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Ein paar Wochen sind vergangen. Die Reise nach Bayern war beschwerlich. Aber nun sind sie längst bei Vinzenz in dem einsamen Forsthause.
»Was mir doch eigentlich fehlt?« Klaus schickt einen schnellen und scheuen Blick zu dem Freunde hinüber. »Glaubst du, ich bin verrückt?« –
»Bub! Bub! Wie darfst du so daherreden! Arg kaputte Nerven hast's halt! Wir kriegen dich schon zurecht. Nur den Kopf oben behalten. Weißt, der Münchner Doktor hat auch gesagt, es kann schon dauern!«
Vinzenz bleibt stehn und sieht Klaus in das verfallene, abgemagerte Gesicht.
Die Totenstille des Hochwaldes steht um die beiden her. Der Hundertjährige Kalender, der dieses Jahr den Frühling Ende Februar prophezeite, scheint Recht zu behalten. Die Spitzen und Kuppen drücken ihre blanken Eishelme zwar noch tief in Nacken und Stirn. In den Mulden, unter den Felsbrocken und drüben, wo die Matten schattenhalb ziehen, liegt der Schnee noch mannstief. Aber: »Horch!« Vinzenz hebt den Finger. Ein fernes Gemurr wandert talwärts und weckt das Echo. Es ist, als orgelte der Himmel: – die erste Laane geht ab!
Vinzenz nimmt dem Freunde den Stutzen von der Schulter. »Komm, siehst schon ganz fertig aus. Das macht der Tausturm. Mußt ruhn!« Er schleppt Fichtenbruch zusammen. Ein überhängendes Felsstück bildet eine runde, mannshohe Höhle, nach Süden breit offen. Gar kein Schnee ist hineingekommen, der Boden braun von trockenen Farrenstengeln und Nadeln. Ein richtiges Bett kann man machen.
Klaus gehorcht wie ein Knabe dem Lehrer. Er läßt sich den Stutzen abnehmen. Zum Lager führen. Betten.
Über sein düsteres Gesicht geht sekundenlang ein trauriges Lächeln. »Bist so gut zu mir, Vinz!« Er streckt dem Freunde die Hand hin.
»I, gar!« Vinzenz lacht. Er nimmt die Hand und streichelt sie wie eine Frauenhand.
»Jetzt mußt du etwas genießen. Nachher bekommst du dein Pulverchen!«
Klaus wirft sich hastig herum, wie er Vinzenz die belegten Brote und die Feldflasche herausnehmen sieht. Sein Ausdruck verändert sich. »Quäl mich doch nicht!« Er stößt die Worte heraus. –
»Klausle!« Vinzenz spürt einen leichten Schwindel, wie wenn er auf Sand ginge. der unter seinen Füßen fortwäscht. Seit zwei Tagen weigert sich Klaus, etwas zu sich zu nehmen.
Vinzenz legt die Frühstückspakete auf die Steine. Er tritt einen Augenblick vor die Höhle. Sein Blick wird starr und sieht weithin. Er sieht sich wieder mit Klaus bei dem Münchener Nervenarzt. Er allein weiß. was es gekostet hat, ihn dorthin zu bringen und während der Beobachtungstage dort zu halten. Man hatte auf das Rückenmark untersucht. Das Resultat war nicht ganz klar. – Aber wie wäre dieses möglich bei dem Blut der Andersenschen Familie und bei der Lebensführung von Klaus! Alles war durchgesprochen worden, was irgendwie in Betracht kam. Es war und blieb ein nicht zu erklärender schwerer und hochinteressanter Nervenfall.
»Du läßt mich nicht in ein Irrenhaus bringen. Vinz – Vinz! – . . . Versprich mir das, Vinz!« –
Wieder keuchen die Worte im Ohr von Vinzenz. Er sieht in dem zerstörten Gesicht des Freundes die Raserei flackern, und wie die Todesangst vor dem Weggeschafftwerden sich martert, sie niederzuzwingen, bis Klaus darüber die eigene Zunge zerbissen hat. –
Da gelobte Vinzenz, was er verlangte.
Nun, wenn Doktor von Lassing den Freund mitnehmen wollte und für ihn sorgen! Warum nicht? – Man erkannte in dem enttäuschten Gesicht den Psychiater, den »der Fall« brennend interessierte, viel deutlicher als das Menschenherz. – Die Einsamkeit, die Berge würden sicher beruhigend wirken. Und sollte es doch einmal nötig werden – nun, es gab ja die Telegraphie. Ein geschulter und handfester Wärter konnte noch am selben Tage von München her eintreffen.
Vinzenz drückt sekundenlang die Hand an die Schläfe, wie er dies alles wieder erlebt. Vor ihnen lichtet sich der Wald. Man kann hinübersehn zur Bergklinge mit dem alten Schlosse der Lassings. Man sieht die zerspellte Eiche. »Maria im Baum,« denkt Vinzenz. »Maria am Meer!« Wohin reißt der abschwemmende Sand? Er trägt ein Telegramm in der Tasche: Elsalill ist unterwegs.
In diesem Augenblick streicht es heran von dort, wo der veilchenblaue Berg steht wie der Hüter vom Tal: weich streicht es herüber, braun wie der Abend, möwengroß.
Vinzenz hat die Flinte an die Wange gerissen. Ein Gedanke durchzuckt ihn: »Nicht erschrecken, Klausle!« Schon zerschleißt in feurigem Riß der Sammet der Luft. Okuli! Da kommen sie! Dort zwischen dem Sturzacker und dem ersten Flaum des Winterwetzens, gereckt zum Strich zischt gierig der Hundeleib, sucht kurz, kehrt triumphierend zurück. Die erste Schnepfe des Jahres im Maul. Er trägt sie weich, wie gebettet.
»Klausle!« Vinzenz hockt bei dem Freunde nieder. »Schau, gleich braten wir sie!«
Ein Schimmer von Anteilnahme geht über das Gesicht von Klaus. »Wie willst du das? Ohne Speck?«
»Hab ich doch immer mit.« Vinzenz wühlt in der Jagdtasche. »Wie oft hab' ich hier draußen gleich gespeist!«
Als er sieht, daß Klaus nicht abwehrt. bettet er ihn höher. Er rupft die Schnepfe kunstgerecht und nimmt sie aus. Recke, der Hund, wartet.
Vinzenz hat wirklich alles bei sich, was man braucht: Speck, Faden, Messer und Gabel, selbst einen Zinnteller. Er steckt zwei Gabelstäbe in die Erde. hängt die Schnepfe an den zusammengeschnürten Ständern, zwischen Speckscheiben eingebunden, an einem Querholz darüber. Tannenzapfen und Dürrholz zum Feuer ist schnell genug zusammengetragen. Die Flamme springt hurtig herauf, seine duftende blaue Rauchsäulen spielen durch den Wald, Boten von Menschenart. Vinzenz ist wie im Fieber: »Aufschub?« denkt er.
Klaus legt sich umständlicherweise den linken Arm zurecht.
»Ich bin so klar im Kopf,« sagt Klaus. »Mir ist, als säh' ich mein Leben vorüberfliegen, und doch entgeht mir kein kleinstes Schüppchen! Hör'!« –
Er weist nach oben, wo in den Baumkronen dieser bange, sehnsüchtige Tausturm harft. –
»Heut' tut er sanft. Gestern hat er gerast wie ein Toller.« – Vinzenz erschrickt tödlich über seinen Worten. »Man kann nicht über den Fernweg,« redet er hastig weiter. »Es wird Tage brauchen, sagt der Förster, bis sie dort aufgeräumt haben!«
Das Wort vom rasenden Tollen, worüber Vinzenz so erschrocken ist, hat Klaus überhört. »Die alten, morschen Bäume nimmt er mit, – und von den jungen die, die eine schlimme Stelle haben!« Er seufzt. Er legt seinen linken Arm wieder anders, als sei er ein fremdes Ding und Vorsicht damit ratsam.
»Tut er heut mehr weh?« fragt Vinzenz.
»Bischen!« Klaus sagt nicht, daß er ihn schmerze, als ob er verbrüht sei.
Aber schon, daß er dies Geringe zugibt, erschreckt Vinzenz. Er kennt die spartanische Art von Klaus.
»Was kann es nur sein? Von so einer verrückten Krankheit hab' ich mein' Tag nicht gehört!«
»Mußt nicht soviel grübeln, Klausle. Es geht schon vorüber.« Vinzenz wendet die Schnepfe am Spieß. Dabei muß er immerfort denken: »Was kann das mit dem Arm bedeuten? Gestern fing er an, ihm taub zu werden!«
»Wo tut dir der – Arm – weh?«
»Einerlei,« sagt Klaus. »Gott! Das ist nicht der Rede wert! – Hier!«
Er hat die Manschette abgenommen und streift den Ärmel in die Höh. Zwischen Ellenbogen und Handgelenk sind zwei kleine, blaue, aufgetriebene Stellen, wie ein Halbmond, in der Mitte unterbrochen.
Der bläuliche Halbmond auf der Wange von Ewert Jaspersen, wie er ihn in der Leichenhalle gesehn hat, steht plötzlich vor Vinzenz.
»Wo hast du das her?« Er fühlt wieder den Schwindel und den gleitenden Sand.
»Weiß nicht!« sagt Klaus gleichgültig. »Hab' kein Acht auf gehabt. Es ist kaum zu sehn gewesen bis jetzt. Ich glaube, es ist noch von Altjahrsabend, als wir den Trödel hatten mit Thor.«
Und plötzlich – er hat noch nicht ausgesprochen – Klaus wirft sich vornüber. Er steht auf Händen und Füßen. Er zeigt die Zähne, als Vinzenz ihn berühren will. Auf Händen und Füßen, als sei er nie anders gelaufen, rennt er blitzschnell ein Stück in den Wald hinein.
Vinzenz steht wie aus Stein. Wenn er Klaus berühren will, beschimpft er ihn mit Worten, wie sie in verrufenen Hafengegenden Brauch sind. Seine Stimme ist rauh und wüst. Plötzlich bleibt Klaus liegen, flach auf dem Gesicht, die Arme von sich gebreitet.
Vinzenz tritt heran. »Klausle!« Er legt ihm die Hand auf die Schulter. Klaus schiebt mühselig aus dem Waldboden ein zerschrammtes, beschmutztes und dunkel gerötetes Gesicht. Er sieht Vinzenz an. Er weint. –
Vinzenz faßt ihn unter die Arme und hilft ihm, sich aufrichten. Klaus taumelt. Er läßt sich zur Höhle bringen und aufs neue betten. Er schläft ein, kaum daß er liegt.
Wie im Traum starrt Vinzenz auf die Zeitung, in die er den Zinnteller gewickelt hatte. Er liest die Notizen im lokalen Teil, als sei ihm das aufgetragen. Ein Wort in einem Knick kann er nicht entziffern. Die Schnepfe ist gebraten und duftet kostbar. Vinzenz sieht hinüber zu Klaus. Klaus atmet schwer und laut. Vinzenz faßt nach seinem Puls. 220 Schläge die Minute.
Elsalills Telegramm knistert in seiner Tasche. – Er fühlt nicht mehr den Sand weichen unter seinen Füßen. – Er stürzt bereits. – Stürzt . . . –
Und wieder trifft sein stumpfes Auge die Zeitung und das Wort quer über dem Knick, das er nicht lesen kann. Er nimmt abwesend das Blatt. – Es ist die vorgestrige Nummer des Hamburger Korrespondenten. Man schickt ihn täglich samt dem kleinen Stadtblättchen für Klaus. Vinzenz glättet sorgfältig die Zeitung, ohne daß er weiß, warum er das tut. Er drückt das zerrissene Wort heraus, als sei ihm das so aufgetragen.
Jetzt ist es deutlich. Er liest: Tollwut. –
Vinzenz steht auf. Er hält sich sekundenlang fest an dem Ebereschensämling. Er ist weit von irgendwoher gereist und sprießt schlank und fest und kahl aus dem Felsblock. Nachher geht Vinzenz hastig fort von dem Ort, wo Klaus schläft.
Er stellt sich so, daß Klaus ihn nicht sehn kann. Dann liest er in der ausgeglätteten Zeitung folgende Nachricht: Zu dem einen Opfer der Tollwut, das vorige Woche die Hafengegend erregte, gesellte sich heut ein weiteres. Der Schiffskoch der Swantje, der vor sechs Wochen mit einem Beinbruch im Eppendorfer Krankenhaus eingeliefert wurde, ist unter großen Qualen gestern gestorben. Er wurde von dem bereits verstorbenen Matrosen Hinrichsen anfänglich öfter besucht. Beide scheinen den Biß von demselben Rattenfänger davongetragen zu haben, der mit seinem Herrn am Weihnachtsabend ein so tragisches Ende nahm. In beiden Fällen hat man den Hund wahrscheinlich nicht als toll angesehn. Die Wunde ist nicht beachtet worden und man hat sie vernarben lassen. Als man auf den Grund der Krankheit kam, war Behandlung durch Pasteursche Impfung bereits erfolglos.
Vinzenz deckt sekundenlang die Hand über die Augen. Er fühlt seinen Puls fliegen. Steht nicht dieses wieder hinter ihm? Damals in Hamburg hat es in der Ecke gestanden, hinter dem Schrank. Und ihn angesehn die ganze Nacht. Er ballt seine Hände. – »Morgen kommt Elsalill!«
Wie er in jede Hand fünf rote, kleine Male eingräbt – was hat er doch geträumt in jener Nacht? Als er aufwachte, in Schweiß gebadet? – –
Er steht wieder wie aus Stein. – – –
Ja, – er hat früher einmal darüber gelesen, dies mit dem Nicht-schlucken-Können. – »Wasserscheu«, sagt jemand zu ihm. Ganz deutlich hat er das Wort gehört. Er denkt daran, daß Klaus schon seit einigen Tagen gegen Getränke Widerwillen äußert.
»Herr, mein Gott!« Vinzenz klettert die Mulde hinunter, wo der Schnee noch fest und körnig liegt. Er bricht einen Armvoll hinaus. Dann schleicht er sich behutsam zur Höhle. Klaus schläft noch. Er röchelt im Schlaf.
Vinzenz nimmt den silbernen Becher aus seiner Jagdtasche. Er bringt über der heißen Asche den Schnee zum Schmelzen. Als der Becher halb gefüllt ist, tut er einen Schuß Rotwein aus der Feldflasche dazu.
Nach einer Weile schlägt Klaus die Augen auf. Er sieht Vinzenz traurig und düster an. Wie meist klagt er über Trockenheit im Halse.
»Du solltest einen Schluck trinken!« Vinzenz greift nach dem Becher. Dabei denkt er: »Wer spricht?« – Er hört seine eignen Worte wie aus der Ferne. Seine Hände sind kalt und schweißbenetzt.
Klaus sieht in den Becher. Aber in demselben Augenblick schon stößt er ihn mit soviel Abscheu von sich, daß die Hälfte herausfließt. Vinzenz tritt zur Seite. Er wartet. Er zählt vor sich hin – eins – zwei – drei – vier – bis fünfzig. Dann fängt er wieder an, überredend, und immer denkt er: »Wer spricht doch nur?« Seine Hände scheinen alle Kraft zu verlieren. Gleich läßt er den Becher fallen. Aber wie er sich einen Rück gibt, ihn fest faßt und Klaus hinhält, hebt Klaus eine Faust gegen das Gesicht von Vinzenz.
»Bub!« sagt Vinzenz. – »Ach, Bub!« Seine Stimme ist leicht belegt. Er stellt den Becher beiseite. Er umgreift mit beiden Händen die Faust.
»Vinz!« schreit Klaus. »O, welcher Schuft bin ich geworden! Dich, Vinz, dich! – – – Gib her!« –
Er stottert hastig, im Drängen Vinzenz zu Gefallen zu sein. Seine Haare sträuben sich, seine Augen quellen vor, – aber er greift mit der gesunden Hand nach dem Becher.
Als er trinken will, speit er weit heraus und röchelt, und versucht wieder. Als er den Becher bis zum Mund bringt, – – »Mörder!« schreit er. »Mörder!«
Er sieht wild auf Vinzenz. Mit seinen festen, großen Zähnen beißt er in das Silber, daß es einbeult.
»Quäl dich nicht, Bub! Verzeih, wenn ich dich gequält hab'!« Vinzenz hat den Becher fortgeworfen. Er streichelt das schweißbeperlte Haar. Seine Stimme ist warm, aber ohne jedes Metall. Er legt Klaus den schmerzenden Arm zurecht. Er wirft ein paar Tannenzapfen und Zweige auf das Feuer. Die Schnepfe ist verkohlt, sie riecht brenzlich und quälend. Vinzenz trägt sie beiseite und gräbt sie hastig in den Schnee.
»Jetzt mach ich dir deine Spritze, daß du schläfst. Hernach schaff ich dich heim.«
Klaus hält Vinzenz den Arm hin. Das Morphium, vom Münchner Arzt verordnet, gibt ihm immer eine Weile Beruhigung.
Er schläft nach kurzer Zeit, aber der Atem bleibt röchelnd. Der Puls stößt. Vinzenz zählt 240.
Es ist spät geworden. Verirrtes Klingen geht durch die Stämme wie bange Frage und ewigstille Antwort: Die Glocken der Kapellen.
»Elsalill,« sagt Vinzenz plötzlich leise. Er sieht, daß Klaus die Augen öffnet. Er hebt Klaus mit dem Oberkörper in die Höhe. Die ersten Sterne schaukeln im Netz der Zweige. –
»Elsalill,« wiederholt Klaus matt. Er versucht, die Linke mit der Rechten in die Höhe zu seinem Gesicht zu heben. Aber er hat keine Gewalt mehr über seine Glieder.
»Was meinst du?« –
Klaus antwortet nicht. Das Lächeln um seinen Mund wird herzzerreißend. Er versucht noch einmal, die Hand zu heben. Er sieht auf seinen Ring. –
Da plötzlich weiß Vinzenz. Er nimmt behutsam die linke Hand von Klaus und legt sie ihm an den Mund.
Klaus küßt seinen Ring von Elsalill.
»Vinz!« sagt er. »Mein Vinz!« –
Er sieht ihn an. Lange, eindringlich, wiewohl ihm die Augen fast zusinken! – »Du Guter!« sagt er. Er wendet den Kopf langsam zur Seite.
Als er gleich danach wieder einschläft, nimmt Vinzenz die Flinte, die hinter ihm lehnt.
Wieder knistert das Telegramm von Elsalill in seiner Tasche. Aber das hört er jetzt nicht. Er dürfte auch jetzt nichts hören und nichts denken. Gar nichts. Nur daß seine Hand fest bleibt. Allein darauf kommt es an.
Daß – dieses – aufhört. –
Er tritt dicht vor die Höhle. Er legt die Flinte an die Wange. Wie vorhin bei der Schnepfe. Ihm ist, er sieht sich selber dabei zu. Seine Augen tun ihm sonderbar weh. Als seien Glassplitter darin. Er muß sie weit aufgerissen halten. Er zielt lange und sicher. Er trifft Klaus durch die Brust. Es ist ein Halbmantelgeschoß. Die innere Zerstörung ist ungeheuer. Klaus zuckt kaum.
Noch an demselben Abend hat sich Vinzenz zum Bezirksgericht begeben. Er bittet um Beschleunigung des Verfahrens, da die Eltern und die Verlobte des Toten erwartet werden.
Nicht einmal die Büchse von Vinzenz – es ist ein Doppelbüchsdrilling mit einem unteren Schrotlauf und zwei oberen Kugelläufen – hat man beschlagnahmt. Jesus, bei dem Herrn Baron ist doch so etwas nicht notwendig. Freilich, von Form und Rechts wegen muß man schon den Befund aufnehmen an Ort und Stelle. Der Ortsgensdarm mit dem Arzt und den Trägern sind mit Vinzenz zu der Unglücksstätte hinaufgestiegen.
Also dem Herrn Baron seine Büchse hat nicht funktioniert heute früh. So hat er die andere genommen. Der Schrotlauf hat die Schnepfe bedient. Hernach ist der kranke Herr beim Aufstehn gestolpert und hat die Büchse vom Herrn Baron, die noch an der Felswand gelehnt hat, umgerissen, dabei ist die Sicherung des linken oberen Kugellaufes losgegangen. Der Einschuß ist unbedeutend, die innere Zerstörung sehr stark. Die Wundränder sind verbrannt durch die Nähe der Waffe beim Abfeuern. Der Tod ist sofort eingetreten.
Nun, nun – es ist schon ein rechter Unglücksfall! So ein junges Blut! Und hat wollen heiraten! Und wo er dem Herrn Baron sein Freund ist gewesen! Wie der ihn gepflegt hat! – Die alte Balbina kann wohl erzählen! Recht wie eine barmherzige Klosterfrau.
Zwischen allem, was sonst noch nottut, hat Vinzenz den ganzen folgenden Tag immer nach dem Hüblerbuben ausgeschaut. Er bringt aus dem Städtchen im Tal die Telegramme herauf. Elsalill hat keinen Zug angegeben.
Als gegen Abend die Botschaft kommt, heißt sie: Reise verschoben! – –
Elsalill hat über nichts geklagt, als über den Kopf. Sie war matt und hatte erhöhte Temperatur. Aber das schob man auf die ungeheure Spannung der letzten Wochen.
Nach einem Ruhetag im Bett schien sie frischer. Sie bat inständig, Herr und Frau Andersen waren ebenso ruhlos wie Elsalill. So sollte man es wagen.
Als man Itzehoe erreichte, hatte Elsalill flackrige Augen und rote Flecke auf den Wangen. Der Temperaturmesser zeigte 39. Dies konnte man unmöglich verantworten. Justizrat Andersen fuhr weiter bis Hamburg. Dort wollte er seine Frau morgen mittag erwarten. Sie brachte Elsalill zurück.
Als Frau Jeß ihr Kind im Bett hatte, phantasierte Elsalill bereits. Es war ein Nervenfieber und die erste schwere Krankheit in Elsalills Leben. – – –
Als Andersens nach dieser Verzögerung bei Vinzenz anlangen, ist dort schon alles vorüber. Die Nachricht hat sie nicht mehr erreicht. Klaus liegt schon tief gebettet.
»Mein kleiner Klaus!« stammelt Frau Andersen. Sie kann es nicht wahr haben.
»Gott weiß!« Die massige Gestalt des Justizrats scheint ein wenig lockerer, die Haut des vollen Gesichts nicht mehr ganz prall. Er preßt beide Hände von Vinzenz zwischen den seinen. Er sieht ihn an. »Gott weiß, ob es auch das beste war?« sagt sein Blick. »In all diesem Entsetzlichen das beste!?« – –
Welches Glück, daß Klaus nicht in einer Anstalt sein mußte, sondern bei Vinzenz, diesem Getreuesten. Täglich hatte Vinzenz ihnen berichtet. Jetzt dürfen sie von ihm das – Letzte erfahren.
Klaus selber hat einen einzigen Brief in seine Heimat geschickt: »Elsalill, du sollst Vinzenz danken für alles, was er an mir tut!«
Hier – also hier ist es geschehen. – –
Vinzenz hatte die Eltern des Toten zu der Höhle im Walde geführt, wo sie gerastet hatten.
»Also hier!«
Ein stoßendes Schluchzen erschüttert die Gestalt der Mutter. Als Vinzenz zur Seite treten will, greift sie heftig nach seiner Hand.
Vinzenz führt Frau Andersen zu einem Baumstumpf und macht sie niedersitzen. Dem Justizrat erscheint es das Natürliche, als die beiden Hand in Hand bleiben. Vinzenz hat sich gestellt, daß er einen Halt für Frau Andersens Schulter bildet. »Aber klein Hella!« hört er Klaus sagen. Zugleich denkt er: »Wie ist es möglich, daß der Mutterinstinkt schläft? Die Mutter von Klaus klammert sich an meine Hand? . . .«
Er steht reglos, wie ein Baum unter den Bäumen. Er sieht in die untergehende Sonne. Er sieht so klar und deutlich wie Klaus an jenem letzten Tage. Keine Nähe und keine Ferne entgeht ihm. Nicht die große Ameise, die über seinen Bergschuh klettert, oder die helle Schildpattnadel, wie sie aus dem noch immer vollen Haar Frau Andersens weit heraussteckt. »Der Justizrat hat noch seinen blauen Schlips um«, denkt er. Zugleich aber bemerkt er jedes Pünktchen auf den fahlen Matten und Geröllhalden, wie sie ins enge Tal herunterziehn. Dort hat der gefangene Fluß seinen ellendicken, gläsernen Harnisch in der Mitte gesprengt. Er tobt schmal, eisgrün, gischtgeflockt und schreit, wo die dunkel geschindelten Häuser sich um die kleine, schneeweiße Kirche drängen, wie Kinder auf den Knien um ihren Schutzengel.
Er sieht die vom Hochwald schwarzsamten umhängten Kogel, die purpurblaue Hut der fernen und höheren Kuppen und das oberste kristallne Reich, wo das kühne herrschende Profil der Spitze wie in Urtrauer erstarrt steht.
Er hört die zärtlichen Stimmen der Aveglocken. Sie gehen über die Berge von einer kleinen Kapelle zur andern, reichen sich die Hand und tragen die Botschaft vom ewigen Leide der Menschheit hinauf zur Barmherzigkeit Gottes.
Aber hinter all diesem zieht eine einzige Bildreihe ihm ebenso klar und gegenwärtig: Das ist sein Leben. Von dem Augenblick an, da er an seiner Mutter Knie lehnte und durch das bogige Fenster in den holden Brand des Weihnachtshimmels schaute, bis zu dem letzten Kuß zum Abschied auf Elsalills Hand.
Aber nichts, was irgendwo sonst geschieht in der Welt oder um ihn her, oder geschehen ist, scheint irgendwie mehr ihn zu betreffen. Er ist zusammengeschnürt mit diesem – was sein mußte: Er hat Elsalill geliebt von dem Augenblick an, da er sie zuerst erblickte. Er hat Klaus erschossen. – – Mit diesen zwei Gedanken ist er fortab allein in der Welt.
»Ja, Mamachen!« Seine Stimme ist sanft und zärtlich wie besten Sohnes Stimme. Er hilft Frau Andersen in die Höhe von dem Baumstumpf. Sie will noch einmal die Höhle sehen.
Nun stehen sie wieder zu Dreien vor dem Lager von Fichtenbruch. Es haftet noch irgendwo ein Hauch vom Geruch der verkohlten Schnepfe. Frau Andersen bückt sich. Sie streichelt den Fichtenbruch. Sie streichelt die Hand von Vinzenz. Sie hält sie noch fest, als er ihren Arm auf dem seinen trägt.
Sie gehen zurück.
Plötzlich steht Vinzenz still. Sein Atem keucht. – Hat es niemand gesehen? Diese todtraurigen Augen in dem fahlen, zerstörten Gesicht? Dieses kleine, rote Rinnsal im Schnee?
»Vinzenz!« Frau Andersen wendet scharf den Kopf zu ihm herum. »Wie sehen Sie aus!«
Sie bleibt stehn.
»Darf ich du zu dir sagen?« flüstert sie.
Vinzenz starrt sie an. Er fühlt, wie er die Mutter von Klaus anstarrt, mit weit aufgerissenen Augen.
Plötzlich wirft er mit der ihm eigenen Bewegung den Oberkörper jäh zurück.
»Danke. Mein liebes Mamachen, danke!« sagt er sanft.
Frau Andersen fängt wieder an zu weinen. Aber leise. Erlösend. – –
Sie gehen jetzt zu dritt. Frau Andersen in der Mitte. Vinzenz hält seine kantigen Schultern noch immer zurückgeworfen. Wie eine Lanze trägt er sich. Sein jäh ergrautes Gesicht hat wieder Lebensfarbe. Seine Augen sind wie die Augen von Menschen. die in den Abgrund stiegen, damit sie andern den Schwindel ersparten und den Sturz.
Am folgenden Tag gehen sie zum Grabe von Klaus, auf dem Totenacker im Tal. Er birgt sich in die Hut der kleinen weißen Kirche. Vinzenz hat das Grab ganz grün überdecken lassen. Ein Kranz von Schneerosen liegt darauf. Elsalill! Als sie das Christkind wiegte! Sie sehen einander an.
Die Schneerosen scheinen das einzig Lebendige an diesem Grabe. Für Frau Andersen ist Klaus viel näher und deutlicher dort oben, wo sein letzter Atem wehte. In der Nähe von Vinzenz fühlt sie Klaus. –
O, warum Vinzenz doch nicht mit ihnen kommt! Wie Elsalill warten wird!
Aber die Mutter von Klaus weiß wohl, daß jetzt eben sie selbst es ist, die Vinzenz verlangt. Elsalill treibt weit und fern auf den feurigen Wassern des Fiebers. Wie es jetzt steht. würde sie die Botschaft von Vinzenz weder verstehen noch ertragen können.
»Später? – – Gewiß. – – Ja, bald. – – Sobald Elsalill . . .« Vinzenz verstummt. Seine Stimme versagt ihm den Dienst. – –
Dann reisen Andersens wieder zurück nach Norden. Der Winter klirrt noch einmal über die Berge, wie der hundertjährige Kalender für die letzte Woche des Februar und den März ebenfalls vorausgesagt hat. Er kommt wie mit tausend scharfen Dolchen. Als alles vollbracht ist, hält er schweigende Totenwacht. – –
Das Haus auf der Berghalde steht im Schnee verschüttet bis an die Fensterkreuze. Hätten sie drinnen nicht Vorräte und die Ziege im Stall, sähe es übel aus.
Bei Tag schaufelt Vinzenz der alten Balbina einen Gang zum Brunnen. Windet wohl auch selber das Wasser aus der Tiefe herauf, trägt es dem froststarren Weiblein ins Haus und zerkleinert ihr Holz.
Wenn dann abends zeitig ihr Schlurfen aufhört und das gewaltige Federbett ihr Greinen zudeckt – »hab ich jemals solche Grabesstille erlebt?« denkt Vinzenz. Dann ist er froh, wenn Recke heftig atmet im Schlaf, auch wohl das Fell sträubt und laut aufheult und anhebt zu träumen. Aber selbst der Hund, sein Freund, erscheint ihm fremd und fern.
Er hat seine Arbeit hervorgeholt, die lange ruhte. Es gilt, seinen letzten Buchstaben, das R, ins Saubre zu bringen. Alle Vorarbeiten dazu liegen fertig in der Mappe.
Aber wenn er so schreibt, Seite um Seite – – »wozu?« denkt er. »Für wen?« – – Er hat aber niemals die Fronarbeit am Lexikon im Sinne, wenn er sich vorkommt wie ein alter Mann, der so schwer geschafft hat, daß er am Ende seiner Tage wohl Ruhe verlangen dürfte.
Manchmal auch gerät er an die Hefte auf dem Grunde des Schreibtisches. Pergament. Mit goldener Feder beschrieben. Dann lächelt er. Wie man dem müßigen Spiel eines Kindes zulächelt. Dies alles zählt nicht mehr. Es ist, wie wenn einer vom Leben sang und stand hinter der Mauer.
Dann bleibt er wohl müßig auf seinem harten, dunkeln, hochlehnigen Stuhl. Vor zweihundert Jahren und mehr hat Künstlerhand das Wappen der Lassings in die Lehne geschnitten: Ein Schwert in Flammen und Rosen. Er hat das Schwert und die Flammen. Anders denn der Ahnherr. Nur die Rosen sind ihm verwehrt.
In seine Kammer geht er erst um Morgengrauen. Noch immer steht der Geruch von Wacholder darin. Die alte Balbina hatte ihn entzündet, als auf dem einen Bettschragen eine stille Gestalt sich streckte . . . .
Nachher tut der Föhn seine Arbeit. Er schaufelt schneller und gründlicher als Vinzenz. Er stürzt sich von Graten und Schroffen und schmettert Felsbrocken den Schrunden in die schwarzen, gierigen Mäuler. Oder er orgelt im Hochwald und schreit wie ein Riese, der siech ist von Liebe. – – –
Um diese Zeit ist es, daß Vinzenz jedesmal, wenn er in die Schlafkammer tritt, von einem Gesicht empfangen wird. Ein fahles, zerstörtes Gesicht hält den Blick auf ihn gerichtet, düster, forschend. – –
»Ja,« sagt dann Vinzenz. »Klausle, ja! Ich liebe sie. Vom ersten Tag hab ich sie geliebt. Und dein Blut ist an meinen Händen!«
Dann scheint das Gesicht auf dem Schragen traurig zu nicken. Wenn es zergeht wie Rauch, reißt Vinzenz den Stutzen vom Haken. Er stürmt hinaus in den Sternenschein der schwarzen, eisigen Frühe.
Der Hochwald steht wie Wehr. Das neuerliche Leichentuch auf seinem Grunde weist bereits Risse und dunkle Flecke. Dazwischen sickert und fließt es. Aber plötzlich: Horch! – Die Augenbrauen von Vinzenz ziehn sich herauf in schmerzhaften Winkeln: Dieses brünstige Lied . . .
Wie Vinzenz steht, ohne Regung, wie ein Baum unter Bäumen, erblickt er ihn im zottigen Gipfel einer märchenalten Föhre: den Auerhahn, das Spiel gebreitet, den Kopf in den Nacken gedrückt. Wie matte Rubinen stehn die Augenrosen im fahlen Dämmer. Der herrische Leib unter dem geblähten Gefieder scheint zu taumeln in der Erwartung des Unerhörten. –
Etwas in Vinzenz wird grausam. Es ist kalt wie das Eisen der Flinte. Oder ist es wie Feuer heiß? Er springt ihn an, den fürstlichen Vogel. Aber als er losdrücken will, – jedesmal ist es das gleiche. Es reißt ihm die Hand vom Drücker: Er kann ihn nicht töten. Nicht diesen da aus seiner Verzückung herunterkrachen. – Nicht in diesem Frühling.
Kommt er dann heim, wenn die Sterne im grünlichen Himmel ertrinken und der Wald in den Tag tritt und der Tauwind einen Atemzug schweigt – ihm ist, er hört Stimmen. Die Stimmen der Mütter reden, im Urgrund. Die großen Barmherzigen, die Wissenden, deren Schoß das Leben schafft und empfängt den Tod. Und beides ist ihnen das gleiche: Leben und Tod.
Dann dünkt ihn wohl immer noch, er ist allein auf der Welt, zusammengeschnürt mit dem, was durch ihn hier hat sein müssen – aber ihm ist, die »Mütter« lächeln. Weil sie wissen, lächeln sie so liebreich und unter Tränen. – – –
Als Vinzenz zuerst von der Erkrankung Elsalills hörte, stürzte nicht der Himmel zusammen?
Thor, Thor, Thor! –
Aber alles, was dann Andersens erzählten, was die täglichen Briefe meldeten, – es verglich sich nicht mit dem Zustand von Klaus. Ihr Fieber wuchs zum Abend hin und wurde kleiner zum Morgen. Sie phantasierte, aber sie hatte weder Ausbrüche noch Anfälle, noch andere erschreckende Symptome. Sie aß kaum, aber sie trank durstig und viel. Die Ärzte – Deichgraf Jeß hatte in großer Sorge einen Hamburger Arzt kommen lassen – waren durchaus entschieden, es handle sich um ein Nervenfieber. Die Marter darüber, daß Zusammenhänge bestehen könnten, daß die Linie Ewert Jaspersens Hund – Thor – Klaus – bei Elsalill enden könnte, durfte er wohl entlassen aus seinen Gedanken.
Auch am Meer waren die Tage und Nächte wild um diese Zeit. Wie die Äquinoktien sie zu bringen pflegen.
Das waren die Nächte, in denen Olsen-Großmutter Piet hatte kommen sehen, und die vielen, vielen andern.
Nur selten stand der Nordwest am Abend mit der Flut. Dann horchten die Wetterkundigen und warteten, ob das Weltmeer den engen Paß zwischen Norwegen und Schottland erstürmen würde, und dem Aufrührer, dem blanken Hans, Soldtruppen schicken. Wenn dann Südwest aufsprang und gegen seinen nordischen Bruder sich anwarf, dröhnte und klaffte die Küste unter ihren Beinschienen und Schildschlägen.
In diesem Jahr trieben die Eisschollen wie schwimmende Festungen von Norden herunter. Mit ihren groben Geschützen berannten sie die Deichkronen.
»Klaus!« rief in einer dieser Nächte Elsalill laut und klagend.
Sie setzte sich auf in ihrem Bett und streckte die Arme aus, als solle man ihr ein Kindlein zu halten geben.
Draußen im Garten sägte der Sturm die Äste von den Riesenbäumen, daß sie schrien. In allen Häusern, dem Hafen zu, war Licht. Die Kellerluken wurden mit Schotten und Pferdemist dicht gemacht. Wagen, mit Sandsäcken beladen, knirschten über das holprige Kopfpflaster der kleinen Straßen zum Deich heraus.
Elsalill flüsterte zärtlich. Sie streichelte ihre eigene Hand und den Ring an ihrer Hand. Sie tröstete. Sie beschwor. Sie klagte. Zuletzt seufzte sie tief und schmerzlich. – – –
Der Deichgraf war die ganze Nacht nicht vom Pferd gekommen. Da, wo die beiden Hunde ineinander verknäult den Deich herunterrollten, Weihnachtsabend, hatten die Schollen ein klaftertiefes Loch in die Dossierung gerissen. Dorthin gehörten die Sandsäcke, die Kleikarren und das Stroh. Es war wilde Arbeit. Den Männern strömte der Schweiß. Die Kommandos des Deichgrafen übergellten den Sturm. Gegen Morgen war es geschafft.
Als der Deichgraf, bis an den Gurt mit Klei bespritzt, die Tür behutsam aufklinkte, setzte sich Elsalill in ihrem Bett in die Höhe. als hätte sie nur auf ihren Vater gewartet. »Klaus ist tot!« sagte sie. Ihr klarer, trauervoller Blick ging zwischen ihren Eltern.
Frau Jeß, die die ganze Nacht im Lehnstuhl neben Elsalills Bett gesessen hatte, brach in Tränen aus. Elsalill weinte nicht.
Das Fieber kam noch einmal zurück nach diesem. Aber als sich die Stürme legten, schien auch seine Kraft gebrochen. Bald blühten die Märzglocken in den Gärten der Kavalierhäuser. Von da ab ging es stetig voran mit Elsalill. Den Namen von Klaus hatte sie nicht mehr ausgesprochen. – – –
An Palmarum bekommt Vinzenz einen Brief. »Warum lassen Sie mich so lange harren?« – Diese wenigen Worte sind mit der alten, schönen und klaren Schrift Elsalills geschrieben.
»Ich komme!« telegraphiert Vinzenz.
Er packt für eine Woche oder zwei. Instruiert die alte Balbina. Macht sein Manuskript fertig für die Post. Mit dem Frühzug will er fort.
Diese Nacht legt er sich nicht zur Ruhe. Er bleibt vor seinem Schreibtisch auf dem dunkeln, hochlehnigen Stuhl mit dem flammenden Wappen der Lassings.
Fortwährend grollt es in der Ferne. Wie fernes, grobes Geschütz. Jenem Herold, der unbegreiflich frühen Laane damals im Februar, folgt jetzt das ganze Aufgebot! Strahlend wie Silber und unerbittlich reitet der Tod zu Tal.
An den Südhängen hatte bereits die Sonne angefangen. Der Schnee kochte auf, blasig und zerging. Immer weiter hob die Sonne die weißen Totentücher an den Zipfeln in die Höh'. Das Land ergrünte unter Freudentränen. Die Luft fing an, nach Erde zu riechen und jungem Grase. Nach Keuschheit und Wachstum und Leben roch die Luft.
Aber es war noch immer etwas zu überwinden. Die Sonne allein vermochte es nicht. Sie holte die Frühlingsregen. Diese Regen, über die sich die Vögel nicht zu gut geben können vor Freude. Sie erweichten den letzten Frost tief in der Erde. Die härteste Knospenhülle machten sie nachgiebig. Fast die ganze letzte Woche hatte es geregnet, zuerst strömend, atemlos. Dann mild. Plötzlich hörte es auf. Morgen würden unter allen Hecken die Schneeglöckchen blühen, die blauen Leberblümchen und die Anemonen, und die runden, braunen Kirschenknospen im Tal und die der Pfirsiche würden mit weißen und rosa Schlitzchen prunken. –
Vinzenz, der alle die Nächte dem Regen zugehört hat, empfindet die plötzliche Stille, wie wenn jemand, der ihn behütete, fortgegangen sei. Es ist die allerstillste Stunde der Nacht. Ehe der Morgen kommt. Vinzenz zuckt plötzlich zusammen, seine Augen starren weit geöffnet hinaus in das erste milchige Braun: Dies – dies? – Es ist nicht mehr die ruhevolle Melodie der Tropfen, die sein Herz gewiegt hat. Ist es der erste Star?
Er lauscht. – Und dann kommt es zu ihm, über das Sieden des Bluts in seinen Ohren: taumelnd wie Traum, brunnentief. Süß und trunken und gewaltig wie das Leben. – Die erste Drossel singt. In dem Fliederbusch nistet sie. Vor der Tür.
Elsalill! El–sa–lill! – Vinzenz hört das Knirschen seiner eigenen Zähne. Seine Nägel, wie ihm die Hand auf dem Manuskript liegt, graben sich in seine Handfläche. Alles, was in diesen todeinsamen Nächten flüsterte, was der Tausturm heraufwühlte, was in den Bäumen kochte und gährte und was der Auerhahn sang, – trunken in Verzückung, – alles, weiß Gott all dieses – alle uralten Erdgeheimnisse quellen aus dieser kleinwinzigen Vogelkehle.
Vinzenz preßt die Hand auf die Stelle, wo sein Herz diese harten, dumpfen Stöße tut. »Blut und Wesen! Blut und Wesen!« sagt dieses Stoßen, regelmäßig, wie der Pendel einer Uhr. – Was hilft es dem Menschen, der den Weg zum Letzten anders sucht als durch sein eigenes schlagendes Herz? Und plötzlich steht ein bleiches, zerstörtes Gesicht dort an der Kammertür. – – – In diesem Augenblick verstummt jäh draußen das Drossellied. Hinter dem Fenster des kleinen Hauses hat es geschrien. Wie wenn einer stirbt. – – – Die alte Balbina bekreuzt sich im halben Schlaf. »Mariand Joseph!« Die Rauchnächte sind doch vorbei! Recke ist aufgesprungen. Er drängt winselnd den Kopf seinem Herrn zwischen die Knie. Der hört ihn nicht. Er hat die Arme über den Tisch geworfen; sein Kopf liegt dazwischen, wie fremd dem Körper, auf dem Holz des Tisches. – – – – –
Zuletzt kommt der Morgen. –
Einmal wird es ja sein müssen! Einmal wird Vinzenz Elsalill gegenüberstehn. Aber jetzt noch nicht. Er will ein Telegramm seinem Brief hinterdreinjagen. »Reise unmöglich. Verschoben!«
Der Hübler Bub von der Post und er prallen aneinander bei der Wegbiege. Fast kommt der Bub ins Straucheln. Er lacht. Er trägt gern Botschaften herauf zum Herrn Baron.
Vinzenz kehrt sich ab, wie der Junge erwartungsvoll steht. Er reißt den verklebten Zettel vonsammen: Frau Jeß und Elsalill sind vor einer Stunde in München eingetroffen. Heute abend werden sie hier sein. –
»Elsalill! El–sa–lill!«
Wandern die Berge um ihn her? Singen die Bäume? Ergrünt der Stein? Elsalill! Das Schicksal befiehlt. Nicht er. Wohlan. –
Es ist plötzlich ausgemacht bei Vinzenz, daß Elsalill und ihre Mutter bei ihm oben wohnen müssen. Herr und Frau Andersen waren im »Eisenhut« abgestiegen, unten in der kleinen Stadt. Jeden Morgen hatte sie der Schecke im Wäglein heraufgeschafft. Aber Elsalill, die eben vom Krankenbett Erstandene! Heroben muß sie doch wohnen. Wo die Luft wie lauter Kraft und Leben weht.
Der Hübler Bub steht noch. Alsdann – hier wär' eine halbe Krone. Und ob die Mutter wohl daheim ist und ein wenig Zeit hat heut?
Daheim war sie schon. Und Zeit – für den Herrn Baron . . .
Es scheint weiter keiner Auskunft zu bedürfen. Der Bub springt talwärts mit der Botschaft.
Als Vinzenz noch mit dem Fleischer um den Lendenbraten unterhandelt und die Kalbshaxen, begegnet ihm die Hübler Gundel bereits bergauf. Hat gleich etliche Pfund Schmierseife, neue Hadern und Putzpulver erhandelt. Möcht' fein nötig sein für die Wirtschaft von der Balbina.
Der Herr Baron ist wohl zufrieden. Und wenn der Bub – er hat ja Vakanz auf die Ostertage . . . Ja, da steht er schon, der Bub, lacht über das ganze winterhelle Gesicht. Ei, freilich, alle Hand' kann man brauchen, da heroben, heut.
Die Fleischersfrau packt gleich der Gundel den Braten auf den Tragkorb und ein halb Dutzend Würste. Sie hat die strammsten ausgesucht. Mariand Joseph, dem Herrn Baron tut man wohl recht gern einen Gefallen. Er weiß das gar nicht. Aber sie sind ihm alle zugetan, dem ernsten, dunkeln Mann. Er macht keine überflüssigen Worte, wenn er einmal zu Tal steigt. Aber – ob's um eine Hochzeit geht oder um eine Leiche oder einen Prozeß – er weiß immer das richtige Wort. Und die gnädige Frau Mutter! So goldhell, so traurig – und so gut! Und der Herr Baron in München, der den jüngeren Bruder um alles gebracht hat, wo g'rad' derselbige so hängt an der Heimat! –
So wenig Vinzenz mit denen im Tal in Berührung kommt, so viel wissen sie von ihm. Die Burg der Lassings da oben auf der Bergklinge und die kleine Stadt, die haben zusammengehört, so lange man denken kann. Vielleicht sind es nicht immer die herzlichsten Gefühle gewesen, die oben und unten miteinander verbanden. Aber es sind dafür die starken und eisernen Reifen der Treue, die das Gefäß zusammenhalten, bis ein neuer Wein eine neue Kraft und Seele hineingibt. – Nun, der junge Herr Baron da oben, der Einspannige – das war der neue Wein. Niemand hat es gesagt. Aber alle wissen's, wenn seine Lampe da heroben oft brennt früh bis zum ersten Hahnenkraht: Um die alte Heimat geht's. In Salzburg, in Wien, in München – leicht hätt' er's schöner gehabt. Irgendwo sonst. Aber nein – da oben – beinah' in der Einöd, nur daheim!
Und dann, wie er mit dem Freund ist umgegangen! Das weiß man doch wohl auch! So etwas spricht sich doch herum! Wie eine barmherzige Klosterfrau, sagt die Balbina. –
Der Herr Baron tritt aufs Gäßchen, vom Fleischer heraus. Die Bratenschüssel fällt ihm ein mit der ausgebissenen Ecke. Für die drei Mittage mit Andersens hatte den Schaden notdürftig ein Fichtenbruch verheimlicht. Aber ob er am rechten Fleck wird liegen, der Bruch, wenn Elsalill von der Schüssel nimmt? –
Er steht und nagt an der Unterlippe. Sie kommt in das Haus eines Jägers, eines Einspannigen. Wie soll er's seiner Frauenart richten an einem Tag!?
Jesus! – Wirklich, er weiß nicht, wieviel Freunde er hat, der Herr Baron!
Wie ein Lauffeuer hat sich's verbreitet: Besuch kommt herauf! Zwei Damen von weither! Eine alte und eine junge! Jesus! – –
Die Frau Apothekerin, die Tochter vom reichen Ochsenwirt, die in Pension war, sucht heraus: feine Bezüge für die Betten, Damast auf den Tisch. Sie packt Körbe hoch – feines Geschirr und Glas, Eingemachtes, Oblaten, Makronen, Zimmetplätzchen. – –
Freilich, der Herr Baron könnt' schon selber anschaffen, wenn er erst nach Innsbruck fährt – viel Schöneres noch. – Bloß unterdeß.
Die Pfarrwirtin hat einen kaffeebraunen Schinken. Sie hat ein halb Schock Eier, einen Teppich und ein gepolstertes Ruhebett.
Aber wozu denn erst zum Tischler? Wenn doch im »Eisenhut« ein Bett zu entbehren ist? Eine Waschkommode mit Marmor und die Lampe auf Hirschzacken gesetzt? Die vom »Goldenen Ochsen« brauchen sich auch nicht aufspielen extra. Wenn's dem Herrn Baron gefällig wär'. Und wenn er's schon nit anders tät mögen . . . Das läßt sich ja gut machen mit einem Fuchsbalg. Der gibt einen nötigen Fußsack für den Schlitten im Winter.
Ein richtiger kleiner Kastenwagen zieht herauf auf den Berg. Noch nicht zehn hat die Turmuhr geschlagen. Der Lehrer, bei dem Vinzenz manchmal einen Abend verplaudert oder ihm zuhört, wenn er seiner Geige die Seele ausfragt, der hat durchaus seinen Stuhl, weich wie ein Daunenbett, auf den Kastenwagen herauf haben müssen. »Pfüat Gott, Herr Baron!«
Ja, die junge Dame – es war immer nur die Rede von der jungen – sie sollt's schon recht gut haben, da oben. Ist's nicht, wie wenn die Königin Braut sollt' einziehen? – –
Als Vinzenz am letzten Hause vorüberkommt, schon auf halber Höhe, laufen zwei Kinder hinter ihm drein, blankes Gold in den Händen: Himmelsschlüssel!
Vinzenz fühlt sein Herz wunderlich. Es tut nicht mehr diese schweren, dumpfen Schläge der Nacht: »Blut und Wesen – Blut und Wesen« – wie harte, regelmäßige Perpendikelschläge der Uhr. »Sie kommt! – Sie kommt! Sie kommt!« schlägt sein Herz. – –
Nun – er hat sie nicht gerufen. »Es würde alles kommen, wie es kommen mußte.« Aber nun will das Schicksal ihm dieses Hiersein schenken, diese kommenden Tage. – Für ein ganzes, langes Leben werden sie ausreichen müssen. Er setzt die Zähne aufeinander. Er wirft die kantigen Schultern zurück. Das, was so zu ihm kommt, das ist sein. –
Als er auf der Höhe anlangt, schwimmt ihm sein Häuschen bereits entgegen. Die Hübler Wirtin weiß, was sich gehört. Es nutzt der alten Balbina wenig, wie sie zetert und mit geschürzten Röcken durch die Seen steigt, g'radstelzig wie ein Storch. Aber dann wird auch die alte Balbina noch einmal von dem Teufel längst überwundener Lebensjahre, vom Ehrgeiz, gepackt. Sie knotet über das rotkarierte Kopftuch noch ein blau- und weißgepunktes. Nun ist sie zugfest. Jetzt brauchen die Weberknechte in den Stubenwinkeln sich nicht weiter auf ihre langen Beine zu verlassen. Es hilft ihnen doch nichts. Sie werden aus ihren geheiligten Asylen vertrieben zusammen mit Tünchabfall, Tannensamen, Motten und Fliegenleichen, rostigen Stahlfedern, Fichtenschuppen und Staub! Diesem samtnen, grauen, ewigen Staub.
Ja, nun noch Sand auf die nassen Scheuerdielen. Die Zinnleuchter geputzt. Die Fenster blank und Föhrenkloben in die Ofen, daß sie krachen und ballern!
Vinzenz ist noch einmal davongejagt, zu dem Hang nach Norden hin, mit seinen langen, federnden Beinen.
Indessen sieht die Sonne zum Rechten. Sie freut sich der schönen, fremden Dinge aus dem Tal, die Treue und Zartheit des Herzens gespendet. Aber recht gern verweilt sie doch auch bei ihren alten Bekannten, den klafternden Hirschgeweihen an den Wänden, den Büchern in den hohen Regalen; und vor allem bei dem holden, traurigen Frauenbild in dem florentinischen Goldrahmen über dem Schreibtisch.
Als die Sonne weich und zögernd über ein blühweißes Kopfkissen gleitet, geht draußen die Haustür: Vinzenz. Er hat noch Schneerosen gefunden, beide Hände voll. –
Elsalill und ihre Mutter werden in seiner Schlafkammer wohnen. Sie ist nicht sehr groß, aber traulich mit der ragenden grünen Ofenburg und dem Wohnzimmer daneben.
In das andere, die größere Schlafkammer, wo noch die zwei Bettschragen stehen, von – damals her – nein, da hinein kann er Elsalill nicht bringen.
Und dann ist es so weit. – – –
O – dies ist Elsalill?! –
Man fährt hinauf im Wägelchen vom »Eisenhut«. Hinter allen Gardinen sind Gesichter.
Niemand hat es denen im Städtlein verraten. Aber alle wissen es. Das ist die Braut von dem fremden Herrn, der so krank war und so schrecklich um sein Leben kam. – Das ist die Braut des Freundes vom Herrn Baron.
Wie die hochheilige Jungfrau auf den Verkündigungsbildern! So zart, inbrünstig zusammengerafft. So schmerzhaft weiß wie die Gottesmutter mit den sieben Schwertern.
Bloß – sie lächelt! Der Schatten eines Lächelns flattert um ihre Lippen. Sie hält sich hochauf, wiewohl die Fieber sie so durchsichtig machten. Nein – sie deutet wohl nicht auf das durchbohrte Herz in ihrer Brust.
Zuerst sieht sie nichts um sich her, nicht die Berge, nicht die Menschen. Sie sieht auf Vinzenz, der ihr gegenübersitzt. Ihm gilt der flatternde Schatten ihres Lächelns. Dann, als sie merkt, wie er hierher grüßt und dorthin – sie ist es nicht anders gewöhnt von daheim – auch sie nickt und nickt – als seien dies die Leute ihrer Heimatstadt, die sie von Kind auf gekannt und geliebt haben. Sie ist lange Zeit fort gewesen. Nicht wahr? Sie hat Leid erlitten. Jetzt kommt sie zurück. Sie stehen bereit. –
Diese Fahrt quält sie ebensowenig wie der erste Ausgang nach ihrer Krankheit in der kleinen, grauen Stadt an der Westküste.
Frau Jeß hat sich sehr vor diesem allen gefürchtet. Jetzt schöpft sie Mut. Sie ist königlich wie immer. Nur ein paar seine Linien machen sich bemerkbar unter den Augen und um die Mundwinkel. Und wenn sie sich unbeobachtet glaubt, läßt der stattliche Körper sekundenlang wohl ein wenig nach.
In dem kleinen Städtchen zwischen den Bergen herrscht arge Geschäftigkeit. Ist nicht morgen Aschermittwoch? Die länglichen Körbe stehen schon bereit, samt den weißen Tüchern, zum Auslegen. Bald werden die goldbraunen Osterbrote mit aufgelegtem Kreuz, der Honig, die Eier, das Grünzeug, wohl gar der Schinken in die Kirche getragen, daß Weihwedel und Segen sie aussondern vor ihresgleichen zur Erlesenheit der Festspeise.
Die Kirchtür steht offen, als das Wäglein vorüberfährt. Wie eine rote Rose blüht die ewige Lampe im bläulichen Duft.
Hier im Tal ist der Frühling schon weiter vorgeschritten als daheim. Dort sind Elsalills Blumen, die Krokus im Schloßgarten, eben verblüht. Irgendwoher kommt Hyazinthengeruch, und die Pfirsichspaliere an den Südmauern sind umflort wie von Morgenrot. Die schwarzen Ahornzweige sind goldgetupft. Dort stehen Kastanien. O diese Knospen! Geschwellt und braun, wie lackiert. Wenn sie erst fächern werden und die Kerzen aufstecken!
Die im Wagen sehen an ihnen in die Höhe. Sie sprechen von den Bäumen, von den Blumen, den freundlichen Menschen. Von dem einen haben sie noch nicht gesprochen.
Hernach geht es bergauf. Ergrünende Hänge entlang. Irgendwo murmelt es. Eine Quelle, verdeckt vom Gefels. Überall sind Vögel: gefleckte Stare, winzige Goldhähnchen mit schimmerndem Kamm, Finken. Eine Hummel brummt glockentief. Die Luft ist leicht wie Schaum, und die Wolken festlich gewandet.
Zuletzt sind sie auf der Höhe. – – –
Elsalill sieht sich um in der niedrigen Stube. In weniger als zwölf Stunden ist sie heimwarm geworden, als hätte man hundert Heinzelmännchen Grütze dafür versprochen. Elsalill weiß es nicht, aber sie fühlt: Hier ist etwas geschehen um ihretwillen. Für sie ist diese Stube so traut. Sie grüßt die Dinge wie alte Verwandte, die man niemals gesehen hat. Aber man kennt sie aus der Liebe der andern.
Lange steht sie vor dem schönen, traurigen Frauenbildnis. »Sie haben ihren Mund, Vinzenz. Alle ihre Gedanken gingen durch ihr Herz. War sie eine Dichterin, Vinzenz?«
Vinzenz erschrickt. Wie weiß sie alles Letzte? Auch von den Heften, zu unterst in seinem Schreibtisch verstaut? Eines ist darunter, die Seiten bedeckt mit zarter, zum Ende der Zeilen hinaufeilender Schrift; auch Verse, Verse von seiner Mutter, blutheiß und bebend wie Saiten im Wind.
Er sagt es zu Elsalill. Frau Jeß ist in ihrer Kammer nebenan. –
»Wird sie jetzt nach Klaus fragen?« denkt Frau Jeß. Elsalill soll weinen. Endlich einmal weinen. Aber Elsalill fragt nicht. –
Hernach geht man zu Tisch.
Die Petroleumlampe, auf Hirschzacken gesetzt aus dem »Eisenhut«, malt einen honiggelben Kreis auf das Damasttuch der Frau Apothekerin. Man ißt die Hähndeln von der Hübler Gundel, beim Herrn Dechant im Dienst, kunstmäßig bereitet, den Schmarren, die eingemachten Aprikosen und das flaumweiche Osterbrot. Liebe hat gespendet, gesotten, gebacken, gebraten. Heimat ist um den Tisch.
Zum erstenmal seit ihrer Krankheit ißt Elsalill. Alles, was Vinzenz ihr vorlegt und wozu er sie nötigt, ißt sie. Die Fahrt strich mit weichem Pinsel einen Hauch von Rot über ihre Wangen. Er wird wie Flaum auf der Frucht, da der dunkle Tiroler Wein durch ihre Kehle fließt. Sie ist durchscheinend wie die Kehle der Welserin.
Jetzt fangen sie wieder an von den freundlichen Menschen. Von denen hier und von denen daheim. Auch von der Reise, den Stürmen, der Flut und dem Krokusblühen. Von dem einen reden sie nicht.
Die alte Balbina trägt ab. Nur das Obst steht noch auf dem Tisch und die rubinrote Karaffe. Da nennt Vinzenz zuerst den Namen. Er fängt an von Klaus, wie er ihn in Tübingen gekannt hat, beim Wein. So heiter, so stark, niemals unmäßig, nie laut, nur ganz Sonne und aufgeschlossen.
Elsalill hebt leicht die Augenbrauen. Dann begreift sie. »Er mußte dich rufen!« denkt Elsalill. »Mein Klaus, nun bist du hier. Du hättest zur Tür hereintreten mögen hinter meinem Rücken. Dann hätte ich sterben müssen!«
»Sterben?« denkt Elsalill. »Sterben?« Sie sieht grübelnd auf den purpurnen Grund ihres Glases. Dann hört sie die andern weitersprechen. Von früher. Kinderspiele leben auf. Unschuld, Jugendübermut. Die rote Inbrunst der Heide steht um sie her. Die Weite und das Geheimnis des Meeres.
»Wie ist mir?« staunt Elsalill. »Klaus wächst, wie Vinzenz von ihm redet!«
Sie sieht zu Vinzenz hinüber, zu ihrer Mutter. »Jetzt?« fragen ihre Augen.
Frau Jeß steht auf. Sie gäbe alles, könnte sie zuvor Elsalill in die Arme nehmen. Aber – sie gibt ihr nur den Blick zurück. Sie geht zu dem alten Roßhaarsofa. Ihr Strickzeug liegt schon bereit.
Elsalill kommt noch einmal zurück. Sie ergreift die Hand ihrer Mutter. Sie tut, was nicht Brauch ist an der Westküste: sie küßt ihrer Mutter Hand. –
Dann geht sie mit Vinzenz. – – –
Frau Jeß sieht den beiden hinterdrein. Die hohe, dunkle, kantige, biegsame Männergestalt, Elsalill weiß wie Licht und wie von innerlichem Schein. Diese zwei . . .
Die gleichfalls helle nordische Haut von Frau Jeß überfließt plötzlich blutrot, wie bei einem jungen Menschen. Die Deichgräfin rückt die große Gemmenbrosche zurecht. Eine seltene Verlegenheitsbewegung bei ihr. Sie greift hastig zum Strickstrumpf. – – –
Wer hob zuerst die Hand? Wer will es sagen? Es ist wie damals, als sie zum Sterben von Olsen-Großmutter gingen. Die Finger von Vinzenz und Elsalill haben sich ineinander verschränkt, als sie die Schwelle überschritten. »Hier, Elsalill, hier!«
Elsalill steht vor dem Schragen, Vinzenz hat Fichtenbruch über das weiße Linnen verstreut. Zu Häupten liegt ein Strauß Schneerosen. Elsalills Hand gleitet leicht über das Grün.
»Soll ich gehn, Elsalill?« Vinzenz sagt es wie vom jenseitigen Ufer.
Elsalill schüttelt den Kopf. Als wäre sie mit Gott allein, kniet sie nieder. Sie legt die Arme um die Schneerosen. Sie schmiegt ihr Gesicht zu ihnen wie zu einem andern geliebten Gesicht. Dann ist es, als ob der Tausturm noch einmal zurückkommt. Er schüttelt ihre Glieder und ihren jungen Leib. Elsalill weint. Zum erstenmal nach dem Tode von Klaus. Nicht lautlos wie damals am Heck. In tiefen, klagenden Tönen weint sie, wie ein verlassenes Kind. Vinzenz steht neben Elsalill. Er rührt sich nicht. Jetzt ist er nicht mehr am fremden Ufer. O nein. Er ist ganz nah. Nah. – Er sieht draußen die Sterne aufziehen, groß, wissend. Er hört den Ruf des Kuckucks, des Totenvogels. Aber er hört auch den zitternd durstigen Liebesschrei des Kauzes. Die Drossel hört er aus dem Fliederbusch neben der Haustür. Taumelnd wie Traum und brunnentief. Wie in jener Nacht. In jener Nacht . . . Alle uralten Erdgeheimnisse quellen wie Purpur aus dieser kleinwinzigen Kehle!
Elsalill weint noch immer. Vinzenz steht regungslos. Nein, er ist nicht mehr jenseits des Stromes. All dies rundum ist in ihm. – Wie damals. – Aber das ist das Wunder: auch Elsalill ist in ihm! Jeder harte, dumpfe Stoß seines Herzens muß ihr weh tun.
Da denkt er plötzlich der Lassings, die in Harnisch und Stahl gingen. Kann man nicht sein Herz herausreißen und allzu wildes Schlagen zerdrücken mit dem eisernen Handschuh?
Ein Lächeln voll Güte geht um seinen Mund. Dann steht er wieder, wie ein erzner Ritter. Er bewacht Elsalill vor sich selber. –
Eine Stunde mag dies gewährt haben. Frau Jeß erträgt es kaum länger. Als sie aufsteht, hört sie Elsalill sprechen. Sie setzt sich noch einmal.
»Vinzenz,« – Elsalill hebt ihr Gesicht auf von dem Laken mit den Schneerosen – »Du sollst mich nicht mißverstehen.« Elsalill weiß gar nicht, daß sie das »Du« zwischen ihnen eingeführt hat. Ihre Stimme, die sich hart machte, fängt an zu zittern. »Ich weinte, daß ich um Klaus nicht so trauern kann . . . ich meine . . . nicht wie . . .« Sie sieht sich gepeinigt um. Ihr Gesicht spannt sich, ihr Körper zuckt. »Vinzenz!« schreit sie plötzlich. Sie stürzt sich zu ihm hin wie zu ihrem Retter. »Was ist das, Vinzenz? Ich liebte ihn doch?« Die Worte zerbrechen ihr.
Er nimmt ihre Hände in die seinen. »Du liebtest ihn, Elsalill!« sagt er fest. »Quäl dich nicht um das Wie. Gott weiß, du liebtest ihn.«
Elsalill lauscht, wie wenn gute Botschaft von ferne kommt. Die Spannung ihrer Glieder löst sich, und das Zucken läßt nach. Ihr Gesicht wird kindlich. –
Plötzlich zieht sich die Stirnhaut über ihrer Nasenwurzel wieder zusammen. Ihre Augen fangen aufs neue an, schmerzhaft zu grübeln. – »Wirst du mir das Letzte erzählen?«
»Habe ich laut geschrien?« denkt Vinzenz. Nein. Er vergißt, daß er sein Herz im eisernen Handschuh hält. Kaum wie der Schatten eines wehenden Rauchs ging es über sein Gesicht. Er bückt sich hastig über Elsalills Hände: Nur einen Atemzug lang nicht ihm in die Augen sehen. »Um meinetwillen!« Er stammelt. »Wartest du noch um meinetwillen?« –
»Du Guter,« sagt Elsalill. Sie gebraucht die Worte von Klaus, unendlich süßer Barmherzigkeit.
Als Vinzenz sich aufrichtet von ihren Händen, beugt etwas Elsalills Gesicht nach vorn. Sie tut und weiß kaum. Sie küßt Vinzenz auf die Stirn. Als sie es tut, erscheint alles gelöst und beruhigt. – – – –