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Bis zum Imkerplatz halten der Wald und sein Schweigen einen gemächlich Schlendernden volle zwei Stunden fest. Der Weg windet sich, man weiß nicht recht, warum. Die Sonnenschlaglichter versprechen tausend Wunder, sie verbürgen sich für die Wahrheit unserer liebsten Kindermärchen, und mit jeder Biegung erwarten wir das aus Pfannkuchen und Zucker gebaute Hexenhaus. Es kommt aber nicht. Der gute deutsche Wald zeigt nicht alles, was er birgt.
Hundegebell? Ja, Hundegebell! Auch leuchtet es weiß durch die Stämme. Ist es die Ewigkeit? Ein uferloses Meer? Es ist nicht die Ewigkeit und auch kein uferloses Meer, es ist der Horizont, der auf der Heide ruht. Von der Erdkrümmung her läuft die Rosenflucht der blühenden Erika. Wenn man den Hügel des Hünengrabes hinaufsteigt, sieht man am Rande blaue Höhen und blaue Dörfer.
Groß ist die Heide, größer und tiefer aber der Himmel, der sie umspannt. Weiße, marmorne Wolken stehen in blauer Luft. Und trotzig dräuen ihre Häupter. Die Andacht quillt empor, das Atmen wird leicht, leichter selbst die Schuld.
Am Waldausgang, zweihundert Schritt zur rechten Hand von der Wegstrecke (die windet sich müde und schlangenweich durch die Ebene), immer im Tropfenfall der Bäume – da ist der Bienenplatz, da ist auch die Bretterhütte des Wächters.
Hans Nottelbohm ist angestellter Bienenhüter der vereinigten Imker. Um die ›Austzeit‹, wenn die Heide blüht, zieht er mit seinen Völkern hinaus und stellt sein Bienendorf in langen Halbdächern, zwei Etagen übereinander, auf. Die verklebten Eingänge werden geöffnet, das rote Feld lockt die fleißigen, summenden Leute; wenn die Sonnentage kommen, hängen sie in lebenden Trauben an den Stengeln des Heidekrauts.
Sechs Wochen lang rauschen die Eichen über Hans Nottelbohms Haus, das Geschrei der Häher ist ihm vertraut, eine satte Sonne lockert der Eichel Schalen, und die Bäume stehen still und stumm. Aber nachts, da rufen über Nottelbohms Haupt des Waldes freie, heimliche Räuber.
Es war um das Jahr, als man mit der neuen Landesvermessung, von der schon so lange gesprochen worden war, wirklich Ernst machte, und der junge Landmesser im Dorf erschien.
Hans Nottelbohm bog gerade an der Spitze eines langen Zugs mit seinen Bienenwagen in den Wald hinein, die Heide abzuhüten, als der junge, städtische Mann, der für das Dorf eine Art aufgehende Sonne werden sollte, im Omnibus vor das Wirtshaus rollte. Hans Nottelbohm sah nur noch den weißen Hut und beachtete auch den nicht sonderlich.
Er fuhr in den Wald hinein nach dem Imkerplatz zu. Hinter ihm versank die Welt, für die Welt versank Hans Nottelbohm. Die durch die Heide führende Straße wurde selten begangen, wochenlang sah der Imker keinen Menschen.
Aber eines Tages, Hans war just dabei, den Bienen Vesper zu geben, schlug Karo, des Bienenwächters Hund, an, und eine menschliche Stimme rief ins fliegende Bienenvolk hinein: »He, Hans!« Und aus einer Ecke, wo es am schlimmsten summte, antwortete es: »Hier, wokeen is dor?«
Hans Nottelbohm kroch hervor und nahm seine Bienenmaske gemächlich ab – ein kleiner, ganz in Einsamkeit und ganz in Bart und Haar vergrabener Mann. Er begrüßte einen größer gewachsenen, ältlichen Bauern, seinen Nachbarn Sievert Pahl. Sievert hatte eine Reise nach den auf der anderen Seite der großen Flußniederung belegenen Dörfern vor und wollte bei Hans Nottelbohm nicht vorbeigehen.
Sie plauderten.
Beim Abschied sagte Sievert: »Hans, nimm nix för ungod! Awer ik dach, ik wull seggn ... De Landmeter is dor ... du weets ...«
Hans Nottelbohm entsann sich.
»Hans, nimm din Deern in acht! De Stadtjung is achter ehr her.«
Hans Nottelbohm machte ein aufhorchendes Gesicht. »Achter Gretjen?« fragte er.
»As ik segg, he geit mit ehr to Danz un bringt se to Hus.«
Einen Augenblick dachte Hans Nottelbohm nach, dann erwiderte er: »Schast Dank hebbn, Sievert, dat du mi seggst. Hett awer wull nix to seggn, Gretjen is to vernünfti. Awer ik will mit ehr snacken.«
Sievert Pahl ging, Hans stand eine Weile, sah ihm nach, dachte aber an seine Tochter ...
Seine Grete war nicht wie die andern Dorfmädchen. Sie war nicht allein ein hübsches, sondern auch ein feines Mädchen. Die Feinheit war dem Alten einerseits recht, nach einer anderen Seite wieder nicht recht. Grete hatte zu lange mit Pastors Töchtern Umgang gehabt. Wenn man das nicht durchhalten kann, dann tut es nicht gut. Die Mädchen nehmen feine Ideen an, setzten sich was in den Kopf, womit man im Dorf nicht durchkommt. Als nun der Pastor mit seinen Töchtern wegzog und der neue kam, ein alter unzugänglicher Mann, als nun auch die Mutter starb und Grete in die alte Rauchkate zurückkehrte, ihm den Hausstand zu führen, da war es mit der Feinheit zu Ende. Da mag dem Gretchen zumute gewesen sein wie der Prinzeß, die Gänse hüten mußte.
Alle Woche spannte Grete ihren Schorrkopp, (›Schorrkopp‹ hieß das Pferdchen), spannte Grete also an, lud ihre Körbe auf und brachte dem Vater Lebensmittel.
»Grete«, sagte ihr Vater, »is dat wahr, bat de Landmeter di nalöppt?«
Grete wurde in ihrem seinen Gesichtchen bis in die Haarwurzeln rot: »Vadder, he brukt mi ni natolopen, ik gah mit em.«
Hans Nottelbohm aß Speck und Brot, er hob die Hand und drohte mit dem Messer. »Deern, Deern!«
Aber die Tochter streichelte den Alten. »Vadder, Franz meent dat ehrli«.
»He meent dat ehrli?« fuhr Hans Nottelbohm auf. »Wat is dat förn Snack? Wat schall dat heeten? Is 't all so wied? Hebbt ji ju wat toseggt?«
»Ja, Vadder«, erwiderte die Blonde und sah fest drein. »Ja, Vadder, wi hebbt uns verspraken. Wenn du nix dorweller hest. Ik kenn sonst keen, den ik müch.«
»Deern, Deern«, drohte der Alte wieder. »Un ik weet nix dorvon?«
»Ik wull jüst vundag' seggn«, entgegnete die Tochter. »Un Franz kommt ok un will di besöken.«
Hans Nottelbohm schwieg und aß schweigend weiter: »Gretjen«, sagte er auf einmal, »wat schall denn ut mi warrn?«
»Di nehmt wi mit na Stadt.«
»Dor ward nix ut, ik bliev hier. Un för Stadtlüd bün ik ni.«
»O Vadder, du schust Franz man kenn! Dor is keen Falsch in. Segg ni nä! Du büst jo min witte Vadder!«
»Mut sik finn. Kind. Wenn he blot ehrli is!«
Der Alte war nicht frei, nicht unbefangen, seine Bedenken wogen nicht schwer. Mit seiner Heimaterde war er freilich eng verwachsen, aber einen Menschen, der hochdeutsch sprach, der reine, weißsteife Wäsche trug, der sich zu bewegen und zu bücken wußte, der schön tun konnte, den hielt er doch für etwas Besseres als sich selbst. Halb mißbilligte er Gretes hohen Sinn, halb war er eitel darauf.
Franz, der königliche Regierungsbaumeister, wollte also den Alten in seiner Einsamkeit besuchen, seine Bekanntschaft machen und das Jawort erbitten. Aber es hat niemals passen wollen, er ist niemals auf dem Imkerplatz erschienen.
Grete brachte bei der nächsten Reise seine Photographie mit, die den langen Menschen in selbstbewußter Haltung darstellte. Hans Nottelbohm besah sie. »Watt hett he för Haar, Gretjen?«
Grete wurde rot, dachte nach und sagte: »Gele, Vadder!«
»So? Gel, ni rot? Wenn ik dat Bild anseh, mutt ik ümmer denken, de Kerl is 'n Rotkopp. Nu, dat weer jo jüst keen Unglück. Wenn dat Oog blots god is.«
»Dat Oog is god, Vadder!«
Grete Nottelbohm saß in all ihrer Lieblichkeit, jung, blond, mit weichen, freundlichen Zügen, in all ihrer Gutherzigkeit saß sie vor ihrem Vater.
»Ja,Gretjen! Du kennst jo Franz, du mutts sülwen weeten.«
In der Holzhütte war ein Tisch, da waren zwei Stühle und ein Kasten. Die einem Bienenwächter nötigen Geräte hingen an den Wänden, auch ein Gewehr.
Hans Nottelbohm und seine Tochter sahen durch die von rotem Schimmer überzogene Heide.
Der Alte faßte die Hand seiner Tochter. »Awer Gretjen, dat segg ik di: wenn ik di verleer, un he is schuld an, denn scheet ik em dod!«
»A, dat hett nix to seggn«, erwiderte die Blonde und lachte.
Als der Bienenwächter mit seinem Volk ins Dorf zurückkehrte, wurde er von seinem Verein, bei dem er angestellt war, auf Reisen geschickt. Es waren Tochtervereine zu errichten und die ersten praktischen Einrichtungen zu treffen, dazu sollte Hans Nottelbohms Erfahrung verwertet werden. Das dauerte bis tief in den Herbst.
Und als schließlich auch das vorbei war, da fand er zu Hause eine stille Grete und keinen Franz. Franz hatte Urlaub erhalten. Franz kam auch den ganzen Winter nicht wieder; denn inzwischen war Frostwetter eingetreten, und Schnee in solchen Mengen gefallen, daß im Freien Vermessungsarbeiten überhaupt nicht vorgenommen werden konnten.
Es ging gegen Weihnachten, als Grete sich ihrem Vater offenbarte ... ihren Kummer, ihre Schande, ihre Zweifel an Franzens Ehrlichkeit, das Ausbleiben von Briefen.
Wir können nicht berichten, daß der Alte außer sich geriet. Er hatte niemals rechtes Vertrauen zu der Sache gehabt. Und das andere, das mit der ›Schande‹, kam ihm auch nicht unvermutet. Das war ja leider bei vielen jungen Mädchen des Dorfes, hauptsächlich freilich bei denen, die den Bauern dienten, ebenso. Meistens wurde das Veranlassung zur Heirat; vielfach kam es ja aber auch vor, daß die Burschen nicht wollten, dann ›handelten‹ sie entweder ›ab‹ oder ließen sich verklagen. Fast auf jedem Hof diente ein Mädchen, das eines oder mehrere Kinder seinen Eltern zur Versorgung anvertraut hatte.
»Ja, Gretjen«, sagte er ruhig, »wenn de Umstänn so mit di sünd, un wenn he trügg kruppt, denn mutt he di gerecht warrn.«
Für Hans war es ein Fall mehr, daß eine Tochter mit einem ›Brüdigam‹ zu tun hatte. Das hatten ihm so viele Freunde geklagt, das hatten so viele Väter erlebt, nun konnte er ja auch mal klagen und was an seiner Tochter erleben. Daß Grete ihn entsetzt ansah, merkte Hans Nottelbohm nicht.
»Geld ward he hebbn«, fuhr er fort, »un sinn ward wi em ok. Gerichte un Afkaten gift oewerall ... Eerst natürli in Goden. Awer wenn't ni anners is, denn mutt bat den Gang Rechtens gahn.«
Da schrie Grete laut auf. »Vadder«, rief sie, »wat snackst du? Gerichte? Geld?«
»Ja, Geld, Gretjen, un ni to weni.«
»O Vadder, ehr ik dat do, un ehr dat passeert, wenn Franz mi ni ehrli makt, denn gah ik inn Moelndiek!«
Hans Nottelbohm erschrak nicht, er blieb ganz ruhig, er griente sogar ein bißchen. »Ja, Gretjen, wenn du so wat denkst, denn is jo man god, dat de Diek tofrarn is.«
Hans Nottelbohm hielt die Redensart mit dem Mühlenteich für ein Gehabe, für ein Man-so-tun, wie Frauen und Mädchen zuweilen zeigen, ohne es ernsthaft zu meinen. Seine Absicht war gut, er wollte die tragische Wendung des Gesprächs zum bessern kehren. Aber er kannte seiner Tochter Seele doch nicht recht. Grete fühlte sich jetzt auch von ihrem Vater verlassen, es wankte alles bei ihr.
Auf den Steinen lag sie in ihrer Kammer; sie hatte dem Manne, den sie liebte, ihre Reinheit geschenkt, weil er es als Beweis ihrer Liebe gefordert hatte. Aber das, was ihr jetzt drohte, so anzusehen, wie ihr Vater es tat, davon war sie weit entfernt. Die Gerichte anrufen, für ihre Schande und für ihre Not, für ihren Schmerz und für ihre Sorgen schnödes Geld fordern, das war für sie schlimmer als alles, schlimmer als der Tod.
Kurz vor dem Christfest liefen von dem Regierungsbaumeister ein Absagebrief, ein Gedicht und hundert Mark ein. Das Gedicht fing an:
Dein liebes Auge sieht mich an
als ob ich feig und treulos war.
Und lieb dich doch so tief,
und lieb dich doch so sehr...
Die hundert Mark sollten nur der Anfang seiner Spende sein. Denn es sei selbstverständlich, daß er ihre und ihres Kindes Versorgung übernehme, so viel immer in seinen Kräften stehe.
Der Brief war ein schöner Brief, voller Liebesbeteuerungen für Grete, voller Anklagen gegen den Schreiber und voller Lossprechungen seiner Person von einer mehr als sachlichen Schuld. Die Tragik lag nach seiner Ansicht in den Verhältnissen. Man las aus dem Brief ordentlich das Parlamentieren heraus, das bei dem Schreiber stattgefunden hatte: die Gewissenspein, die Skrupel, die vorweg über den Wortbruch gefühlte Reue, aber auch die Ermahnungen, die die Beamtenseele an sein Herz gerichtet hatte.
›Du bist doch Regierungsbaumeister‹, hatte diese Seele gesagt; ›du kannst doch kein Bauernmädchen heiraten, dir deine Laufbahn versperren. Wer weiß, was dir beschieden ist? Vielleicht stehst du noch mal da, wo jetzt dein Minister steht. Übrigens kannst du mit dem bißchen Gehalt keine Frau ernähren. – Grete ist aus einfachen Verhältnissen, sie kann dich unmöglich bei einem Wort halten wollen, das unter Umständen gegeben worden ist, wo man immer übertreibt. Grete ist einfacher Leute Kind und so vernünftig, sie wird das selbst einsehen, Grete wird sich finden, sie wird sich finden. – Ich schreibe ihr alles. Ich kann hübsch dichten, ich füge ein kleines Gedichtchen bei, eines, das zu Herzen geht. Ich unterstütze sie soviel, wie ich kann, hundert Mark füge ich gleich bei. Grete wird mir vergeben. Der Alte, na, der wunderliche Bienenwächter, der Kauz, den ich niemals gesehen habe, der wird nach allem, was ich über ihn höre, zufrieden sein, wenn er den Blauen sieht. Wo gäbe es wohl einen Bauern, der blauen Scheinen widerstünde?‹
Als Grete Brief und Gedicht gelesen und den Hundertmarkschein gesehen (man hat die Fetzen der Banknote am Fußboden ihrer Kammer gefunden), da war ihr klar: nun ist alles aus. ›Ich weiß eine warme Quelle, eine offene Stelle im Mühlenteich. Die wird Erbarmen haben.‹
Bei kalter, dunkler Nacht ist die schöne, die feine, die vergrämte und verzweifelte Grete Nottelbohm aus ihrem Kammerfenster gestiegen und nach dem Mühlenteich gegangen. Es muß gleich nach elf Uhr gewesen sein; die Hunde der Höfe, woran der Weg vorbeiführt, die von Jochen Bock und Jürn Vollert haben angeschlagen.
Einen an ihren Vater Hans Nottelbohm gerichteten Zettel hat man in ihrer Kammer gefunden:
»Mein lieber Vater! An Ferdinands Kaltenbachs Wiese werdet ihr mich finden. Für Franz habe ich weder Fluch noch Segen. Aber für dich, lieber Vater, lasse ich all die Liebe, die ich ihm geschenkt habe, zurück. Ich betrübe dich. Vergib mir, trage es, ich habe auch getragen! Es ist so besser. Gott wird mir vergeben, das weiß ich.«
»Das kommt von dem feinen Umgang«, sagten die Weiber im Dorf. »Wie vielmal ist das nicht sonst jungen Mädchen passiert. Die haben erst auch gemeint, nun sei alles aus, und haben sich doch wieder zurechtgefunden. Aber so ein feines, junges Ding, anstatt Gott und dem Heiland ihre Wege zu befehlen, versucht den Höchsten und tut was, das sie vor ihm, vor sich und vor den Angehörigen nicht verantworten kann.«
Es mußte wohl so kommen, wie es gekommen ist. Der lange Mensch mit den langen Stiefeln und der langen Meßrute, der sollte die kleine, feine, blonde Blüte unter all den Bauernrosen schon herausfinden.
Hans Nottelbohm trug den Verlust ruhig und tränenlos. Die Bestattung und was damit zusammenhing, ordnete er ganz vernünftig. Der Pastor wollte die, die Hand an sich gelegt hatte, erst nicht in der Reihe beerdigen lassen.
»Ja, Herr Paster«, sagte Hans Nottelbohm, »wenn dat ni geit, denn weet ik, wat ik do, denn will ik bi ehr in de Eck liggn.«
Da antwortete der Pastor: »Nottelbohm, wat föhrt Se för gotteslästerliche Reden! Scham Se sik!« gab aber seinen Widerspruch auf.
Nottelbohm blieb äußerlich ruhig, war aber doch nicht mehr der alte. Bei sich schwur er dem Verräter Rache und hielt von nun an noch mehr auf ein schußfertiges Gewehr. Nicht als ob er sich vorgenommen hätte, in die Welt hinauszuziehen, den Bösewicht zu suchen ... Nein, das war nicht Hans Nottelbohms Weise. Er trug aber so was wie den Glauben mit sich herum, daß der Himmel ihm den Räuber seines Glücks vor die Flinte führen werde. Dann wollte er abdrücken, dann wollte er ganz gewiß abdrücken.
Als er mit seinen Bienen zum ersten Mal wieder auf die Heide zog, war sie dürr und heiß, in langer, trockener Zeit verbrannt. So dürr und heiß war auch sein Haß. Und als schließlich nachts die ersten Tropfen auf sein Dach fielen, leise trommelnd auf die Bretter, da war es ihm Aufforderung, in seiner Rache zwar leise und vorsichtig und behutsam, aber unerbittlich zu sein. Er hörte allgemach einen leichten Schwall, sachte und leise wie auf Katzenpfötchen. Dieser leichte Schwall sagte ihm: ›So sei auch du, Hans Nottelbohm, in deiner Rache!‹
Gegen Morgen kam ein Sturm und zürnte mit den Planken der Hütte. Er packte und schüttelte sie. Und wie der vergehende, keuchende Atem eines Gewürgten pfiff es vom Bienendorf her. Hans Nottelbohm hörte: ›So wird auch deine Hand dem Verruchten tun.‹
Zuwider war ihm das große Himmelsrund, zumal wenn die Sterne aufgingen und schließlich tausend und abertausend leuchteten und ihm sagten: ›Nottelbohm, was bist du für ein Hans, was bist du für ein Narr mit deiner Rache und mit deinem Haß!‹
Da war namentlich ein großer, ein heller Stern, der zur Zeit der Bienenweide bald nach Sonnenuntergang kommt und von den Wächtern ›Johann mit dem Horn‹ genannt wurde. Der lachte Hans Nottelbohm geradezu aus mit seinem Haß und mit seiner Rache. ›Da bist du nicht geschickt zu‹, sagte er. ›Da ist dein Leben viel zu kurz zu, das ist auch nicht die Aufgabe der Menschenkinder. Denn die Menschenkinder sollen (ich bin dabei gewesen, als sie erschaffen wurden, und weiß es) die Menschenkinder sollen vergeben und lieben.‹
Es sind viele Jahre vergangen.
Man spricht davon, daß die Landschaft eine Eisenbahn, die das Dorf berühren wird, erhalten soll. Es gibt Freunde und Gegner dieses Planes, es finden viele Verhandlungen statt. Dann und wann kommen Herren aus der Stadt und von der Regierung mit einflußreichen Gesichtern, Männer, die über die Sache zu sagen haben.
Nun ist wieder einer da, der auch dazu gehören kann, wenn er auch sonnenverbrannter und anders aussieht. Er hat Ringe an den Fingern, eine goldene Uhrkette läuft über die Weste. Ein hochgewachsener Mann. Ehrliche Augen hat er, aber sie liegen tief in den Höhlen. Graues, frühzeitig gebleichtes Haar wächst auf einem Haupt, das ganz gut für einen Geheimratskopf passieren kann. Er hat ein Gesicht, das wenig sagt, aber viel verbirgt. Der Fremde kann in der Jugend häßlich gewesen sein, er kann aber auch gut ausgesehen haben. Die Mannheit, die Reife, die versteinerte Erfahrung machen alles wett.
Der Dorffischcr, der bei der Aalwehre stand, erstaunte, einem fremden Herrn am Mühlenteich zu begegnen. Auf dem Friedhof wurde derselbe Herr gesehen, wie er nach Grabinschriften forschte; die alte Trien Scheff sah ihn vor der Nottelbohmschen Kate, Auge und Blick dem Eulenloch zugewendet, als wenn damit was Besonderes sei.
»Godn Dag«, sagte sie.
»Godn Dag«, antwortete er und sah sie zwei Sekunden lang an, als ob er was fragen wollte. Er fragte aber nichts, sondern ging weiter.
Der kleine Hans Bunge, der die Kühe von Krischan Hanken hütet, hat (es ist nicht mehr früh am Nachmittag gewesen) einen langen Stadtmenschen mit weißem Hut und grauem Anzug vom Dorf kommend in den Wald gehen sehen, einen feinen Mann mit einem seinen Stock. Der Stock ist sonst braun, oben aber ganz weiß und glatt gewesen, hat also wohl eine elfenbeinerne Krücke gehabt. In der linken Hand hat er ein Paar ausgezogene Handschuhe getragen. Was tut man um Bartolomä (es war so broddig warm) was schleppt man sich da mit Handschuhen?
»Hör mal, Jung«, hat der Unbekannte den Knaben gefragt, »kommt man so dör't Holt na de Imm?«
»Jau«, hat Hans Bunge geantwortet.
»Un kann ni verbistern?«
»Nä, Dat geit ümmer grab ut.«
»Un wo lang geit man?«
»Man rekt twee Stunn; awer wenn Vadder to Heid meihn geit, denn brukt he man annerthalv.«
»Is Hans Nottelbohm na ümmer bi de Imm?«
»Jau.«
Die Sonne war nicht weit von dem Versinken, als der graue Herr aus dem dunkeln Wald ins Freie trat. Des Bienenwächters Hund schlug an, der alte Hans selbst war maßlos erstaunt über den späten Besuch. ›Wie will er im Wald zurückfinden?‹ dachte er. ›Ich muß ihm meine Laterne mitgeben. Na, ich bekomme ja morgen Proviant, da kann sie wieder mitgebracht werden, da mag es sein.‹
Seinen struppigen Köter, es war Karo der dritte, hielt der Bienenwächter am Halsband fest. Der wütete den Fremden so überaus heftig an.
»Guten Abend«, sagte der Graue, als endlich Ruhe eingetreten war.
»Godn Abend.« Der alte Hans war ganz klein und faltig geworden, er steckte noch tiefer in dem jetzt schlohweißen Bart und Haar. Er sah den Stadtherrn fragend an. ›Was willst du hier und was soll das?‹ stand in seinen Mienen. Der Hund schnoberte knurrend an der auffälligen Erscheinung herum.
»Ihr Hund mag keine Stadtleute leiden.«
»Dat is he ni wennt.«
»Bei Dorfsleuten ist er wohl nicht so laut und mißtrauisch?«
»Ni so, awer wach is Karo ümmer. Wi seht so weni Lüd. Wenn dor een kommt, denkt he glik: will he wat Gods, or will he wat Slechts?«
»Da hat Ihr Hund ganz recht. Sie denken sicherlich ebenso und denken auch von mir: Was will er? Will er Gutes, will er Böses?«
Der alte Bienenwächter hatte den Sprecher mit seinen Blicken geprüft, dreimal auf und dreimal ab, und gefunden, daß er Vertrauen erwecke. Er stand von seiner Bank auf und holte einen Brettstuhl aus dem Schuppen. Den setzte er auf die Erde und sagte: »Ik nehm an, Se hebbt mit mi to reden; nehm Se Platz!«
»Danke«, erwiderte der Angeredete, »es ist ein langer Weg, da setzt man sich gern ein Weilchen.« Er setzte sich dem Alten gegenüber.
Man sah es dem Fremden an, er war ein gewandter, die Gesten und Bewegungen seines Körpers beherrschender Mann. Und doch saß dieser Mann jetzt unschlüssig, mit seinem Elfenbeinstock den Heideboden harkend, auf dem Brettstuhl.
»Sie müssen viel Einsamkeit ertragen«, begann er endlich, den Stock an sich ziehend.
»Dat ward man wennt«, erwiderte Hans Nottelbohm.
»Sie leben auch einsam im Dorf, Sie haben keine Kinder?«
»Keen een«, war die düstere Antwort.
»Sie waren nicht immer so einsam?«
Es zuckte im Gesicht des Alten. »Wat weet Se? Wat fragt Se?«
Der Fremde sah ihn ruhig an, aber des Alten Blick wurde stier und prüfend. Hans Nottelbohm kam ein fürchterlicher Gedanke. Er ging eilfertig in den Schuppen, nahm die Flinte von der Wand und hing sie auf einen Haken dicht bei seiner Bank an die Bretterwand seiner Hütte. Dann grub er aus den Taschen seiner Jacke ein verblichenes Bild, sah den Fremden an und darauf die Photographie und wieder den Fremden und wieder das Bild. Aber je länger er verglich, um so ruhiger wurde er.
»Dat sünd twars twinti Jahr«, murmelte er, »un de dot wat. Awer nä! Dat is he ni!«
Der Unbekannte zuckte nicht mit der Wimper. »Nicht wahr, Nottelbohm«, lächelte er, »Ihr Bild und der, der vor Ihnen sitzt, haben keinen Zug gemein? Nein, so einer, wie der, an den Sie denken, sitzt nicht vor Ihnen. Ich bin ein anderer. – Ein Verwandelter«, setzte er leiser hinzu.
Hans Nottelbohm fühlte das Versteckte dieser Rede nicht. »En Anner«, murmelte er, »dat 's god.«
»Und das Gewehr«, fuhr der Fremde fort, »ist wohl das Gewehr der Vergeltung? Lassen Sies nur da, wo es hängt, Hahn in Ruh, es hat keine Eile. Sie habens ja jederzeit zur Hand.«
Der alte Bienenwächter wußte nicht, wie ihm geschah. Die Ruhe des Fremden machte Eindruck auf ihn. Er fühlte, daß sich ein überlegener Wille auf seine Seele lege; er sah seinen Besuch mit angehaltenem Atem an. »Wokeen hett Se dat seggt?« stammelte er.
»Ich weiß nicht viel, ich hörte, aber ich hörte nur halb. Wollen Sie sich nicht mal aussprechen? Wollen Sie nicht erzählen?«
Der alte Nottelbohm sah sinnend vor sich nieder und erhob dann das Haupt: »Herr, Se sünd mi wildfremd. Ik weet ni, wo ik dorto kam schull.« Er schüttelte den Kopf.
»Das ist auch wahr«, entgegnete der Fremde. »Verzeiht, das kann ich nicht verlangen.«
Hans Nottelbohm sah ihn wieder an, spuckte mal aus, räusperte sich und atmete tief. »Se sünd mi gans fremd, un doch is mi, as harr ik Se lang kennt. Un wenn dar een kam weer un harr to mi seggt, ik warr mi gegen 'n fremden Minschen utspreken, ik harr bat ni glövt. Awer doch, wer weet, woto dat god is.«
»Das ist recht, erleichtern Sie sich!«
»Ja, wenn Se mi tohörn wüllt.«
»Erzählen Sie, ich höre.«
Und Hans Nottelbohm erzählte und verschwieg seine eigenen Irrtümer und Mißgriffe nicht. Lange verweilte er bei seinen Rachegedanken. Er schilderte die Bilder, die ihn verfolgten, seine Empfindungen, er wollte seine Rache rechtfertigen.
Der Besuch verzog keine Miene. »Ich habe davon gehört, daß Sie nur noch dafür leben«, warf er ein.
Der Tag verging und war fast dahin, die Landschaft färbte sich in milden, versöhnlichen, friedevollen Tinten, Sterne keimten auf.
Der Alte faltete die Hände, auf einmal sagte der Fremde, nicht gerade hart, aber bestimmt: »Ihr Haß ist nicht echt, Nottelbohm.«
»Ni echt?«
»Bleiben Sie ruhig sitzen, ereifern Sie sich nicht! Ich sage nichts Unehrenhaftes von Ihnen, wenn ich behaupte, Ihre Rachegedanken seien, ohne daß Sie es selbst wissen, nicht echt und nicht ehrlich. So lange Sie den schweren Ausgang, den die Sache mit Ihrer Tochter, leider, ach leider! genommen hat, nicht in Rechnung zogen, dachten Sie: ein Fall wie so viele. Wenn er nur zahlt, muß es hingenommen werden.«
»Dat is wahr«, gestand der Alte.
»Freilich, in dem Augenblick, als der Jammer über Sie hereinbrach, da haben Sie bei sich ehrlich Rache gelobt.«
»Gans gewiß.«
»Aber sie ist verblaßt, sie ist untergegangen. Was noch übrig geblieben ist, ist Schein, ist ein Spielen mit Gedanken, weiter nichts.«
»Herr!«
»Und für etwas weiteres sehe ich das mit dem Gewehr auch nicht an.«
»Herr, Se sünd ari drist!«
Der Fremde tat, als ob er den Zorn seines Hörers nicht bemerke.
»Will man sich rächen, muß man zuvor hassen. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann hassen Sie den Mann, an dem Sie sich rächen wollen, nicht einmal. Und wenn Sie aus Ihrem eigenen Bauernverstand heraus die Sache ansehen, dann können Sie das, was er getan hat, nicht so verrucht finden, daß Sie zum Mörder werden müßten.«
Der Fremde machte eine Pause, traumverloren in die Weite sehend. »Er ist übrigens«, setzte er dann hinzu, »selbst der Rächer Ihrer Tochter geworden.«
»Wo schall ik dat verstahn? Kennt Se den Menschen?«
»Ich kenne ihn. Um Ihnen seine Geschichte zu erzählen, suchte ich Sie auf.«
Verwirrt sah der Alte den Fremden an.
»Hören Sie zu, Nottelbohm! Ich wills nicht lang machen.
In einem Kaffeehaus las er die ersten, keinen Namen enthaltenden Notizen. Er ahnte. In seiner Wohnung fand er ein Schreiben ihres Bauervogts, der alle Zweifel beseitigte. Am andem Morgen zog man ihn wider seinen Willen aus dem Wasser. Seiner Mutter, deren einziger Sohn er ist, seiner Mutter zuliebe blieb er am Leben.
Er fühlte, daß seine Seele einer Läuterung, einer Reinigung, einer Sühne bedürfe, um zu gesunden. Er hatte Blutschuld auf dem Gewissen. Das war der schwere Erfolg, der uns alle niederbeugt, wenn wir das Unglück haben, jemandem zu schaden. Er hatte leichtfertig, er hatte schlecht gehandelt. Aber seine Leichtfertigkeit, seine Schlechtigkeit blieb im Rahmen dessen, was so viele junge Leute vor ihm gesündigt hatten. Der Erfolg, der wies ihn aus dem Gebiet der Leichtfertigen und machte ihn zum schweren Sünder.
Sie wissen vielleicht nicht, daß er Ihre Tochter ohne Preisgabe seiner Zukunft nicht heiraten konnte. Er hätte nicht das werden können, worum er gearbeitet und studiert hatte, während die Mutter entbehrte und hungerte. Ja, Nottelbohm, so ist unsere Welt. Ich erwähne es nicht, um seine Schuld zu verneinen; selbstverständlich hätte er Ihre Tochter doch ehrlich machen sollen. Das war nach dem, was geschehen, seine Pflicht. Ich sage es nur, um Ihnen zu zeigen, daß Sie und Ihr Feind, daß sie alle beide viel zu ähnlich über die Sache dachten, um sich hassen zu können.
Er hat Ihre Tochter wirklich geliebt. Und in dem Augenblick, wo er sie betrog, betrog er auch sich selbst. Er tat eine schlechte Handlung, ohne selbst schlecht zu sein. Er tat es, weil er die Zartheit der Gesinnung ihrer Tochter nicht kannte, weil er sie unterschätzte.
Als er die schwere Last seiner Schuld sah und erkannte, da wog die Rücksicht auf die Welt, wog seine Zukunft nichts. Er schied aus dem Staatsdienst und ging in die ausdörrenden Länder der Tropen. Dort unterzog er sich in kümmerlichen Stellungen beschwerlichen Arbeiten, immer im Hinblick darauf, was er zu büßen und zu bessern habe. So ging es lange Jahre hin. Erst in den letzten Jahren hat er Glück gehabt. Nun ist er ein reicher Mann.
Er ist in sein Vaterland zurückgekehrt; er lebt, aber immer noch unter dem Druck einer nicht ausgelöschten Schuld.
Er hat Vorstellungen wie Sie, Vater Nottelbohm. Sie haben die der Rache; er hat die: wenn er in die verzeihenden Augen des alten Mannes blicken könnte, dem er den Schmuck des Lebens geraubt, dem er auch das Leben abgetötet hat, wie er sie getötet hat, dann würden sie beide, er sowohl wie der alte Mann, sie würden beide in ihrer Seele reicher und wieder gesund werden.
Er will kommm. Ich stehe hier, zu fragen, ob er kommen darf.«
Nottelbohm saß nicht mehr auf der Bank. Klein und krumm von Figur stand er vor dem Unbekannten, aber in seinen Augen glänzte das Sternenheer, das am Himmelsbogen heraufgezogen war und mit dem, der vor ihm stand, gemeinsame Sache machte.
Hans Nottelbohm wehrte sich; im inneren Kampf rang er die Hände. »Du büst dat sülwst«, keuchte er.
»Da hast du recht gesagt, Väter!«
Reißt der Alte die Flinte vom Haken? Nein, er tut es nicht; er geht dicht an den fremden feinen Mann heran, führt ihm eine linde, eine grobe Hand über die Stirn: »Nu is he also dor, un so süht he ut«, murmelte er.
»Vater Nottelbohm, nimm das Gewehr, es hängt an der Wand!«
»Ja, dor hangt dat«, erwiderte Hans, noch immer tonlos, wie im Selbstgespräch. Der alte, immer und immer mit Rachegedanken erfüllte Mann ließ das Gewehr, wo es war. Er streichelte den, dem seine Rache galt, wie man einem Kinde schön tut. So streichelte er ihm mit beiden Händen die Haare glatt und sah ihm in die Augen.
»Dat is woll wat dämmeri, awer so vel seh ik doch, dat Oog liggt up goden Grund.«
»Ja, Vater, zu gut denk ich grad nicht von mir. Aber das will ich verbürgen, der Grund ist gut.«
Hans Nottelbohm hatte beim Tod seiner Tochter nicht geweint, nun kamen ihm Tränen. Er wollte was sagen, er wußte nicht was, er konnte nicht; die Kehle schwoll ihm im Krampf, öffnete er den Mund, er würde, das fühlte er, er würde laut schluchzen. Das hätte er gern vermieden, so selig er auch war. Aber schließlich überwältigte es ihn doch.
»Vater, du weinst?«
»Lat mi, Soehn, lat mi! Mi is so god, ik bün so lusti.« Und dem Lustigen flossen die Tränen. Seine Seele hatte etwas abgestoßen, das sie so lange unfroh gehegt hatte.
»Wat wullt du denn hier?« sprach der alte Mann lachend und weinend zu seinem Gewehr. »Woto bruk ik en Flint bi de Imm?« Er rieß sie vom Haken und an die Backe und feuerte in die Luft.
›Nun ist der Haß verpufft‹, rollte der Wald im dumpfen Echo nach, just als der helle Johann heraufzog. Der war einverstanden. So ist es recht, glänzte und lachte und strahlte der lange Johann.