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Siehe Bildunterschrift

Fürst Peter Krapotkin im Jahre 1864

Peter Krapotkin.

Wir behalten die in Deutschland eingebürgerte Schreibweise des Namens Krapotkin bei, obwohl Kropotkin der russischen Aussprache des Namens näher kommen dürfte.

Die Selbstbiographie großer Geister hatte in früheren Zeiten gemeinhin einen dieser drei Typen: So sehr irrte ich vom rechten Weg ab; so wurde ich bekehrt. (St. Augustinus.) So schlecht war ich; wer aber wagte sich besser zu nennen! (Rousseau.) So formte sich langsam von innen heraus und durch die Gunst der Umstände ein Genie. (Goethe.)

Unter allen diesen Formen der Selbstdarstellung ist der Verfasser wesentlich mit sich selbst beschäftigt.

Im jetzigen Jahrhundert pflegt die Selbstbiographie hervorragender Persönlichkeiten sich nach einem der beiden folgenden Muster zu gestalten: So talentvoll und von so einnehmendem Wesen war ich, solche Anerkennung und Bewunderung fand ich. (Johanne Louise Heiberg.) Oder: So talentvoll und liebenswürdig war ich; so verkannt wurde ich, und so harte Kämpfe hatte ich zu bestehen, ehe ich die Krone der Berühmtheit errang. (H. C. Andersen.)

In diesen zwei Arten der Lebensbeschreibung befaßte der Verfasser sich vornehmlich damit, was seine Mitmenschen von ihm gedacht und gesagt haben.

Der Verfasser der vorliegenden Selbstbiographie ist nicht von dem Gedanken an seine Gaben erfüllt, schildert auch nicht das Ringen nach deren Anerkennung, noch weniger zeigt er sich um das Urteil der Welt bekümmert. Welche Meinung andere von ihm hegten, erwähnt er auch nicht mit einem Worte.

Man begegnet hier keiner Selbstbespieglung. Der Verfasser gehört nicht zu jenen, die gern von sich selbst reden; er tut dies widerstrebend und mit einer gewissen Schamhaftigkeit. Man findet hier keine den Schleier lüftende Beichte, keine Empfindsamkeit und keinen Cynismus. Krapotkin verweilt weder bei seinen Lastern, noch bei seinen Tugenden; er läßt sich auf keinerlei vulgäre Vertraulichkeit dem Leser gegenüber ein. Er teilt uns nicht mit, wann er verliebt gewesen ist, und berührt sein Verhältnis zu dem anderen Geschlechte so wenig, daß er nicht einmal seiner Vermählung gedenkt, und wir nur zufällig aus einer flüchtig hingeworfenen Bemerkung erfahren, daß er verheiratet ist. Daß er Vater (und ein äußerst zärtlicher) ist, findet er nur gerade Gelegenheit in all der Kürze zu berühren, mit der er die letzten sechzehn Jahre seines Lebens zusammenfaßt.

Er ist eifriger bestrebt, eine Seelenschilderung seiner Zeit, als seiner selbst zu geben. Man findet in seinem Buche eine Psychologie des offiziellen Rußland, wie des ausgebeuteten Rußland, des arbeitenden Rußland, wie des erstarrten Rußland.

Ebenso ist er sorgsamer bedacht, die Geschichte seiner Zeit wiederzugeben, als seine eigene. Seine Biographie enthält die Geschichte Rußlands, wie er sie von Kindesbeinen an mit erlebte, und die der europäischen Arbeiterbewegung innerhalb der letzten Hälfte des Jahrhunderts. Wenn er sich in seine innere Welt vertieft, sehen wir die äußere sich darin spiegeln.

Doch bietet sich uns auch hier eine Darstellung des Werdeprozesses eines bedeutenden Geistes, und die Darstellung einer inneren Wandlung, die dem entspricht, was man von alters her eine Bekehrung nannte. Ja, diese Wandlung bildet den Wendepunkt, den Kern des Buches.

Es gibt augenblicklich zwei große Männer in Rußland, deren Denken im Dienste des russischen Volkes steht, und deren Gedanken der Menschheit zu gute kommen, Tolstoi und Krapotkin. Der erstere hat uns in dichterischer Form so manche Abschnitte seines Lebens erzählt; der andere gibt hier ohne irgend welche dichterische Umschreibung zum erstenmale eine Uebersicht des seinen.

So durch und durch verschieden diese beiden Männer sind, so läßt sich doch zwischen ihrer Lebensführung und ihren Grundanschauungen eine Parallele ziehen. Tolstoi ist Künstler, Krapotkin Mann der Wissenschaft; doch keiner der beiden vermag zu einem gegebenen Zeitpunkte seines Lebens sein Genüge in dem Berufe zu finden, für welchen die Natur ihn mit so großen Gaben ausgestattet hat. Religiöse Grübeleien treiben Tolstoi, soziale Grübeleien Krapotkin, die abgesteckte Bahn zu verlassen. Menschenliebe erfüllt sie beide; sie begegnen sich in ihrem Abscheu vor der Gleichgültigkeit, Gedankenlosigkeit, Roheit und Grausamkeit der höheren Klassen, wie darin, sich zu dem niedergetretenen und mißhandelten niederen Volke hingezogen zu fühlen. Beide haben mehr Blick für die Feigheit als für die Dummheit in der Welt. Beide sind sie Idealisten, beide geborene Reformatoren, beide friedliche Gemüter, doch Krapotkin der weitaus friedlichere, so sehr auch Tolstoi den Frieden predigen und jene verdammen mag, die zur Selbsthilfe greifen, während Krapotkin deren Vorgehen berechtigt findet und mit Terroristen in freundschaftlichem Verkehre stand. Am meisten unterscheiden sie sich durch ihr beiderseitiges Verhältnis zur Intelligenz und Wissenschaft, welche Tolstoi in seiner religiösen Leidenschaft geringschätzt und herabsetzt, während Krapotkin sie hoch in Ehren hält, ob er es auch nicht billigt, daß der Mann der Wissenschaft über seinem Fach das Volk und dessen Not vergißt.

So mancher Mann, so manche Frau haben ein großes Lebenswerk vollbracht, ohne deshalb ein großes Leben geführt zu haben. Gar manche Persönlichkeit fesselt, obgleich ihr Leben unbedeutend und alltäglich ist – Krapotkins Leben ist sowohl fesselnd als groß.

Man wird in den zwei Bänden, die seinen Lebenslauf umfassen, alle die Elemente finden, aus denen ein bewegtes Leben besteht: Idylle und Tragödie, Drama und Roman.

Da ist vor allem die Schilderung der Kindheit in Moskau und des Lebens auf dem Lande, mit zahlreichen patriarchalischen Bildern von so meisterhafter Ausführung, daß sie kein Herz ungerührt lassen.

Feine Landschaftsgemälde sind eingestreut, die noch allen Duft der russischen Landschaft atmen, Porträts von treuen, guten Dienern, die, wiewohl Leibeigene, der Kinder Freunde und Beschützer sind, und eine Bruderliebe zeichnet sich vor uns ab, von seltener Innigkeit – dies ist die Idylle selbst. Daneben gibt es jedoch leider von Kindheit auf der Kümmernisse und Schrecken die Fülle, Härte in den Familien, die grausamen Abstrafungen der Leibeigenen, die Vereinigung von großer Beschränktheit und großer Herzlosigkeit in ihrem Eingreifen in die Geschicke.

Dramatische Abwechslung, dramatischer Umschwung ist hier vorhanden: Hofleben und Gefängnisleben, ein Leben auf den Höhen der Gesellschaft, mit Kaisern und Großfürsten, ein Leben der Armut unter Proletariern, in London und der Schweiz. Es kommen hier Verkleidungen wie in einem Drama vor. An ein und demselben Tage weilt der Held im Winterpalaste in Hoftracht und hält im Bauernkittel in einer Vorstadt eine Vorlesung zum Zwecke der Verbreitung revolutionärer Ideen.

Und auch die eigentliche Romanstimmung findet sich hier. Wiewohl Krapotkin so schlicht in Ton und Stil wie wenige ist, enthält seine Erzählung, der Natur des Stoffes zufolge, Partien, welche weit spannender sind, als selbst die aufregendsten Kapitel der Feuilletonromane, die in Spannung machen. Was könnte man mit größerer Gemütsbewegung lesen, als die Schilderung der Vorbereitungen zu seiner Flucht aus dem Spitale des Peter-Paul-Gefängnisses und deren kühne, glückliche Ausführung!

Wenige Menschen haben wie Krapotkin sich in allen Schichten der Gesellschaft bewegt und sie alle gekannt. Welche Bilder: Krapotkin, als Kind im Maskenanzuge am Thronsessel des Kaisers Nikolaus, als Page hinter Alexander II. herlaufend, um ihn gegen Gefahren zu schützen – nachher im Gefängnis kalt abweisend gegenüber dem Großfürsten Nikolaus oder mit Grauen, von dem wüsten Lärm einer unterirdischen Prügelscene an, erlauschend, wie der Gefangene in der Zelle unter ihm Tag für Tag mehr die Herrschaft über seinen Verstand verliert! Er war kaiserlicher Kammerpage und ein armer Skribent, er hat das Leben des Studenten, des Offiziers, des Mannes der Wissenschaft, des Entdeckungsreisenden, des Administrators, des Gefangenen und des verbannten Agitators geführt. Er hat als Flüchtling zu Zeiten von Tee und Brot leben müssen, wie ein russischer Muschik, und ist der Spionage und dem Mordattentate ausgesetzt gewesen wie ein russischer Kaiser.

Wenige Männer haben überdies ein so weites Gebiet überschaut. Gleichwie Krapotkin, in seiner Eigenschaft als Geologe, über eine vorhistorische Zeitfolge von Hunderttausenden von Jahren hinblickt, so umfaßt sein Auge die gesamte Kultur des Zeitalters. Zu der literarischen und wissenschaftlichen, in der Studierstube und an Universitäten zu erwerbenden Bildung, den Sprachkenntnissen, der Kenntnis der Schönliteratur, der Philosophie, der höheren Mathematik, gesellte sich frühzeitig eine Bildung, die man in Werkstätten gewinnt, in Laboratorien und auf freiem Felde, das Studium der Naturwissenschaften in allen ihren Verzweigungen, der Kriegswissenschaft und Befestigungskunst, des Maschinenbaues und Fabrikwesens. Nichts, was seine Entwicklung nicht umspannt hätte. Was hat dieser feurige Geist leiden müssen, als er sich zweimal zur Untätigkeit eines mehrjährigen Kerkerlebens verurteilt sah! Welche Geduldsprobe und welche Schulung im Stoicismus! Krapotkin bemerkt irgendwo, daß die sittlich entwickelte Individualität die Grundlage jeder Organisation sein müsse. Das paßt auf ihn selbst, er ist von seinem Schicksale zu einem Eckstein für den Bau der Zukunft zubehauen worden.

In Krapotkins Leben ist eine zweifache Wandlung vor sich gegangen, die mir besondere Aufmerksamkeit zu verdienen scheint.

An der Schwelle der Dreißig, in der Regel das entscheidende Alter im Leben des Mannes, ist er von ganzer Seele Mann der Wissenschaft und macht eine große wissenschaftliche Entdeckung. Er hat beobachtet, daß die Karten von Nordasien unrichtig seien, daß nicht nur die alte Auffassung der Geographie eine irrige sei, sondern daß auch die Anschauungsweise von Alexander von Humboldt im Widerstreit mit den Tatsachen stehe. Mehr als zwei Jahre schon ist er in mühselige Studien vertieft; da sieht er eines schönen Tages die Verhältnisse plötzlich vor sich, wie sie sind, wie sie noch niemand vor ihm gesehen hatte, sieht, daß die Hauptlinien in der Struktur Asiens nicht von Nord nach Süd oder von West nach Ost, sondern von Nordost nach Südwest gehen. Er stellt seine Entdeckung auf die Probe, wendet sie auf hundert und aber hundert besondere Einzelheiten an, und siehe da, sie hält Stich. Er kostet die Freude der Erkenntnis in ihrer höchsten, reinsten Form, wie sie beseligend das Gemüt erfüllt.

Da aber vollzieht sich der Umschlag. Denn es folgt unmittelbar die Trauer bei ihm, daß die Freude so wenigen Menschen beschieden ist. Er fragt sich, ob er das Recht habe, sie allein zu genießen. Es dünkt ihm eine höhere Pflicht, zur Ausbreitung der bereits vorhandenen Errungenschaften der Forschung unter dem niederen Volke beizutragen, als neue Entdeckungen zu machen.

Ich für meinen Teil sehe die Sache mit anderen Augen an als er. Würde Pasteur von Krapotkins Anschauungen ausgegangen sein, er wäre der Wohltäter der Menschheit nicht geworden, der er war. Ich meine, die hervorragende Persönlichkeit diene allen am wirksamsten, wenn sie nur so intensiv schafft, als sie vermag. Alles kommt schließlich doch der großen Masse der Bevölkerung zu gute. Allein seine Denkart kennzeichnet Krapotkin, in ihr drückt sich sein Wesen aus.

Und der Gedanke kommt nicht mehr in ihm zur Ruhe. In Finnland, wo er auf dem Sprunge steht, neue wissenschaftliche Entdeckungen zu machen, wo ihm die Erkenntnis – die dazumal eine Ketzerei war – aufgeht, daß und in welcher Art in vorhistorischer Zeit Nordeuropa von Eis bedeckt war, ergreift ihn solches Mitleid mit dem Elend und dem Kampf ums Brot rings um ihn her, daß er es als seine höchste, unbedingte Pflicht empfindet, der Lehrer und Helfer der Armen und Verwahrlosten zu werden. Und eine neue Welt tut sich ihm auf, indem er von denen lernt, die er belehren will. Fünf, sechs Jahre später tritt in der Schweiz das zweite Stadium seiner Wandlung ein.

Schon weit früher, während Krapotkins ersten Schweizer Aufenthaltes, hatte er sich von der Gruppe der Staatssozialisten entfernt, aus Furcht vor ökonomischer Despotie, aus Haß gegen Zentralisation, aus Liebe zur Freiheit des einzelnen und der Kommune. Doch erst nach seiner langen Haft in Rußland, während seines zweiten Aufenthaltes unter hochbegabten Arbeitern der westlichen Schweiz, zeichnete sich ihm der neue Gesellschaftszustand, der ihm vorschwebte, bestimmter als ein Gemeinwesen von verbündeten Associationen ab, in der Weise zusammenwirkend, wie sich heutigen Tages die Eisenbahngesellschaften und das Postwesen der verschiedenen Länder ohne zentrale Regierung in die Hände arbeiten.

Von da ab ist seine Grundanschauung in allem Wesentlichen dieselbe geblieben. Er weiß, daß er der Zukunft ihre Bahn nicht vorzeichnen könne, ist der Meinung, daß alles der eigenen aufbauenden und ausgestaltenden Tätigkeit der Massen entspringen müsse, und zieht zu besserem Verständnisse Rechtsformen des Mittelalters, die Innungen, die von untenher geschaffen wurden, zum Vergleiche heran. In seinen Augen besteht – worin ich entschieden anderer Ansicht bin – der Gegensatz von Leitenden und Geleiteten nicht, dennoch bezeichnet er einen seiner Freunde rühmend als ›den geborenen Führer‹.

Krapotkin nennt sich selbst einen Revolutionär. Selten ist unstreitig ein Revolutionär so human gewesen und – seines Widerwillens gegen das Bürgertum ungeachtet – so mild. Man stutzt, ihn einmal an einer Stelle, wo er eines drohenden Zusammenstoßes mit der Schweizer Polizei erwähnt, sich eines kriegerischen Instinkts zeihen zu hören, indem er erklärt, nicht bestimmt sagen zu können, ob er mit einem Gefühl der Erleichterung oder der Enttäuschung den Kampf vermieden sah. Solch eine Aeußerung ist bei ihm etwas Unerhörtes. Er war nie ein Rächer, oft ein Märtyrer; er hat nie anderen, stets nur sich selbst Opfer auferlegt. Sein ganzes Leben hindurch hat er Opfer gebracht, doch solcherweise, daß man meinen sollte, sie wären ihm gar nicht schwer gefallen, so wenig Aufhebens macht er davon. Er ist bei all seiner Strenge so wenig rachsüchtig, daß er jemand, den er am schärfsten verurteilt, einen Gefängnisarzt, dessen Namen er verschweigt, einzig mit den Worten brandmarkt: »Je weniger man von ihm sagt, je besser«.

Er ist ein Revolutionär ohne Pathos und ohne Embleme, der alles theatralische Zubehör der Revolution wie Schwüre und Zeremonien und Verschwörungen verlacht. Er braucht den Vergleich mit keinem Freiheitsmanne dieses Jahrhunderts, welchen Landes immer, zu scheuen. Keiner besaß höhere Geistesgaben, keiner tat es ihm an Uneigennützigkeit zuvor.

Kopenhagen.
Georg Brandes

 


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