Friede H. Kraze
Maria am Meer
Friede H. Kraze

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Nun braucht keines der Kinder aus den Kavalierhäusern noch einmal zitternd vor Ungeduld in sein kleines Bett steigen. Nun ist Weihnachten.

»Jetzt richten sie die Garbe auf!« denkt Vinzenz von Lassing. »So lange haben sie auf mich gewartet!«

Auf 10 Uhr lautet die Verabredung. Jetzt ist's halb elf vorbei. Arg Staunen soll's schon geben! Ob eine ihn verstehen wird?

Er rückt zum Fenster des Abteils. Sein Nebenmann ist eben ausgestiegen. »Wo hielt der Zug?« »Friedrichstadt!«

Die Antwort ist karg. Wozu ein Gespräch mit dem Fremden? Dem hohen, sehnigen, dunklen Mann mit dem schmalen Schädel und der anderen Sprechweise. Der die Namen der Ortschaften nicht mit geschlossenen Augen auswendig weiß. Wie jeder hier.

Aber sie nehmen sich nicht lange mit ihm Zeit. Fortwährend hält der Zug. Fortwährend gibt es Aus- und Einsteigende mit Paketen, Schachteln, Koffern und Körben beladen, letzte Weihnachten.

Vinzenz sieht hinaus. Kein Baum. Kein Strauch. Winterfalbes Weideland.

Unten matt und sterbend steht das Meer. Nordsee – Mordsee!

Hier und dann ein Gehöft. Wie eine Insel schwimmend im Grenzenlosen. Zwischen den vom Westwind zerzausten Linden das niedrige, rotbraune Backsteinhaus, Scheunen und Ställe. Alle Firstbalken auslaufend in die uralten, geheiligten Wotanzeichen: die Pferdeköpfe!

Und wieder das Grenzenlose. Wie die Ewigkeit. Wie seltsam ist dies alles! Wie uralte Heimat empfindet er dieses Land! War im Dämmer der Zeiten vielleicht sein Ahn hier zu Haus? Folgte er dem großen Zuge, der dem herandrohenden Gletscher enteilte, dorthin, wo die Sonne nicht so schmerzhaft stirbt. Nicht so todesbang begraben liegt! Hatte ihn, den urfernen Enkel, die Heimat gezogen?

Nah sind ihm hier die Menschen, in ihrer kargen, verschlossenen Art. In ihrem stolzen sicheren Herrentum. Wie eigen Fleisch und Blut. Der Deichgraf zum Beispiel. Elsalills Vater. Er sieht die lange, hagere, feste Friesengestalt mit den eng aneinandergerückten, klugen und zugleich idealistischen Augen unter der ausgebuckelten Stirn. Die Jeßens stammen mütterlicherseits von jenem Pfarrherrn, der mit seinen Kirchenbüchern im Braubottich auf dem hohen Moore angeschwemmt wurde zur Zeit der letzten großen Manndränke, von der greulichen Sternrute geweissagt auf das Jahr Eintausendsechshundertundvierunddreißig!

Damals – damals! –

In die dunklen Augen Vinzenz' von Lassing tritt Feuer und Eisen. Er sieht das Wasser hereinwuchten wie ein stählerner Riese durch die Balumer Wehle, die nichts dichten kann. Die fetten Triften, grün wie peruanische Emeranthen, von Hunderten von Rindern besternt, sieht er, verdammt zur Trauer des Watt. Sieben Kirchspiele wie ebensoviel Spiele Nüsse dem blanken Hans in die gierigen Hände getan, daß er seine grause Lust damit habe. Denn sie spotteten Gottes um jene Zeit in ihrem Reichtum und großen Gut. Die Stimme des einzelnen, der zur Buße rief, verhallte. Da rettete Gott den einzelnen und einige mit ihm und gab die anderen dahin als Raub, wie zur Zeit, da die Arche sich niederließ auf dem Ararat.

Ja, solcher Not mag Elsalills Vater entstammen! Solchem Mann! Der im Braubottich nichts als Gott mit sich nahm. Die alten geheiligten Bücher seit der Rungholter Flut!

Schon wieder hält der Zug. Jemand steigt ein mit einem großen rotbeerigen Strauß. »Jetzt steht der Pfahl!« denkt Vinzenz. Die Garbe wird erhöht! Brotkorn, schwer, zehnfältiger Frucht, wie nur die Marsch es trägt, wo das Meer mit der einen Hand nimmt und mit der andern gibt. Die Vögel sollen ihre Lust haben auf das heilige Fest. Wie es Brauch war, da noch Frau Holda in den Rauchnächten ausging und die Spinnstuben segnete und das heilige Herdfeuer.

Er hört das Aufrauschen der Frucht. Die sieben Raben umtanzen das goldene Heidenopfer.

»Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all . . .«

Sie singen das Lied des weißen Christ.

»Was für ein Abenteurerfahrt!« denkt Vinzenz Wird er ihn noch ereilen, den verlornen Sohn? Die Heimat stieß ihn aus, und er geht zu sterben, hat Olsen-Großmutter gesagt. Als Leichtmatrose hat er Heuer genommen auf der Swantje. Über Rio nach Valparaiso. Weiter weiß Elsalill nichts. Weiter weiß vielleicht er selber nichts. Vielleicht, daß es ihn umtreibt. Immer so zwischen Ziehen und Jagen – hin – her, her – hin. Aber plötzlich: Vinzenz sieht Elsalills Gesicht, wie er es gestern gesehen, am Hecktor. Dieses weiße Gesicht ohne Zucken ohne Laut, nur von Tränen überströmt wie von Bächen und zu ihm erhoben in einem Vertrauen ohne Grenzen.

Er kann das Sitzen in dem beruhigt hinschweifenden Zug, dem engen Abteil, mit dem nahen Gegenüber kaum länger ertragen.

Elsalill! Elsalill! Was ist das Ende hiervon?

Sie hatte es ermöglicht, die Mädchen beiseite geschafft und den Deichgrafen mit seinem Gichtanfall so ruhig und fest in seinem Zimmer gehalten, daß der Sohn wenigstens vor seiner Mutter knien könnte, ihre Hände erfühlen auf seinem verfehmten Haupt. Aber Maat, der Hund Ewerts, hatte alles zuschanden gemacht. Er war seinem Herren nachgerast. Laut und grauenhaft heulte er um das Schloß. Der Hardesvogt wurde stutzig. Mit seinem verwickelten Fuß begann er den Rundgang. Da sprang Ewert zum Fenster hinaus, in der Angst, seine Mutter könnte den Tod haben von dem Schrecken. Er hatte sie noch nicht erblickt. Hardesvogt Jaspersen aber ließ den Gemeindediener kommen und im Haus wohnen, weil auf die elenden Frauensleute kein Verlaß wäre.

Dies alles hat Elsalill Vinzenz von Lassing erzählt. Klaus, ja Klaus, er war so sehr jung! Vinzenz sieht wieder ihr kleines, blasses, mütterliches Lächeln, wie sie das Gesicht zu ihm aufhob. Und das Staunen, das es plötzlich zu verwirren schien.

»Aber Sie?« sagte Elsalill plötzlich. Sie schüttelte den Kopf. Man hatte kurz vorher festgestellt, daß die beiden Freunde in demselben Monat und Jahr ihren Geburtstag feierten. »Ja, Sie!« wiederholte Elsalill langsam und mit tiefer Bedeutung.

Und jetzt reist Vinzenz jenem anderen hinterdrein. Warum? Seine Klugheit spottet.

Soll er nicht aussteigen auf der nächsten Station und die Rückfahrt antreten mit dem Zug von Hamburg nach Norden? Er würde noch zurechtkommen zur Weihnachtsfeier. Bei ihr!

Er fährt zusammen über diesem stummen Wort. Es verriet ihn ganz vor sich selber.

Die Landschaft ist nicht länger die der großen Einsamkeit: Glückstadt – Itzehoe – Elmshorn – mehr Bäume, mehr Häuser, mehr Menschen. Man nähert sich der großen Stadt!

Plötzlich: Dammtor! Sternschanze!

Diese alten Hamburger Bahnhöfe haben etwas Ergreifendes in ihrer spießigen Behaglichkeit.

Als Vinzenz aussteigt, knirschen die großen blechernen Milchkannen aus Kremperheide und Wilster auf dem schwarzen Bahnkies. Der Schmutz spritzt hoch an ihren dicken, blank gescheuerten Bäuchen. Es ist Hamburger Schmutz, Hamburger Wetter! Zwischen Plymouth und Dover mögen die Nebelhörner gut Arbeit haben. Vinzenz fühlt sich versinken in Schwarzgelb und Graugelb. Da kommt seine Tram.

Er fährt auf das Geratewohl zum Hafen. Beim Elbpavillon steigt er aus.

Am Stintfang hat die Atmosphäre noch immer etwas Beklemmendes. Dort liegen die Walfischfänger, die Anfang November aus den Grönländischen Gewässern kamen, strotzender Fracht. Die Hamburger Transiedereien mögen längst aufgeräumt haben mit diesen Tausenden von Zentnern gelblichen Specks. Aber wenn man die Augen schließt, kann man sich immer noch einbilden, irgendwo am Horizont taucht eine niedere dunkle Hügelkette auf mit hundert schlanken springenden Brunnen: eine Walfischherde. Man kann sich einbilden, unter einem brennenden. ganz und gar unmöglichen Himmel schwimmt eine riesenhafte Burg aus blauen und grünen Gletscherblöcken: ein Eisbär ist Herr der Burg.

Ja, so läßt sich's träumen von Stintfang bis Nedderboom. Trieft nicht noch immer gelbes Fett von Männerarmen, mit Muskeln dick wie Schiffstaue? Die nackte Innenseite mit Buchstaben und seltsamen Bildzeichen kunstvoll punktiert.

Vinzenz schreitet scharf zu. Er hat nicht Zeit zu träumen. Kurz ist der Tag, groß ist der Hamburger Hafen.

Um ihn her drängt es und stößt, schiebt, spuckt. flötet und flucht. Eisen knirscht an Kaimauern. Sirenen übergellen einander, Landungsbrücken rasseln, Hausierer schreien, Lasten klatschen auf oder dröhnen dumpf, Karren quietschen.

»Hoi – upp! Man tau! Wihnachtsabend!«

Wie soll man sich zurechtfinden, wenn man hier nicht Bescheid weiß! Schon eine Stunde streift Vinzenz am Bollwerk entlang, zwischen ungeheuren Speichern, den Lagern der Überseefirmen, Fleetbrücken, Kranen. Im plötzlich durchbrechenden Dunstrot der versinkenden Sonne steht das Gezwirn von Raaen, Takelwerk, Masten und Schornsteinen wie ein entlaubter Wald!

Vinzenz weiß nicht, daß er mit geblähten Nüstern schreitet. Wie immer, seit er der Küste nahe ist und salzener Atem ihn trifft. Ohne daß er weiß, antwortet etwas in ihm der ewigen Lockung, dem Abenteuer, dem Geheimnis, dem Meer.

»Die Swantje? Woll, woll!« Jemand weiß Bescheid. Vor acht Tagen hat sie ihre Ladung Kaffee gelöscht. Sie mußte eine kleine Havarie in Pflege geben. »Beidrehen, Herr. Immer auf Kehrwieder zu halten!«

Als Vinzenz kehrt macht, fängt sein Ohr plötzlich ein Lied. Eine süße, wehmütige Melodie. Die Mädchen seiner Heimat singen sie, wenn sie am Brunnen auf den Liebsten warten. Vinzenz tut etwas Seltsames. Er weiß nicht, daß er es tut: Er nimmt den Hut ab. Wie daheim vor der Prozession.

Auch hier kommt eine Prozession. Er ist in die Nähe der Auswandererhallen geraten. Wo die großen dumpfen Bäuche des Zwischendeck widerwärtig bereit stehen, das »deutsche Leid« zu empfangen.

»Auch das Abenteuer!« denkt Vinzenz, wie er sekundenlang den Hut lüftet vor dem Zug. Mit Bündeln, Kisten und Werkzeug, mit Manuskripttaschen, Drehorgeln, Petroleumkochern, Vogelkäfigen und Schreibmaschinen beladen, ziehen sie vorüber. »Wohl auch das Abenteuer, die Arbeitsscheu, die Geldgier und die Unruhe des Blutes. Aber zuletzt immer doch irgendwie: das deutsche Leid.«

Nun wird wieder fremde Erde davon durchblutet, fremder Acker damit gedüngt werden!

Vinzenz reißt sich herum. Etwas in ihm knirscht.

Wieder hastet er vorbei an kleinen Kuttern und Schuten, breiten Schmackschiffen, Schlupen und Postewern für die Elbstationen. Hier war er doch schon! Er sah sie doch bereits, die schwarzen, türmenden und dennoch rassigen Leiber der Vollbluttraber; Lloyddampfer, Schiffe der Hapag- und Woermann-Linie.

Mein Gott, hier, hier! Also dreimal ist er nun daran vorüber gepirscht wie ein Blinder. Ein altmodisches Schiff, einen gemalten Frauenleib, mit verwirrenden Brüsten als Gallion. »Swantje« darunter auf ein verwaschenes Band gemalt. Es hängt einem Seehund zum lachenden Maule heraus. Wohlan . . .

Vinzenz läßt sich zu dem Schiff hinüberrudern. Es scheint ausgestorben. Keine Seele antwortet dem Ahoien des kleinen Bootsführers. Nur um das Achterdeck kreischt es gellend, weiß, schön, wild.

Sieh, so! Nun haben sie ihn. Eine alte Teerjacke, Schürze vorgebunden, steht über die Reeling gelehnt, füttert Möwen.

»Ewert Jaspersen!« Dreimal schreit Vinzenz den Namen. Das dritte Mal bringt soweit Erfolg, daß der Alte aufblickt. Er formt ein Hörrohr aus schwieligen Händen.

»Jasper Ewertsen?« Siebenmal sind sie zusammen die Linie passiert. »Töw, Biest!« Er straft mit einem ausgiebigen Schollengegrät eine ungebärdig fordernde Möwe. »War seit vorgestern nicht mehr an Bord. Jasper. Seinen Hund suchen. Maat!«

Vinzenz sieht das Hundegeknäuel vor sich, wie es den Deich herunterrollt. Jenen Abend! Jenen Abend! »Jasper . . .« Der Alte macht eine bezeichnende Handbewegung nach der Stirn. Wenn man so alle die hellen Nächte zusammen auf See liegt . . . Besorgnis tritt in die ganz wasserhellen kleinen Augen. An irgend etwas muß sich wohl der Mensch hängen! »Jasper – und einmal, wir kamen und kamen nicht weiter. Immer im Dreh. Wie im Leberthran! Damn'it. Und 35 Grad. Und das Wasser wurde knapp. Da hat der dumme Bengel Meer gesoffen. Na . . .« Er macht einen Strich mit der Hand, als streiche er den Namen Ewert Jaspersen oder umgekehrt, wie er ihn nennt, von der Schiffsliste. »Allright – wir kriegten das Schiff wieder flott, der Doktor und ich. Doktor Paulsen war ein netten Mann. Aber« – und wieder die bezeichnende Bewegung zur Stirn.

Wann Jasper wohl an Bord kommen würde?

»Wieder an Bord? O so!«

Ja, das kann nun niemand sagen. Übermorgen abend soll Swantje in See stechen!

Vinzenz erkennt die Unmöglichkeit weiterer Unterhaltung. Er grüßt, entschlossen, übermorgen abend abermals hier zu sein: »Such man Jasper bei Schädel-Tommy in Mattentwiete. Wo immer Cholera ist!« Schreit der Alte, winkt, dreht heftig ab. Als nur noch die Heckflagge in Sicht: »Düwelstüg,« hört man unwirsch fluchen. »Schietkram!« Ein brenzlicher Geruch schwimmt auf bläulichem Qualm durch eine Lukenöffnung.

Der kleine Bootsführer lacht. »Junge, Junge, den Koch sein Mittag brennt an!« Sie fahren an Land.

»Schädel-Tommy?« fragt Vinzenz, als das Boot anlegt.

»Schädel-Tommy ist 'n bischen dwatsch.« Der frische, fixe Kerl zeigt alle seine gesunden Zähne. »Ist mit Orion gefahren, als erster Maat. Bei Cap Horn – der Herr hat vielleicht von gelesen damals – elf Tage trieben sie doch auf eine Planke in Wasser. Und mit Messern zu Gange, wenn einer noch und wollte anfassen. Und ümmer so die Haifische! Tommy hat ein gutes Herz. Ja, dann ist das dem aufs Gehirn geschlagen. Konnt nicht mehr auf See. Tod im Wasser – das war ihm zu greulich!«

So denn mußte ja Tommy Sören Totengräber werden in sein Heimat, Toftlund. Aber kaum zwei Jahr – schon war er wieder hier. Mit ein ganze Kiste voll Schädel. Daß die auch in der Erde kein Ruh haben, wenn ein Neuer kommt, das hat ihn zu sehr unglücklich gemacht. Und außerdem – er brauchte doch Seewasser. Na, und so hat er denn eine Schifferkneipe aufgemacht. Jedes Kind in der Mattentwiete konnte sie zeigen.

Vinzenz biegt in eine der engen Straßen. An einem Toreingang lehnen ein paar Weihnachtsbäume, struppig, wie gerupft. Seine Gedanken machen wieder den jähen Sprung. »Heimat« sagen sie und meinen nicht das Schloß auf der Bergklinge. Oder meinen sie es doch? Nur anders als früher?

Er hat des Wegs nicht acht, wie er grübelt. Er schreckt plötzlich auf. Wohin ist er geraten? Ein Bild steht ihm vor Augen. Einmal hat es alles in ihm zerwühlt: ein enger Häuserschacht, wie ein aufgebrochener Leib, Ekel ausspeiend, Fäulnis. Im Grunde dieses schmalen Schachtes Menschen. In Raserei versteint, stauen sie nach oben, stauen nach dem winzigen, dunstig verwolkten Lichtfleck. Eine Frau reißt sich die Kleider vom Leib im Fanatismus.

Vinzenz fühlt eine leichte fliegende Fremdheit seiner Glieder zwischen diesen engen, feuchten, lastenden Mauern. Aus tausend feindlichen Augen stieren sie ihn an. Dennoch ist er wie losgelöst im Raum, allein in der Ewigkeit und doch mit all diesem verhaftet in einem fremden Müssen und einem Soll.

Eine scharfe Neugier, ein dunstiges Spüren, das er in dieser Weise nie gekannt, zieht ihm den Kopf zwischen die Schultern. Zugleich fühlt er eine feine rieselnde Kälte zwischen den Schulterblättern. Geht jemand hinter ihm?

Er denkt an seine Wälder, deren Herz das Knirschen der Axt noch niemals vernahm. War es nicht oft gewesen im Lautlosen, als hielte jemand mit ihm Schritt? Als seien Augen tiefsten Wissens schweigend auf ihn gerichtet? Aber das ist es nicht hier. Das ist es nichts Auch nicht wie neulich am Deich, als der Nebel alles um ihn her fortnahm. Als er ganz allein zurückgekehrt schien auf eine ausgeglutete und ausgestorbene Erde. Ein Revenant, der sich selber nicht errufen konnte.

In diesem Augenblick trifft ein widerwärtiges Lachen sein Ohr. Gleich darnach ein Fluch. Eine Flasche klirrt. Mit einem gellenden Schrei stürzt ein Kind aus einem Haustor, wie ein Stein gegen seine Knie geschleudert.

Er bückt sich, hebt das Kind auf. Es sieht ihn an, verstummt, staunt verworren aus lauernd schielenden Augen.

Aber wie er sein Portemonnaie nimmt, hat er immerfort die gleiche unpersönliche Empfindung, und als sähe er sich selber zu. »Vielleicht muß man um Entschuldigung bitten, wenn man Geld gibt,« denkt er flüchtig. »Ja, es ist wie mit diesen,« denkt er, als ein freches, geschminktes Gesicht im Dunkel der Twiete auftaucht. Ehe die großaufgerissenen Atropinaugen über den gedoppelten Lidern ihn erspähen, verschwimmt es schon wieder im Dunst. »Es ist alles das gleiche.« Er hat das Geld gefunden. Es ist ein 5-Mark-Stück.

Das Kind sieht zweifelnd und ungläubig auf die große Münze. »Für dich!« sagt Vinzenz. Er macht eine Handbewegung zu dem grob zersträhnten Haar. Er hat immer den Weg zu Kindern gewußt.

In die lauernd schielenden Augen tritt langsam ein andrer Ausdruck: banges Sich-Erschließen einem Unerhörten . . .

Aber das Geld, dieses große, blanke, silberne Geld! Da greift die Kinderhand zu. Und dieser Griff behutsam und raffig zugleich scheint Vinzenz aufzuschreien, stärker als Lachen, Klirren und der Fluch. Es ist der uralte, von Geschlecht zu Geschlecht vererbte und gezüchtete Diebesgriff, der Instinkt geworden ist zuletzt.

Ja, hier in solchen Twieten werden sie gezüchtet die uralten Schmerzen und Laster und Gierden der Menschheit. Wie die Cholera hier ihre Stätte findet. Oder früher die Pest.

Ist dieser ganze schwebende Dunst nicht voll Sünde und Blutschuld und voll Sehnsucht nach Licht und Erlösung?

Er zuckt zusammen. »Elsalill!« denkt er. Er sucht die kleine spitze Schulter, die kleine Hand gebogener Finger wie eine Klaue, die das Geld zu sich gerissen hat.

Aber das Kind ist fort. Er weiß, sein eignes Gesicht hat das Kind verscheucht. Sein hartes Herz und sein Ekel schrieb zu deutliche Schrift. Da versucht er, gesenkten Kopfes, diesem wirren Netz bleicher Gassen zu entkommen.

Was hat ihn hierher geführt an diesem Tage? Was hält ihn fest? Denn ihm scheint, er geht im Kreis. Immer der gleiche aufgeborstene Leib voll Fäulnis und Grauen um ihn her, dieselben Laute, das Laster, dieselbe unpersönliche Schattenhaftigkeit des Geschehens, als vollzögen sich ferne, fremde Schicksale, unerlöster geheimer Gewalten Muß und Soll. Und immer wieder dieses Wissen um Verkettung, dieses geheime Verwobensein. Dieser Alptraum von: das bist du! –

Plötzlich – er ist in St. Pauli. Es ist Abend geworden. Die roten Laternen brennen schon hier und da. Vinzenz achtet nicht darauf. Jetzt nur in Wärme und Helle! Eine kleine räucherige Kneipe mit erleuchteten Fenstern liegt der Gasse überquer. Er geht hinein. Er geht wie jemand, der sein eigenes Gespenst erblickte.

Sie bringen ihm zu essen. Gebackene Scholle. Ein Beefsteak. Kartoffelsalat mit roten Beeten garniert. Scharfe Gurken und süßes Apfelkompott. Er ißt alles auf. Als hätte er seit Wochen gehungert. Er weiß nicht, was er ißt. Er trinkt in einer stumpfen, fremden Gier.

Nachdem er gesättigt ist »wie ein Tier, wie ein Tier!« läßt er sich genau Bescheid sagen über die Mattentwiete.

Es ist völlig Abend geworden inzwischen. Weihnachtsabend! Ein Mädchen in schwarzem Sammetmantel spricht ihn an. Er drückt ihr ein 5-Mark-Stück in die Hand wie dem Kinde. »Geh,« sagt er, »geh!« Seine Stimme ist traurig und gut. Sie sieht ihn an. Sie lacht klirrend. Dann verschleiern sich ihre Augen. Vinzenz kommt an einer Kirche vorüber. Sie ist erleuchtet. Er geht hinein und setzt sich auf eine der letzten Bänke. Er hört nicht, was der Prediger sagt. Er hört die Orgel, er sieht die hohen Christbäume brennen, ihm wird sanft. Er denkt Elsalill. Er denkt ihren Namen heilig wie den der Gottesmutter.

Diesmal verirrt er sich nicht wieder. »Schädel-Tommy? Da drüben, gleich um die Ecke.« Ein kleines schmalgiebliges Häuschen steht neben dem Speicher, dessen oberstes Stockwerk wie eine Bergspitze in Dunst zerschmilzt. Neben der Haustüre ist die Wirtsstube, klein wie eine Kabine. Er tritt ein.

Zuerst unterscheidet er nichts vor blauem Qualm. Dann sieht er etliche Tonpfeifen. Wie bleiche Sterne über den Gläsern. Unter dem Deckbalken schwebt die übliche Brigg. Eine zweite, in Kork geschnitzt und unter Glas, hängt über dem hohen, mit schwarzem Haartuch bezogenen Sofa. Ein Haifischskelett präsentiert Fidibusse. Auf einem ringsum laufenden Wandbord sind Menschenschädel und -knochen kreuzweis geordnet.

»Ssüh, düsse nu! Spitzboven! Fief und twintig Johr hebb se Proceß föhrt,« sagt gerade eine tiefe Baßstimme, die immer irgendwo unerwartet, und als ob sie nun doch zu tief geraten wäre, ganz hoch und neu wieder einsetzt.

Bei Schädel-Tommy müssen die beiden alten Prozeßfeinde nicht nur friedlich nebeneinander aushalten, sondern jeder hat auf die ihm kreuzweis vorgelegten Schienbeine seines alten Widersachers zu passen. So mögen sie sich am ehesten keinen Knüppel dazwischen werfen.

Als Vinzenz eintritt, sitzen an vier kleinen Tischen etwa ein Stieg Männer. Man lacht über Schädel-Tommy.

Der neue Gast fängt an, im Tabaksqualm die Gesichter zu unterscheiden. Das, was er sucht, ist nicht darunter. »Guten Abend!« Er tritt an einen der Tische.

Man mustert ihn zurückhaltend, nicht sichtlich erfreut, den Gruß kaum erwidernd. Niemand macht ihm Platz. Er langt sich, ruhiger Gebärde, einen Stuhl von der Wand und schiebt ihn zwischen zwei andre.

»Was steht zu Diensten?« Schädel-Tommy schlürft heran. Er kann auch Hochdeutsch, wenn das not tut. Vinzenz verlangt Grog.

»Rum oder Madeira?«

Er ist für Rum. Hat er vorhin mit dem Stuhl Achtung erzwungen, so erweckt er jetzt Wohlwollen. Das lange, weiße Gesicht Schädel-Tommys mit den hoch hinaufreichenden, hier und da ausgebissenen Backenbärten erheitert sich beim Brauen:

»Meine Lebenszeit verstreicht,
Stündlich eil ich zu dem Grabe . . .«

»Schweig man still, Tommy,« ermahnt eine feste, knorrige Stimme, »wenn man 'ssund ssünd!«

Aber obwohl sie alle gesund sind bis auf die Gicht, die wahrhaftig zu einem richtigen alten Seefahrer gehört, schenkt ihnen Schädel-Tommy keinen Vers.

Vinzenz, den die Stimmung des Fernen, nebelhaft Unwirklichen wieder umschleicht, legt seine Arme auf den Tisch und um sein festes Glas herum. So machen es die andern. Das gemeinsame Trinken scheint ihre Reserviertheit abzuschmelzen. Er fragt seinen Nachbarn.

»Jaspersen? So 'n Schleef! War neulich ein paar Tage verreist. Kommt jeden Abend, wenn er hier vor Anker liegt.«

Sie sehen einander vielsagend an. Irgendwie nehmen sie den Betreffenden nicht ernst. Aber ohne Bosheit.

»Alle Menschen müssen sterben!« Tommy schraub am Docht einer qualmigen Petroleumlampe, die irgendein schauderhaftes Seeungetüm in seinem gegitterten Bauche hält.

»Haben all genoch ges-torben für heute, mein Tommy.« Ein gutmütiges Gesicht unter einer Balggeschwulst, groß wie ein Taubenei, wiegt hin und her. »Wokeem schall dat utholln?«

»Alles Fleisch vergeht wie Heu . . .« Tommy kommt mit der qualmigen Lampe nicht zu Rand. »Damn'it,« schreit der Gutmütige, »wo mir das doch all über ist!«

Er wendet sich gemäßigter zu Vinzenz.

»Wenn jemand und trägt eine Glückshaube auf sein bloße Brust, wie die lüttjen Kinnerkens manchmal mit zu Welt bringen, denn so kann der nicht ertrinken. Mein Mutter – gute alte Frau, –« er tippt sich bedeutungsvoll auf die Bluse, »bei ein Hebamme in Söder Brarup. Um drei Thaler!«

Wieder hat Vinzenz die Empfindung, daß alles ihm ferner rückt, im Nebel flutet. Er sieht ein Schiff in Seenot. Der Sturm rast. Kommandorufe gellen. Die Rettungsboote werden flott gemacht. Matrosen und Passagiere zertreten sich wie die Tiere um ihr Leben. Einer ist ruhig und sicher und tut seine Pflicht. Ihn geht das nichts an. Er ist damit nicht gemeint. Er trägt sein Glückshäubchen auf der bloßen Brust.

Vinzenz gibt sich einen Ruck. Er will lieber nicht mehr trinken. Er kann eine kleine Wassermelone mit Tokayer gefüllt auslöffeln. Wer aus Weinländern stammt! Aber dieses heiße, wilde Zeug . . .!

»Chott, so die kleinen Kinnings!« Tommy hat einen kleinen blanken Schädel vom Bord gegriffen. »Aus das Dunkle und in das Dunkle. Dazwischen?

Da liegt viel Wehdag zwischen!

Und wenn dann die Haifische . . .«

»Hast nich besser und lassen die Luders allein, heut Abend? Vor twe Joahr . . .« Ein kieselblanker Rotbäckiger bekommt runde betrübte Kinderaugen. »Ssüh, da hat ich noch mein lüttje Fanny auf mich zu warten. ›Vater,‹ sagt sie, ›was ich all auswendig kann für dich!‹ Und weiß Gott, die ganze Geschichte von Heilands Geburt und Engel und Könige aus Morgenland kann sie herbeten wie der Pastohr!«

Er sieht mit den runden, betrübten Kinderaugen Vinzenz an.

»Düssen ist mein besten!« Tommy hält den kleinen blanken Schädel zwischen Daumen und Mittelfinger. Man sieht noch zwei kleine reizende Vorderzähnchen im Unterkiefer. »War ein alte s-teinerne Tafel an der Kirchmauer zu Süden,« sagt Schädel-Tommy. »Mit ein klein snurrig Mäken in s-teifen Rock und Mieder wie eine feine Dame zu Tanze, frühermals, und lacht und hat ein klein Lämpchen in ihr Hand.

Wenn ich und kann nicht schlafen, von wegen die Haifische – allemal kommt Wisinicken mit ihr lüttje Lampe zu leuchten!«

»Kinnings, Kinnings!« Die Stimme des Knorrigen wirkt so lächerlich über der runden gelbgrauen Schifferbartsfraise. »Nu man aber noch 'n s-teifen. Wisinicken hieß sie?«

Schädel-Tommy schweigt. Wenn er sich's überlegt, war der Name ausgewaschen vom Regen.

»Die war mal wie 'ne funkelneue Brigg, mein Antje.« Der mit dem Taubenei vertraut Vinzenz aufs neue. »Alles saß richtig. Augen so blank. Und war mir treu bis ins Grab!«

»Sie ist gestorben?« fragt Vinzenz.

Das Taubenei wiegt ängstlich auf und nieder. »Da ist nämlich der andre gekommen dazumal. So'n Feiner! Hat ihr woll'n trösten. Wie das so geht. Und ich auf See.«

»Olle Schlampe in ihre Kneipe in Wilhelmshaven. Lauter s-lechte Kerls gehen da.« Der Knorrige hat sein viertes Glas. Dann wird er jedesmal schlimm.

»Und du, Carnaille, weißt denn du für sicher, ob das kein Kuckucksei is wesen – dein lüttje Fanny?«

»Halt's Maul!« Der Knorrige steht wie ein Stier mit eingezogenem Kopf. Die Adern kriechen aus seinen Schläfen.

»Sie war mir treu bis ins Grab!« Dem Taubenei laufen die Tränen über beide Backen.

»So will ich euch sagen,« Tommy hat in jede Hand einen Schädel gelangt, »Töw, so sieht jeder aus nachher.«

Die Tür ist aufgegangen. Niemand merkt in Aufregung und Qualm, daß jemand eintritt. »Nur kein Streit,« murmelt Tommy, »hinterher ist das viel zu spät!« Er streicht dem kleinen blanken Schädel mit den zwei Vorderzähnen über die Stelle, wo früher die feinen Stirnhaare sich gebläht haben im Winde.

»Hier ist Maat!« sagt eine rauhe und zugleich singende Stimme. Zwei neue Gestalten lassen sich unterscheiden.

Vinzenz steht auf. Irgend etwas tritt neben ihn. Etwas Geheimnisvolles tritt ganz dicht heran.

»Er hat doch immer so'n Schauder vor das Wasser gehabt,« sagt die singende Stimme. »So hab ich ihn ausgefischt.«

Ein junger Matrose legt einen steifen, triefenden Hundekörper auf einen Stuhl. Es ist ein ganz elender kleiner Hund. Ein stichelhaariger Rattenfänger mit einem Kauzkopf.

»Und Jasper?« fragt jemand.

Vinzenz hat inzwischen den zweiten erkannt. Es ist der Schiffskoch, der die Möwen fütterte. Er tippt gerade an die Stirn. »Schnaksch. Arme Jung!« Er steht geduckt und verloren.

»Nur kein Streit! Nur recht lieblich!« sagt Schädel-Tommy. »Die, wo sich nicht vergeben haben, kommen nie über weg! Wo ist arm Jasper abblieben?«

»Wird wohl nächster Tage sich zeigen!« sagt der junge Matrose. »Heut ist nix zu machen. Kommen über die Flethbrücke, Hesselbarth und ich;« er weist mit dem Daumen auf den Koch, »da geht's hoch her. Wie im Zirkus. Ein Kerl und ein Hund. Immer im Dreh und heulen und fletschen. Und der Kerl, das ist Jasper. ›Jetzt ist alles aus!‹ schreit der ümmerlos. ›Alles aus! Aus, aus! . . .‹ Und dreht wieder wie'n Brummküsel und fängt an und beißt auf Geländer und schreit: ›Mutter, mein arm Mutter,‹ und schreit: ›Maat! Du! Maat!‹ Weiß Gott – na . . . Und indem hat er den Hund fest in die Arme und springt mit ihm runter. – Och, das war greulich! Immer gellt der Hund, und Jasper schreit: ›Mutter!‹«

»Wie das so geht!« sagt das Taubenei.

Der junge Matrose hatte das nächste Boot abgekoppelt. Schwimmen konnte er nicht. Von Jasper war nichts zu sehen weit und breit . . . Hier war Maat. Plötzlich im Kielwasser getrieben. Er hatte ihn mitgebracht zu begraben an Land. Der hatte so ein Abscheu vor Wasser!

»Mit Ernst, o Menschenkinder . . .« Schädel-Tommy beginnt im Cembalo. Wie Wind, der aus trostlosen Gegenden kommt.

»Ich möchte zahlen!« sagt Vinzenz. »Es sind 4,75 M.«

Er grüßt und geht fort. Immer das Gefühl, jemand geht hinter ihm.

Er sucht ein Hotel und wirft sich auf ein fremdes Bett. Die Bettlaken riechen dumpf.

»Ob sie noch um den Baum sitzen bei Jeß?« denkt er flüchtig. Dabei scheint es ihm, er habe sich den Schlund verbrannt.

In der Nacht tippt ihn jemand auf die Stirn. »Schnacksch!« Jemand lacht frech mit tottraurigen Augen und geht durch die Twieten.

Nachher ist das wieder vorüber. Etwas steht fortwährend seinem Bett gegenüber und sieht auf ihn hin.

Als Vinzenz am Morgen erwacht, ist er in Schweiß gebadet. Vielleicht sind es die feuchten Laken. Er weiß es nicht. Er fühlt sich nicht krank. Nur müde. Wie zerschlagen. Er weiß nicht, was er geträumt hat. Er weiß nur, irgend etwas Gräßliches ist geschehen in diesem Traum. Elsalill war frei geworden. Und er hatte Elsalill verloren.



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