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Gedankenschuld.

Was den jungen Grafen Wildegg so früh aus den Armen seines angebeteten Weibes in das Verhängnis getrieben hatte, wußte eigentlich niemand, so viel auch über das traurige Ereignis gemutmaßt und gefabelt worden war. Er lag in dem ländlichen Kirchlein von Mittenau, in der Gruft derer von Wildegg-Mittenau, mit einer Kugel im Hirn und dem Bildnis seiner Marina auf dem Herzen, und die Welt sprach ihr Urteil über ihn, denn die Toten haben immer unrecht.

Furcht vor der Entdeckung eines kompromittierenden Geheimnisses sollte dem finstern Mann, der scheu und einsam auf seinen Gütern lebte, die selbstmörderische Waffe in die Hand gedrückt haben; andere rieten auf ein amerikanisches Duell. Der Verstorbene war ein schwieriger und unglücklicher Charakter gewesen, der wenig Freunde besaß; diese halfen sich mit einem beliebten Schlagwort und redeten von erblicher Belastung, denn ein Oheim des Grafen war denselben Weg gegangen.

Allgemein aber wurde die schöne Gräfin Marina bedauert, die sich von der Welt zurückzog und für jeden Trost unempfänglich blieb. Zwar hatte Graf Julius in seinem letzten Willen die Hoffnung ausgesprochen, daß sein Bruder Kurt der Witwe die Hand reichen und ihr all das Leid vergüten möge, das ein Wildegg in ihr junges Leben gebracht hatte, aber die beiden Ueberlebenden schienen wenig geneigt, diesem Wunsch des Verewigten Rechnung zu tragen.

Graf Kurt war der Erstgeborene und als Kinder hatten die Brüder Wildegg sich so geglichen, daß sie oft verwechselt wurden. Später verlor sich diese Aehnlichkeit, Kurt wurde ein gutes Stück größer, auch breitschultriger und hatte markiertere Züge als Julius. Wie er dem Bruder physisch überlegen war, so hatte die Natur ihn durchweg vollkommener geschaffen, und es war, als habe sie sich selbst zu kopieren versucht, indem sie das frisch gelungene Werk mit verringerten Mitteln nachzubilden unternahm, aber nicht mehr zu stande brachte. Kurts Festigkeit kam bei Julius als Eigensinn wieder zum Vorschein, und die rüstige Unternehmungslust des älteren Bruders war bei dem jüngern zu einem unruhigen Drang verkümmert, der ihn nervös umhertrieb und ihn hastig eine Aufgabe um die andre ergreifen und wieder wegwerfen ließ. Beide hatten wissenschaftliche Interessen, beide waren ehrgeizig, aber dem Grafen Julius fehlten die geistigen Mittel, seinen Ehrgeiz zu befriedigen, und der ältere Bruder ging vor ihm her wie das lebendige Ideal seiner selbst, das er doch nie erreichen konnte. Vielleicht hatte gerade in dieser unzulänglichen Aehnlichkeit Kurts duldsame, zärtliche und beschützende Liebe für seinen »Kleinen«, seinen »July«, wie er ihn nannte, ihren Ursprung.

Bekannt war Kurt Wildeggs Ehescheu und seine ablehnende Haltung gegen das weibliche Geschlecht. Während Julius vor dem Traualtar stand, schoß Kurt Löwen in Algier und fand sich nicht bemüßigt, wegen einer solchen Bagatelle zurückzukehren. Er tauschte mit der neuen Schwägerin ein paar Briefe und die Photographien aus und glaubte damit den verwandtschaftlichen Pflichten Genüge gethan zu haben. Eines Tages aber erschien er unerwartet auf Schloß Laun, wo das junge Paar die Herbstmonate verbrachte, und nahm sich nur gerade Zeit, die strahlende Schönheit seiner Schwägerin und das Glück seines Bruders zu bezeugen; dann verschwand der Rastlose ebenso plötzlich wie er gekommen war. Man erfuhr erst wieder von ihm, als er, ohne die Familie vorher zu benachrichtigen, in die Dienste der ostafrikanischen Gesellschaft getreten war und sich nach Afrika begab, um seinen Posten als Chef einer kleinen Station am Kilima Ndscharo anzutreten. Dieser Entschluß wirbelte ziemlichen Staub auf, aber es lag ganz im Wildeggschen Charakter, ein Leben unter den Dschagganegern den Genüssen der Großstadt und dem Umgang mit seinesgleichen vorzuziehen. In den offiziellen Berichten, die nach Europa kamen, wurde sein Name selten, aber dann stets mit großer Auszeichnung genannt. Er selbst schrieb wenig und mied es geflissentlich, von seiner Person zu reden.

Da traf ihn zwei Jahre später, als er auf Urlaub in Sicilien weilte, um sich von den Folgen des afrikanischen Fiebers zu erholen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Nachricht von dem jähen unfaßbaren Ende seines Julius. Er reiste Tag und Nacht, um dem Bruder die letzten Ehren zu erweisen und der verwitweten Schwägerin, die ihm mit bleichem versteinertem Gesicht entgegentrat, die Hand zu drücken. Allein sobald das Testament eröffnet war, das ihn von dem Herzenswunsch des Verstorbenen in Kenntnis setzte, reiste er, wie von Furien gehetzt, wieder ab und kehrte auf seinen Posten am Kilima Ndscharo zurück, ohne sich von Marina zu verabschieden.

Wieder vergingen Jahre, die Trauerzeit war abgelaufen, aber der greise Vater mahnte vergeblich den Stammhalter bald laut und bald leise, daß er zurückkehre, um den Wunsch des verstorbenen Bruders zu erfüllen, damit nicht später einmal der große Wildegg-Mittenausche Besitz sich zersplittere und in fremde Hände falle. – Graf Kurt hatte, wie es schien, zwischen sich und der Civilisation endgültig das Tischtuch zerschnitten.

Auch von Marina erfuhr die Welt nichts mehr, als daß sie Sommer und Winter in der Einsamkeit von Schloß Laun lebte, beschäftigt mit der Lektüre der Bücher, die der Verstorbene geliebt hatte, umgeben von den Erinnerungen an ihn. In Begleitung Alys, ihres kleinen Windhunds, machte sie täglich denselben Gang im Park und setzte sich dort auf eine hölzerne Bank, an die sich Erinnerungen von besonderer Stärke zu knüpfen schienen. Den Rest ihrer Zeit füllte sie durch Werke der Barmherzigkeit aus, sie strickte wollene Strümpfe und Jäckchen für arme Kinder und besuchte mit ihrer Gesellschafterin die Kranken in den zum Gut gehörigen Ortschaften. Die einen nannten sie eine Heilige, die andern eine verrückte Schwärmerin, aber keine Verdächtigung wagte sich an sie heran, so tadellos war ihre Haltung gewesen, seit der Verstorbene sie aus einem armen unbedeutenden istrischen Landedelfräulein zu einer der ersten Damen Wiens gemacht hatte.

In dieser Stadt der schönen Frauen hatte sie einen Winter lang für die schönste gegolten, und viel hatte sich damals die Oeffentlichkeit mit ihr beschäftigt, aber eben nur des merkwürdigen Umstandes halber, daß bei ihrer Jugend, Schönheit und plötzlich erlangten hohen Stellung doch so gar nichts über sie zu sagen war. Sie stand wie ein stilles lächelndes Rätsel neben dem nervösen Grafen, der beständig sprach und dessen Augenlider in einem fort zuckten. Sie schritt durch die Salons der Aristokratie wie eine Traumkönigin, von Brillanten flimmernd, aber mit Augen, die nicht zu sehen schienen. Diese Augen waren so eigentümlich, daß niemand sie vergessen konnte; sie hatten einen seltsam gegenstandslosen Blick, der nichts fixierte und wie aus einer Traumwelt herausdämmerte, und wechselten die Farbe mit der Umgebung: sie gingen vom Grauen ins Grüne oder ins Blaue, je nach dem Anzug, den die Gräfin trug. Meist aber waren sie farblos wie ein Wasser ohne Tiefe, und niemand hatte sie je sich feuchten oder in der Erregung blitzen sehen; mit solchen Augen müßte man die Sphinxe malen. Es hatte auch nicht an Versuchen gefehlt, das lebendige Geheimnis, das sich Marina Wildegg nannte, zu ergründen, aber sie war wie der Horizont, der in die Ferne entweicht, sobald man auf ihn zugeht. War's Stolz, war's Kälte, war's am Ende nur Stumpfheit und Geistesträgheit, was sich hinter der reizenden unbeweglichen Maske verbarg? Niemand konnte es sagen.

Jetzt aber löste sich das Rätsel auf einfache und doch überraschende Weise: die schöne Frau hatte das Unwahrscheinlichste zu stande gebracht, sie hatte ihren unliebenswürdigen Gatten geliebt. Sie war untröstlich über seinen Verlust, sie wies jede neue Ehe zurück; dieses blühende Geschöpf verlangte vom Leben kein andres Glück als die Visionen des Vergangenen.

Erst als der alte Graf zu kränkeln begann, verließ sie ihr streng bewahrtes Witwenasyl und zog zu dem Schwiegervater nach Wildegg, um ihn zu pflegen und aufzuheitern.

Dort sah sie Graf Benno, ein Neffe des alten Herrn und mutmaßlicher Haupterbe der Wildeggschen Güter, im Fall Graf Kurt kinderlos starb. Ihre geheimnisvolle Schönheit stachelte den blasierten Weltmann aus seiner gewöhnlichen ironischen Apathie auf, und das Vermögen, über das sie durch das Testament des Grafen Julius selbständig verfügte, hätte gerade ausgereicht, um die Löcher seines Portefeuilles zu stopfen bis zur Uebernahme der großen Herrschaft Wildegg-Mittenau, auf die ihm das abenteuernde Leben des Grafen Kurt eine fast sichere Anwartschaft eröffnete.

Man wußte nicht, wie es zuging, Marina machte ihm keine Hoffnungen, aber sie war verändert durch seine Gegenwart, sie lächelte häufiger als sonst und suchte ihn zuweilen mit den Blicken. Was konnte sie Anziehendes an ihm gefunden haben?

Der alte Graf war außer sich über diese Wendung, er betete seine Schwiegertochter an und hatte schon lang im stillen dem zaudernden Sohn gegrollt, der keine Miene machte, das ihm zugedachte Glück zu ergreifen. Aber erst die Gefahr, das viele Wildeggsche Geld in die Hände eines ruinierten Spielers fallen zu sehen, machte ihn lebendig, und eines schönen Tages setzte er unter geringfügigem Vorwand den Neffen Knall und Fall an die Luft. Marina ließ auch das geschehen, ohne mit der Wimper zu zucken; dieses schöne stille Wesen war nun einmal ohne Willen geboren.

Und nun entfaltete der alte Herr eine staunenswerte Energie, und Rührigkeit, er fand auf einmal die Mittel, den widerspenstigen Sohn zu zwingen, indem er es durch seine Verbindungen beim deutschen Auswärtigen Amt erwirkte, daß Graf Kurt von seinem Posten abberufen wurde. Eine Grenzstreitigkeit, über welche der Graf unparteiischen Bericht erstatten sollte, lieferte den bequemen Vorwand. Kurt mußte gehorchen, und kam dann nach Wildegg, zaudernd und ungern.

Allein sobald er die väterliche Schwelle betreten hatte, verließ ihn aller Widerstand, und er wurde wie Wachs in der Hand seines Vaters, der die beiden Willenlosen einander zuführte.

Als die Verlobten sich zum erstenmal unter vier Augen gegenüberstanden, fehlten beiden die Worte, und die junge Frau schien einer Ohnmacht nahe. Aly hockte auf den Hinterpfoten neben ihr und verfolgte jede Bewegung Kurts mit feindlichem Mißtrauen. Kurt hielt ihre Beklommenheit für ein Zeichen der Abneigung – der Vater hatte seinen Willen durchgesetzt und ihr ein Ja abgenötigt, von dem ihr Herz nichts wußte. Durfte er ein Opfer annehmen, das sie sichtlich so schwere Kämpfe kostete? Er stand am untern Ende des Zimmers wie ein ertappter Dieb, der sich nicht aufzublicken getraut, und stammelte unzusammenhängende Reden, auf die sie keine Antwort hatte, denn sie hielt sich bebend am Tischrand aufrecht.

»Marina, um Gottes willen,« sagte er leise, indem er einen Schritt näher trat. – »Ich bin nicht schuldig, wenn ein Druck auf dich hier ausgeübt wurde. Sprich ein Wort und ich reise noch heute ab.« –

Da hörte er sie halblaut seinen Namen nennen – er konnte sich nachher diesen Augenblick nie wieder so recht vergegenwärtigen, denn er war wie von einem grellen Blitz geblendet, aber gleich darauf hielt er unter dem wütenden Gebell Alys ihre schlanke Gestalt in den Armen und fühlte, daß der Rausch, den er sich an ihren Lippen trank, nur mit dem Leben enden konnte.

Er wußte nicht, wie ihm geschehen war; er lag vor ihr auf den Knieen, sein abgemagertes, von der afrikanischen Sonne gebräuntes Angesicht auf ihrem Schoß, daß sie die vorzeitig weißen Streifen in seinem Haar sehen konnte, und schüttete sein langgehütetes Geheimnis vor ihr aus.

Er hatte sie ja geliebt, seitdem ihn zum erstenmal unter einem weißen Zeltdach bei den Pyramiden ihr Bildnis angelächelt hatte wie eine Sphinx. Er war nur darum der Vermählung seines Bruders ferngeblieben, weil er fühlte, daß eine persönliche Begegnung ihm verhängnisvoll werden mußte. Dann hatte es ihm doch keine Ruhe gelassen, er mußte kommen und sich die Herzenswunde holen, die auch in der Glut des Aequators nicht heilen wollte.

Als sein Bruder starb, war er sich wie der Mörder erschienen, denn er hatte mit allen seinen Sinnen nach dessen Eigentum gestrebt, und in den entsetzten Augen der Witwe glaubte er damals etwas wie eine stille Anklage zu lesen. Dann war er aufs neue geflohen bis ans Ende der Welt, aber immer hatte es ihn umstrickt wie mit feinen weißen, unzerreißbaren Seidenfäden, und endlich blieb ihm keine Wahl, er mußte wiederkehren und sein Geschick in ihre Hände legen.

»Wie oft ich eine solche Stunde geträumt habe – auf dem Ocean, in den Urwäldern, mitten im Schlachtlärm und in meinen einsamen Fiebernächten – ich sah nur dich – und du wußtest es nicht.«

»Doch, doch, du Thörichter – ich wußte es,« antwortete sie, halberstickt von seinen Küssen.

»Du wußtest es? Seit wann?«

Da drückte sie, lächelnd nach Art der Südländer, die Augen ein und sagte: »Von unsrer ersten Begegnung an.«

Es durchfuhr ihn wie ein Stich, er ließ den Kopf sinken.

»Du hast recht,« sagte er traurig, »so wenig wußte ich mich zu beherrschen. Am ersten Tag und in der ersten Stunde mußte ich das Weib meines Bruders begehren und konnte es nicht einmal vor ihr verbergen.«

Die junge Frau lächelte mit ihrem eigentümlichen und geheimnisvollen Lächeln und antwortete: »Du hast dich gut beherrscht. Niemand hat bei deiner Flucht etwas andres gedacht, als daß die Civilisation dich Abenteurer langweile. Auch ich dachte so, aber – ich fühlte es anders.«

»Du fühltest – was?«

»Nun,« sagte sie, immer mit demselben Lächeln, »das Band zwischen uns – die weißen Seidenfäden, wie du vorhin sagtest, die umstrickten auch mich.«

Dieser Punkt blieb ihm dunkel und rätselhaft.

Sie hatte diese Jahre her in seiner Erinnerung gelebt, wie er sie zuletzt gesehen hatte, als sie halb versteinert vor Schmerz und thränenlos mit ihren kalten weißen Händen einen Strauß überschwenglich duftender Tuberosen über dem Sarg seines Bruders zerblätterte, und er hatte damals gedacht: »es ist ihre eigene berauschende Jugend, die sie ihm nachschickt ins Grab.« – Und nun sollte sie in all dieser Zeit seine Empfindung, die ihm selbst ein Frevel schien, geteilt haben? – Aber das erste Befremden wurde schnell verschlungen von der Wonne erwiderter Leidenschaft.

In den wenigen Wochen, die ihrer Verbindung vorangingen, sahen die Verlobten sich selten, denn Gräfin Marina war korrekt wie immer auf ihren Witwensitz zurückgekehrt, und der Graf betrieb mit Feuereifer zu Hause die Anstalten zur Vermählung.

Aber täglich flogen glühende Briefe hin und her, und wenn Kurt die Sehnsucht nicht mehr bezwingen konnte, warf er sich in den Schnellzug und fuhr Tag und Nacht, um ein paar köstliche Stunden bei der Geliebten zu verbringen.

Er staunte selbst, wie man so wahnsinnig verliebt und so über alles menschliche Maß hinaus glücklich sein könne. Aus der starren Puppenhülle war nun ein Weib ausgeschlüpft, in dessen Adern das lang verleugnete südliche Blut glühte und bebte, aber wie ganz er sie auch sein eigen nannte, es blieb noch immer ein Schleier zurück, ein letzter geheimnisvoller Rest, den er nicht auflösen konnte und der ihm stille, selige Unruhe schuf.

»Warum hast du mich nicht gerufen, wenn du es wußtest?« fragte er zuweilen.

»Ich wußte, daß du von selber kommen würdest.«

»Wenn ich aber am Kilima Ndscharo gefallen wäre?« fragte er hartnäckig weiter.

»Du konntest nicht fallen, ehe du mein wurdest.«

Und neue brennende Küsse, in denen seine Fragen untergingen.

Am zehnten September fand die Hochzeit auf Wildegg statt, damit der alte Graf in Person seine Kinder segnen konnte. Der Greis, dessen Auflösung nicht mehr ferne war, gewann durch die Freude neue Lebenskraft, er verließ seinen Lehnstuhl, um alles selber anzuordnen, und versicherte seinen Gästen, am Tag, der Kurt mit Marina verbinde, sei ihm auch sein Julius wiedergeschenkt.

Nach Beendigung der Ceremonie begaben sich die Neuvermählten in das benachbarte Mittenau, um auf der Marmorplatte, welche die sterblichen Reste des Grafen Julius deckte, einen Kranz niederzulegen mit der Inschrift:

»Marina und Kurt ihrem Julius.«

Sie hatten diesen Gang mehr dem greisen Vater zuliebe, als aus eigenem Herzenstrieb unternommen, denn für ihre Seligkeit gab es kein Gestern, alles Vergangene war versunken und ertrunken in einem Meer von Glück.

Als sie aus dem sonnigen Friedhofgärtchen mit seinem bäuerlichen Blumenflor in die kellerkalte Kirche traten, zog sich dem jungen Ehemann das Herz peinlich zusammen, und er wagte nicht, Marina ins Gesicht zu blicken. Durch die gemalten Scheiben fiel ein bunter Schein über die abgewetzten fettig glänzenden Kirchenstühle und erwärmte auch ein Stück weit den kalten Boden, aber vor der Platte, unter der Julius seinen bleiernen Schlaf schlief, machte er Halt und ließ sie in um so kälteren Schatten. Auch Kurt konnte in seinem Herzen keinen warmen Gruß für den finden, durch dessen Unglück er so reich geworden war. Er mußte sich vorstellen, wie es wäre, wenn er selbst da unten läge und ein andrer träte am Arm Marinas vor seine Gruft; da fühlte er, daß er diesen andern hassen würde und daß kein Friede sein könnte zwischen ihm und dem Erben seines Glücks.

»Er war doch der Bessere von uns beiden.« sagte er so leise, als ob seine Stimme den Schläfer erwecken könnte.

Marina antwortete nicht und sah an ihm vorüber; auf ihrem Gesicht lag wieder die ausdruckslose weiße Maske, nur in den Mundwinkeln bildete sich ein seltsam geheimnisvoller Zug, den Kurt schon kannte, etwas Grausames, wie das Lächeln der Sphinx, die den Unglücklichen zerreißt, wenn er ihr Rätsel nicht lösen kann.

»Wir wollen ihn bitten, uns nicht zu zürnen über unser Glück,« fügte er beklemmt hinzu, aber Marina rührte wie von einem plötzlichen Schauer ergriffen an seinen Arm, und beim Druck ihrer Finger vergaß er alles bis auf die selige Gewißheit, daß diese geliebte Hand jetzt auf immer sein war und im Begriff, ihm ein Glück zu schenken, vor dessen Uebermaß ihm schwindelte.

Noch unter dem Friedhofpförtchen, von dem ein vernachlässigter Pfeifenstrauch seine schweren großblätterigen Ranken wirr und zerrauft herunterhängen ließ, zog er sie an seine Brust, und, von dem Gebüsche gedeckt, tauschten sie jauchzende weltvergessene Küsse, als ob sie sich für eine lange Trennung zu entschädigen hätten. Dann trug der Schnellzug sie nach Süden.

In Abbazia wollten sie die ersten Wochen verbringen; die Dienerschaft war schon tags zuvor mit allen Koffern und dem Hunde vorausgereist, nur Therese, Marinas Kammerfrau, fuhr mit den Neuvermählten und bewachte in einem Nebencoupé das Handgepäck. Auf einer kleinen Station waren schon telegraphisch Zimmer für die Nacht bestellt.

Aber in Innsbruck erfuhren sie, daß die Pontebbalinie infolge eines Wolkenbruchs an mehreren Stellen unterbrochen sei. Man entschloß sich, weil der Umweg Trient – Verona zu weit war, in dem nahen Bozen die Wiederherstellung der Bahnstrecke abzuwarten, aber beim Aussteigen auf dem menschenüberfüllten Bahnhof änderte Kurt seine Gedanken. Sollten sie so geschmacklos sein, in einer Allerweltsherberge vor gaffenden Kellnern und Handlungsreisenden ihr Glück zu profanieren? Schon die Augen der Kammerfrau waren ihm zu viel, er konnte ohnehin die Erinnerung nicht loswerden, daß diese Augen einst auch das Glück seines Bruders gesehen hatten, und mit Bitten und Schmeicheln brachte er es dahin, daß Marina einwilligte, das Mädchen, an dessen geschickte Hände sie gewöhnt war, vorauszusenden und ganz allein mit ihm ein weltverborgenes Liebesasyl aufzusuchen.

Therese wurde also beordert, die Reise allein fortzusetzen, und ein Wagen entführte die Vermählten über Gries nach der Mendelstraße.

Oberhalb Eppan, auf dem Weg zur Mendel, hatte Graf Kurt vor mehreren Jahren mit Julius, der damals noch unverheiratet war, in einem zur Fremdenherberge umgeschaffenen alten Edelsitz ein paar köstliche Tage verbracht. Das »Jörgenhaus« mit seinem massiven Gemäuer und seinen Rebspalieren inmitten einer zauberhaften Wildnis von Felsentrümmern und Burgruinen, die treffliche Küche und Bedienung, die jung verheirateten tüchtigen Wirtsleute, denen das Wohlergehen aus den Gesichtern glänzte und die keine Mühe scheuten, ihren Gästen zu gefallen, die wunderbaren Sternennächte, die er vom Balkon seines Zimmers aus genossen hatte, und die geheimnisvolle mittägliche Bergeinsamkeit – das alles stand in unverwischten Farben in seiner Erinnerung, und da der Kutscher ihm versicherte, daß das »Jörgenhaus« noch immer in den gleichen Händen sei, so beschloß er, sein junges Glück aus den Augen der Gaffer dort hinaufzuführen.

Die Sonne war schon hinunter und die phantastische Gruppe des »Rosengartens« begann sich soeben in ihr märchenhaftes Rosengewand zu kleiden, als das Fuhrwerk über die Talferbrücke rollte, aber das Geflimmer ihrer Schneediamanten war für die beiden Liebenden ebenso verloren, wie das Brausen der Talfer unter dem Brückenjoch und die sanften Linien der Rebgärten, in die sie niedertauchten, denn sie sahen nur eins das andre. Die ganze Strecke von Bozen nach Gries war ein einziger von dem diskreten Kutscher nicht wahrgenommener Kuß, den höchstens zuweilen ein vorüber rollendes Fuhrwerk unterbrach, und von dort nach Ueberetsch wurde es nicht anders.

Gelegentlich fühlte Marina die Verpflichtung, sich ein wenig in der Gegend umzusehen und zu fragen: »Wie heißt der Bach, der da unten tost?« oder: »Was ist das für eine Bergspitze da drüben?«

Dann warf Kurt einen flüchtigen Blick hinaus, der alsbald wieder in Marinas Gesicht zurückkehrte und antwortete: »Sie ist – sie heißt – sie heißt Marina!«

Und die junge Frau seufzte in lächelnder Resignation: »Das hat man davon, wenn man einen Gelehrten heiratet!«

Als die Stelle zunahm, verließen sie den Wagen und schlugen in der abendlichen Schwüle einen Fußpfad ein, den Kurt zu kennen glaubte.

»Nun wollen wir plaudern wie zwei vernünftige Menschen,« sagte Marina, seinen Arm nehmend, und Kurt stimmte zu; aber der Vorsatz kam nicht zur Ausführung, denn die kleinen unwissenden Liebesgötter umflatterten das Paar auf Schritt und Tritt und verscheuchten mit ihren Flügeln jedes gesetzte Wort.

»Was hättest du gethan, wenn ich am afrikanischen Fieber gestorben wäre?« fragte er zum hundertstenmal.

Sie antwortete ernsthaft und gleichfalls zum hundertstenmal: »Du konntest nicht sterben, solang ich dich liebte.«

»Wahr – o wahr, du mein Schutzgeist!« rief er außer sich, als habe er diese Antwort noch nie gehört. – »Ich fühlte es ja, wie du mich hieltst, als ich schon ins offene Grab hinuntertaumeln wollte.«

»Auch aus dem Grab hätte ich dich herausgezwungen.«

»Ich wäre gekommen.«

Bald hatten sie sich vom Wege verirrt und mußten wieder umkehren, die farbigen Markierungsstriche an Bäumen und Gestein wieder zu suchen.

Die Dunkelheit war nicht mehr fern, sie nahmen sich abermals vor, vernünftig zu sein und nur noch auf den Weg zu achten; aber schon nach fünfzig Schritten mußte diese Enthaltsamkeit durch neue Zärtlichkeiten vergütet werden. So kamen sie nur langsam vorwärts, Marina, getäuscht vom Hall der eigenen Tritte, sah sich mehrmals um, ob nicht jemand hinter ihnen gehe, bis Kurt stehen blieb und den unsichtbaren Wanderer ansprach. Aus der Ferne, in unbestimmbarer Richtung, kam ein krächzender Ton als Antwort, vielleicht der Schrei eines Vogels oder auch das Aechzen eines gesperrten Rades drüben auf der Fahrstraße. Marina flüchtete sich in die Arme ihres Geliebten, der sie aufhob und trotz ihres Sträubens eine Strecke weit trug, während die Glocken von Sankt Michael sie mit ihrem Geläute begleiteten. Als er die Zappelnde wieder niederstellte, verlangte er einen Kuß als Trägerlohn, den sie abschlug, weil sie in der Entfernung eine menschliche Gestalt zu erkennen glaubte. Welch ein Jubel, als es nur ein Baumstamm war und die beiden sich ungestört in der vom letzten Tageslicht erhellten Bergeinsamkeit wieder ans Herz fliegen konnten!

So kamen die beiden seligen Menschen, vorwärtsgetrieben durch die Ungeduld und aufgehalten durch die Zärtlichkeit, lachend, küssend und beinahe taumelnd vor Leidenschaft mit sinkender Dunkelheit in ihrem Nachtquartier an.

Das abseits gelegene, unter Obstbäumen und Weingärten versteckte »Jörgenhaus« – so genannt von einem in Stein gehauenen Sankt Georg, der auf der Fassade prangte – war mäßig erhellt, ein Zeichen, daß es wenig Gäste beherbergte. Die Frau, eine Welschtirolerin, begrüßte die Ankömmlinge unter der Thür und führte sie über leere Treppen und düstere Gänge nach einem großen Balkonzimmer, wo ihr Handgepäck lag.

Während sie die Kerzen ansteckte, öffnete der Graf schnell die Fenster, denn ein muffiger Geruch kam ihm entgegen und bewies, daß der Raum seit lange nicht benutzt war. Enttäuscht sah er sich im Zimmer um, es war dasselbe, das er vor Zeiten bewohnt hatte, und doch nicht dasselbe; diese zerfetzten Tapeten und abgenutzten Stühle paßten nicht zu seinem Erinnerungsbild, und erst jetzt machte er sich den trübseligen Eindruck klar, der ihn schon unter der Hausthüre empfangen hatte: der Eingang war ihm enger, die Treppen steiler, das ganze Haus öder und melancholischer erschienen, wie es immer der Fall ist. wenn man einen liebgewordenen Raum nach Jahren wieder aufsucht, aber in dem Fieber der Erwartung, das ihn durchglühte, hatte er nur halb darauf geachtet. Er wollte auch jetzt nichts wissen von den Zeichen des Zerfalls, die ihn aus allen Ecken anblickten, und mit dem Egoismus der Glücklichen vermied er es instinktiv, die Wirtin, die mit verhärmtem Gesichte vor ihm stand und seine Befehle erwartete, nach ihren Schicksalen zu fragen. Er entließ den Kutscher und half dann Marina, die unterdessen vor dem kleinen Spiegel mit ihrer Toilette fertig geworden war, die tiefblauen Bergenzianen, die sie unterwegs gepflückt hatte, in ein Glas ordnen.

Da klopfte es, ein Stubenmädchen erschien mit einem in Seidenpapier verhüllten Gegenstand und sagte: »Diese Blumen sind für die gnädigen Herrschaften abgegeben worden.«

Ueberrascht zog die Gräfin einen Strauß herrlicher gelber Nelken, zartgefärbt wie Theerosen und wunderbar duftend, aus dem Papier. Das Mädchen war schon wieder gegangen, und das junge Paar blickte sich befremdet an. Wer konnte schon in der ersten Stunde ihr Liebesasyl entdeckt haben, von dem sie selbst am Morgen noch nichts wußten?

Irgend ein Ungebetener, ein Kurgast oder verspäteter Tourist, der sie unterwegs erkannt hatte und nun mit seiner Gesellschaft belästigen wollte. Die Gräfin errötete bis über die Stirn bei dem Gedanken, daß ihr weltvergessenes Téte-a-téte einen Zeugen gehabt, und der Graf konnte sich sogar einer Regung von Eifersucht nicht entschlagen, bis ihm zu seinem Troste einfiel, der Blumengruß werde nichts andres sein, als eine Aufmerksamkeit der Wirtsleute.

Marina lächelte leise, sie wußte wohl, daß man gelbe Nelken nicht in Küchengärten zieht, aber sie wollte seinem Unmut keine Nahrung geben, sondern löste schweigend die zarten Stengel aus der Umschnürung, um sie zu den Enzianen ins Wasser zu stellen; da geriet ihr ein zusammengerolltes Kärtchen unter die Finger, das zwischen den Nelken eingeklemmt stak. Sie betrachtete es beim Schein der Kerze und taumelte schreiend nach der Wand, den Boden um sich her mit Blumen besäend.

Kurt hob eine Visitenkarte auf, die Namen und Titel seines Bruders trug und darüber an Stelle der Krone ein dickes schwarzes Kreuz. Darunter aber stand mit Tinte geschrieben:

»Gruß und Glückwunsch von Julius.«

Die ungleichen, etwas zittrigen Schriftzüge waren ganz charakteristisch für die Hand des Verstorbenen. die der Schreiber genau gekannt haben mußte. Kurt glaubte auf den ersten Blick an einen gelungenen und böswilligen Scherz, dessen Urheber seiner Züchtigung nicht entgehen sollte.

Da die Klingel versagte, wollte er selbst hinuntereilen, Auskunft verlangen, aber Marina hing sich leichenblaß an seinen Arm und bat flehentlich, sie nicht allein zu lassen.

»So komm mit,« sagte er und zog die wankende Frau in seinem Ungestüm nach, aber auf der Treppe brachen ihr die Kniee ein, und sie zitterte so, daß sie sich am Geländer halten mußte. Kurt sah erst jetzt, daß es Schreck war, was ihr die Glieder lähmte, denn er selbst empfand nichts als Zorn.

»Liebste, wie kann man so abergläubisch sein!« sagte er verweisend und trug sie ins Zimmer zurück. Dort legte er sie in einen tiefen Lehnstuhl, wollte ihr Wasser einflößen, das sie abwies, und griff dann wieder nach der Unglückskarte, um sie genauer zu besichtigen. Die Aehnlichkeit der Handschrift war überwältigend – da waren die weit auseinandergezogenen Buchstaben, das Absetzen mitten im Wort, da waren vor allem die ungewöhnlichen U-zeichen, auf die Marina mit zitterndem Finger hinwies, U-zeichen, wie sie auf der Welt niemand machte als Julius.

Auf sein Rufen erschien endlich das Stubenmädchen, das keine Auskunft zu geben vermochte. Die Blumen waren ihr drunten von dem Hauswirt eingehändigt worden, und sie wußte nur, daß ein fremder Herr sie kurz vor Ankunft der Herrschaften gebracht hatte.

Der Graf verlangte nun den Wirt zu sprechen, aber dieser hatte sich nach Eppan zu entfernt und mußte erst gesucht werden. Unterdessen ging die junge Frau mit starren vortretenden Augen im Zimmer auf und ab, ihr Taschentuch zwischen den Händen windend und es mit den Zähnen zerreißend.

Als der Wirt, ein Pächter aus Ueberetsch, der nur im Sommer hier oben hauste, endlich erschien, wollte sie nicht dulden, daß Kurt ihn allein spreche; wenigstens mußte die Thür ins Nebenzimmer, wohin der Graf ihn gerufen hatte, offen bleiben. Dieser hatte die Nelken in ein Glas gesammelt und fragte den Mann, der einen Stall- und Weindunst um sich verbreitete, mit möglichstem Gleichmut, von wem der schöne Strauß käme.

Aber er hatte selber Mühe, seine Fassung zu bewahren, als er die überwältigende Antwort erhielt, daß Graf Julius in Person dagewesen sei, um die Blumen zu überbringen. Er warf flehende Blicke auf Marina, die sich wie von einem Krampf erfaßt an den Thürpfosten klammerte, und fragte: »Haben Sie ihn selbst gesprochen?«

Der Wirt bejahte dies, und auf die Frage, ob er gewiß sei, sich nicht zu täuschen, antwortete er harmlos, er müsse doch den Grafen Julius noch kennen, es sei ja nicht gar lange her, daß er die Ehre gehabt habe, die beiden gräflichen Herrschaften hier oben zu bedienen.

Dann wollte Kurt die Stunde der Begegnung wissen.

»Es war kurz vor dem Gebetläuten, Herr Graf,« erzählte der Wirt, »ich stand vor der Thüre, da kam ein Herr im langen Ueberzieher mit aufgeschlagenem Kragen und fragte, ob der Herr Graf Wildegg mit Gemahlin angekommen sei. Ich erkannte ihn nicht gleich und antwortete: nein, aber es seien Gepäckstücke gebracht worden und es könne wohl sein, daß sie den gräflichen Herrschaften gehörten. Darauf sagte er: ›Schon gut‹ und übergab mir die Blumen, da dachte ich erst, daß er es sei, wegen dem ›Schon gut, denn so pflegte der Herr Graf zu sagen, wenn er nicht mit Reden belästigt sein wollte. Ich war im Zweifel, ob ich ihn anreden dürfe, aber er winkte mit der Hand und ging davon, ehe ich noch ein Wort sprechen konnte. Ich zeigte ihn noch meiner Frau, ehe er beim Holzkreuz drüben um die Ecke verschwand, aber da fingen die Glocken zu läuten an, und wir gingen ins Haus, mit dem Gesinde den Rosenkranz beten.«

Dem Grafen liefen während dieser Erzählung kalte Schauer über den Leib, aber seine wankende Vernunft hielt sich sofort an zwei Möglichkeiten fest: entweder der Wirt war mit im Komplott und log, oder er hatte sich bei der frühen Dunkelheit durch eine Maskerade täuschen lassen. Wie die Intrigue, die eine lang vorbereitete sein mußte, bei dem veränderten Reiseziel ins Werk gesetzt werden konnte, welchen Zweck sie hatte, das alles war ihm freilich ganz unverständlich; aber sollte er nicht eher glauben, daß die Grenze des Menschenmöglichen sich bis zur Unfaßbarkeit erweitern ließ, als daß die Gräber sich aufthaten und die Natur selbst aus ihren Fugen ging? War die unbegreiflichste, unerhörteste Verschwörung nicht immer noch wahrscheinlicher als der Besuch eines Toten?

Wäre er mit dem Wirt allein gewesen, so hätte er wohl gehofft, diesem den Schlüssel des Rätsels, falls er ihn besaß, zu entreißen, aber Marina sah ihn aus dem Nebenzimmer mit Augen an, als wäre sie von Sinnen, und er eilte daher, mit dem Verhör zu Ende zu kommen. Nur eines noch mußte er für jetzt wissen: »Wohin ging der Herr, den Sie für meinen Bruder hielten, von hier aus?«

»Den Feldweg bei den Weingärten hinüber nach der Kapelle,« war die Antwort. – »Die Herrschaften müßten ihm fast begegnet sein, wenn sie zu Fuß gekommen sind.«

»Er ist hier,« schrie Marina plötzlich und sprang über die Schwelle, denn ein Luftstrom, der durch die halbgeöffnete Balkonthüre hereindrang, hatte sie berührt.

Der Graf entließ schnell den Wirt und dachte nur noch daran, Marina zu beruhigen, aber Vernunftgründe vermochten nichts über ihre aufgeregten Nerven.

Da wollte er sie zärtlich wie ein krankes Kind in die Arme nehmen.

Aber nun wurde ihre Angst fürchterlich.

»Um Gottes willen rühr mich nicht an,« schrie sie, »er ist hier, hier bei uns im Zimmer, ich hab' seinen Atem gespürt.«

Ratlos, in tiefster Bestürzung stand Kurt ihr gegenüber, er durfte weder sich ihr nähern, noch von der Stelle gehen, denn sie verfolgte jede seiner Bewegungen mit Blicken des Schreckens, und der Gedanke, allein zu bleiben, machte sie wahnsinnig.

Die Wirtin klopfte, um zu Tisch zu bitten; man schickte sie weg, denn an Essen war nicht zu denken. Marina hatte nur einen Gedanken: Fort, fort von hier!

Der Kutscher, der sie hergebracht hatte, war schon abgefahren, man sandte in den Ort nach Pferden, aber als endlich ein angespannter Wagen vor der Thüre stand, weigerte sich die Gräfin einzusteigen. Sie getraute sich nicht den Fuß über die Schwelle zu setzen, denn draußen in der Dunkelheit auf der Landstraße glaubte sie, warte er, der Ueberbringer der Blumen, um sich zu ihnen in den Wagen zu setzen. Sie redete wie eine Irrsinnige, und ihre Angst wurde so groß, daß Kurt selbst sich kaum des Grauens erwehren konnte.

Man mußte also bleiben, und da Marinas Augen immer unruhig von einer Ecke in die andre irrten, bestellte der Graf noch mehr Lichter.

Die größere Helligkeit wirkte erleichternd auf das gequälte Weib. Das Zimmer schien ihr jetzt eine sichere Zufluchtsstätte, in der sie sich wenigstens für den Augenblick geborgen fühlte, und der Krampf der Angst löste sich in Thränen.

»O Kurt,« schluchzte sie plötzlich und warf sich mit ausgestreckten Armen vor ihm nieder, wobei ihr Haupt den Boden berührte und die goldbraune Last ihrer Haare vornüber sank, »er wird es nie, nie gestatten, daß wir glücklich sind.«

Er durfte sie doch endlich aufheben, nach dem Sessel zurückzuführen und ihre Hand in der seinigen halten.

»Warum glaubst du denn, daß er so mißgünstig sei?« sagte er schmeichelnd wie zu einem Kind. »Weshalb sollte er denn unser Glück nicht dulden? Er hat ja selber unsre Verbindung gewollt.«

»O nein – nein«, stöhnte die junge Frau und wand sich wie unter den heftigsten inneren Qualen. »Er schrieb diese Worte ohne seinen Willen.«

Kurt schüttelte den Kopf, er war schon so viel Unbegreiflichem an seiner Marina begegnet, daß er das Forschen und Fragen längst aufgegeben hatte. – Im Haus war es allmählich still und dunkel geworden, das tiefe Schweigen der Bergnacht spann die ganze Gegend ein, kaum daß da und dort ein Hund anschlug, wobei die Kranke jedesmal zusammenfuhr. In der ganzen Umgegend erloschen die Lichter, nur aus den Fenstern des hochzeitlichen Gemachs strömte eine Lichtflut, die späte Wanderer in Verwunderung setzte. Die Müdigkeit von dem langen ungewohnten Marsch machte sich endlich geltend, Marina schlummerte im Lehnstuhl, Kurts Hand wie die eines Bruders in der ihrigen haltend, aber mit Gesicht und Körper von ihm abgewendet. Sie zuckte im Schlaf, sobald er sich bewegte, also saß er wie ein Gefesselter in der unbequemsten Stellung, während in seiner herabgebogenen Hand der Blutumlauf stockte und tausend kleine Nadelstiche seinen Arm belästigten; doch er freute sich des Opfers, das er ihrer Ruhe bringen durfte. Langsam spann die Nacht sich hin, ihre Fäden schossen durch das Zimmer wie die Fäden in einer Spinnerei und umstrickten alles, die Lichter, das schlafende Weib und den einsamen Wächter, sie wurden zu Stunden, die langsam eine um die andre wie abgewundene Gespinste hinunterfielen, mit einem dumpfen Schlag, den Kurt zu vernehmen glaubte. Zuweilen erhob er sich, um eine neue Kerze aufzustecken an Stelle der alten abgebrannten, dann saß er wieder sinnend und regungslos und lauschte auf die Atemzüge der Geliebten, bis der Tag heraufdämmerte.

 

Ein paar Wochen waren nach jenem unglücklichen Hochzeitsabend verflossen. Marinas Gesundheit hatte den Stoß ohne sichtbaren Schaden überwunden, aber in ihrem Gemüt war ein kranker Punkt geblieben, gegen den Kurt mit der ganzen Ueberzeugungskraft seiner Liebe nichts vermochte.

Sie wich seinen Zärtlichkeiten aus und schien von der fixen Idee beherrscht, daß sie durch jenen Besuch am Hochzeitstag den Toten aus seinem Vergessenheitsschlummer aufgestört, daß sie ihn durch den Anblick ihres Glücks beleidigt hätten und daß er ihnen niemals, niemals gestatten würde, einander anzugehören.

Wohl hatte Kurt ihr zu beweisen gesucht, daß jenes Kärtchen von einer fremden verstellten Hand geschrieben sei, die auf den ersten Blick täuschen könne, sich aber bei näherem Hinsehen gleich selbst verrate. Er hatte gut reden, Marina gab ihm in allem recht, ihr Verstand unterwarf sich seinen Gründen, aber ihr Gemüt blieb verstört, und eine seltsame, dem Mann ganz unbegreifliche Gespensterfurcht war nicht zu bannen.

»Laß uns warten, Liebster,« bat sie, sobald er in seinen Verkehr mit ihr nur einen Ton jener Leidenschaft mischen wollte, die sonst ihr Entzücken gewesen war, und ihre Augen irrten durch das Zimmer, als ob immer ein dritter, unsichtbar, hinter ihnen stünde.

Auf was sie warten sollten, sprach sie nicht aus, aber Kurt las es ihr aus der Seele. Am letzten September jährte sich zum viertenmal Julius' Todestag, daher hatte Marina zuerst gewünscht, die Hochzeit bis in den nächsten Monat zu verschieben, und hatte nur ungern Kurts Ungeduld und dem Drängen des Schwiegervaters, der diesen Ehebund noch vollzogen sehen wollte, nachgegeben. Jetzt vermehrte sich die Beängstigung, je näher der verhängnisvolle Termin heranrückte, und auch Kurt sah, ohne es sich einzugestehen, dem Tag mit einer gewissen Unruhe entgegen, denn noch immer war der geheimnisvolle Verfolger nicht entlarvt.

Von Eppan war man am Morgen nach jener Schreckensnacht zu hastig abgereist, und als sich später eine Vertrauensperson des Grafen dorthin begab, war das Jörgenhaus geschlossen und die Pächtersleute fortgezogen, niemand wußte wohin. Das einzige, was man von ihnen erfuhr, war, daß sie häusliches Unglück gehabt und tief in Schulden geraten seien, der Wirt sollte seit dem Rückgang des Hauses das Trinken angefangen haben, und man nahm an, daß er allerlei Gründe habe, die Gegend zu meiden. Mit diesem Manne verlor der Graf den einzigen sichern Anhaltspunkt seiner Nachforschungen, denn alle andern Versuche, das Rätsel zu ergründen, erschienen von vornherein als hinfällig. In Eppan, wo man vorsichtig Umfrage hielt, waren bei dem beständigen Touristendurchzug viele Fremde gesehen worden, die mit dem geheimnisvollen Blumenspender identisch sein konnten, und aus dem Kutscher, welcher die Neuvermählten geführt hatte, war nichts herauszupressen, als ein stereotypes »Ich weiß nicht«.

Wer war der unbekannte Feind und woher hatte er das Reiseziel des jungen Paares erfahren, von dem dieses selbst am Morgen noch nichts wußte?

Vor dieser Frage stand man immer aufs neue wie vor einer Mauer.

Er mußte mit im Zug gesessen und sich später an ihre Fersen geheftet haben, aber wie ging es dann zu, daß Kurts Augen, die scharf waren wie die eines Raubvogels, ihn nicht entdeckt hatten? Waren ihm denn die Sinne so ganz benebelt gewesen, daß ein Spion ihm unter der Tarnkappe nachschleichen konnte?

Sein erster Verdacht war auf jenen Vetter Benno gefallen, dessen Werbung um Marinas Hand dem Grafen kein Geheimnis war. Dieser war der einzige, der ein Interesse daran haben konnte, sein Eheglück zu stören, und Kurt hatte deshalb sogleich den Telegraphen in Bewegung gesetzt, um Bennos Aufenthalt zu erkunden, aber sein Alibi wurde glaubhaft festgestellt.

Wo man auch den Nagel einer Vermutung einschlagen wollte, man stieß auf eine harte undurchdringliche Steinwand.

Der gefürchtete Tag kam endlich heran und ging vorüber wie ein anderer, ohne daß der Tote sich bemüßigt fühlte, den Frieden der Lebenden weiter zu stören. Kurt ertappte sich selbst auf einem Seufzer der Erleichterung, als der Tag zu Ende war; Marina dagegen lebte nur langsam wieder auf wie ein Begnadigter, der noch nicht an Leben und Freiheit zu glauben wagt. Sie ging umher wie aus einem Alptraum erwacht und schien sich zu wundern, daß die Welt noch so schön sei.

Und sie war wahrlich schön, die Welt, die ihr jetzt wieder gehörte. Der Oktober schmückte sich in Abbazia mit Rosen und ging umher duftend und lenzatmend, als wäre er der Mai. Das Meer wallte leicht bewegt unter einem silbernen Duft und lockte im Mondschein zu stillen Nachenfahrten in glückseliger Zweieinsamkeit.

Als Kurt eines Morgens mit einer Handvoll im Garten gepflückter Veilchen in Marinas Zimmer trat und sagte: »Du weißt wohl gar nicht, daß wir heute schon einen Monat alte Eheleute sind –«

Da legte sie ihm zum erstenmal seit ihrer Verheiratung die Arme um den Hals und sagte: »Der ganze Monat war ein böser Traum, den wir vergessen wollen.«

Die Post hatte, wie alle Tage, einen Stoß Briefe für Kurt gebracht. Marina vergnügte sich damit, sie, an seiner Schulter lehnend, einen um den andern zu erbrechen, nicht aus Neugier, sondern um ihre Herrschaft über ihn zu bethätigen, denn sie wollte nicht wissen, was darin stand.

Für sie war nichts eingetroffen als ein Buch unter Kreuzband, ein französischer Roman, wie es schien, mit unbekanntem Autornamen. Während Kurt seine Briefe las, schlitzte sie nachlässig mit einer Haarnadel ein paar Seiten auf. Da fiel eine Visitenkarte heraus, die zwischen den Blättern gesteckt hatte.

Sie enthielt ein schwarzes Kreuz und die Worte: »Gruß und Glückwunsch von Julius.«

Wie ein Schiffbrüchiger, der schon das bergende Land erreicht hat und noch von einer nachstürzenden Welle ins Wassergrab zurückgerissen wird, so taumelte Marina aus ihrem neugefundenen Glück wieder in die dunklen Qualen hinunter, von denen sie sich kaum befreit hatte. Ihre erste Bewegung war, die Arme nach Kurt auszustrecken, wie um sich an ihm festzuklammern, mit der zweiten stieß sie ihn scheu zurück, als ob er ihr auf ewig verloren sei. Kurt selbst war in heftiger Aufregung.

»Sind wir denn von einer heiligen Feme verfolgt?« rief er, als die Karte zum Vorschein kam.

Dann aber las er sorgfältig die Fetzen des Kreuzbandes zusammen und untersuchte sie genau, bis er den Abgangsstempel des Postorts Mittenau gefunden hatte. Jetzt glaubte er den Faden der Verschwörung zu halten, aber er verheimlichte den Fund vor Marina, um nicht ihre phantastischen Schrecken zu vermehren, und sagte nur im Laufe des Tages: »Wenn du mir Urlaub giebst, so schwöre ich dir, binnen acht Tagen den Absender zu entlarven.«

Aber Marina wimmerte, in die Polster des Kanapees vergraben: »Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht!« und verging vor Angst, wenn er nur auf eine halbe Stunde sich vom Haus entfernte.

Der Graf war kaum minder erschüttert als sie selbst, denn er fand keinen Ausweg für seine Lage. Er konnte nicht hoffen, der jungen Frau die Ruhe wieder zu geben, bevor er dem unbekannten Feind die Maske abgerissen und ihn zur Verantwortung gezogen hatte, und er durfte sie doch nicht verlassen, um jenem nachzugehen; und wiederum war die Angelegenheit zu delikater Art, um sie in fremde Hände zu legen, denn er wollte doch nicht das Märchen der ganzen Wildeggschen Verwandtschaft werden.

Doch er hatte nicht einmal Zeit, sich das alles zu überlegen, vor der dringenden Sorge des Augenblicks. Man konnte nicht mehr zweifeln, daß die neue heftige Erschütterung verhängnisvoll auf Marinas geistige Gesundheit gewirkt hatte. Ihr armer Kopf war nicht mehr im Gleichgewicht.

Das eine Mal, wenn er zärtlich den Arm um sie legen wollte, fuhr sie mit wahrem Entsetzen von ihm zurück und rief: »Sieh mich nicht an, ich kann deine Augen nicht ertragen!«

Ein andermal ging sie ihm selbst durch alle Zimmer nach, als ob bei ihm allein Schutz zu suchen sei. Ein einziger allgegenwärtiger Gedanke beherrschte sie, er folgte ihr nach, wenn sie zu Bette ging, und beim Erwachen fand sie ihn schon wieder ihrer wartend.

»Sag mir, Kurt, giebt es denn noch ein Femgericht?« fragte sie einmal, ängstlich wie ein Kind ihres Mannes Hand fassend.

»Aber Liebste!« antwortete dieser verweisend. – »Und wenn es eines gäbe,« fuhr er, ihre Hand streichelnd, fort – »bei uns hätte es nichts zu suchen, es hat nur die Verbrecher, aber nicht die Unschuldigen zu verfolgen.« – Da stürzte die junge Frau hinaus und schluchzte wie eine Verzweifelte.

Auf den Rat eines Nervenarztes brachte er sie endlich zu Schiff und fuhr in dem herrlichen Herbstwetter die dalmatinische Küste entlang. Man hoffte, das gleichmäßige Schaukeln des Dampfers, die Einförmigkeit von Himmel und See und die wunderbaren Küstenlinien des Quarnero würden wohlthätig auf ihr Gemüt wirken. Sie wurde auch ruhiger, sobald die langen Wellen unter ihr hinrollten, und lag halbe Tage auf dem Verdeck in ihrem Klappstuhl, vom Seewind zerblasen und von den Bewegungen des Schiffes halb eingelullt. Nur wenn man sich der Küste näherte, begannen die Nerven ihr Spiel zu treiben, und in Korfu, beim ersten Schritt auf festen Boden wurde sie so schreckhaft, als ob die schöne Phäakeninsel von Gespenstern bevölkert wäre.

Man suchte aufs neue das Meer, umschiffte den Peloponnes, lief den Pyräus an, ohne zu landen, fuhr an Rhodos, Cypern und dem verlockend schönen Beirut vorüber, immer wie verdammte Geister, denen es verboten ist, die Erde zu berühren. In Port Said stieg der Graf allein ans Land, um die dorthin bestellten Korrespondenzen in Empfang zu nehmen, er öffnete alle an Marina adressierten Briefe, ob sie nichts Verdächtiges enthielten, und fing noch rechtzeitig die schwarze Karte ab, die diesmal in ein Modejournal versteckt war. Er zerriß die Zeitung und schloß die Visitenkarte zu den beiden andern ein, ohne seiner Frau ein Wort zu sagen, aber sie fühlte ihre Nähe in allen Fasern ihres reizbaren Nervensystems und sagte ihm am Abend: »Ich weiß, daß sie gekommen ist, es hilft nichts, zu fliehen, sie wird mir überall hin folgen.«

Den nächsten Monat verbrachte man in Aegypten, und auch dorthin fand die schwarze Karte ihren Weg. Sie traf pünktlich am zehnten ein und war immer von derselben Hand geschrieben, nur daß der Schreiber jetzt den »Glückwunsch« wegließ und sich auf den »Gruß« beschränkte. Das Couvert trug andre unverfängliche Schriftzüge, und jedesmal war ein neues erfindungsreiches Mittel gewählt, um die Karte einzuschwärzen. Kurts Wachsamkeit verhinderte zwar, daß sie in Marinas Hände fiel, aber es war zu spät: die Schwermut der jungen Frau nahm immer ausgesprocheneren Charakter an.

Sie schlief nicht und schien wie an einem innern Feuer wegzuschmelzen. Die gewaltigsten Natureindrücke, der Nil und die Pyramiden vermochten nichts über sie. Halbe Tage lang konnte sie dasitzen, den Kopf in die Hand gestützt und ohne ein Wort zu sprechen; dann eilte sie plötzlich zum Klavier und entlockte den Tasten Töne dämonischer Qual. Von Kurt hielt sie sich ängstlich fern, als ob ein Schwert zwischen ihnen läge, und Therese mußte das Zimmer mit ihr teilen, trotz der unbezwinglichen Antipathie, die dieses stille, immer dienstfertige Wesen dem Grafen einflößte.

Kurt war es endlich müde, wie ein Geächteter von Ort zu Ort zu eilen, die Reise brachte doch keinen Gewinn, und in einer europäischen Stadt war noch wenigstens ärztliche Hilfe zur Hand. Er ging lang mit sich zu Rate, denn er wollte die Gräfin nach keinem Ort führen, mit dem sich irgend eine Erinnerung an ihren ersten Gatten verknüpfte.

Endlich entschied er sich für Rom, wo ein Universitätsfreund von ihm als Arzt lebte, und man wählte ein neues sonniges Haus in der Nähe des Pincio, turmhoch, obschon nur zweistöckig, wenn man von dem Hochparterre und Entresol absah, denn in Rom kann man nicht hoch genug wohnen.

Dort umgab er die kranke Frau mit einem Wall von Vorsichtsmaßregeln, daß niemand sich ihr nähern konnte außer ihm und Therese, deren leise Hände ihr unentbehrlich waren. Der Rest der Dienerschaft durfte nicht direkt mit ihr verkehren, und es war allen aufs strengste eingeschärft, ihr niemals eine Zusendung, woher sie auch komme, persönlich einzuhändigen. Ein verkleideter Polizeiagent überwachte die Leute, welche aus und ein gingen, und bei Nacht mußten alle Gasflammen brennen. Das stille Haus mit den angezündeten Lichtern erregte in der ganzen Nachbarschaft Befremden.

Gleich bei seiner Ankunft in Rom hatte der Graf die Vorkehrung getroffen, daß keine Post ins Haus gebracht werden durfte; er ging selber jeden Tag aus, um seine Briefe in Empfang zu nehmen. An jedem zehnten verdoppelte er seine Wachsamkeit, er verließ die Kranke keinen Augenblick, bediente sie selbst, und jeder Gegenstand, den sie berührte, mußte zuvor durch seine Hände gegangen sein. Der allwissende Feind schien auch von diesen Anstalten unterrichtet, denn er ließ nun ein paar Monate lang nichts mehr von sich hören.

Aber im Hause Wildegg blieb alles wie zuvor. Oft fragte Kurt verzweifelt: »Warum, warum müssen wir wie zwei Verdammte nebeneinander leben? Wird es nie anders werden? Was hindert dich jetzt, wo der Feind verstummt ist, gesund und glücklich zu sein?«

Dann brach sie in herzzerreißenden Jammer aus und beschuldigte sich, ihn in ihr Elend hereingezogen und mit elend gemacht zu haben. Es war, als klaffte ein Abgrund zwischen ihnen, über den sie sich hoffnungslos die Arme entgegenstreckten.

Der Arzt taufte das Leiden eine chronische Melancholie mit krankhaften Gewissensskrupeln wegen der zweiten Ehe und meinte, daß die Gräfin unter konsequenter Behandlung in einer Nervenanstalt genesen würde, aber Kurt wollte nichts von einer Trennung hören. Es galt ja vor allem das geliebte Wesen vor der geheimnisvollen Verfolgung zu beschützen, die der erste Anlaß ihrer Gemütskrankheit war, und dazu hatte niemand die nötige Umsicht, als er selber. Er verbannte endlich jede selbstsüchtige Regung, die Leidenschaft mußte verstummen, und aus den Opfern, die er täglich brachte, wuchs die große, heilige, mitleidgeborene Liebe heraus! Er wollte nichts mehr, als ihr wohlthun, sie schützen und heilen.

*

Im Lauf des Winters starb der alte Graf. Man hatte ihm Marinas Leiden bis zuletzt verheimlicht, und er glaubte seine Kinder glücklich. Kurt teilte auf Anraten des Arztes seiner Frau die Todesnachricht mit, nach der Erfahrung, daß Gemütskrankheiten, die aus der Einbildung stammen, durch den Eintritt eines wirklichen Unglücks geheilt werden können.

Aber sie blieb ganz apathisch, und nur als er ihr den Vorschlag machte, ihn nach Wildegg zu begleiten, um der Beisetzung anzuwohnen, wehrte sie sich heftig und sagte, ihr Gesicht zwischen den Händen verbergend: »Ich kann nicht vor ihn treten – er weiß es jetzt, daß ich seinen Sohn – daß ich seine beiden Söhne unglücklich gemacht habe.«

Kurt gab die Reise auf und blieb bei seiner Kranken. Was nur der zärtlichsten Liebe möglich war, ersann er zu ihrer Linderung, aber nichts vermochte sie zu zerstreuen und aufzuheitern.

Sie litt so, daß ihm selbst der Tod als eine Erlösung für sie erschienen wäre. Jedes unbekannte Geräusch setzte sie in Aufregung, die Möbel schnitten ihr Gesichter, ein Winseln des Hundes nahm sie für das Anzeichen eines Unglücks. Das Haus, so frei und luftig es gebaut war, bedrückte sie, besonders die schmale Innentreppe, die ihr Schlafzimmer mit den Wohnräumen verband und auf der auch bei Tag eine Lampe brennen mußte. Im Theater, auf der Promenade, überall wo Menschen waren, fand sie jetzt Aehnlichkeiten mit Julius, die sie erschreckten, Kurt, der so feinfühlig geworden war, merkte es nur am Zucken ihres Gesichts, denn sie nannte niemals den Namen des Verstorbenen.

Nur einmal, als sie über den Korso gingen, schrie sie plötzlich: »Kurt, sieh, o sieh!« – und deutete auf einen Fremden, der sich halb umgewandt und ihr ins Gesicht geblickt hatte.

»Marina, Marina,« sagte Kurt verzweiflungsvoll, »wie kannst du dich so sinnlos quälen? Er schläft seinen sicheren Schlaf in Mittenau und ist glücklicher als wir.«

»Es ist auch nicht er selber,« flüsterte sie geheimnisvoll, »er hat diesem fremden Mann seine Hülle geliehen, um mich zu ängstigen.«

Kurt ließ ihren Arm fahren, und in einer plötzlichen ganz unvernünftigen Wut rannte er hinter dem Unbekannten her, der seinen Schritt beschleunigte. Als er ihn erreichte, sah er in ein wildfremdes Gesicht und kehrte beschämt um, indem er dachte: »Wahrhaftig, der Wahnsinn ist ansteckend.«

Aber beim Zurückkommen fand er Marina, die zuckend in den Armen der Umstehenden lag.

 

Und endlich, trotz aller Vorsicht, trat die Katastrophe ein.

Der Graf und die Gräfin gingen auf dem Pincio spazieren. Marina schleppte sich in der weichen Frühlingsluft ermattet an seinem Arm, und ihr Gesicht sah unter dem schwarzen Krepphut so bleich und hohlwangig aus, daß er sich mit Schrecken fragte, wie lang er sie noch behalten werde. Auf dem Heimweg wurden sie viel von kleinen lockigen Ciocciarenjungen belästigt, die bettelten oder Veilchensträußchen, Photographien, Zündhölzer und ähnliches feilboten. Einer besonders, der etwas größer war als die andern und einen wahren Modellkopf hatte, ließ sich nicht abschütteln; er folgte dem Paar unablässig, aber ohne zu reden, nach und suchte es mit anmutigen Gestikulationen zum Kauf einer Korallenschnur oder eines Schildpattkamms, die er abwechselnd emporhielt, zu bewegen.

Kurt bemerkte in Marinas Augen einen Schimmer von Wohlgefallen und winkte den stummen Jungen heran. Die Gräfin wählte eine hübsche blaßrote Korallenschnur aus, um sie Therese zu schenken, der Graf, erfreut über diese Regung von Interesse, nahm dem Jungen noch einen Schildpattkamm ab, und da er in dem Tragkästchen eine außerordentlich zartgeformte, in Silber gefaßte Pilgermuschel liegen sah, kaufte er auch diese und gab sie seiner Frau.

Marina betrachtete mit schwachem Lächeln das zierliche Naturgebilde, sie fuhr mit dem behandschuhten Finger die feingeschnittene Kannelierung herab, und beim Weitergehen fiel es ihr ein, die Muschel aufzuklappen, denn sie hatte etwas darin rollen hören.

Innen lag zwischen Werg ein harter, dunkler, unregelmäßig geformter Gegenstand, der sich bei näherem Hinsehen als eine von der Patrone abgeschossene und plattgedrückte Kugel erwies, in die das Datum von Julius' Todestag mit Ziffern eingegraben war.

Beide begriffen nicht gleich, aber dann war die Wirkung fürchterlich. Marina packte mit verzerrtem Gesicht den Arm ihres Mannes, und unwillkürliche, unartikulierte Laute, die sich aus ihrer Brust rangen, erschütterten ihren ganzen Körper. Aly stimmte mit jammervollem Heulen und Winseln in diese Töne ein, und in dem Auflauf, der schnell entstand, war der Junge ungesehen verschwunden. Kurt hatte auch keine Zeit, ihn zu suchen, er hob Marina in einen Wagen und trug sie zu Haus die Treppe hinauf. Das krampfhafte Schreien, das halb wie ein Gelächter klang, dauerte fort, Aly heulte dazwischen, bis der Graf ihn mit einem Fußtritt aus dem Zimmer stieß, und die furchtbaren Töne, in denen die gequälte Natur sich vollends aufzulösen schien, brachten die ganze Straße in Aufruhr.

Eine schreckliche Nacht folgte, in der Kurt jeden Augenblick fürchtete, sie werde ihm unter den Händen sterben. Man griff endlich zum Morphium, das sie zwar nicht einschläferte, aber ihr doch ein paar Stunden wohlthätiger Betäubung brachte.

Kurt litt in diesen Tagen fast ebensosehr wie Marina, und mehr als einmal ging der Gedanke, ein Ende zu machen, sie und sich zu töten, durch sein verstörtes Hirn. Als er zufällig in Thereses Haar einen zackigen Schildpattkamm erblickte, der dem von ihm tags zuvor gekauften vollkommen gleich war, genügte ihm dieser kleine Verdachtsgrund, das Mädchen ohne Verhör aus dem Hause zu jagen.

Dann bereute er seine Uebereilung, denn er wußte nicht, wie Marina das Verschwinden ihrer gewohnten Pflegerin aufnehmen werde. Aber die Kranke blieb ganz gleichgültig, als er ihr seinen Argwohn und die Entlassung des Mädchens mitteilte.

»Es ist ja nun alles gleich,« sagte sie leise. »Welches menschlichen Werkzeuges er sich bedient hat, ist einerlei, es kommt doch alles von ihm!«

»Marina!« sagte Kurt, und plötzlich liefen dem starken Mann die Thränen über das Gesicht. Da nahm ihn sein Freund, der Doktor, bei den Schultern und schob ihn zur Thür hinaus, damit er seine überreizten Nerven auf ein paar Stunden in die frische Luft trage. Aber auf dem Heimweg kam ihm schon ein Diener atemlos entgegengerannt, man suchte ihn seit einer Stunde, die Gräfin bilde sich ein, er sei abgereist und lasse sich nicht beschwichtigen.

Sie saß mit schweren, vom Morphium geröteten Augenlidern, das mächtige Haar in einer dicken Flechte herabhängend, in den Polstern des Diwans, die rings um sie aufgetürmt waren. In ihrem weißen, mit schwarzen Schleifen gebundenen Morgenrock und unter den vielen Lichtern sah sie aus wie eine Tote. Seit anderthalb Stunden wiederholte sie dem Arzt, der zu ihrer Obhut zurückgeblieben war, unaufhörlich: »Er ist fort, er verläßt mich, und ich muß es – ich muß es ihm sagen.«

»Hier ist ja der Ausreißer schon zurück,« sagte der Doktor, als Kurt ins Zimmer trat. »Nun sagen Sie ihm, was Sie drückt, aber keine Aufregungen, darum muß ich bitten.«

Er nahm Kurt beiseite und ermahnte ihn, den Kopf oben zu behalten, was auch dieses arme kranke Gehirn für neue seltsame Blasen aufwerfen möge. Uebrigens hoffe er auf eine ruhige Nacht, wenn die Gräfin ihren Mitteilungsdrang erleichtert haben werde, und für alle Fälle gab er noch einige Verhaltungsmaßregeln, indem er versprach, in der Frühe wieder nachzusehen.

Die beiden Gatten saßen nun beisammen, er hielt ihre kalten Finger in den seinigen, und die Kranke bat ihn, sie noch ein einziges Mal zu küssen. Kurt nahm sie in den Arm und legte seine ganze unaussprechliche Zärtlichkeit in diesen Kuß, während seine Thränen über ihr bleiches Gesicht flossen.

»Du kannst mich nun nie wieder küssen,« sagte sie, indem sie sich sanft von ihm loswand – »und du wirst es auch nicht wollen, wenn du erst gehört hast –«

»Liebes Weib,« sagte er begütigend, aber sie unterbrach ihn.

»Still, ich muß reden – ich habe so lang gerungen, um es dir zu verhehlen – ich wollte nicht, daß du mit Abscheu an mich denkst, aber es muß endlich heraus – und du sollst mein Priester sein. Ich will keinen andern, du warst ja auch mein einziger Gott! – Hör mich an und erbarm dich, verfluche mich nicht – ich, ich habe deinen Bruder getötet.«

So unglaublich dieses Geständnis klang, war es Kurt doch fast, als habe er es erwartet. Schon längst hatte er das Vorgefühl einer tragischen Enthüllung, und als Marina zu sprechen begann, war er auf das Furchtbarste gefaßt, er hatte sogar unbegreiflicherweise die letzten Worte schon im Geiste vorausgehört.

Doch im nächsten Augenblick ging Kurt der Widersinn ihrer Selbstanklage auf. Julius war von eigener Hand gefallen, sein letztes Schreiben bezeugte es und die Aussage der ganzen Dienerschaft. Marina war das Opfer ihrer eigenen Einbildung und der systematischen, verbrecherischen Verfolgung, die ihren Geist verwirrt hatte.

Er wollte ihr das Hirngespinst ausreden und sie vom Boden aufheben, denn sie war neben seinem Sitz wie vor einem Beichtstuhl auf die Kniee gesunken. Aber sie stieß ihn zurück und stöhnte: »Laß mich, ich bin nur zu klar. Jawohl, durch seine eigene Hand, aber ich habe diese Hand geführt.«

»Höre,« fuhr sie fort, »laß dir erzählen, wie es gekommen ist. – Aber vorher,« flüsterte sie fast in sein Ohr, »sieh dich noch im Zimmer um, denn ich fürchte – ich fürchte, daß wir nicht allein sind.«

Der Mann kniete sich in seinem Jammer zu ihr nieder.

»So komm doch zu dir, Marina,« flehte er, »wer soll denn hier sein außer uns beiden? – aber du bist so krank.«

»Nicht krank, aber schuldig,« flüsterte sie, während er sie aufhob und nach dem Diwan führte. »Schuldig, nicht vor dem weltlichen Gericht, aber vor Gott, vor meinem Gewissen, vor dir. –

Hör mich an. – Du hast mich eigentlich nie gekannt, niemand hat mich gekannt, ich war wie ein Abgrund, der sich mit Blumen zugedeckt hat. – Ich hatte eine ganz verwahrloste Erziehung, ich lernte gar nichts, aber ich las in einem fort Romane, die meine Phantasie exaltierten. Ich war berauscht von meiner Schönheit, ich wartete, daß ein Prinz, ein König komme und mich hole. –

In deinem Bruder erschien mir zuerst die Verkörperung meines Ideals. Sein Aeußeres, die feinen Formen, sein alter Name, alles trug zu diesem Irrtum bei. Ich verstand ihm eine Leidenschaft einzuflößen, die nur der Tod geendet hat, und ich unterwarf ihn mir, wie ich mir Vater und Mutter unterworfen hatte, indem ich scheinbar nur seinen Wünschen lebte. Er glaubte der Herr zu sein, denn es geschah nur, was er wollte, aber er konnte nichts wollen, was ich nicht im stillen beschlossen hatte. Ich war von je gewöhnt, der Umgebung meinen Willen aufzuzwingen. –

Ich wurde also sein Weib, aber die Täuschung verflog schon in den ersten Wochen der Ehe. Sein Charakter flößte mir keine Achtung ein, deren ich zu meinem Halt bedurft hätte. Ueberall stieß ich auf Schwächen, die sich als Stärken maskiert hatten, und ich brachte ihnen keine Duldsamkeit entgegen. Er war schwankend, ungleich und schnell zu beeinflussen, ich klar wie du und meines Willen sicher, darum mißachtete ich ihn. Ich litt durch ihn und rächte mich, indem ich ihn heimlich wie ein Uhrwerk aufzog, während er glaubte, mich zu lenken. – O, ich war schlecht – falsch und schlecht und wußte es nicht einmal! Erst durch dich habe ich eine Seele bekommen.

Als er mir von dir zu erzählen begann, da ging mir erst die Erkenntnis auf, daß wir beide für einander geschaffen waren. Dann sah ich dich und wußte nun auch, warum ich geglaubt hatte, ihn zu lieben. Er hatte mit seiner schönen Erscheinung, mit seinem schönen Namen meine Mädchenphantasie gewonnen, aber diese Gestalt, dieser Name waren auch die deinigen, dich hatte ich geträumt, als ich mich ihm verband. Nun hatte ich dich gefunden, und ich gehörte ihm. Alles hatte er vorweggenommen, meine ersten Küsse, meine junge Schönheit, die für dich erblüht war. Die Aehnlichkeit mit dir machte ihn mir noch verhaßter, denn es war mir, als habe er sich wie ein Dieb in deine Kleider vermummt, um zu stehlen, was von Rechts wegen dein war: meine Liebe und mein heimlichstes Selbst.

Und ich zweifelte nie, daß auch du mich liebtest, denn unser Schicksal war über uns.

Am Tag, wo ich erfuhr, daß du nach Afrika gegangen warst, begann ich ihn zu hassen, denn es war ein Opfer, das du ihm gebracht hattest. Aber ich wußte auch, du würdest wiederkehren, denn ich wollte dich.

Ich weiß nicht mehr, wie ich es anfing, war's Vorbedacht oder nur Instinkt. Ich wollte frei sein und wußte doch, daß er mich lebend nicht freigeben würde, also mußte er sterben. –

Leise, leise warf ich das Netz über ihn. Es war ein Fall von Wahnsinn in eurer Familie gewesen, und das Gespenst der Vererbung spukte immer in seinem Kopf. Früher hatte ich's ihm ausgeredet, jetzt spielte ich selbst ihm die Bücher in die Hände, die ihn in seiner Melancholie bestärken mußten. Ich entwickelte künstlich den kranken Keim, den die Natur in ihn gelegt hatte.

Man beklagte mich, daß er meine Jugend auf dem Land eingesperrt halte, und ich war es, die ihn in der für ihn verderblichen Einsamkeit festbannte. In der Stadt hätte er Trost und Zerstreuung gefunden; er sollte keine finden. Er sollte hilflos unter meinen Händen bleiben. Und höre, Kurt, höre, wie ich ihn marterte. Ich gab ihm den Gedanken ein, daß der Keim seiner Krankheit sich auf die Nachkommenschaft vererben würde, daß unsre Kinder, wenn wir welche hätten, uns verfluchen müßten. Was er litt, der Unglückselige! Sich klagte er an, mein Leben vergiftet zu haben, indem er mich an einen Kranken kettete. Mich nannte er eine Heilige, seine mitduldende und entsagende Schwester.

Ich ging neben ihm her wie die Giftmischerin, die als barmherzige Schwester bei ihrem Opfer wacht; jeden Tag brachte ich ihm einen Tropfen Gift bei, nur einen Tropfen, und ließ es langsam wirken. Unter dem Schein der zartesten Liebe und Pflege erinnerte ich ihn fort und fort an seinen Zustand, den er hätte vergessen sollen.

Ich setzte es durch, auf einem andern Flügel des Hauses zu wohnen. O Kurt, wie muß ihm zu Mut gewesen sein in den schlaflosen Nächten, wo er umherirrte wie ein Schatten, rastlos auf und nieder gehend bis zum Morgen! Und ich, sein Weib, schlief unterdessen meinen Schönheitsschlaf, aus dem ich jeden Tag blühender erwachte. Ich wollte ja meine Schönheit pflegen und sparen für dich. Wo ist sie jetzt? – – Er aber sah mich an mit grenzenlosem Mitleid und sagte: ›Arme arme Blume, die vergebens blüht! Es ist ja Pflicht, dich zu erlösen.‹

Und einmal führte er mich vor dein Bild, das auf dem Schreibtisch stand, und sagte: ›Sieh ihn an, er wird dir eine andre glücklichere Verkörperung meines Selbst sein.‹ – Und ich? Mit dem Mund beschwor ich ihn, für mich zu leben, aber mit meiner heimlichen Willensmacht befahl ich ihm – ja, ich befahl ihm, zu verschwinden, den Platz für einen Besseren zu räumen. Das Geschlecht der Wildegg konnte weiter bestehen ohne ihn, es gab noch einen gesunden Stamm, der das Recht hatte auf Fortdauer.

Aus meinem Willen floß es über in den seinigen, ich fühlte den Augenblick, wo es zuerst Besitz von ihm ergriff, sah, wie er es abschüttelte und wie es wieder kam, ihn faßte, würgte. So oft ich ihn ansah, dachte ich: du sollst verschwinden! Unablässig beobachtete ich ihn, und wenn der Unselige wieder Luft bekam, goß ich von neuem meine ganze Willenskraft in einen meiner Engelsblicke und sagte ihm: Stirb, töte dich, schaffe den Fluch auf die Seite.

Er sollte in eine Nervenanstalt gehen, aber eine geheime Gewalt widersetzte sich dem. Das war auch mein Wille, den ich straff auf das Ziel gespannt hielt. Er weigerte sich, er wies den Aerzten die Thür. Es wurde immer schlimmer mit ihm, wie ein Gespenst war er im Hause.

Eines Morgens, als ich im Schloßpark spazieren ging und die Buchen ansah, die über Nacht der Herbst berührt hatte, kam es wie eine Erleuchtung über mich: Heut wird es zu Ende gehen. Ich wollte noch wie sonst die Schwäne im Weiher füttern, aber ich war zu aufgeregt dazu. Als ich die Brocken hinwarf, fing ich an zu zittern und fühlte, daß mein Wille schwach wurde. Aber es war nicht Mitleid, sondern nur das Grausen des Fleisches vor dem Unaussprechlichen.

Ich sagte zu mir selbst: Es muß sein, je schneller, desto besser, und ich wurde hart wie Stahl.

An der Thüre des Pavillons hing noch eine letzte von den gelben Nelken am Spalier, die der Stolz unsres Gärtners waren und die Julius ganz besonders liebte. Die brach ich ab und brachte sie ihm. Ich wollte noch recht gut und freundlich sein, damit er im vollen Glauben an mich von hinnen ginge. Wahnsinnige, die ich war, als ob drüben nicht alle Täuschungen rissen! – Sieh, das war der Grund, weshalb er an unserm Hochzeitstag die gelben Nelken gebracht hat.

Ich fand ihn auf meinem Zimmer, einen meiner Morgenschuhe in der Hand, den er hastig weglegte. Er fragte, wie ich geschlafen habe, – er schlief ja nie. Als ich ihm die Nelke ansteckte, lächelte er wie ein zum Tod Verurteilter, da wußte ich, daß die Pistole schon geladen war. Ich gab ihm einen Kuß, den letzten, zur Wegzehrung. Aber als er meine Lippen fühlte, erwachte die Lebenslust, und seine ganze Natur bäumte sich noch einmal auf, er wollte noch nicht hinunter in die kalte schwarze Nacht. Er bat: ›Laß mich leben, Marina, laß mich leben,‹ – aber ich antwortete: ›Es muß sein, geh und stirb!‹«

»Ihr spracht darüber?« fragte Kurt, der schon alle Stadien des Entsetzens durchlaufen hatte und jetzt bei der Ueberzeugung angekommen war, daß seine Frau wahnsinnig sei.

»Nein, nein, nicht so,« antwortete die Kranke, »versteh' mich recht: wir sprachen nicht mit Worten, nur mein Wille sprach zu dem seinigen. Mein böser Geist rang mit seinem guten Geist, sie waren hart aneinander, und er wehrte sich – aber der Stärkere siegte. – –

Dann ging er – an der Schwelle sah er mich noch einmal an – so herzzerreißend – und ging.

Einen Augenblick wollte ich ihm nacheilen, ihn halten, aber ich dachte an dich und konnte nicht wollen, daß er lebe. – Er war auf den andern Flügel hinübergegangen, ich folgte ihm nach bis in den Mittelbau.

Im gelben Saal stand ich hinter der Portiere, mit zusammengeballten Händen stand ich und horchte horchte – es dauerte eine Ewigkeit. – Wenn er schwach würde! Nein, er muß es, muß es thun! – ich lud meinen Willen in sein Rohr – da fiel der Schuß!«

Sie fiel in die Polster, als habe die Kugel zum zweitenmal und diesmal sie getroffen.

Kurt sprang hinzu und richtete sie auf. Sie hielt mit ihren eiskalten Händen die seinigen fest, bis sie wieder Atem geschöpft hatte, dann fuhr sie fort: »Höre weiter. Ich war frei – ich brauchte nur noch dich zu rufen, denn ich wollte nichts, nichts von der ganzen Welt als dich. Aus meinem Willen spann ich lange Fäden, die ich nach dir auswarf. Ich achtete nicht, wie die Zeit verging, ich wußte nicht mehr, ob es Sommer oder Winter war, ich saß auf jener Bank, wo wir einmal zusammen gesessen hatten, und spann und spann – die Fäden, die du gespürt hast. Ich folgte dir überallhin auf deinen Zügen, kein Zeltdach, unter dem du schliefst, daß ich nicht bei dir war. Und kein Gedanke an ihn, kein Gedanke an das Verbrechen, das ich begangen, trübte meine Seele. – Erst seit ich dein Weib ward und doch nicht dein Weib – denn er stand zwischen uns – erst seitdem habe ich ganz begriffen, was er gelitten hat. Ach, er hat es mit Zinsen vergolten! – Dann erkrankte dein Vater, und ich eilte zu ihm. In ihn goß ich, ohne daß er es wußte, meine heimlichen Gedanken, meine Sehnsucht nach dir, der alte Mann wurde das Werkzeug meines Willens.

Ich machte mich ihm unentbehrlich und führte dann die Komödie mit deinem Vetter Benno auf, der sie ernster nahm, als ich beabsichtigte. Später ließ ich den alten Herrn verjährte Mißbräuche in der Gutsverwaltung entdecken; er hatte nie gemerkt, daß man ihn seit lange betrog, er war ja so gut und vertrauensselig, aber nun entließ er auf einen Tag drei Angestellte. Er wollte alles wieder selbst thun, die Rechnungen durchsehen, die Waldungen besichtigen, das Gestüt, aber die Kräfte fehlten ihm. – Wenn Kurt da wäre! war sein täglicher Seufzer.

Er schrieb dir Brief auf Brief, du regtest dich nicht. Endlich gab ich ihm das Mittel ein, dich herzuziehen. Dann kamst du und warst mir verfallen. – – – Ach, alles hatte ich bedacht, mit allem gerechnet, nur nicht – nur nicht,« setzte sie leise hinzu, »mit der andern Welt.«

Kurt lag vor ihr auf den Knieen während dieses letzten Teils ihrer Beichte und preßte ihre halberstarrten Hände.

»Sag: mit deinen Nerven, du armes, armes Weib,« sagte er, »sag: mit deinen verstörten Sinnen.«

»Nimm's, wie du willst,« antwortete sie, »durch meine Sinne spricht die andere Welt zu mir. Es ist gleich, wer die Karte geschickt hat, es ist gleich, von wem die Kugel kommt. Wenn ich auch einen lebenden Mitwisser hätte, es ist doch er, der mich verfolgt. – – Schon in Mittenau spürte ich seinen Zorn; es war, als ob die Gruftplatte sich bewegte, aber ich wollte es nicht wissen, ich wollte die Frucht meines Verbrechens, ich wollte dich. – Damals war mein Wille noch stark, jetzt ist er gebrochen.«

Wieder sank sie zurück und lag regungslos in den Polstern, nur ihre Finger zuckten krampfhaft. Kurt litt mit ihr, und sein ganzes Wesen war zerrissen wie das ihrige, nur seine Liebe allein war nicht erschüttert. Was dieses Weib auch verbrochen hatte, sie war doch sein alles, sein Kind, seine kranke Taube, sein einziger lieber Mensch auf Erden. Er wollte nichts wissen von ihrer Schuld, nur von ihren Leiden und ihrer Liebe. Er suchte sie zu überzeugen, daß die ganze Geschichte ihres Verbrechens nur in ihrer Phantasie gewachsen sei.

»Gesetzt, du hättest die Absicht, ihn zu töten, wirklich gehabt und sie dir nicht nachträglich eingebildet, so ist doch die Absicht noch keine That Gedanken können nicht töten.«

»Meine Gedanken können töten,« antwortete die junge Frau, und ihre Augen blitzten bläulich wie Stahl. »Du kennst mich nicht, weißt nicht, wie scharf und hart und unzerbrechlich meine heimlichen Gedanken sind, stählern wie Messer, schwer wie Blei. – Hast du's nicht auch gespürt, wie mein Wille thut? Hast du nicht kommen müssen, als ich wollte? Hat nicht dein Vater dich rufen müssen alles durch mich, durch meine Gedanken?«

Er schüttelte den Kopf über diese kranke Einbildung.

»Wenn du schuldig bist, bin ich es ebensosehr wie du. Auch ich konnte dich nicht sehen, ohne zu denken: Wäre sie frei!«

»Aber du scheuchtest diesen Gedanken, der gegen deinen Willen in dein Herz schlich. Du bist vor ihm geflohen bis ans Ende der Welt, ich machte ihn zum Herrn über mich.«

»Kurt,« begann sie nach einer Weile von neuem, »man sagt, daß Selbstmord Sünde sei – ich glaube es nicht, einen Ort muß es doch geben, wo auch der Verbrecher geborgen ist. Aber ich kann nicht dorthin – ich fürchte mich – fürchte mich, ihm zu begegnen – sonst wär' ich schon lang gegangen. – Aber wenn er mich wieder ansieht mit jenem Blick wie damals unter der Thür –!«

Sie barg schaudernd den Kopf in den Polstern.

Kurt warf sich bei ihr nieder und legte zum Schutz die Arme um sie.

»Ich gehe mit dir – ich werde ihm sagen, daß ich gleiche Schuld habe wie du – mich soll er anblicken, ich werde ihm alles sagen. – Hör mich, Marina, hör mich, mein armes, liebes Weib: wenn du nicht mehr genesen kannst und glücklich sein, so laß uns miteinander sterben. Dieses Leben, das wir führen, ist doch nur ein halbes Leben, wir wollen uns bei der Hand fassen und zusammen hinausgehen. Meine Pistolen sind immer geladen, und ich habe eine sichere Hand, du sollst sehen, wie sanft das Sterben thut, wenn die Liebe dabei ist. Willst du, Marina? Sprich, mein Lieb, sprich.«

Er fuhr fort, mit Schmeichelworten in sie zu dringen, als ob er um ein Liebesstelldichein bäte, denn er hatte das Gleichgewicht fast ebensosehr verloren wie sie selber.

Es ging wie ein Hoffnungsstrahl über ihr Gesicht, das sie einen Augenblick zu ihm aufhob, aber gleich wurde sie wieder ängstlich und sagte: »Nein, nein, sie würden uns dort nicht beisammen lassen.«

»Dort und hier, Marina,« antwortete er. »Wir gehören auf ewig zusammen. Niemand kann Mann und Weib trennen.« –

Gleich sah er an einer schaudernden Gebärde von ihr, daß er einen falschen Ton gegriffen hatte.

Er verstand sie und sagte: »Sei ruhig, Herz, ich will ihn so lange bitten und nicht ablassen, bis er gut wird und dich freigiebt.«

Die Ueberzeugung von dieser großen Liebe schien sie endlich doch zu erleichtern. Sie schluchzte wie aufgelöst in seinen Armen und wiederholte von Zeit zu Zeit: »Nein, du nicht – du sollst nicht sterben – du hast Aufgaben zu erfüllen – du nicht!«

»Dann lebe auch du, mein Weib,« flehte er innig, ihre Hände küssend. – »Laß es uns noch einmal gemeinsam versuchen. Wir wollen büßen, bis wir uns selber freisprechen dürfen.«

Nun begann er, ihr das Bild eines neuen Lebens zu entwerfen. Er wollte sie fortführen in die Urwälder von Indien, zu großen stillen Flüssen, an die Wiege der Menschheit, dort wollten sie wie die Büßer leben und die Weisheit der Brahminen lernen.

»Dieses alte Volk,« sagte er, »steht der Gottheit näher, es weiß mehr von dem Unsichtbaren als wir, vielleicht hat es ein Heilmittel für deine kranke Seele.«

Es klang am Ende wie ein Kindermärchen, was er ihr von Bananenwäldern und Lotosblumen erzählte. Sie folgte auch dem Sinn der Worte nicht mehr, große Müdigkeit befiel sie, die Schlafmittel mochten auch noch nachträglich wirken, denn als er sie die Treppe hinauftrug und mit Hilfe der zweiten Kammerjungfer zu Bett brachte, war sie schon halb entschlummert.

*

Mitternacht war vorüber, als der Graf leise und vorsichtig die schmale Treppe nach den unteren Räumen wieder herabstieg. Er hatte Marina schlafend in der Obhut der Kammerfrau gelassen und fühlte jetzt ein zwingendes Bedürfnis, sich durch Bewegung Luft zu schaffen und seine gequälte Natur zu erleichtern. Er hätte mögen ein wildes Pferd besteigen und durch die schlafende Campagna sausen an Aquädukten und römischen Grabmälern vorüber, weiter, immer weiter querfeldein in Nacht und Einsamkeit, nur von seinem eigenen, schwarzen, riesenhaften Schatten begleitet, bis die menschlichen Spuren aufhörten und das Pferd unter ihm ermattet zusammenbrach. Seine Gedanken flogen so ohne Richtung im Weglosen, und neben ihnen flog der Schatten, das Ungeheure, das Unbegreifbare und doch so Lebendige, Marinas Verbrechen. Er glaubte nicht, was er sich selber immer wieder einzureden suchte, daß dieses Verbrechen die Erfindung ihres zerrütteten Hirnes sei; vom ersten Augenblick an war ein Punkt in ihm gewesen, nur stecknadelgroß, aber unverrückbar im Wirbel seiner Gedanken, und dieser Punkt war die Ueberzeugung von Marinas Schuld. Wie es auch in ihm hinüber- und herüberwogte, dieser eine Punkt trat immer wieder fest und unverändert aus der Ueberflutung hervor. Es war nicht die Folgerichtigkeit ihrer Erzählung – der Wahnsinn hat zuweilen eine Klarheit und Logik, die den Gesunden verwirren kann – sondern er erkannte unwiderruflich, daß Marina des Verbrechens fähig war, dessen sie sich zieh. Das ungeheure Raffinement eines langsamen Mordes mit reinen Händen lag ganz in der Natur dieses physisch so verzärtelten und doch so dämonisch starken Weibes. Hier war der Abgrund, den die geheimnisvollen Schleier ihres Wesens verhüllt und doch dem Ahnenden angezeigt hatten, und eben um dieses Abgrundes willen hatte er sie so geliebt, wie der Kühne die Gefahr liebt und der Forscher das Verborgene. O der Eigensinn des menschlichen Herzens! O die unbegreifliche dunkle Seele des Weibes, dunkel und unbegreiflich wie die schöpferische und mörderische Natur selbst!

Unermüdlich wie der Pendel einer Uhr ging Kurt in der langen Flucht der Zimmer auf und nieder. Die beiden oberen Stockwerke waren wie immer in Licht gebadet, während Parterre und Entresol, wo die Dienerschaft wohnte, in Stille und Dunkelheit lagen. Um Marina nicht zu wecken, hatte der Graf die Stiefel abgelegt und glitt unhörbar wie ein Schatten über die Teppiche. Zu einer angelehnten Balkonthür strömte weichliche Siroccoluft herein, und die Deichselsterne des Wagens glänzten gerade über dem Dach des gegenüberliegenden Hauses. Kurt trat auf den Balkon und sog die Nachtluft mit vollen Zügen ein. Die unendliche Fülle und Uebermacht der Frühlingsgestirne beruhigte sein Gemüt, er wurde kleiner und immer kleiner, bis er sich als vergängliches Stäubchen im All verwehen fühlte. Was sind menschliche Geschicke vor den goldenen, immer wachen Augen der Ewigkeit?

Er sah den Zwillingen zu, wie sie Haupt an Haupt langsam vom Zenith hinunterstiegen, und im weiten Umkreis kein andrer Stern, daß ihr brüderliches Licht um so heller scheinen konnte. Nun überfiel ihn das Leid um seinen Julius. Er erinnerte sich, wie sie zusammen die Mappe zur Schule getragen und immer zusammengehalten hatten wie ein doppelter Mensch, die Brüder Wildegg, daß keiner dem einen zu nahe kommen konnte, ohne die Faust des andern zu spüren. O die lange gemeinsame Kindheit, die doch das wahre Leben des Menschen ist, wie glänzte sie nun hell aus dem Grund der Vergangenheit herauf wie eine versunkene goldene Kette! –

Sein Kleiner! Sein July! Und sie hatte ihn gemordet, feige und tückisch, unter langsamen Martern! – Aber sie that es um seinetwillen, und er liebte sie! Er fühlte sich so eins mit ihr in ihrer Schuld und ihrer Leidenschaft. Nein, nicht ihm kam es zu, zu richten, er konnte nur mit ihr büßen oder mit ihr sterben. –

Plötzlich schien es ihm, als höre er Marinas Klingel, da aber das Schlafzimmer nicht über dem Balkon lag, war er seiner Sache nicht sicher. Er trat von dem Balkon zurück, und eben glaubte er die Klingel noch einmal zu hören, da fingen die Glocken der Stadt zu läuten an. Aergerlicher Zufall! Er schlich über den Korridor nach der Treppe, um zu spähen, ob sie schlafe. – – –

 

Marina hatte einige Stunden in einer wohlthuenden Betäubung verbracht, die kein eigentlicher Schlaf, sondern nur ein Schlummern des Bewußtseins war. Dann schien es, als würde ein Schleier um den andern weggezogen, und endlich sah sie sich allein in ihrem hellerleuchteten Schlafzimmer. Kurt, der zuvor an ihrem Bett gesessen hatte, war verschwunden, und auch das Mädchen, nach dem sie rief, gab keine Antwort. Aly war schon seit gestern seines schrecklichen Gewinsels wegen aus ihrer Nähe verbannt. Sie zog mehrmals die Klingel, aber niemand kam.

Eine Beängstigung überfiel sie, die mit dem Rhythmus der beschleunigten Blutwellen anschwoll. Zur Linken führte eine Thür in eine lange Reihe unbewohnter Zimmer, die auf eine in den Hof blickende Galerie mündete. Von dorther, aus dem Leeren kam die Angst über sie. Sie erhob sich bebend, griff nach dem ersten Kleidungsstück, das ihr in die Hände fiel, einem langen weißen Frisiermantel, den sie noch überwarf, und schlich barfüßig nach der Treppe, denn im unteren Stockwerk hörte sie Kurt die Balkonthür schließen. Sie wagte nicht zu rufen, denn sie fürchtete sich in der großen Stille vor ihrer eigenen Stimme.

Am Treppenabsatz, wo die Wandlampe brannte, huschte von hinten her ihr eigener Schatten an ihr vorüber und fiel wie eine schwarze Gestalt unten an der Treppe nieder. Sie hielt sich vor Schreck am Geländer und blickte regungslos auf das Schwarze, das gleichfalls unbeweglich zu ihren Füßen blieb. Da kam auf einmal die Wand in eine schwankende Bewegung, und unter ihr im Korridor tauchte eine zweite Gestalt auf, aber greifbar und körperhaft. Sie stieß einen gräßlichen Schrei aus, denn das Gesicht ihres ersten Gatten blickte ihr entgegen, sie hatte in Julius' Augen gesehen. Diese Augen starrten sie an, wie sie in jener schrecklichen letzten Stunde gestarrt hatten.

Schon hatte sie sich umgewandt, die Angst, die sie vorhin lähmte, gab ihr jetzt Kraft und trug sie wie mit Flügeln die Treppe hinauf. Sie hörte nicht, wie es hinter ihr ängstlich und beschwichtigend ihren Namen rief, sie flog wie ein Pfeil durch das offene Schlafzimmer ins Nebengemach, und ohne zu sehen, daß dort das Mädchen auf dem Diwan lang ausgestreckt den Schlaf der Gerechten schlief, rannte sie weiter von Thür zu Thür mit unglaublicher Schnelligkeit, und hinter ihr flogen geräuschlos die Tritte des Toten, ihres Opfers. Kein Laut kam dabei von ihren Lippen, sie dachte und empfand nur eins: sich vor ihm bergen, seine Augen nicht mehr sehen! Hinaus! Hinab! – Es war keine Absicht, keine Ueberlegung, sie wurde durch eine innere Gewalt geschleudert wie die Kugel aus dem Rohr.

Am Ende der Zimmerreihe warf sie sich über den Korridor nach der Galerie. Dort erreichte sie Kurt, schon an der Brüstung angelangt, und umfaßte sie von hinten, aber er taumelte mit der ganzen Kraft seines Anlaufs zurück, denn sie war an ihm niedergetaucht und hatte ihm nur den flockigen Ueberwurf in den Händen gelassen.

Ein paar Sekunden später, als er wieder fest auf den Füßen stand, dröhnte schon unten im Hof der dumpfe Aufschlag ihres Körpers.

*

Das tragische Ende der schönen Gräfin Wildegg blieb in der Oeffentlichkeit fast unbemerkt, denn sie war den Kreisen, denen sie angehörte, schon zu lange entfremdet. Man wunderte sich nur ein wenig, daß der Graf die Leiche nicht in die Familiengruft nach Mittenau überführte, sondern in aller Stille auf dem Campo Verano bestatten ließ.

Erst vor kurzem wurde die Welt noch einmal an die Tragödie des Hauses Wildegg erinnert, als die Zeitungen berichteten, daß Graf Kurt in Afrika bei einem Konflikt mit arabischen Sklavenhändlern, man wußte nicht recht wo und wie, gefallen sei.

Wer aber war der geheimnisvolle Verfolger und Rächer gewesen? Hatte Marinas Schuld einen Mitwisser gehabt, der die Rache des Toten übernahm? War es die Bosheit eines abgewiesenen Freiers oder eines entlassenen Dieners? War wirklich Therese, die sich nicht mehr blicken ließ, die Helferin, oder hatten unbekannte Hände zusammengewirkt, um das Opfer in die Schlinge zu verstricken? – Man erfuhr es nie, denn Kurt hatte sich gescheut, das kühle Gras der Vergessenheit auszuroden, das um Marinas Hügel wuchs.

Wenn wirklich die Hand des Grafen Benno im Spiele war, so sollte er sich schwer verrechnet haben, denn die Verwandten gingen bei der Hinterlassenschaft leer aus, da die Wildeggschen Güter in wohlthätige Stiftungen verwandelt wurden.


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