Opfer siech und gelähmt hinwegschleichen. Ihr ganzes Geschlecht sah ich wie ein schädliches Giftgewürm an, das keine Schonung verdient, und ich glaubte einen Akt der strafenden Gerechtigkeit begangen zu haben, wenn ich so ein armes Geschöpf zu Grunde richtete.
Hier an der Stelle, wo Sie sitzen – es sind erst wenige Jahre her –, ist eine andere gesessen, die im hellen Uebermut das kranke Raubtier hinter seinem Gitter zu necken suchte, bis der Bann auch sie festhielt. Da kam das Raubtier und schlug dem schönen, glatten, schmeichlerischen Tierchen eine Pranke in das seidenweiche Fell, daß es für immer an diese Stunde denken wird.
Endlich, Ilse, erschienen Sie, und wie soll ich aussprechen, was Sie für mich bedeuten? Gleich als Sie einzogen, begann es in mir zu wühlen. Schon die Seelenkraft, die ich aus ihrem Spiel heraushörte, die Bücher, die ich Sie lesen sah, die ganze Art Ihrer Beschäftigung machte mich stutzig.
Also ist's möglich? dachte ich, dieses Geschlecht kann doch eine Seele haben. Aber ich zweifelte, es reizte mich, Ihnen in den Weg zu treten und auch mit Ihnen zu kämpfen, doch Sie gingen vorbei und sahen mich nicht. Dann lernte ich Sie kennen und sah zum erstenmal das Göttliche – die Einfalt der Natur, die Jugend mit dem starken Willen, dem reinen Glauben. Der Philosoph von Profession mußte es an Ihnen lernen, daß die Dinge nur durch uns selber existieren. Die Außenwelt, an der wir uns reiben und zerreiben, die wir verfluchen, und der wir doch nirgends entrinnen können, die ist unser eigenstes Gebilde. Ja, wenn Sie mir früher begegnet wären, vielleicht hätte ich von Ihnen gelernt, was ich jetzt nur mit knirschendem Neid bewundern kann: das unbefangene, bedürfnislose Vorsichhinleben und nach keiner Seele fragen. – Ich sagte Ihnen vorhin, ich habe gelacht, als ich so schön den sterbenden Fechter vor Ihnen spielte, glauben Sie es nicht – geflucht habe ich und gegen mich selbst gewütet, daß ich kein andrer sein kann – und geweint. Nicht weil meine Hände von Blut befleckt sind, diese Schuld habe ich seit lange von meiner Seele abgewälzt. Ich weiß, daß, wenn der Fall Neumann sich in unsern Tagen ereignet hätte, nicht ich, sondern der Arzt, der mit unreinen Händen den Verband anlegte, zur Rechenschaft gezogen würde. Vor Neumanns Schatten habe ich Ruhe. Wen die Götter lieben, der stirbt jung – ich habe ihn nur um die spätere, schlechtere Hälfte des Daseins gebracht. Aber was habe ich mit meinen eigenen Lebensjahren angefangen! So lange ich noch am Verneinen meine Freude fand und mich im Zerstören übte, da konnte ich mir wenigstens noch einbilden, daß ich ein ganzer Teufel sei. Aber jetzt, nachdem ich Sie kennen gelernt habe und wieder ein Mensch sein möchte, einer, den man am Wollen und am Leisten mißt, jetzt sehe ich mich erst in meiner wahren Gestalt als einen Krüppel, hilflos und boshaft, wie die Krüppel sind. Und es giebt keine Rettung mehr: da innen ist alles starr und unfruchtbar wie in den ausgestorbenen Regionen des Mondes droben, und so schauerlich hell, daß ich mir auch nicht einmal mehr die kleinste Täuschung vormachen kann.
Dies, Ilse, ist das Porträt des Mannes, dem Sie Ihre großmütige Neigung schenken wollten, es ist wohl getroffen, und Sie dürfen mir glauben, daß kein Zug daran verzeichnet ist. Betrachten Sie ihn gut – ich meine, er ist so recht ein Mann zum Verlieben für unsere Ilse.«
Müller schloß seine Bekenntnisse, wie er sie begonnen hatte, mit einem harten, selbstverhöhnenden Auflachen. Aber er blieb noch eine Zeitlang sitzen und bohrte mit dem Stock im Boden, als ob er mit seinen Gedanken noch nicht völlig ins reine gekommen sei.
Dann hob er mit weicherer Stimme wieder an: »Wenn Sie nach Jahren an diese Unterredung zurückdenken, so lassen Sie eines zu meinen Gunsten sprechen. Mein Geschlecht ist hochmütig und selbstgefällig und mag sich nicht gern vor dem Ihrigen eine Blöße geben. Ich hätte nur zu schweigen gebraucht, so wäre ich auf immer für Sie der verwundete Held geblieben, den Ihre Phantasie geschaffen hatte. Ich hätte meinen Mantel umschlagen und tief eingehüllt in mein Geheimnis im Dunkel hinweg schwinden können, dann wäre ich Ihres Andenkens gewiß gewesen. Aber dafür war ich zu ehrlich und zu stolz. Ich wollte mir keinen Erinnerungskult erstehlen. Vielleicht war es die Macht der Wahrheit selber, die mich zwang, aber rechnen Sie es mir immerhin zum Verdienst an, daß ich ihr gehorchte. Ich wollte von Ihnen gekannt sein, und wenn Sie eine Thräne für mich weinen können, so soll sie dem gelten, der ich wirklich gewesen bin wenn nicht, so mögen Sie mich vergessen. Leben Sie wohl.«
Er stand auf und verließ sie, ohne eine Antwort abzuwarten.
Sie hielt ihn nicht, sie fühlte mit unabweisbarer Sicherheit, daß es auf die Dinge, die aus seinem Munde gekommen waren, keine Antwort mehr gab. Sie wußte, dieser war ein toter Mann, gleichviel, wie lange ihn der Erdboden noch trug.
Sie merkte nicht, daß die Sonne schon lange gesunken war, und daß leuchtende Abendbläue sie umfloß, über der allmählich die ersten Sterne heraufzogen. Sie saß auf ihrer Bank wie gelähmt und von einer Eisschicht überfroren. Es war ihr, als sei sie ganz arm und ganz alt geworden, und sitze am Ende ihrer Tage einsam und hoffnungsleer in einer verödeten Welt.
Bei alledem kam es ihr vor, als habe sie im Grunde nichts Neues erfahren, als sei ihr dieses Charakterbild von je bekannt gewesen. Woher, durch wen? Es war eine Kenntnis, schien es ihr, die sie mit auf die Welt gebracht und sich nachher in freiwilliger Selbstverblendung wieder ausgeredet hatte. Was war denn die Kälte und Abstoßung, die sie bei jeder Begegnung aufs neue zu überwinden hatte, andres gewesen als das Ahnungsvermögen ihrer Natur, das sie vor der seinigen warnen wollte, und dem sie keinen Glauben schenkte? So nahe konnte also der Selbstbetrug bei den heiligsten Empfindungen wohnen!
Das Halbe, Zwiespältige einer solchen Natur war kein Problem für ihre ungebrochene Jugend. Deshalb ließ sie auch die mildernden Umstände, die für ihn zu sprechen schienen, nicht gelten, denn sie sagte sich, daß eine größere Seele an den Klippen, wo dieser scheiterte, gefahrlos vorüber gesteuert wäre.
Eine Zeitlang kämpfte es in ihr, ihm noch ein freundliches Wort zu sagen, denn sie achtete ihn doch um seines Freimutes willen, und gern hätte sie ein herzlicheres Gefühl für ihn zusammengerafft, aber der Sturz aus den Wolken war allzu hart gewesen, er hatte ihr ganzes Innere stumpf und taub gemacht.
Sie erhob sich endlich fröstelnd und ging ins Haus. Die Parterrefenster waren erleuchtet, aber sie blickte nicht mehr hinein. Erst als sie wieder auf ihrem Zimmer saß und all die vertrauten Gegenstände um sich sah, welche die Zeugen ihres Traumes gewesen waren, löste sich die Eisrinde von ihrer Brust, und sie brach in einen Strom von Thränen aus. Doch sie weinte nicht um den Mann, der soeben auf immer Abschied von ihr genommen hatte. Dieser war ihr schon so ferne gerückt, daß sie ihn nur noch wie um die Ecke verschwinden sah. Sie weinte um sich selbst, um einen Frühling, der geschieden war, um das Leben, das sie so völlig verwandelt anblickte. Denn sie konnte nun nie wieder das Kind sein, das selig lächelnd am Rand der Abgründe spielte.
Aber mit einemmal schnellte sie innerlich wieder in die Höhe wie eine gebogene Stahlklinge und sprang zugleich wie emporgerissen auf beide Füße. Ein Vers war ihr eingefallen, den sie oft Müller gegenüber im Mund geführt hatte, wenn sie ihre Welt gegen die Angriffe seines Pessimismus verteidigen mußte.
»Wie es auch sei, das Leben, es ist gut,« sagte sie zu sich selber und trocknete die Thränen ab. Dann öffnete sie beide Fensterflügel und nahm in der einströmenden reinen Nachtluft tiefe Atemzüge. Das zurückkehrende Gefühl der Jugendkraft und Gesundheit strömte ihr bis in die Fingerspitzen. Noch einmal sagte sie, und diesmal ganz laut zu sich selber: »Wie es auch sei, das Leben, es ist gut,« und fühlte sich dabei wie ein Soldat, der seine wieder gewonnene Fahne ans Herz drückt. – Als die Eltern nach Hause kamen, sang sie an ihrem Flügel.
Doktor Müller trat in dieser Nacht zwar seinen gewohnten Spaziergang an, aber er kam nicht wie sonst um die zweite Morgenstunde nach Hause. Zwei Gärtner, die bei Tagesanbruch mit Blumen nach der Stadt fuhren, fanden ihn auf einer Bank der öffentlichen Anlagen sitzend, entseelt, das Gesicht von der aufgehenden Sonne abgewendet.
Da er Uhr und Börse bei sich trug und keine Zeichen von Gewaltthat vorlagen, wurde eine Herzlähmung als Todesursache angenommen. Erst Monate später entdeckte man beim Umgraben der Rabatten hinter jener Bank ein kleines Glasfläschchen mit den Resten einer farblosen Flüssigkeit, die als ein schnell wirkendes Gift erkannt wurde.
Ilse weinte bei seinem Begräbnis Thränen, die diesmal wirklich dem abgeschiedenen Freunde galten. Sein Bild verklärte sich ihr, nachdem er ins Unerreichbare entrückt war, und sie mußte sich fragen, ob er nicht vielleicht doch sich selbst zu streng gerichtet habe.
Die Beerdigung fand bei Nacht in tiefer Stille statt, und auf ausdrückliche Anordnung des Toten erhielt die Stätte weder eine Inschrift noch irgend eine andere Auszeichnung. Namenlos und verschollen, wie er es gewollt hatte, wohnt Pelops Müller unter den Toten.
Sein kostbares Teleskop ging nach einer im Schreibtisch vorgefundenen Verfügung in Ilses Besitz über und folgte ihr später, als sie sich verheiratete, in ihr neues Haus. Die Beschäftigung mit den Gestirnen blieb ihr auch als Frau noch lieb, sie lehrte ihre Kinder die Wunder des nächtlichen Himmels kennen, und das Fernrohr hat ihrem begabten Aeltesten, der im Begriffe steht, sich zum Astronomen auszubilden, den Weg seiner Bestimmung gewiesen.
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