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Fünftes Kapitel.

Erinnerungen an den Krimkrieg. – Nikolaus' I. Tod. – Meine geistige Entwicklung. – Literarische Neigungen. – Journalistische Versuche.

 

Auf den Krimkrieg besinne ich mich noch gut. In Moskau ließ er die Leute ziemlich kühl. Natürlich veranstaltete man in jedem Hause Abendkränzchen, wo man sich eifrig mit der Herstellung von Wundfäden und anderem Verbandsstoff beschäftigte, aber es gelangte nicht viel davon zum russischen Heere, da das meiste unterwegs gestohlen und an die feindlichen Heere verkauft wurde. Meine Schwester Helene und andere jungen Damen sangen patriotische Lieder, aber im allgemeinen wurde das gesellschaftliche Leben nur wenig von dem gewaltigen Ringen, das im Süden vor sich ging, berührt. Dagegen schwebte über dem Lande infolge des Krieges ein düsterer Schatten. Die Rekrutenaushebungen folgten einander in schneller Folge, und beständig hörten wir die Bauernfrauen ihre Leichengesänge anstimmen. Das russische Volk betrachtet einen Krieg als ein von der Vorsehung ihm auferlegtes Unglück, und es nahm diesen Krieg hin mit einer weihevollen, ernsten Stimmung, die seltsam von der Leichtherzigkeit abstach, die ich anderswo unter ähnlichen Umständen bemerken konnte. Trotz meiner Jugend entging mir doch das Gefühl weihevoller Ergebung, das in unsern Dörfern herrschte, nicht.

Wie viele andere, wurde mein Bruder Nikolaus vom Kriegsfieber ergriffen, und noch ehe er seinen Kursus im Kadettenkorps vollendet hatte, schloß er sich der Armee im Kaukasus an. Ich habe ihn seitdem nicht wieder gesehen.

Im Herbste des Jahres 1854 vergrößerte sich der Kreis unserer Hausgenossen durch die Ankunft zweier Schwestern unserer Stiefmutter. Sie hatten ein eigenes Haus und ein paar Weinberge bei Sebastopol gehabt, waren aber nun ohne Heim und wurden in unsere Familie aufgenommen. Als die Verbündeten auf der Krim landeten, wurde den Einwohnern von Sebastopol erklärt, sie hätten nichts zu fürchten und sollten ruhig bleiben, wo sie wären. Aber nach der Niederlage an der Alma mußten sie Hals über Kopf ihr Anwesen im Stiche lassen, da die Blockade der Stadt binnen kurzer Zeit erwartet wurde. Es herrschte großer Mangel an Beförderungsmitteln, und auf den Straßen, die von den südwärts marschierenden Truppen eingenommen wurden, konnte man unmöglich vorwärts kommen. Einen Wagen zu mieten, war fast unmöglich, und die beiden Damen, die ihre ganze Habe hatten auf der Straße im Stich lassen müssen, litten bittere Not, ehe sie Moskau erreichten.

Mit der jüngeren der beiden Schwestern war ich bald gut Freund, es war eine etwa dreißigjährige Dame, die eine Zigarette nach der andern rauchte und mir oft und gern von allen Schrecken ihrer Reise erzählte. Mit Tränen in den Augen sprach sie von den schönen Kriegsschiffen, die man am Hafeneingang von Sebastopol versenkt hatte, und sie begriff nicht, wie die Russen Sebastopol von der Landseite verteidigen könnten, da es an allen Schutzwerken fehlte.

 

Ich stand im dreizehnten Lebensjahre, als Nikolaus I. starb. Es war am Spätnachmittage des 18. Februar (2. März) 1855, als Polizisten in allen Häusern Moskaus ein Bulletin verteilten, das die Erkrankung des Zaren meldete und die Einwohner aufforderte, in den Kirchen für seine Genesung zu beten. Zu dieser Zeit war er aber schon tot, und die Behörden wußten es, da Moskau bereits mit Petersburg durch den Draht verbunden war. Weil aber vorher nicht ein Wort von seiner Erkrankung verlautet hatte, so glaubte man, das Volk erst nach und nach auf die Ankündigung seines Todes vorbereiten zu müssen. Wir gingen allesamt zur Kirche, um für den Zaren zu beten.

Am nächsten Tage, einem Samstag, wiederholte sich derselbe Vorgang, und sogar noch am Sonntag ließ man morgens Bulletins über den Gesundheitszustand des Zaren ausgeben. Die Nachricht von Nikolaus' Tode wurde uns erst am Mittag von einigen Dienern zugebracht, die auf dem Markt gewesen waren. Ein wahrer Schrecken bemächtigte sich bei dieser Kunde unseres Hauses, wie der Häuser unserer Verwandten. Es hieß, die Leute auf dem Markte zeigten ein sonderbares Benehmen und führten, statt den Tod des Herrschers zu beklagen, aufrührerische Reden. Die Erwachsenen sprachen leise miteinander, und unsere Stiefmutter wiederholte immer wieder: »Redet nicht vor den Leuten!« während die Diener untereinander flüsterten, wahrscheinlich von der kommenden Freiheit. Der Adel erwartete jeden Augenblick eine Empörung der Leibeigenen, eine Wiederholung des Pugatschowschen Aufstandes.

Dagegen geschah es in Petersburg, daß Leute der gebildeten Klassen, die einander die Nachricht mitteilten, auf offener Straße einander in die Arme fielen. Jeder fühlte, daß der Krieg und die schrecklichen Zustände, die unter dem ›eisernen Despoten‹ geherrscht hatten, bald zu Ende seien. Man munkelte von Gift, besonders da der Körper des Zaren auffallend schnell der Auflösung verfiel, aber die Kenntnis der wahren Ursache sickerte nach und nach durch: Nikolaus hatte eine übermäßige Dosis eines stärkenden Arzneimittels genommen.

Im Lande verfolgte man im Sommer 1855 das heldenhafte Ringen, das in Sebastopol um jeden Fußbreit Landes und jedes Stückchen der zerstörten Bollwerke vor sich ging, mit ernsthafter Spannung. Zweimal wurde wöchentlich ein reitender Bote von unserm Landhause zur Bezirksstadt nach Zeitungen geschickt, und wenn er zurückkam, wurden ihm die Blätter, noch ehe er abgestiegen war, aus der Hand genommen und durchflogen. Helene oder ich lasen sie den andern Familienmitgliedern laut vor, und die Nachrichten fanden dann sofort ihren Weg zu den Dienerstuben, von dort in die Küche, ins Amtszimmer, zum Popenhaus und zu den Bauernhäusern. Die Berichte über die letzten Tage von Sebastopol, über das fürchterliche Bombardement und über die schließliche Räumung der Stadt durch unsere Truppen wurden mit Tränen aufgenommen. In jedem Hause weit und breit beklagte man den Verlust Sebastopols mit ebensolcher Bekümmernis, wie das Hinscheiden eines nahen Verwandten, obgleich jeder einsah, daß der schreckliche Krieg nun bald sein Ende finden würde.

 

Im August 1857, als ich fast fünfzehn Jahre alt war, kam endlich auch an mich die Reihe, ins Pagenkorps einzutreten, und man brachte mich nach Petersburg. Als ich das Vaterhaus verließ, war ich noch ein Kind, aber der Charakter des Menschen ist gewöhnlich zu einer früheren Lebenszeit in bestimmter Richtung festgelegt, als man allgemein annimmt, und ich hege keinen Zweifel, daß damals unter meinem kindlichen Äußeren schon viel von dem verborgen lag, was ich später sein sollte. Mein Geschmack, meine Neigungen standen bereits fest.

Der erste Anstoß zu meiner weiteren intellektuellen Entwicklung ging, wie gesagt, von meinem russischen Lehrer aus. Es ist eine vorzügliche, leider neuerdings immer weniger geübte Sitte, daß russische Familien im Hause einen Studenten haben, der den Knaben und Mädchen bei ihren Aufgaben hilft, auch wenn sie das Gymnasium besuchen. Zum Zwecke einer bessern Aneignung dessen, was sie in der Schule lernen, und einer Erweiterung ihres den Lernstoff betreffenden Vorstellungskreises ist die Hilfe ganz unschätzbar. Außerdem kommt mit dem Studenten ein intellektuelles Element in die Familie, und er wird für seine Schüler gewissermaßen ein älterer Bruder, oft sogar etwas noch wertvolleres, weil er zugleich eine gewisse Verantwortung für den Fortschritt seiner Schüler übernimmt. Da überdies die Lehrmethoden schnell wechseln und schwerlich eine Generation überdauern, so vermag er seinen Schülern einen weit besseren Beistand zu gewähren, als selbst die höchstgebildeten Eltern.

Nikolai Pawlowitsch Smirnow hatte eine Vorliebe für die Literatur. In jener Zeit, wo unter Nikolaus I. eine ganz unglaubliche willkürliche Zensur ausgeübt wurde, durften viele völlig unanstößige Werke unserer besten Schriftsteller nicht veröffentlicht werden, andre verstümmelte man so, daß sie teilweise ganz unverständlich wurden. In Gribojedows genialem Lustspiel ›Unglück durch Intelligenz‹, das Molières besten Stücken an die Seite gestellt werden kann, mußte statt ›Oberst Skalosub‹ das sinnstörende und auch in das Versmaß nicht passende ›Herr Skalosub‹ gesetzt werden, weil es als eine Beleidigung des ganzen Heeres gegolten hätte, wenn dem Publikum ein Oberst in komischer Darstellung vorgeführt würde. Von einem so harmlosen Buche wie Gogols ›Tote Seelen‹ durfte der zweite Teil nicht erscheinen und der erste nicht wieder aufgelegt werden, obgleich er lange vergriffen war. Zahlreiche Verse von Puschkin, Lermontow, A. K. Tolstoi, Rylejew und anderen Dichtern wurden gestrichen, ganz abgesehen von solchen Versen, die irgendeine politische Anspielung enthielten oder an den herrschenden Zuständen Kritik übten. Alle diese verbotene Ware kam handschriftlich in Umlauf, und N. P. Smirnow pflegte für sich und seine Freunde ganze Bücher von Gogol und Puschkin abzuschreiben, eine Arbeit, bei der ich ihm gelegentlich half. Als echtes Moskauer Kind hegte er auch die höchste Verehrung für diejenigen russischen Schriftsteller, die in Moskau – teilweise im Alten Marschallviertel – wohnten. Mit Ehrerbietung wies er mir das Haus der Gräfin Salias (Eugenie Tour), das nicht weit von unserm lag, während wir das Haus des berühmten Verbannten, Alexander Herzen, nicht ohne ein gewisses weihevolles Gefühl von Verehrung und Trauer anblicken konnten. Gogols Haus war für uns ein Gegenstand größter Hochachtung, und obwohl ich bei seinem Tode (1851) noch nicht neun Jahre alt war und keins von seinen Werken gelesen hatte, steht mir die Trauer, die sein Tod in Moskau hervorrief, noch gut in der Erinnerung. Turgenjew gab diesem Gefühl treffenden Ausdruck in einem Briefe, der ihm seitens Nikolaus' I. einen Verhaftsbefehl und Verweisung auf seine Landgüter zuzog.

Puschkins großer Roman in Versen ›Eugen Onegin‹ machte nur geringen Eindruck auf mich, und auch jetzt noch bewundere ich in dieser Dichtung mehr die großartige Einfachheit und Schönheit des Stiles als den Inhalt. Dagegen beeinflußten mich mächtig Gogols Werke, die ich im Alter von elf oder zwölf Jahren las, und in meinen ersten literarischen Versuchen wollte ich seine humoristische Manier nachahmen. Sagoskins historische Novelle ›Jury Miloslawsky‹ aus der Zeit des großen Aufstandes von 1612, Puschkins ›Die Hauptmannstochter‹, die Pugatschows Empörung schildert, und Dumas' ›Königin Margarete‹ erweckten in mir ein bleibendes Interesse für die Geschichte. Weitere französische Novellen fing ich erst an zu lesen, als Daudet und Zola in den Vordergrund traten. Nekrasow war seit längerer Zeit mein Lieblingsdichter, und ich kannte viele Verse von ihm auswendig.

Nikolai Pawlowitsch Smirnow veranlaßte mich zeitig zum Schreiben, und mit seiner Hilfe verfaßte ich eine lange ›Geschichte eines Groschens‹, für die wir uns alle möglichen Charaktere ausdachten, in deren Besitz der Groschen kam. Mein Bruder Alexander neigte sich damals mehr der Poesie zu. Er schrieb höchst romantische Geschichten und fing auch zeitig an Verse zu machen, die ihm wunderbar leicht gelangen und dabei wohlklingend und gefällig waren. Hätte er sich nicht nachher mehr zur Naturgeschichte und zu philosophischen Studien hingezogen gefühlt, so würde er zweifellos ein bedeutender Dichter geworden sein. In jenen Jahren war sein Lieblingsplatz, wenn er sich der poetischen Inspiration überlassen wollte, ein leicht geneigtes Dach unter unserm Fenster. Dadurch wurde beständig meine Necklust rege. »Seht, da sitzt der Poet unterm Schornstein und sucht nach Versen,« sagte ich wohl, und das Necken endete mit einer wilden Rauferei, die unsere Schwester Helene zur Verzweiflung brachte. Aber Alexander war so wenig rachsüchtig, daß bald wieder Friede geschlossen wurde, und die schönste brüderliche Eintracht und Liebe war wieder hergestellt. Bei Knaben, scheint es, gehen Raufen und Liebe Hand in Hand.

Ich hatte mich damals auch schon als Journalist versucht. Bereits im zwölften Jahre gab ich eine tägliche Zeitung heraus. Allerdings stand bei uns das Papier nicht nach Belieben zur Verfügung, und darum erschien mein Blatt nur in halbem Sedezformat. Vor dem Ausbruch des Krimkrieges hielt mein Vater nur die Moskauer Polizeizeitung, ich hatte daher keine große Auswahl von Mustern. Dementsprechend bestand auch mein Blatt aus kurzen Sätzen, in denen die Tagesneuigkeiten mitgeteilt wurden, wie: Gingen in den Wald; N. P. Smirnow schoß zwei Drosseln; und so weiter.

Doch das befriedigte mich nicht lange, und im Jahre 1855 gab ich eine Monatsschrift heraus, die Alexanders Verse, meine Noveletten und allerlei Vermischtes brachte. Der Bestand dieser Monatsschrift war fest begründet, denn sie hatte viele Abonnenten, das heißt den Herausgeber selbst und Smirnow, der regelmäßig den Abonnementspreis von so und so viel Blättern Papier, auch als er nicht mehr in unserm Hause war, entrichtete. Dafür fertigte ich dann für meinen treuen Stammabonnenten sorgsamst eine Abschrift meines Blattes.

Als Smirnow wegging und ein Student der Medizin, N. M. Pawlow, seine Stelle einnahm, fand ich in diesem einen Helfer bei meinen redaktionellen Pflichten. Er erlangte von einem seiner Freunde ein Gedicht für meine Monatsschrift und – was noch viel bedeutender war – die einleitende Vorlesung eines Moskauer Professors für physische Geographie. Selbstverständlich war diese Vorlesung noch niemals gedruckt erschienen, denn Nachdrucke hätten in meiner Monatsschrift nie Aufnahme gefunden.

Daß Alexander meinem Blatte das lebhafteste Interesse zuwandte, brauche ich nicht erst zu sagen, und so wurde es bald im Kadettenkorps rühmlich bekannt. Aber einige junge, ruhmsüchtige Schriftsteller wollten ein Konkurrenzblatt veröffentlichen. Die Sache stand bedenklich: in Gedichten und Novellen konnten wir schon das Feld behaupten, aber sie hatten einen ›Kritiker‹, und ein ›Kritiker‹ der bei Besprechung der Charaktere einer neuen Novelle alles mögliche über die Zustände schreibt und auf tausend Fragen kommt, die sonst unerörtert bleiben würden, ist die Seele einer russischen Monatsschrift. Sie hatten einen Kritiker, und wir hatten keinen! Er schrieb einen Aufsatz für die erste Nummer, und man zeigte meinem Bruder diesen Aufsatz, der ziemlich anspruchsvoll und ziemlich schwach war. Sofort schrieb Alexander eine Gegenkritik, in der er die Kritik äußerst lächerlich machte und geradezu vernichtete. Es herrschte große Bestürzung im feindlichen Lager, als man erfuhr, diese Gegenkritik würde in unserer nächsten Nummer erscheinen; die Gegner entschlossen sich, ihr Blatt eingehen zu lassen, und ihre besten Federn traten in unsern Stab ein, so daß wir im Triumph die künftige ausschließliche Mitarbeiterschaft so vieler ausgezeichneten Schriftsteller ankündigen konnten.

Im August 1857 mußte das Blatt nach fast zweijährigem Bestande aufgegeben werden. Eine andre Umgebung und ein ganz neues Leben erwarteten mich. Mit Bedauern ging ich von Hause fort, und das um so mehr, als die ganze weite Entfernung zwischen Moskau und Petersburg mich hinfort von meinem Bruder Alexander trennen sollte; auch betrachtete ich es bereits als ein Unglück, in eine militärische Anstalt einzutreten.

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