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Briefwechsel mit meinem Bruder über ästhetische, religiöse, philosophische und volkswirtschaftliche Fragen. – Heimliche Zusammenkunft mit meinem Bruder. – Eine praktische volkswirtschaftliche Studie. – Verkehr mit dem Volke.
Mein Bruder Alexander war damals in der Moskauer Kadettenschule, und wir unterhielten eine lebhafte Korrespondenz. Solange ich noch daheim war, war dies unmöglich, weil mein Vater es als sein Vorrecht betrachtete, alle einlaufenden Briefe zu lesen, und bald jedem über das Alltägliche hinausgehenden Briefwechsel ein Ende gemacht haben würde. Jetzt konnten wir uns in unsern Briefen nach Herzenslust aussprechen. Die einzige Schwierigkeit war für uns, das Porto zu erschwingen; wir lernten aber bald so klein zu schreiben, daß wir unglaublich viel Stoff in einen Brief zusammendrängen konnten. Alexander, der eine schöne Handschrift hatte, brachte vier gedruckte Seiten auf eine einzige Seite Briefpapier, und seine mikroskopischen Zeilen waren so gut lesbar wie der schärfste Kleindruck. Es ist bedauerlich, daß diese Briefe, die er als wertvolle Andenken aufhob, verschwunden sind. Bei einer Haussuchung nahm die Polizei sogar diese Schätze weg.
Unsere ersten Briefe bezogen sich meist auf die rein äußerliche Schilderung meiner neuen Umgebung, aber bald wurde unsere Korrespondenz gehaltvoller. Mein Bruder brachte es nicht fertig, über Wertloses zu schreiben. Sogar in Gesellschaft wurde er nur lebhaft, wenn eine ernste Unterhaltung im Gange war, und er klagte oft, er empfinde ›einen dumpfen Schmerz im Gehirn‹ – einen physischen Schmerz, wie er zu sagen pflegte – wenn er mit Leuten zusammenkam, die nur für ein Alltagsgeschwätz zu haben waren. Er war mir in seiner geistigen Entwicklung weit voraus, und er drängte mich vorwärts, indem er immer neue wissenschaftliche und philosophische Fragen aufwarf und mir riet, was ich lesen oder treiben sollte. Welches Glück für mich, solchen Bruder zu haben, einen Bruder, der mich noch dazu leidenschaftlich lieb hatte! Ihm verdanke ich zum besten Teil meine geistige Entwicklung.
Manchmal gab er mir den Rat, Poesie zu lesen, und schickte mir in seinen Briefen zahllose Verse und ganze Gedichte, die er aus dem Gedächtnis niederschrieb. »Lies Poesie,« schrieb er, »Poesie macht den Menschen besser!« Wie oft empfand ich in meinem späteren Leben die Wahrheit dieser seiner Bemerkung: Lies Poesie, sie macht die Menschen besser. Er war selbst ein Dichter und schrieb mit wunderbarer Leichtigkeit Verse voll Wohllaut; ich glaube in der Tat, es ist sehr zu bedauern, daß er sich von der Poesie abwandte. Aber die Reaktion gegen die Kunst, die im Anfang der Sechziger bei der russischen Jugend eintrat, und die Turgenjew in seinem Basarow (›Väter und Söhne‹) verkörpert hat, ließ ihn mit Geringschätzung auf seine Verse blicken und sich kopfüber in die Naturwissenschaften stürzen. Ich muß jedoch sagen, daß mein Lieblingsdichter nicht zu denen gehörte, die mein Bruder bei seiner poetischen Begabung, seinem musikalischen Ohr und seiner philosophischen Anschauung am höchsten schätzte. Sein russischer Lieblingsdichter war Wenewitinow, der meinige Nekrasow, dessen Verse zwar oft den Wohlklang vermissen ließen, aber durch ihre Sympathie mit ›den Zertretenen und Mißhandelten‹ am meisten zu Herzen sprachen.
»Man muß einen bestimmten Vorsatz im Leben haben,« schrieb mir Alexander einst. »Ohne ein Ziel, ohne einen Vorsatz ist das Leben kein Leben.« Und er riet mir, ich sollte mir ein lebenswertes Ziel setzen. Damals war ich noch zu jung, um eines zu finden, aber ein unbestimmtes unklares ›Gutes‹ regte sich schon auf jenen Weckruf, wenn ich auch nicht sagen konnte, welcher Art das ›Gute‹ sein würde.
Unser Vater gab uns sehr wenig Taschengeld, und ich hatte niemals so viel Mittel, mir ein einziges Buch zu kaufen! Wenn aber Alexander von einer Tante ein paar Rubel erhielt, gab er keinen Pfennig für sein Vergnügen aus, sondern kaufte ein Buch und schickte es mir. Doch war er ein Gegner wahlloser Lektüre. »Man muß,« schrieb er, »an das Buch, das man lesen will, eine Frage gerichtet haben.« Doch wußte ich diese Bemerkung damals noch nicht zu schätzen und kann jetzt nicht ohne Schrecken an die unzähligen Bücher, oft von einer ganz speziellen Gattung, denken, die ich in allen Fächern, insbesondere aber auf dem Gebiete der Geschichte, gelesen habe. Es fiel mir jedoch nicht ein, meine Zeit mit dem Lesen französischer Novellen zu vergeuden, nachdem sie Alexander schon vor Jahren mit einem einzigen derben Ausdruck als ›dumm und schmutzig‹ gekennzeichnet hatte.
Die großen Fragen von der Auffassung, die wir uns vom Universum zu bilden hatten, von unserer ›Weltanschauung‹, bildeten erklärlicherweise den Hauptgegenstand unseres Briefwechsels. In unserer Kindheit waren wir nie religiös gewesen. Man führte uns in die Kirche; aber in einer russischen Kirche, zumal in einem kleinem Dorfe, ist die weihevolle Haltung des Volkes viel eindrucksvoller als die Messe selbst. Von allem, was ich je in der Kirche hörte, hatte nur zweierlei einen Eindruck auf mich gemacht: die zwölf Stücke aus den Evangelien, die von Christi Leiden handeln und die in Rußland beim Abendgottesdienst vor dem Charfreitag vorgelesen werden, und das kurze Gebet gegen den Geist der Herrschsucht, das während der Großen Fasten gelesen wird und wegen seiner einfachen, anspruchslosen Worte und Empfindungen wirklich schön ist. Puschkin hat es in russische Verse gebracht.
In Petersburg ging ich später mehrmals in eine römisch-katholische Kirche, aber der theatralische Charakter des Gottesdienstes und der Mangel wahren Gefühles verletzten mich und das um so mehr, wenn ich sah, mit welcher einfachen Gläubigkeit ein alter polnischer Soldat oder eine Bauernfrau in einer abgelegenen Ecke beteten. Ich ging auch in eine protestantische Kirche, aber wie ich sie verließ, murmelte ich unwillkürlich Goethes Worte vor mich hin:
»Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen,
Wenn es euch nicht von Herzen geht.«
Inzwischen hatte sich Alexander mit seiner gewöhnlichen Leidenschaftlichkeit dem lutherischen Glauben zugewandt. Er hatte Michelets Buch über Servetus gelesen und sich selbst eine Religion in den Bahnen jenes kraftvollen Streiters ausgearbeitet. Mit Begeisterung studierte er das Augsburger Bekenntnis, das er abschrieb und mir zusandte, und unsere Briefe füllten sich nun mit Erörterungen über die Gnade und Texte aus Paulus und Jakobus. Ich folgte dem Anstoß des Bruders, doch theologische Erörterungen konnten mich nicht sehr interessieren. Seit ich von meinem Anfall typhösen Fiebers genesen war, fesselte mich eine ganz andere Lektüre.
Unsere Schwester Helene, die jetzt verheiratet war, befand sich in Petersburg, und jeden Samstag ging ich abends zu ihr. Ihr Mann hatte eine gute Bücherei, in der die französischen Philosophen des letzten Jahrhunderts und die modernen französischen Historiker gut vertreten waren, und ich stürzte mich mit Feuereifer auf sie. Diese Bücher waren in Rußland verboten, und ich konnte sie offenbar nicht mit in die Schule nehmen. Ich verwandte daher jeden Samstag den größten Teil der Nacht auf die Lektüre der Enzyklopädisten, des philosophischen Wörterbuchs von Voltaire, der Schriften der Stoiker, insbesondere Marc Aurels, und ähnlicher Werke. Die Grenzenlosigkeit und Unermeßlichkeit des Weltalls, die Großartigkeit der Natur, ihre Poesie, ihr rastlos pulsierendes Leben machten einen immer gewaltigeren Eindruck auf mich, und dieses nimmer rastende Leben und seine Harmonien erfüllten mich mit der überschäumenden Bewunderung, nach der junge Seelen dürsten, während meine Lieblingsdichter mir mit ihren schwungvollen treffenden Worten gewissermaßen das Gefäß boten, worein sich jene erwachende Liebe zur Menschheit und der Glaube an ihren Fortschritt, die das beste Teil der Jugend ausmachen und für das ganze Leben nachhaltig wirken, ergießen konnten.
Inzwischen war Alexander bis zum Kantischen Agnostizismus fortgeschritten, und die ›Relativität der Begriffe‹, ›Begriffe in Zeit und Raum und Zeit allein‹ und dergleichen füllten Seite auf Seite in unsern Briefen, deren Schrift mit der Wichtigkeit der erörterten Gegenstände immer mikroskopischer wurde. Aber weder damals noch später, wenn wir Stunden und Stunden lang über Kants Philosophie diskutierten, konnte mich mein Bruder dazu bekehren, ein Schüler des Königsberger Philosophen zu werden.
Naturwissenschaften, d. h. Mathematik, Physik und Astronomie, waren meine vornehmsten Studien. Im Jahre 1858, bevor Darwin sein unsterbliches Werk herausgegeben hatte, veröffentlichte ein Professor der Zoologie an der Moskauer Universität, Roulier, drei Vorlesungen über Transformismus, und mein Bruder griff sofort seine Ideen über die Veränderlichkeit der Arten auf. Doch befriedigten ihn Wahrscheinlichkeitsbeweise nicht, und er fing sofort an, verschiedene Monographien über Vererbung und dergleichen zu lesen; in seinen Briefen machte er mich dann mit den wichtigsten Tatsachen sowie mit seinen Gedanken und Zweifeln bekannt. Die ›Entstehung der Arten‹ löste seine Zweifel in verschiedenen Spezialfragen nicht und regte ihn nur zu weiteren Studien an. Wir diskutierten in der Folge und zwar viele Jahre hindurch verschiedene auf die Abänderungen der Arten, ihre Vererbungs- und Ausbildungsfähigkeit bezügliche Fragen, die ja auch ganz neuerdings durch die Weismann-Spencersche Kontroverse, durch Galtons Forschungen und durch den Neu-Lamarckianismus wieder in den Vordergrund getreten sind. Mit seinem philosophischen und kritischen Geiste hatte Alexander sofort die fundamentale Bedeutung dieser Fragen für die Lehre von der Veränderlichkeit der Arten begriffen, obwohl sie damals von vielen Naturforschern übersehen wurden.
Ich muß auch einer gelegentlichen Exkursion auf das Gebiet der Volkswirtschaft Erwähnung tun. In den Jahren 1858 und 1859 redete in Rußland jedermann von Volkswirtschaft. Vorlesungen über Freihandel und Schutzzoll waren außerordentlich besucht. Auch mein Bruder, der damals noch nicht in der Frage von der Veränderlichkeit der Arten aufging, interessierte sich lebhaft, wenn auch nur vorübergehend, für volkswirtschaftliche Probleme und schickte mir zum Lesen Jean Baptiste Says ›Politische Ökonomie‹. Ich las nur einige Kapitel; Tarife und Bankgeschäfte hatten für mich nicht den geringsten Reiz, aber Alexander beschäftigte sich so leidenschaftlich damit, daß er sogar in seinen Briefen an unsere Stiefmutter diese in das Labyrinth der Zollfragen einzuführen versuchte. Als wir später in Sibirien einige Briefe aus jener Zeit wieder vorsuchten und durchlasen, lachten wir wie Kinder, als wir einen Brief fanden, in dem er sich über die Gleichgültigkeit unserer Stiefmutter beklagte, die nicht einmal für so brennende Fragen Sinn hätte, und seiner Wut gegen einen Gemüsehändler Ausdruck gab, den er auf der Straße angehalten hatte und der, ›kannst du es glauben‹ (schrieb er mit Ausrufungszeichen) ›obgleich er ein Händler war, sich starrköpfig anstellte, als gingen ihn Steuerfragen nichts an‹.
Jeden Sommer bezog etwa die Hälfte der Pagen ein Lager bei Peterhof. Doch waren die unteren Klassen hiervon befreit, und so verbrachte ich die ersten zwei Sommer in Nikolskoje. Aus der Schule hinauszukommen, den Zug nach Moskau zu nehmen und dort Alexander zu treffen, war eine so schöne Aussicht für mich, daß ich die Tage zu zählen pflegte, die noch bis zum Eintritt des großen Ereignisses fehlten. Doch erwartete mich einmal in Moskau eine arge Enttäuschung. Alexander hatte seine Prüfung nicht bestanden und mußte noch ein Jahr in derselben Klasse bleiben. Er war in der Tat zu jung für die Klasse gewesen, aber mein Vater war trotzdem sehr aufgebracht gegen ihn und erlaubte uns nicht, einander zu sehen. Das betrübte mich sehr, denn wir waren keine Kinder mehr und hatten uns so viel zu sagen. Ich bat um die Erlaubnis, zu unserer Tante Sulima zu gehen, in deren Hause ich vielleicht Alexander hätte treffen können, aber meine Bitte wurde mir rundweg abgeschlagen. Nach Vaters Wiederverheiratung durften wir die Verwandten unserer Mutter nie wieder besuchen.
In jenem Sommer war unser Moskauer Haus voll von Gästen. Jeden Abend waren die Empfangszimmer von Licht durchflutet, die Kapelle spielte, der Zuckerbäcker hatte mit Eis und Torten sein Bestes getan, und im großen Saal dauerte das Kartenspielen bis zu weit vorgerückter Stunde. Ziellos trieb ich mich in den glänzend erleuchteten Zimmern umher und fühlte mich unglücklich.
Eines Abends nach zehn Uhr winkte mir ein Diener und sagte mir, ich sollte ins Vorzimmer kommen. Ich ging. »Komm ins Kutscherhaus,« flüsterte mir der alte Hausmeister Frol zu. »Alexander Alexejewitsch ist da.«
Ich flog durch den Hof, die zum Kutscherhause führenden Stufen hinauf und in einen großen halbdunkeln Raum, wo ich an dem riesigen Dienereßtisch Alexander bemerkte.
»Sascha, Teurer, wo kommst du her?« Und im Augenblick lagen wir uns in den Armen, einander zärtlich küssend und vor Erregung außerstande, zu sprechen.
»Pst, pst! Man könnt' euch hören,« sagte die Dienerköchin Praskowia, indem sie mit der Schürze ihre Tränen abwischte. »Arme Waisen! Wenn nur eure Mutter noch lebte –«
Der alte Frol stand mit tief gebeugtem Kopfe da, und auch seine Augen wurden feucht.
»Sieh hier, Petja, zu niemand ein Wort, zu niemand!« sagte er, während Praskowia eine irdene Schüssel voll Brei vor Alexander stellte.
Dieser, von Gesundheit strahlend und in schmucker Kadettenuniform, hatte schon über alles mögliche zu reden angefangen, während er dabei die Breischüssel emsig leerte. Kaum konnte ich von ihm erfahren, wie er zu so später Stunde hergekommen war. Wir wohnten damals unweit des Smolenskischen Boulevards, keinen Steinwurf von dem Hause, in dem unsere Mutter gestorben war, und die Kadettenschule lag in entgegengesetzter Richtung vor den Toren der Stadt, eine volle Meile von uns entfernt.
Alexander hatte aus Bettüchern ein Puppe gemacht und sie ins Bett unter die Decken gelegt, dann ging er in den Turm, stieg aus einem Fenster, kam unbemerkt hinaus und legte hierauf die ganze Strecke zu Fuß zurück.
»Hast du dich nicht so spät in der menschenleeren Gegend um eure Anstalt gefürchtet?« fragte ich.
»Wovor sollte ich mich fürchten? Nur Haufen von Hunden waren hinter mir, und die hatte ich selbst geneckt. Morgen nehme ich meinen Degen mit.«
Die Kutscher und anderen Diener gingen ein und aus; sie seufzten, wenn sie auf uns schauten, setzten sich entfernt von uns an den Wänden nieder und tauschten ihre Reden, um uns nicht zu stören, nur in gedämpftem Tone. Wir zwei aber saßen, uns umschlungen haltend, bis Mitternacht und sprachen über Nebelflecke und Laplaces Theorie, über die Zusammensetzung der Materie, über den Kampf des Papsttums unter Bonifazius VIII. mit der königlichen Gewalt Philipps des Schönen von Frankreich und anderes.
Von Zeit zu Zeit kam eilig ein Diener hereingelaufen und sagte: »Petinka, geh und zeig' dich im Saale; sie sind aufgestanden und fragen vielleicht nach dir.«
Ich bat Sascha dringend, am nächsten Abend nicht zu kommen, er kam aber doch. Mit fieberhafter Hast leistete ich Folge, als man mich noch etwas früher als am Tage vorher wieder ins Kutscherhaus rief. Alexander war ein Stück des Weges in der Droschke gefahren. Am Abend vorher hatte ihm einer von den Dienern das Trinkgeld gebracht, das er von den Kartenspielern erhalten hatte, und ihn gebeten, es anzunehmen. Mein Bruder nahm eine Kleinigkeit, um eine Droschke bezahlen zu können, und so kam er diesmal früher als beim ersten Besuch.
Er wollte auch den nächsten Abend kommen, aber es wäre aus einem bestimmten Grunde für die Diener gefährlich gewesen, und wir beschlossen daher, uns bis zum Herbst nicht wiederzusehen. Eine kurze ›offizielle‹ Mitteilung ließ mich am nächsten Tage erfahren, daß seine nächtlichen Entweichungen unbemerkt geblieben waren. Wie schrecklich wäre bei Entdeckung seine Strafe gewesen! Es ist furchtbar, nur daran zu denken: Auspeitschung vor dem Korps, bis er bewußtlos auf einer Decke weggetragen wurde, und sodann Strafverweisung in ein Bataillon von Soldatenkindern – alles war in jener Zeit möglich.
Was unsere Diener zu leiden gehabt hätten, wenn meinem Vater zu Ohren kam, daß sie unsere geheimen Zusammenkünfte ermöglicht hatten, wäre nicht minder schrecklich gewesen; doch sie verstanden, den Mund zu halten, und keiner verriet den andern. Jeder einzelne wußte von Alexanders Besuchen, doch nicht einer ließ einem Mitgliede der Familie gegenüber nur ein Wort verlauten. Sie und ich waren die einzigen im Hause, die je etwas davon erfuhren.
In demselben Jahre machte ich auch den ersten Versuch, das Leben des Volkes kennen zu lernen; er brachte mich unsern Bauern einen Schritt näher, indem er sie mich unter einem ganz neuen Lichte sehen ließ, und war mir auch später in Sibirien von großem Nutzen.
Jedes Jahr wurde im Juli, am Tage der heiligen Jungfrau von Kasan, dem Festtage unserer Kirche, in Nikolskoje eine ziemlich große Messe gehalten. Händler kamen aus allen Nachbarstädten, und viele Tausende von Bauern strömten von sechs Meilen in der Runde in unser Dorf, das ein paar Tage lang einen äußerst lebhaften Anblick bot. Es war in jenem Jahre eine beachtenswerte Schilderung südrussischer Dorfmessen von dem Panslawisten Aksakow erschienen, und mein Bruder, dessen volkswirtschaftliche Begeisterung damals ihren Höhepunkt erreicht hatte, gab mir den Rat, eine statistische Übersicht unserer Messe aufzusetzen und die Mengen und Werte der zu Markte gebrachten und der verkauften Waren zu bestimmen. Ich folgte seinem Rate und war zu meiner eigenen großen Verwunderung wirklich erfolgreich, denn mein statistischer Überschlag war, soviel ich jetzt beurteilen kann, nicht unzuverlässiger als viele ähnlichen Zahlenangaben in statistischen Büchern.
Unsere Messe dauerte nur wenig länger als vierundzwanzig Stunden. Am Abend vor dem Feste war der große freie Platz, auf dem der Markt stattfinden sollte, voll Leben und Bewegung. In langen Reihen wurden in größter Eile Buden aufgeschlagen, in denen billige Kleiderstoffe, Bänder und alles, was zum Putz einer Bauernfrau gehört, feilgeboten werden sollten. Das Wirtshaus, ein solider Steinbau, wurde mit Tischen, Stühlen und Bänken ausgestattet, und sein Boden mit glänzendem, gelbem Sand bestreut. An drei Stellen wurde ein Weinausschank errichtet, und frisch geschnittene Birkenreiser ragten, an hohen Pfählen befestigt, hoch in die Luft, um die Bauern von weither anzuziehen. Reihen über Reihen von kleineren Verkaufsständen für Porzellanwaren, Schuhwerk, irdenes Geschirr, Lebkuchen und tausenderlei anderen Kram wuchsen wie hervorgezaubert aus dem Boden, während man in einer besonderen Ecke des Marktplatzes Löcher zur Aufnahme gewaltiger Kessel gegraben hatte, in denen ganze Scheffel von Hirse und ganze Schafe gekocht wurden, um die Tausende von Besuchern mit heißem Schtschi und Kascha (Suppe und Brei) erquicken zu können. Nachmittags waren die vier zum Meßplatz führenden Straßen mit Hunderten von Bauernwagen vollgepfropft, und Haufen von Töpferwaren, Fässer voll Teer und Getreide, sowie Vieh wurden auf beiden Seiten der Straße ausgeboten.
Der Gottesdienst am Vorabend der Messe fand in unserer Kirche mit großer Feierlichkeit statt. Ein halbes Dutzend Priester und Diakone aus den Nachbardörfern nahmen daran teil, und ihre Vorsänger ließen, verstärkt durch junge sangeskundige Händler, so kunstvolle Litaneien hören, wie sie gewöhnlich nur beim bischöflichen Gottesdienst in Kaluga gesungen wurden. Die Kirche war gedrängt voll, und alle beteten inbrünstig. Die Verkäufer wetteiferten miteinander in der Zahl und Größe der Wachslichte, die sie zum Zwecke eines gewinnreichen Handels als Opfer für die Ortsheiligen vor den Bildern anzündeten. Da das Gedränge zu groß war, als daß die Spätkommenden den Altar erreichen konnten, so wanderten Lichter von allen Größen – dicke und dünne, weiße und gelbe, je nach des Gebers Vermögen, – von Hand zu Hand aus dem Hintergrunde durch die Menge, und dabei ging es leise von Mund zu Mund: »Für die heilige Jungfrau von Kasan, unsere Schützerin,« »Für Nikolaus, den Liebling,« »Für Frol und Lor« (die Pferde-Heiligen – natürlich von denen, die Pferde zu verkaufen hatten), oder einfach »Für die Heiligen« ohne nähere Bezeichnung.
Sofort nach dem Schluß des Gottesdienstes fing die ›Vormesse‹ an, und ich mußte mich nun kopfüber in meine Arbeit stürzen, indem ich Hunderte von Leuten fragte, welches der Wert der von ihnen angefahrenen Waren sei. Zu meinem großen Erstaunen ging die Sache wunderbar gut. Natürlich richtete man die Gegenfragen an mich: »Was wollen Sie damit? Ist das für den alten Fürsten, der die Marktgebühren erhöhen will?« Doch die Versicherung, der ›alte Fürst‹ wüßte nichts davon und würde nichts davon erfahren (er würde es für eine unwürdige Beschäftigung gehalten haben), schlug sofort alle Bedenken nieder. Bald hatte ich die richtige Art und Weise der Fragestellung heraus, und nachdem ich mit einigen Händlern im Meßwirtshaus ein halbes Dutzend Tassen Tee getrunken hatte – entsetzlich, wenn mein Vater das erfahren hätte! – machte sich alles vorzüglich, Wasili Iwanow, der Älteste von Nikolskoje, ein schöner junger Bauer mit anziehendem, intelligentem Gesicht und seidenweichem hübschem Bart, interessierte sich für meine Arbeit. »Gut, wenn du es nur zu deiner eigenen Ausbildung haben willst, so mach' nur zu; du wirst uns nachher sagen, was du ausgefunden hast,« sagte er schließlich und erzählte den Leuten, die Sache wäre in Ordnung.
Kurz, die Einfuhr ließ sich sehr hübsch feststellen. Dagegen boten die Verkäufe am nächsten Tage gewisse Schwierigkeiten, besonders bei den Kurzwarenhändlern, die selbst noch nicht wußten, wieviel sie verkauft hatten. Am Festtage stürmten die jungen Bauernweiber einfach die Stände; jede hatte mehr oder weniger selbstgesponnene Leinwand verkauft und erhandelte nun ein Stück bedruckten Kattun und ein helles Tuch für sich, ein buntes Taschentuch für ihren Mann, vielleicht ein Stückchen Spitze, ein, zwei Bänder und ein paar Kleinigkeiten für Großmutter, Großvater und die Kinder, die zu Hause geblieben waren. Diejenigen Bauern, die irdenes Geschirr oder Lebkuchen oder Vieh oder Hanf feil hatten, konnten sofort den Betrag ihrer Verkäufe angeben, insbesondere die alten Frauen. »Gute Geschäfte, Großmutter?« fragte ich. »Kann nicht klagen, mein Sohn. Gott würd' mir's als Sünde anrechnen! 's ist fast alles weg!« Und ihre kleinen Posten summierten sich in meinem Notizbuch zu Zehntausenden von Rubeln. Nur in einer Beziehung konnte ich schwer zur Klarheit kommen. Es war ein ziemlich großer Raum vielen Hunderten von Bauernfrauen überlassen, die dort, in der brennenden Sonne stehend, selbstgesponnene manchmal auserlesen feine Leinwand feilboten, und Dutzende von Händlern mit Zigeunergesichtern und Gaunerblicken bewegten sich feilschend und kaufend zwischen ihnen. Hier war nur eine grobe Schätzung des Betrages der Verkäufe möglich.
Zu jener Zeit dachte ich nicht weiter über diese neue Erfahrung, die ich gemacht hatte, nach; ich freute mich nur über das Gelingen meines Unternehmens. Aber der gediegene Menschenverstand und gesunde Sinn der russischen Bauern, die mir in diesen Tagen entgegentraten, machten einen bleibenden Eindruck auf mich. Wenn wir in späterer Zeit sozialistische Lehren unter den Bauern zu verbreiten suchten, konnte ich mich nicht genug darüber wundern, daß manche von meinen Freunden, die anscheinend eine weit demokratischere Erziehung als ich gehabt hatten, nicht wußten, wie sie zu den Bauern oder den ländlichen Fabrikarbeitern reden sollten. Sie versuchten, die ›Bauernsprache‹ nachzuahmen, indem sie eine Unmasse sogenannter ›Volksausdrücke‹ zur Anwendung brachten, machten sich aber dadurch nur um so unverständlicher.
Nichts dergleichen ist notwendig, mag man zu Bauern reden oder für sie schreiben. Der großrussische Bauer versteht die Rede eines Gebildeten durchaus, vorausgesetzt, daß sie nicht mit Fremdwörtern gespickt ist. Unverständlich sind für den Bauern nur abstrakte Begriffe, die nicht durch konkrete Beispiele erläutert werden. Aber meine Erfahrung hat mich gelehrt, daß es in der gesamten Welt der sozialen wie der Naturwissenschaften keine allgemeine Wahrheit gibt, die man, vorausgesetzt der Redner hat sie selbst gründlich erfaßt, dem Durchschnittsverstande nicht faßlich machen könnte, wenn man nur einfach spricht und von konkreten Tatsachen ausgeht, und dies gilt für den russischen Bauern so gut wie für die ländliche Bevölkerung aller Kulturstaaten. Der Hauptunterschied zwischen dem Gebildeten und Ungebildeten besteht in dieser Beziehung, scheint mir, darin, daß der letztere nicht imstande ist, einer Kettenreihe von Schlüssen zu folgen. Er versteht den ersten, vielleicht auch noch den zweiten, aber er ermüdet beim dritten, wenn er nicht einsieht, auf welches Ziel es losgeht. Doch wie oft stoßen wir selbst bei Gebildeten auf dieselbe Schwierigkeit!
Eine zweite Wahrnehmung, die ich bei jenem statistischen Versuche machte, aber erst später klar formulierte, wird wohl manchem meiner Leser überraschend vorkommen. Es ist dies der Geist der Gleichheit, der unter der russischen Bauernschaft in hohem Maße entwickelt ist und sich tatsächlich bei den Landleuten überhaupt findet. Wohl zeigt der russische Bauer eine gute Portion knechtischen Gehorsams gegenüber dem Grundherrn und dem Polizisten, wohl beugt er sich unterwürfig vor ihrem Willen, aber er sieht sie nicht als Höherstehende an. Wenn derselbe Grundherr oder Beamte im nächsten Augenblick mit demselben Bauern über Heu oder Viehzucht redet, so wird ihm der letztere erwidern, wie wenn er mit seinesgleichen spräche. Niemals bemerkte ich an einem russischen Bauern die gleichsam zur zweiten Natur gewordene Servilität, mit der ein kleiner Beamter zu seinem hohen Vorgesetzten spricht oder ein Diener zu seinem Herrn. Der Bauer unterwirft sich wohl zu leicht der Macht, aber er liegt nicht vor ihr im Staube.
In jenem Sommer führte ich meine Heimreise in einer ganz neuen Weise aus. Da es noch keine Eisenbahnverbindung zwischen Kaluga und Moskau gab, so ließ ein Mann, Namens Buck, regelmäßig Wagen zwischen den beiden Städten verkehren. Meine Eltern dachten nie daran, sich dieser Fahrgelegenheit zu bedienen, da sie ihre eigenen Pferde und Wagen hatten; als mir aber mein Vater, um meiner Stiefmutter eine doppelte Reise zu ersparen, halb im Scherz die Rückreise in einem Buckschen Wagen vorschlug, nahm ich dies Anerbieten voller Freuden an.
Eine alte, sehr dicke Händlerin und meine Person auf dem Rücksitz und ein Händler oder Handwerker vorn, waren die einzigen Insassen des Wagens. Mir bereitete die Reise viel Vergnügen, vor allem, weil ich zum erstenmal allein reiste (ich war noch nicht sechzehn Jahre alt) und sodann, weil meine bejahrte Begleiterin, die für die drei Reisetage einen mächtigen Korb voll Lebensmittel mitgenommen hatte, mich mit allen möglichen selbstbereiteten Leckerbissen bedachte. Entzückend erschien mir alles, was ich auf der Reise zu sehen bekam. Besonders ein Abend steht mir noch lebhaft vor Augen, wir kamen in ein großes Dorf und hielten vor einem Gasthaus. Die Händlerin bestellte sich einen Samowar, während ich weiter in die Straßen ging und mir alles ansah. Eine kleine, ›weiße Wirtschaft‹, wo es Verköstigung, aber keine geistigen Getränke gab, zog mich an, und ich trat ein. Um kleine, mit weißen Tüchern bedeckte Tische saßen zahlreiche Bauern und ließen sich ihren Tee schmecken. Ich folgte ihrem Beispiel.
Alles war da neu für mich. Es war ein Dorf von ›Kronbauern‹, das heißt, Bauern, die keine Leibeigenen waren und sich, wahrscheinlich infolge der als Hausindustrie betriebenen Leineweberei, einer verhältnismäßigen Wohlhabenheit erfreuten. Langsam und ernst, nur hier und da von Gelächter unterbrochen, ging an den Tischen die Unterhaltung vor sich, und nach den gewöhnlichen ein Gespräch einleitenden Fragen, war ich bald mit einem Dutzend Bauern in einem Meinungsaustausch über die Ernte in unserer Gegend begriffen und mußte auf alle möglichen Fragen Antwort geben. Sie konnten nicht genug von Petersburg hören und vor allem von den Gerüchten, die über die geplante Aufhebung der Leibeigenschaft in Umlauf waren. Ein Gefühl der Einfalt und natürlichen Gleichheit wie des herzlichen Wohlwollens, wie ich es später stets empfunden habe, wenn ich unter Bauern oder in ihren Häusern war, durchdrang mich an jenem Abend. Eigentlich begab sich damals gar nichts Besonderes, so daß ich mich sogar frage, ob dieser Aufenthalt in dem Dorfe überhaupt der Erwähnung wert sei; und doch, der warme Abend in jenem Ort, die kleine Wirtschaft, das Gespräch mit den Bauern und das lebhafte Interesse, das sie für hunderterlei weit außerhalb ihres gewöhnlichen Lebenskreises liegende Dinge zeigten, dies alles ließ mir seitdem eine ärmliche ›weiße Wirtschaft‹ allezeit reizvoller und anziehender erscheinen, als das beste Restaurant in der Welt.
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