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»Daß du sie so gesehen hast!«
Die Freunde schlendern Arm in Arm unter der milden Bergung von Nebel und tropfenden Ästen auf dem Weg vor der Schloßkoppel. Sie warten auf Elsalill. Sie wird nicht so schnell umgekleidet sein und freigegeben.
Denn zu welchem Zweck hat Tante Ragnar dieses Jahr als höchste Überraschung das süße Geheimnis eines Kronsbeerlikörs ausgeprobt? Uralt und bewährt »im hohen Norden«. Die Götter Asgards mögen sich daran schon hoch gestimmt haben. Und das eigen gebackene Marzipan? Nicht nach Königsberger Art – wer mag denn hier zu Lande den roten und grünen Leichtsinn –, sondern nach der treu bewährten, sanftbraun zurückhaltenden, nur durch sich selbst wirkenden Weise der Lübecker!
Mußte nicht dem Leib sein Recht widerfahren, nachdem die Seele entrückt war zu himmlischen Feiern?
Daß Vinzenz gerade so sie erblickt hat, Elsalill! Gerade so!
Und plötzlich schlägt es Klaus Andersen: mit diesem Ausdruck Elsalill zu sehen, war dieses nicht immer schon sein Verlangen? Geschah heute das, was er vorhin . . .
Er schweigt benommen. Nicht lange. Er lacht. Ein leicht verlegenes und darum besonders lautes Jungenslachen. Er ist glücklich über alles Sagen.
»Vinzenz,« die hallende Stimme macht sich behutsam, »du hast keine näheren Verwandten mehr?«
»Nein, Bub. Du weißt ja, in Tübingen trug ich zuletzt einen Flor!«
Klaus wagt keine weitere Frage. Ja, gewiß. Damals starb der alte Herr. Aber es gibt doch noch einen Bruder! Stiefbruder? Vinzenz ist der einzige Sohn einer schönen, geliebten, früh gestorbenen zweiten Frau. Die Lassings haben ein Bergschloß. Irgendwo in der Nähe der Leonhardspitze. Wo Bayern und Tirol sich die Hand reichen.
Das ist so ziemlich alles, was Klaus Andersen bekannt ist über die Leute seines Freundes. Der hingegen – Vinzenz – alles weiß er von den Andersens. Klaus wagt keine weitere Frage. Irgend etwas warnt ihn. »Ist man schön, daß wir dich endlich hier haben!« befreit sich die warme Flut seines Herzens.
»Das ist wirklich schön, Bub!« Und wieder Schweigen: Denn Vinzenz, wie er durch den sanften Nebel geht, die verdunkelten Augen Elsalills immer ganz nahe vor den seinen, ist plötzlich weit fort. In einem kleinen Forsthaus mit altersblinden Scheiben und schiefem Gebälk, im Schutz einer Bergkuppe und im Schutz von Rottannen sieht er einen einsamen Mann vor dem Schreibtisch sitzen. Den Mann kennt er.
Ja, hat er denn wirklich sieben Weihnachten da oben gehaust wie Kautz und Falke in einem? Den zahmen Fuchs, den er aus dem Eisen befreit zum Gesellen. Und die Dohle Medardus?
Lichtlein rinnen die Berge herunter in der heiligen Nacht wie goldene Tropfen, von Dorf und Weiler und Hütte. Drunten – er sieht es nicht – er weiß nur, drunten ragt ein Wunder aus Licht und Klang und Frohlocken. Das Dorfkirchlein. Es blüht wie eine Rose im Schnee. Dorthin rinnen alle die goldenen Tropfen. Sie wollen einmünden in den großen Strom. Einschiffen in das Wunder.
Nicht er. Das hat er nicht über sich gebracht, zur Christmette zu gehen. Nein, nicht Mensch zu Mensch in dieser Nacht.
Höchstens die Jagdflinte über dem Rücken, ein Gang durch die weißverhängte Christnacht der Wälder. Nicht um zu töten. Nur weil sich's so gehört: der Stutzen in den Wald.
Vorsichtig! Daß kein dürrer Ast knackt unterm Fuß. Tief fällt er ein in den lichtblauen Neuschnee. Tief und sacht. Es knirscht kaum darunter. Der beruhigte Atem eines Tieres täte gut. Ein Sich-hinein-Spüren in den schweigenden Traum dieser geliebten Wälder. Sie haben – noch nicht lange ist's her – zu der Herrschaft der Freiherren von Lassing-Dombühl gehört. Aber der Erbe – zehn Jahre älter als Vinzenz, der kleine Nachkömmling, – hat die Wälder auf der Bergkuppe und weit übers Joch hinweg verspielt, verzecht, um Frauen vertan bis auf den letzten Stumpf und das letzte Reis. Wie das Schloß auf der Bergklinge, den baufälligen Kasten, mit dem rundäugigen Turm, der in sich zermorscht und doch – Heimat ist! Heimat! –
Jetzt hat der Feudalbaron in eine Kattunsache eingeheiratet. Der Kattunbaron Löffle kann sich einen liederlichen Schwiegersohn leisten, wenn seine einzige Tochter ein Auge auf den geworfen hat. Eine Zeitlang hat er daran gedacht, den alten Kasten da oben zu erwerben, ganz niederzulegen, wieder aufrichten mit Zinnen und Wehrgang und Wartturm. Wie von dazumal, ehe die Bauern den übermütigen Helfenstein von der Weibertreu durch die Spieße jagten und viertelten mit seinen adligen Genossen. Schwerterbraus und Harfenzupfen damals, heute Brausen der Maschinen und Zupfen von indischer Baumwolle. Die Zeiten ändern sich. Aber elektrisch Licht da heroben hat seine Schwierigkeiten. Und die junge Baronin, mit der Krone nachträglich in alle Wäschestücke genäht, hat die Nase gerümpft. So hinauf in die Einöd? Um keinen Preis. Eine Villa am Starenberger See mit Balkons und Türmchen. Das wär's.
Der Herr Papa hat ihr zu dem Baron die Villa geschenkt. Und dem Herrn Schwiegersohn ist's schon recht. München, das Hofbräu und die kleinen süßen Mädels sind bequemer von dorten.
»Ich weiß eine,« denkt Vinzenz von Lassing, »eine wüßte ich, die hätt' mögen hausen auf der Bergklingen. Den wilden Jäger grüßen um die Rauchnächte.« Sein Auge bekommt kühnen Schein hinter dem nebelnden Tropfenfall. Er dehnt den Brustkasten. Jeder Muskel strängt sich. Eine süße, warme, geliebte Last, ihm lachend und knietief im Schnee versunken, trägt er an gegen krachenden Sturm, vorüber der süßen Schwester, der Maria im Baum, dem warmen Kerzenschein der Heimat entgegen.
Aber jäh durchruckt es ihn: Die er weiß . . . Die er weiß . . .
»Magst noch 'n bischen erzählen? Wie du lebst all die Zeit?«
Behutsam drängt die warme Freundesstimme.
»Schlecht und recht,« sagt Vinzenz. Er wirft sich rückwärts. »Du weißt ja, immer hatt' ich die närrische Liebe zu den alten Zeiten und Dingen. Ich habe ein bissel darin studiert in Archiven und Klosterchroniken und Schlössern. Jetzt arbeit ich halt an einem kunstgeschichtlichen Lexikon. Ich mein eine Art Nachschlagewerk. Das P habe ich bereits fest. Und Aufsätze außerdem.
»An einem Lexikon?« zweifelt Klaus Andersen. »Ist das nicht höll'sch langweilig?«
»Ist schon,« möchte der junge Gelehrte antworten. »Anders als du denkst freilich!« Denn was weiß der liebe Bub von den geschichteten Heften Büttenpapier! Anders macht er das nicht, bedeckt mit schlanker Schrift aus goldener Feder: Verse, Verse, Verse! Zu unterst sind sie im Schreibtisch des einsamen Forsthauses. Aber das alles liegt noch in weitem Felde und im Dämmern. Erst wenn einer ganz gewiß ist seiner selbst, soll er Sprecher sein. Und ferner – seine Verse zahlen noch nicht. Jeder Druckbogen vom Lexikon aber bedeutet einen Aar Wald – ein Stück Heimat!
Er möchte das irgendwie andeuten. Sein verschlossenes Herz einen kleinen Spalt der Freundschaft auftun. Auf die Dauer – es ist schon arg, ganz allein mit solchem Herzen hausen.
Aber jetzt schlägt es ihn: Wozu? Für wen ist dies alles getan? Wozu ein Leben, das in die Wälder verlangt, oder verlangt sich auszugeben im dichterischen Gestalten und verfrohnt sich am Schreibtisch im Kleinwerk? Dazu soll's dienen, daß ein einspanniger Mann da oben mag hausen zuletzt? Auf eigenem Grund? In dem alten Kasten von Sturm und Regen durchwandert, Bussarden, Eulen und anderem Raubzeug ein Genist und den Spinnen und den Ratten, dem Molch und Sämlingen aus Ebereschen und aus Hollunder? Bloß darum, weil die Herren von Lassing-Dombühl von Kaiser Konrad mit diesem Schloß und diesem Geländ belohnt sind worden? »umb ihres allzeit getreuen Festhaltens an Kaiserlicher Majestät und getreuen Beystandes willen!« – – –
Da erschrickt der letzte der Lassings. So hart reißt's ihn, daß er jäh stillsteht. Dieser Gedanke kommt ihm zum erstenmal. Niemals vordem hat er den einspannigen Mann erblickt, wie er haust auf dem Schloß. Immer nur das Schloß selber hat er vor sich gesehen.
Er lacht leicht, wie er eine vorbeischießende Kälte zwischen den Schulterblättern spürt. »Es ist interessanter als du denkst. Man lernt soviel bei solcher Art Arbeit!«
»Und die Jagd?« fragt Klaus. »Ich kenne dich doch, du warst ein Nimrod vor dem Herrn!«
»Die Jagd? Freilich wohl. Auf Jagd geht er schon.«
Er weiß aber nicht, warum er die alte Balbina vor Augen bekommt. Nicht den Hochwald. Der ihm Treugesell war. Sieben lange Jahre. Ob er ragt, wie jetzt eben ein kristallener Dom, zur Urstille versteint, in blau verschatteten Ewigkeiten von Schnee, oder ob das Harz zu kochen beginnt unterm dunklen und wilden Lied des Tausturms.
Auch nicht jener Tage gedenkt er, zu schwer fast vom Geruch des Honigs, des Terpentins der tausend zarten und starken ätherischen Öle in bunten Kelchen und Schalen kostbar gefiltert, zu schwer und zu geheimnisvoll fast vom Wachsen und Reifen und Sich-Erfüllen.
Wenn ein schwarz lackiertes Rehschnäuzchen ängstlich neugierig sich heran äst, ein Fuchs, ermatteten Rots, aber klug, spöttisch, bewußt vorbeischnürt.
Oder aber, wenn nichts sich regt, kein Tier, kein Vogel, kein Blatt, kein feinstes Pollenstäublein, wenn er durch den Wald geht: der Bocksfüßige, der große Wissende und der große Schweigende. Er sitzt dir gegenüber und sieht dich an. Schon lange. Aber plötzlich spürst du seinen Blick. Da hat dich das Jenseitige angesehen, und du spürst die Fischhaut zwischen den Schulterblättern.
Aber schon erinnert er sich an die Grenzen deiner kleinen Menschlichkeit. Er läßt, milde lächelnd, die Augen von dir und greift zu der Syrinx aus Schilfrohr.
Und dann eines Tages – hat Vinzenz auch dieses völlig vergessen? Die Bergklinge schwebt wie der Sarg Mahomeds, schmal und schwarz zwischen den milchigen Rauchschwaden der Täler und der Lohe der Frühhimmel.
Warum denkt er nicht seiner herben, dunklen Geliebten mit der verhaltenen glühenden Seele? Seiner Jagdflinte? Warum nicht der Jagd, dieser Königin unter den Leidenschaften der Menschen?
Nein – er erblickt die taube Balbina im grellbunten Kopftuch. Sie schlürft auf Filzsohlen. Ihre kleinen rotrandigen Vogelaugen tränen vom Herdrauch. Der Ruß zieht wie schwarze Würmlein zwischen dem Runzelnetz des spitzen Vogelgesichtes. Sie trägt mit zittrigen Händen den Ziemer auf. Wieder eine neue Lücke ist aus der Schüssel herausgebissen. Der Zinnbecher mit scharfem Most hat eine Beule mehr. Das Tuch auf dem Eichentisch ist noch immer das Tuch mit dem Patzen von der Hirschsuppe. Vinzenz macht eine Handbewegung, wie wenn er Fliegen scheuchte. Er scheucht die alte Balbina. Das runzlige Weiblein. Das schlecht gehaltene, das leere, ungute Zimmer scheucht er. Das auf ihn wartet, kommt er heim von der Jagd.
»Unserm bischen Wald wirst du kaum die Ehre dieses Namens antun,« sagt der Freund. Die Marsch hat nur Korn und Weideland.
Wenn sie so das Treiben anschreien, und der Teufel ist los mit Hunden und Klappern und alten Pötten und Deckeln, und so 'n paar Hasen, die loshoppeln, nee, denn schon lieber aufs Wasser. Da gibt's noch zu was zu wagen und zu listen.
»Vinzenz, Junge!« Klaus bleibt stehn: »Wir wollen mal auf Wasserwild! Tümmler, Lummen, Liapen – gleich nach Neujahr ist Vollmond!«
Und wie das Jägerblut sich regt, und wie sie Pläne machen, fallen ihre Blicke auf die einsame Lampe drüben hinter dem Gebüsch und dem Wallgraben.
»Hart wie Flint ist Onkel Jaspersen.« Klaus deutet herüber. »Ich nehme wahrhaftig nicht Ewerts Partei, kannst du denken. Aber er hängt so an seiner Mutter. Vor zwei Jahren war er hier. Hintenum durch ein kaputes Fenster eingeschlichen in den Margarethensaal. Er heißt noch so von der Hofhaltung her. Kein Mensch kommt jetzt dahin. Aber den Abend muß Onkel Jaspersen revidieren! Na, das gab 'ne Situation! Er soll«, die Stimme von Klaus verrät leichte Verlegenheit, desgleichen war hier noch niemals erhört von Mann zu Mann, »gekniet hat Ewert vor seinem Vater! Aber Onkel Jaspersen soll gesagt haben, er wüßte nicht, daß sie einen Sohn hätten im Schloß! Seitdem ist drüben immer alles verbarrikadiert. Man wollte nicht von fremden Leuten belästigt werden!«
»Und gestern Abend!« Vinzenz fühlt das Blut hinter seinen Schläfen zucken, wenn er denkt, was Klaus ihm vorhin von diesem Menschen erzählte. Und dennoch – der verlorene Sohn.
Kinderlachen und Jubel schwimmt her wie auf Sammet.
»Ich hab' zu kurz gelacht als Kind,« denkt Vinzenz. »Mir ist, als sei ich mein Leben lang gewandert, dies Lachen einzuholen. Kinderlachen ist Heimat!«
Und wieder sieht er das verfallene Schloß, umbraust, auf dem Berggrat! Und sieht die Wälder! Wie stark ist Heimat! Selbst da, wo das Lachen fehlt, ist sie stark wie der Tod!«
»Weihnachten tut mir Ewert doch immer leid,« sagt Klaus. »Nach und nach wirst du verstehen. Wir hängen hier alle so zusammen. Ewert, das war immer wie unser Bruder!
Gott, wenn man auf Ferien kam! Wenn man nur erst die Schmiede fest hatte!« Klaus deutet über den Weg. »Hörst du!« Ja, es ist wirklich nicht gut zu überhören: Hammer auf Ambos, Eisen auf Eisen, und doch wie ein altes Lied.
Ein Schwarzschimmel, der noch nach Schwesing soll und dem ein Eisen sich gelockert hat, steht riesenhaft wie ein wolkiges Ungeheuer vor der Schmiede. Rotes Licht fließt in den Nebel, wie Wein in Milch. Der Gesell hinter dem Schleier, ebenfalls zum Riesen anwachsend, holt mit der Zange einen roten Wurm aus dem Feuergebleck, hämmert ihn, daß er schreit, und wie goldene Bienen stieben die Funken um die rußigen Gesichter.
Jawohl: der Nebel – die Schmiede – die alten Häuser . . .
Gestern Abend mag der verlorene Sohn auch hier geirrt sein. Den Künstlerhut in die Stirn gedrückt. Wie gezogen mit Händen zu dieser Stadt, wo er Kind war, zu der einsamen Lampe drüben hinterm Wallgraben!
Kein Wort hat es ihm verwehrt, und doch scheint es Vinzenz, daß er ohne Elsalills Erlaubnis das Geheimnis von gestern nicht preisgeben dürfe. Etwas drängt ihn dazu, und ein anderes hält ihn zurück. Er streitet mit sich.
»Lütte ist das einzig anständige Mädchen in ganz Schleswig-Holstein!« schwimmt plötzlich die Stimme von Arne Jeß durch den Nebel. Lächerlich hoch in der Entrüstung. Er mutiert bereits. »Helli klickert, Annemie klickert, jede klickert. Jetzt haben sie schon wieder meinen Julklapp für Elsalill ausgeklickert!« Unter schallendem Gelächter der anderen ist er ohne jeden Übergang in den dunkelsten Baß umgekippt.
»Gebt ihr uns wohl gleich Elsalill, ihr Nimmersätter!« ruft Klaus. In demselben Augenblick hört man wieder dies jammervolle Heulen von Thor. Obwohl er weiß, daß er erst an der Gartenpforte die Herrschaft empfangen darf, tost er heraus, schnappt in Mäntel, knirscht an Steinen und streckt sich wie von jäher Trauer befallen, Elsalill zu Füßen.
»Gott, ist Thor verrückt!« sagt Arne Jeß. Er gibt ihm einen sanften Puff mit der Stiefelspitze. Da steht Thor auf, und niemand hat acht, daß er mit seltsam eingesunkenem Rückgrat und wiegend wie ein Betrunkener durch den Nebel trottet.
Nun ist der Abend dieses Tages gekommen. Elsalill liegt in ihrem schmalen, weißen Bett. Sie liegt langgestreckt auf dem Rücken, die Hände gefaltet unter der jungen Brust, von der weißen, leichten Decke die spröden Glieder eng umschmiegt. Sie liegt wie auf ihrem eigenen Grabdenkmal aus Stein.
Ihre Augen sind weit geöffnet unter dem Silber der schmalen Mondsichel. Sie sind wie bei Tante Ragnar, als sie die Christrosen trug: dunkel, durchsichtig, tief und grün wie das Meer an Sommerabenden. Die leidenschaftliche Erschütterung, die sie plötzlich überfiel, sie weiß nicht warum, steigt als lichte Welle der Erinnerung unter ihre Haut. Sie staunt.
Plötzlich ist sie nicht mehr Maria. Sie ist nicht im Schulzimmer und auch nicht in ihrem schmalen Mädchenbett. Die Wände weiten sich. Sie steht am Meer, weit draußen, wo die Heide herantritt. Dort ist das alte Königsgrab. Die Glockenheide blüht schon. Die Nacht steht in Flammen. Wasser, Himmel verlodern ineinander. Elsalill ist wieder dreizehn Jahre alt.
Ja, dies ist seltsam. Jedes Jahr ist es das gleiche gewesen. Um diese Zeit der hellen Nächte sind immer Stimmen über dem Meer. Rufen die Wellen? Ferne Schiffer? Entthronte Götter? Diesen Stimmen muß man folgen.
Es ist nicht leicht, dorthin zu gelangen. Es ist ein weiter Weg. Sprechen kann man zu niemanden darüber, nicht zu Mutter, nicht zu irgendeiner Freundin, nicht zu Klaus. Dies mit den Stimmen ist ein Geheimnis wie mit dem Cherub. Auch muß man ganz allein sein, sonst lassen sie sich nicht hören. So muß man sich heimlich fortstehlen, als wolle man Böses tun.
Elsalill hat damals einen Weg ausgespürt. Niemand sonst nimmt ihn gern. Er führt durch die Koppel, wo der Stier geht. Elsalill weiß nicht, was Furcht bedeutet. Immer streicht sie vorüber an dem Gewaltigen, leicht, wie eine Schwalbe. Einmal senkt er den Kopf, schlägt den Schweif, sein breites rosa Maul dampft, er macht sich auf, Elsalill hinterdrein.
Da fängt Elsalill an laut zu lachen. Er erscheint ihr so komisch. »Du bist nicht Zeus!« ruft sie ihm zu über die Achsel.
Der Stier bleibt stehen vor Staunen. Er sieht ein, er hat sich geirrt. In der Tat, Zeus ist er nicht.
Elsalill lächelt, wie sie noch immer langgestreckt auf dem Rücken liegt, mit gefalteten Händen, wie auf ihrem eigenen Grabmal.
Aber nun ist sie schon längst vorbei am Stier. Sie hat die Heide erreicht. Die weißen Blüten des berauschenden Porst und dunkelblauer, zartstieliger Enzian stehen zwischen den kleinen, harten Büschen, die so wunderbar rot leuchten. Ein schmales Natternköpfchen, nur das Krönlein fehlt, hebt sich auf zierlich gebogenem Halse über Polstern von Moltebeeren.
Elsalill wirft sich in die Heide. Sie ist wie berauscht. Durch die unendliche Stille kommen die Stimmen. Glocken? Gesang? –
Die Bienen sind es nicht. Sie flogen schon heim, honigbeladen. Auch nicht die Zikaden, die vor ihren kleinen Erdhöhlen sitzen und geigen. Was ist es? Woher kommt es?
Hinter Elsalill träumt der uralte König in seinem Grabe. Vor ihr ist alles Flammen, Rosen und Purpur und Blut. Elsalill kann nicht widerstehen. Jedesmal überkommt es sie so, wenn sie ganz allein hier draußen ist: Sie streift ihr Kittelchen ab, und was sie darunter hat. Es ist nicht viel. Früher legte sich Thor darauf und wachte über dem Kleiderbündel. Auch der alte König hätte es ihm nicht zu entreißen vermocht. Jetzt wagt Elsalill ihn nicht mitzunehmen wegen des Stiers. Jetzt muß der alte König selber wachen. Sie sieht sich um, ehe sie das Hemd herunterstreift. Niemand, keine Menschenseele ist sichtbar. Hierher kommt nur sie um diese Zeit. Da gleitet auch das Hemd von den Schultern.
Sie steht unter diesem Himmel wie aus durchsichtigem Bernstein. Dann geht sie langsam und feierlich in die dunkel glühenden Wasser. Sie geht wie im Traum. Sie geht den Stimmen nach. Sie geht wie in ihre Heimat.
Als ihr das Wasser bis zur Brust reicht, legt sie sich mit ausgebreiteten Armen rückwärts, wie in ihre Kinderwiege. Sie treibt auf dem dunklen Purpur wie ein schmaler, heller Fisch, weiter, immer weiter. Die Flammen, das tropfende Blut über sich und die Rosen. – Zurück schwimmt sie.
Als sie wieder Boden unter den Füßen hat, macht sie eine große, gehaltene Gebärde, rings im Kreise. Abschied. Dann schreitet sie langsam und feierlich an Land.
Sie kleidet sich an. Sie sieht sich um. Sind Augen auf sie gerichtet? –
Nach einer Weile, ihr Kleid ist zugehakt, vom Königsgrab her kommt Ewert Jaspersen.
Elsalill erschrickt: ein Mensch! Hier! Wo alles ihr allein gehört?
»Er sieht sonderbar aus,« denkt Elsalill. Sie hat ihn nie besonders leiden mögen. Aber irgendwie tut er ihr leid. Onkel Jaspersen ist sehr streng. Ewert ist nicht nur anders als Klaus. Er ist anders als alle Jungen, die sie kennt. Er hat ein Gedicht auf sie gemacht. Es ist schön. Aber irgendwie ist es ihr nicht lieb.
»Was tust du hier?« fragt Elsalill. Ihre Stimme droht. Sie mag seinen Blick nicht. Sie weiß nicht warum.
»Was tust du hier?« gibt er ihr zurück mit einer fremden, dicken Stimme.
Da durchfährt es sie: Der Blick von vorhin! – Sie schlägt ihn mit der geballten Faust mitten auf die Stirn.
Ewert schreit auf. Sieht rote Nebel und Kreise, so hat sie ihn getroffen. Er will sich auf sie stürzen.
Aber Elsalill ist schnell wie eine Schwalbe an ihm vorbeigestrichen.
Er sieht ihr nach. Ihm wird eiskalt: »Der Stier!« schreit er. »Elsalill, der Stier!«
Sie lacht verächtlich und zornig.
Mit zitternden Beinen und hängendem Unterkiefer nimmt er den anderen Weg. –
Alles dieses erlebt Elsalill wieder. – Wie sie lief damals! In ihr die zornige Lohe des Himmels! Aber nicht in so rohen Worten dachte sie: ein siebzehnjähriger Junge hat ein kleines Mädchen nackt erblickt, sondern ein Mysterium war verletzt worden.
Warum stürzte er nicht hin, tot von ihrem Schlag? Wenn Frau Perchta, die Göttin, nach dem Umzug in ihrem See badete, wurde doch auch alles versenkt und getötet: goldene Wagen, Rosse, Sklaven!
Sie hatte nie wieder allein gebadet, wiewohl es sie förmlich riß. Sie dachte kaum, daß Ewert schuld war, wenn sie am purpurnen Strand lag und sich dieses letzte Ausmaß von Glück versagte. Sie dachte nur an das Mysterium, zu dem ihr jetzt der Schlüssel genommen war. Daß Ewert damit zusammenhing, fiel ihr erst ein, als Klaus einen Sommer so sonderbar wurde, traurig, gereizt, hilflos wie ein Kind. Nie hatte sie ihn so gekannt, den immer gleichmäßig Frohen, harmlos Guten. Sie begriff gar nicht.
Nachher fing Mutter an. Sie machte lange Reden über Ewert. Onkel Jaspersen wäre wohl zu hart. Vielleicht wäre Ewert mehr eine Künstlernatur. Und davon würde er so anders als andere. Zuletzt erwähnte sie das Hünengrab und sagt etwas vom Baden. Und Elsalills stolze, stattliche Mutter, die man die Gräfin nannte, auch sie war wie leicht verlegen.
Da begriff Elsalill. Sie wußte jetzt, warum Ewerts Nähe ihr nicht angenehm war, und wie er ihr Mysterium verletzen konnte: er war unreinen Herzens.
Sie hatte damals ihrer Mutter die Sache erzählt, um sie zu beruhigen. Es war doch alles zerstört. –
Aber nun ist Ewert ihren Gedanken schon lange wieder entglitten. Elsalill schläft. Im Traum steht sie am Meer. Es ist eine einzige Flamme. Jemand sieht sie an. – Ewert – gewiß nicht. Aber Klaus? – Nein, auch Klaus ist es nicht. Und nun – – o – ihr Herz zittert vor Glück: Das Mysterium ist wieder da! Sie steht und lauscht. Nun wird sogleich der Cherub die obersten Flügel voneinander tun. Dann wird sie das letzte Geheimnis wissen!
»Daß ich es Klaus nicht sagen kann!« denkt Elsalill schmerzlich. »Daß ich etwas vor ihm verbergen muß!«
Nun ist der letzte Tag vor Heiligabend gekommen. Es scheint kaum möglich, daß Elsalill sich allein vom Haus entfernen könnte, und doch muß sie es irgendwie einrichten.
Der ganze Vormittag ist hingegangen mit tausenderlei Wünschen, die jedermann, vor allem Klaus und die sieben Raben an sie hatten, und es half wenig, daß der sechsjährige Ferne ausschied. Der hatte sich mit Näh-Tine oben in einem der vielen Fremdenzimmer einschließen lassen. Denn allein fürchtete sich Näh-Tine. Und Puppenlisbeth und das Wickelkind hatten die Umwandlung in ihr diesjähriges Daseinsstadium noch nicht völlig überstanden. Aber als Frau Deichgraf die Stube aufschloß, sprang Näh-Tine gerade von ihrem Kinderstühlchen, legte das Wickelkind mit dem Gesicht auf ihr Schmalzbrot und griff sich verzweifelt an die oberste Mütze: »Chotte dochen, min Kopp! Min Kopp!«
Sie sah halb sanfter Klage, halb verworren staunend von Ferne, der tief versunken vor einer riesenhaften, alten, in Schweinsleder gebundenen Bibel kniete, zu seiner Mutter: »He lecht mi die Bibel ut!« stammelte sie geheimnisvoll schauernd.
Ja, – nun ist all das überwunden. Näh-Tine klönt über Kaffee und Weihnachtskuchen noch ein bißchen vor dem warmen Ofen der Küchenstube mit Lotte. Ferne hat im Schweiße seines Angesichtes die Bibel verstaut in Vaters Bord, Vater wird heute abend aus Schleswig zurückkehren – und indessen – was liegt indessen noch alles vor Elsalill! . . .
Ihre Hand greift in die Tasche, sie berührt ein schmales Päckchen. Sie zieht die Hand schnell zurück, wie verbrannt. Über ihr Gesicht geht wieder dieser Ausdruck einer leisen, schmerzlichen Sorge.
Ja – nun müssen erst, wie jedes Jahr, die alten Frauen im Siechenhaus ihre Flanelljacken und Strümpfe und braunen Kuchen haben. Dann geht's zu Gretchen Iben. Elsalill auf diesen Bescherungswegen zu begleiten, ist das Privileg der Kinder, von dem auch nur haarbreit um keinen Preis abgewichen werden darf.
Als man von Gretchen, der früheren Köchin von Deichgraf Jeß, heraustritt, ist es wie jedes Jahr: Das heißt: feierlich schön. Gretchen wohnt ganz draußen im Osterteil der Stadt, wo die Häuschen noch winziger als drinnen, zum Teil von Efeu umwuchert, unter ihren riesenhaften Reedhauben stehen. Überm Weg liegen die Mauseberge, leicht gewelltes Land, heidebestanden, braunviolett hinfließend zur Unermeßlichkeit des rosenfarbenen Himmels. Unter der winzigen Häuschentür steht das schöne, blonde Gretchen, den Jüngsten auf dem Arm. Nebukadnezar, der schneeweiße Kater, reibt sich an ihren Knien. Durch die offene Tür sieht man das Feuer hinten in der dämmrigen Diele. Der Kessel hängt am Grapen. Rechts vor den Wandbetten ist die einzige und beste Stube, links mahlt friedsam Thekla, die Kuh. –
»Wie herrlich für Gretchen! So zu wohnen!« Helli ist wie jedes Jahr sehnsuchtsvoll benommen. Langsam löst man sich von dem lächelnden Frieden dieser Landschaft und dieses Schicksals. »Kiel ist greulich!« entscheidet Arne, der Tertianer, mit dem kühn verdammenden Urteil der Jugend über seine Geburtsstadt.
Elsalill fängt an, geheimnisvoll zu reden. Als ob sie niemanden brauchen könne auf dem Wege zurück durch die Stadt.
Aber das ist doch wirklich unmöglich, daß sie noch Geschenke kaufen will. Das sieht Elsalill nicht ähnlich, daß sie nicht alles zu Hause bereit hat in dem Adam- und Evaschrank.
Nein, etliche der sieben Raben können ganz gewiß mitgehen. Gibt es etwas Reizenderes, als während der Hochspannung letzter Adventsabende noch einmal durch die engen, feuchten Straßen zu ziehen? Wie viel lockender, wie vielmehr persönlich auffordernd sind hier die Auslagen als die kostbaren Schaufenster der Großstadt! Jensens Buchhandlung zum Beispiel mit den denkbar begehrtesten Weihnachtsbüchern, dem bezaubernden Briefpapier, den Kalendern und Christkarten mit gelben Postkutschen im Schnee und einsamen Häuschen mit roten Fenstern in blauer Bergdämmerung: Wie konnte man träumen über solch kleiner Karte!
Jensens Buchhandlung bildet jedes Jahr den gleichen Anziehungspunkt, zum Staunen der Rebellenköpfe gegenüber an der bezinnten, uralten Brauerei. Mit ihren einst haßfunkelnden und jetzt durch Jahrhunderte ermüdeten und erblindeten Steinaugen können die alten Herren sich überhaupt nur schlecht in die neue Zeit finden. Sacht bei sacht fängt sie an näher zu rücken, selbst in dieser Stadt, vom Staatsbahnhof aus, wo die neuen Häuser so flink sich aufstellen, daß sie schon fast bis an die alte Poggenburg hinreichen. Früher wachte sie stolz und allein vor den weiten, grünen Lämmerfennen, die Stadt und Dorf trennen.
Nun – »abwarten, abwarten«, sagt die schöne, altersplatte Pogge aus Stein auf dem rechten Torpfeiler zu der auf dem linken. »Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.« Aber die auf dem linken Pfeiler hat keinen Kopf mehr und kann sich dazu nicht äußern. Da quakst die rechte Pogge Klaus Andersen hinterdrein, der auf Poggenburg zu tun gehabt hat und jetzt stadtwärts stürmt, um Elsalill nicht zu verfehlen.
Gerade wie er zu Peter Nagels Geschäft kommt, mit den Spielsachen im Schaufenster, von denen die sieben Raben sich sicher nicht trennen können. – »Elsalill,« sagt gerade da verklärten Auges klein Inga am entgegengesetzten Ende des Marktes: »Wenn ich tot bleibe, Elsalill, könnt' mich der Engel nicht erst bischen bei Herr Schierholz bringen?« – Der kleine, süße Kirschmund schließt sich jäh, im Entsetzen verscherzter ewiger Gnade.
Elsalill tröstet zärtlich und entwirrt Diesseits und Jenseits mit schonsamer Hand. Wirklich, Herr Schierholz läuft Peter Nagel den Rang ab.
Ja, wenn man nun an all den Früchten, Würsten, gespickten Hasen und Schiefertafeln aus Schokolade vorüberkommt! Den Weihnachtsmännern mit vollen Säcken aus braunem, süßem Teig mit weißem Zuckerguß und rosenrot aufgeklebten Papiergesichtern! Feigen und Datteln sind bereit in schlanken und runden Schachteln. Man sieht glutende Sonne, Palmen, Kamele. – Orangen, große purpurne, dickschalige, und kleine, feinhäutige Mandarinen in zartem Papier, riesige gezuckerte Pomeranzen, Krachmandeln und Paranüsse bauen den Thron für die fremde Majestät einer Ananas. Über ihr, an tödlichem Seil, zwischen den Flammen blauer, grüner und rosaroter Kerzchen in Tillen baumeln Bananen, Traubenrosinen und Knallbonbons, kurzer, gleißender Gewandung wie Ballettdamen.
Der liebe Gott wird angesichts dieser Herrlichkeiten – Kalekuten und Gänse abgerechnet, die den Ladeneingang umbaumeln wie mattschimmernde Festlampen – er wird der kleinen Inga gewiß nicht um ihrer Sündhaftigkeit willen die Himmelstür verschließen – wenn sie tot bleiben sollte in dieser Nacht!
Jetzt muß es sein! – Elsalill fühlt das Päckchen in ihrer Tasche knistern und fühlt einen leichten, unbegreiflichen Schauder über ihrer Haut. Sie fängt wieder an, geheimnisvoll zu reden, und endlich sind die sieben Raben mit Kursrichtung Schloßgang abgeschoben. Elsalill fliegt um die Ecke. Aber in demselben Augenblick schon wird sie von der schmalen Twiete verschluckt. Denn jemand anders nähert sich gleichfalls der Ecke von der entgegengesetzten Richtung und sucht und späht: Klaus. –
Elsalill steht in dem ellenschmalen, dunkeln Gang mit den Speicherausgängen von rechts und links, und wartet, daß Klaus vorübergehen soll. Sein gutes, frisches Gesicht taucht auf unter einer Laterne. Wie der Schein einer Enttäuschung liegt es darüber. »Könnte ich nur zu ihm!« denkt Elsalill. »Gleich wäre sein Gesicht wie immer!« Aber es geht nicht. Sie hat das nun einmal übernommen. Sie drückt sich an die widerlich feuchte Wand. Irgend etwas quält sie über Maßen und Sagen.
Sie lacht sich aus. – In einer Stunde ist alles gut. Dann ist sie daheim.
Aber wie sie so das trauliche Wohnzimmer vor sich sieht im Honigschein der Lampe, von Wärme und Gutsein und Glück erfüllt und von Hyazinthenduft, muß sie plötzlich denken: »Thor!« wie sonderbar träg und mürrisch er heute vor dem Ofen lag! Man konnte ihn nicht bewegen, herauszugehen. Ist er krank? Elsalill späht behutsam um die Ecke der Twiete. Von Klaus ist nichts mehr zu erblicken. Da läuft Elsalill wie auf der Flucht zum Hafen herüber. – – – Im Hafen tief unten liegen ein Ewer und ein paar Schuten wie schwarze, große, geduldige Tiere auf dem Grund. Das Wasser ist weit draußen. Auch die beiden Segler und das Schmackschiff werden erst morgen frühzeitig nach Amrum auslaufen. Das kleine Motorboot von der Regierung macht Ferien über das Fest. Es liegt, als ob es die ganze Sache nichts anginge, in einer Ecke für sich. Aber über all dem anderen schwarzen Gespier und Takelwerk zittert ein letzter blasser, himmlischer Rosenschein. Gilt es nicht, ein paar Nachzügler, die erst vor ein paar Tagen in Lübeck ihre Ladung aus Schantung gelöscht haben, weil ihr Schiff im Mittelmeer Havarie erlitten und sich verspätet hat, zum Weihnachtsfeste auf die heimatlichen Inseln zu bringen!
Wie, wenn das Wasser nicht mehr offen gewesen wäre? Die Geschichte vom Husumer braven Mütterchen, die in allen Schullesebüchern steht, kann sich allerdings selten genug abspielen. Aber voriges Jahr zu Epiphanias starrten nicht Föhr und Amrum wie Festungen? Schollenumtürmt und doch vom festen Lande geschieden. Mit Schlitten und Pferd nicht zu erreichen, denn Abgründe klafften zwischen den Mauern in schwarzem, tödlichem Grün.
Elsalill zieht die Mütze ein wenig tiefer in die Stirn. So viele kommen vom Staatsbahnhof her. Lauter Weihnachtskinder! Gott, wie entzückend! Aber sie will von niemandem erkannt sein oder aufgehalten. Nun biegt sie in die dunkle, schmale Wasserreihe. Halb im Lauf erreicht sie die kleine Wirtschaft von Ole Olsen.
Sie steht vor der Seitentür, durch die neulich Ewert Jaspersen herausgekommen ist. Sie greift in die Tasche. Wieder macht ein unerklärliches Gefühl ihre Füße schwer und gibt ihr die Fischhaut zwischen die Schultern.
In diesem Augenblick geht in einiger Entfernung im Nebel ein Licht auf, wie ein Stern. Was kann es sein? Dann begreift Elsalill: Im Deichwärterhäuschen, eine Lampe. Dort wohnt Vinzenz von Lassing. Dieses Licht tut ihr wohl.
Sie geht jetzt ganz ruhig durch den kleinen Hof ins Haus. Eine Frau kommt die Treppe herunter, die schmal ist wie eine Schiffsstiege. Sie hat ein Mittel gegen Kopfrose geholt. Olsen-Großmutter bespricht nicht alle Krankheiten. Oft gibt sie Mittel, die wunderbar helfen. Besonders was Augenkrankheiten anlangt, ist sie unerreicht.
Die alte Frau, auffallend groß in dem niedrigen Stübchen – irgend jemand hat es eine tapezierte Kiste genannt – seufzt, als Elsalill eintritt. Sie ist knapp und dunkel gekleidet. Sie hält in langer, schlanker, wohlgebildeter Hand den Wasserkessel. »Es ist schwer,« sagt sie, »die Gabe zu haben!« Sie sagt es, als ob sie ein Gespräch fortsetzt.
»Sie meinen die Heilkraft?« fragt Elsalill. »Dag auch, Olsen-Großmutter!«
»Ja. Nein. – Das geht man auf die Kräfte. Manchen Tag wie geprügelt bin ich abends, wenn so viel bei mir waren. Aber das andere ist schwerer!«
»Sie denkt an die Toten!« Elsalill greift in ihre Tasche. Sie schauert wieder leicht zusammen. Zugleich überfällt sie Mitleid mit der alten Frau. Es heißt, wer die »Gabe« hat, kann nicht sterben, eh' nicht ein anderer sie ihm abgenommen. Olsen-Großmutter hat sie von ihrer Mutter. Sie selbst ist ohne Tochter. Elsalill schweigt.
Von unten herauf kommt Gesang. Männerstimmen. Ein Seemannslied. Ein bißchen daneben, aber sonst im Takt und gefühlvoll. Wenn die Tür aufgeht, steigt ein Geruch von Grog die Treppe herauf. Bester Jamaica. Aber die in der Gaststube können schon eine steife Mischung vertragen. Es sind die jungen Seeleute, die morgen früh Klock drei mit der Schmack auf die Inseln wollen. Ein paar Stammgäste außerdem. Ole Olsen hat die Gewohnheit, für die alten Kapitäne, die keine Frau haben, einen Baum anzuputzen. Das heißt, er gibt den Baum und die Lichter. Was sie sonst dran wollen, müssen sie selber mitbringen. Sie kargen nicht. Wiewohl sie sich aus dem süßen Kram nichts machen. Aber die Enkelchen von Gesine Olsen warten freudig. Das macht den alten Teerjacken einen zu großen Spaß.
Olsen-Großmutter scheint Elsalill zu vergessen. Sie legt ein paar Torfstücke auf den eisernen Ofen und schenkt sich Tee in einen steifen, doppelt gehenkelten Becher.
Elsalill sieht sich um. Die Lampe brennt noch nicht. Aber das Licht aus dem Ofen liegt breit wie ein dunkelrotes Band. Die Porzellanpudel auf gehäkelter Kommodendecke, Muschelkästen, Vasen mit einem unangenehmen körnigen Belag und vergoldeten Henkeln trifft man überall in dieser Art Stuben. Aber hier steht noch verschiedenes altes, schönes Gerät, Uhren, Truhen, Tassen. – Dinge, die kein Händler aus Hamburg oder Berlin wagen darf, zu begehren.
Das Seltsamste an dieser Stube aber sind die Vögel. Es gibt keinen Fleck an der Wand, wo nicht ein ausgestopfter Vogel auf einem Holzständer sich hält: Strandläufer, Eisvögel, Eichelhäher. – Auch schöne Fremdlinge darunter, herrlicher Farbe und seltener Art.
»Sind alle von Piet,« sagt Olsen-Großmutter, während sie mit einer Schere und dem Zeigefinger ein Stück Zucker auseinanderklopft.
»Entschuldige!« Olsen-Großmutter nennt jeden »du«, den sie als Kind gekannt hat. Sie schiebt Elsalill einen kleinen, bunten Blechkasten hin mit Spekulatius: »Nimm an! – Heut ist Piet sein Todestag!«
Sie hat ein gelbes, metallisches Auge und ein hellblaues. Das hellblaue ist wie von einem betrübten Kinde. Vor dem gelben erschrickt man, wenn sie es mit diesem starren Ausdruck und breit aufgeschlagenem Lide auf einen richtet.
»Piet blieb auf See?« fragt Elsalill.
»Im Kanal! – Piet im Kanal und Momme bei Teneriffa. – In der Nacht vor Piet wach ich auf. Uhr 3. Da geht die Haustür. Dann schlurft das so über die Klinkern. – Gleich denk ich: ›Piet!‹ Die Tränen stechen mich im Halse. – Schon kommt's die Treppe nach oben, schwer, immer so schwer!« – Olsen-Großmutter seufzt. Sie legt die Hand mit dem gebutterten Rundstück in die Schürze.
»Ein Mann im Südwester,« fährt sie dann fort. »Hier, ganz sacht die Tür aufgeklinkt, quer durch die Stube, bis vor mein Bett. Über sein' linke Schulter lag Piet.« – Sie macht eine Gebärde, als ob von einem toten Gewicht ihre eigene linke Schulter taub geworden wäre.
»Piet ist ertrunken,« sag' ich nächsten Morgen zu Ole. Uhr 3 heut nacht, der Zeiger ist nicht weitergerückt. Mein Piet ist tot. Paß acht in die Zeitungen! Das Meer gibt ihn wieder. Zu Begräbnis!« –
Elsalill schweigt. »Wo liegt er begraben?« fragt sie nach einer Weile.
»Auf Sylt. Angetrieben. Wir haben Nachricht bekommen. Seit Momme nicht wieder kam, hab' ich Piet sein' ganzen Namen immer in sein Zeug genäht.«
Olsen-Großmutter buttert ein neues Rundstück, beißt hinein wie heißhungrig. Sie hat noch fast alle ihre Zähne. »Heut' hab' ich's schwer gehabt. Heiraten ist nicht allemal Glück!« Ihre Gedanken scheinen zu wandern, während sie hastig ißt. »Klaus Andersen?« fragt sie plötzlich. Ihr gelbes Auge sinkt ein und erstarrt wie Metall. »Der Mensch denkt. Gott lenkt!« murmelt sie.
Elsalill steht auf. Irgend etwas nimmt ihr den Atem. Fetter Fischgeruch dringt durch den Türspalt. Unten werden Schollen gebacken. Sie hätte gern ein Fenster geöffnet, aber sie fürchtet Olsen-Großmutter zu kränken. »Daß ich dies muß!« denkt Elsalill. »Wenn sie nur erst fertig wäre mit Tee, daß ich sie fragen könnte, und fort!« Etwas in ihr friert.
»Brauchst keine Bange haben!« Olsen-Großmutter steht plötzlich auf. Sie zündet die Petroleumlampe an. »Manche gibt's und springen hurtig in die Welt. Und manche liegen verquer und machen ihr' Mutter viel Plage. Auch später. Du bist ein fixes Sonntagskind! Just war deine Mutter noch zu Abendmahl, dann Tine Iben, wo die Wehen anfingen, frische Suppe gebracht, und eine Stunde später hatte Frau Deichgraf selber so'n Lüttje in Arm! – Oster-Sonntag! Klock zwölfen! Und helle Sonne!« Sie sieht Elsalill an, bewundernd, beide Augen weit offen und blank. »Wer so auf die Welt kommt! . . . – Brauchst dir um nichts Gedanken machen. Da laß die andern über sein. Wie du machst, – alles geht gut aus!« –
Sie sieht noch immer Elsalill an, stolz, als wäre dies stahlhelle Sonntagskind ganz ihr eigenstes Verdienst.
»Ja,« denkt Elsalill. »Ostersonntag! Mittag! Und die Bienen wie eine Orgel über den Krokuswiesen im Schloßgarten!«
Wie oft hat Mutter das nicht erzählt! Vater hat seiner Lütten so ein blaues Himmelswunder von Sträußlein auf die Wiegendecke gelegt!
Eine unaussprechliche Dankbarkeit überflutet Elsalill wie Sonnenwärme für diesen Geburtstag! Für ihre lieben, herrlichen Eltern! Für den Garten mit den Krokus! Für ihre Heimat. Für alles. –
Sie denkt: Klaus! Die Tränen treten ihr in die Augen vor Zärtlichkeit. Wie sie so an ihren Verlobten denkt, weiß sie gar nicht, daß sie hinaus sieht auf den Deich, bis sie die Lampe gefunden hat wie einen Stern.
Elsalill hat nicht acht gehabt, daß der klare, bewundernde Blick von Olsen-Großmutter sich verändert und das gelbe Auge etwas Listiges bekommt. Es sieht grausam und kalt in eine Ferne. »Soll's schon merken!« sagt Olsen-Großmutter mit einem kindischen, kichernden und zugleich harten Lachen. »Soll's schon merken! Jeden Tag nach Sonnenuntergang. Solange die heiligen Nächte währen!« Sie murmelt einen Namen, den Elsalill nicht versteht. »Ist eine ganz Dolle!« sagt sie. »Wenn der Mann da ist, ein Dusendschön, und ist er fort, hält sie's mit einem andern. Jetzt –« sie schlägt plötzlich mit einer Haselgerte quer über die schwarzbezogene Sofalehne, daß es zischt. Und noch einmal. Und noch einmal. »Hörst!« Sie horcht in die Weite. »Ist gut,« sagt sie plötzlich fest. »Dir gönn' ich's. Hast mein Piet auch schon gepeinigt arg genug!«
Elsalill sieht staunend. Sie fühlt wieder die Fischhaut. Aber irgend etwas hält sie innerlich fest wie bei gerechtem Gericht. Sie weiß nicht deutlich, worum es geht. Man munkelt allerlei von Olsen-Großmutters Haselstecken, mit dem Kreuzmesser geschnitten und ohne zu sprechen vor Sonnenaufgang. Es gibt Frauen, die weitab wohnen. Sie haben diesen Haselstecken niemals mit Augen erblickt, aber sie entsetzen sich, wenn seiner erwähnt wird. Man will auf weißer Haut blutrünstige Striemen gesehen haben. Jeden Tag neue. Bis verlaufene Gedanken wieder eingefangen waren und sündhaftes Verlangen gekühlt.
Elsalill schweigt. Etwas vom Grauen und dennoch göttlich gerechten Walten heiliger Fehme scheint zu geistern im Bannkreis dieses Stübchens, irgendein undeutbares Geschehen, verborgene Zusammenhänge jenseit allen Begreifens.
»Wie es auch ist,« denkt Elsalill. »die letzten Geheimnisse versteht keiner. Aber wenn es das gäbe, wenn manche Menschen geheime Kräfte hätten. anders als andere – ist es nicht besser, eine ungetreue Frau wird durch Ruten zur Vernunft gebracht? Weil sie nichts zu tun haben, aus lauter Nichtstun kommen sie auf schlechte Gedanken. Und zuletzt geht alles drunter und drüber, und alles ist recht, wie es ist! Das heißen sie: Ausleben! So sind jetzt die Bücher!« denkt sie. »Die Zeitungen mag man schon gar nicht mehr ansehn!« Eine rote Welle überfließt sie von Zart zu Dunkel. »Zucht ist gut,« denkt sie. »Es gibt Gut und Böse in der Welt!« Sie sieht weit, gespannter Frage. Eine feine senkrechte Falte über der Nasenwurzel. »Sie sind so für einen allgemeinen Gütebrei heutzutage. Immer reden sie vom Verstehen und Verzeihen. Und mir scheint, nie waren sie grausamer als heute. So feinspitzig in Bosheit! Draußen!« Sie atmet tief. »Nicht bei uns!«
»Hier?« Sie sieht Olsen-Großmutter an, wie sie der Sofalehne einen letzten scharfen Hieb versetzt. Sie lächelt. »Hier schlägt man jemanden halb tot, und dann ist's gut. Dann kann ordentlich von frisch angefangen werden. Aber so bei kleinem Feuer jemanden brennen ein Leben lang . . .« Plötzlich steht Elsalill hoch und gerade wie eine weiße Flamme: Mit einem Mörder, ja – wenn Gott das verhängte – mit einem Mörder könnte sie gehen bis ans Ende der Welt. Nicht aber mit einem schlechten Menschen!
Ihr Lächeln wird tiefer und wie von einer wissenden Barmherzigkeit. Nein, ihre scheinbar ungereimten Gedanken sind dennoch im Recht: ein Mörder ist nicht notwendig ein schlechter Mensch!
»Olsen-Großmutter!« sagt Elsalill plötzlich, als müsse sie nun eilig fertig hier werden und fort: »Bitte, – Wollen Sie mir nur sagen, wird Tante Bina Jaspersen wieder gesund, oder ist ihre Krankheit zum Tode?« Sie nimmt hastig das Päckchen aus der Tasche. Es enthält eine ganz dünne dunkelblonde Haarsträhne. Sie hat auf inständige Bitten von Ewert gestern seiner Mutter im Schlaf das Haar zu diesem Zweck abgeschnitten.
Olsen-Großmutter betrachtet die Haarsträhne und wiegt sie in ihrer Hand. Während Elsalill scheu auf Antwort wartet, sieht sie plötzlich das Gesicht von Klaus, wie es ihr scheint, mit vorwurfsvollem Ausdruck auf sich gerichtet.
Sie gehört doch zu Klaus! Wie kommt sie auf einen Mörder? Sind auch ihre Gedanken wie herrenlose Hunde?
»Nein.« Sie ballt die schlanken, festen, weißen Hände. Elsalill Jeß hat doch wohl über ihre Gedanken Gewalt!
»Kann man es nicht erkennen?« fragt sie. sich ganz auf das Haar richtend und auf alles, was damit zusammenhängt.
»Doch!« sagt Olsen-Großmutter. »Bei manchen erkennt man es gleich. Bei manchen ist es schwer. Jetzt weiß ich es: Der das Haar hört, alle ihre Kinder wird sie überleben!«
»Wie sonderbar!« denkt Elsalill. »Tante Bina hat doch gar keine anderen Kinder. Diesmal ist Olsen-Großmutter verkehrt!« Etwas macht sie froh.
»Auch Ewert,« murmelt die alte Frau. Sie hält das Haar dicht unter die Lampe.
Plötzlich erinnert sich Elsalill, daß ganz früher einmal bei Jaspersens Zwillinge waren. Zwei winzige Gräbchen sind auf dem Friedhof.
»Gott, Ewert!« denkt Elsalill.
»Wird Ewert seine Mutter noch einmal sehen?« fragt sie hastig.
Olsen-Großmutter schüttelt den Kopf. »Ewert stirbt.«
»Ewert?« Elsalill ruft den Namen heraus. Sie erschrickt so heftig. »Er war doch eben hier, Ewert!« Olsen-Großmutter geht hin und her, als ob sie das alles nicht mehr beschäftige. Sie fängt an zu räumen.
Elsalill erträgt es nicht länger. »Bitte, Olsen-Großmutter.« Sie berührt die Hand der Alten. Die Tränen treten ihr in die Augen. »Tante Bina und Ewert, sie haben sich doch nicht gesehen! Auch diesmal nicht!«
»Im Himmelreich!« sagt die Alte ruhig. Sie steht plötzlich wie fortgenommen. »Muttertränen sind Bußgeld!« Ihre Stimme ist sanft. »Ewert sein Mutter hat viel Tränen geweint.«
»Wenn jemand kommt«, flüstert sie, »und hat Barmherzigkeit und nimmt die ›Gabe‹ von mir, daß ich und kann sterben, so werd ich Momme wiedersehen und Piet! Sie hab ich mir auch erweint vom lieben Gott!«
Unsägliches Erbarmen überflutet Elsalill. Sie streicht leise über die alte, gut gebildete und ausdrucksvolle Hand.
»Du?« Olsen-Großmutters Atem stockt jäh. Sie nimmt Elsalill am Arm. Ihr gelbes Auge erstarrt und wird wie dunkles Gold.
»Ich?« stammelt Elsalill. Sie zieht behutsam den Arm zurück. »Nein!« Sie weiß nicht, was verlangt wird. Nur daß sie etwas nicht kann, weiß sie.
Das dunkle Gold des Auges wird tot und trüb. »Du bist Ostersonntag geboren,« sagt Olsen-Großmutter. Und wieder fühlt Elsalill das Erbarmen sie überfluten. Aber sie hält ihre Hände ineinander verschränkt. »Am Auferstehungssonntag!« murmelt die Alte. »Zu dir kommen die leben sollen. Zu mir kommen die Toten.« Sie schweigt. Sie sinkt in sich.
»Piet, Momme, oder wenn einer ging zu glipen und hat sich aufs Watt verlaufen in Nebel. Wenn Schiffe in Not sind!« Sie flüstert heiser: »Och, ganz schwarz geht's manchmal vorüber!« Sie weist durch das Fenster, wo blasses Silber wie Fischschuppen breit sich lagert: Unterm jungen Mond die leise anquellende Flut. Ihr Gesicht ist verfallen. Gezeichnet. Beide Augen scheinen zu bluten in Leid.
»Erst vorige Woche sind sie vorübergekommen, am Abend – der Wagen mit dem Sarg, der Pastohr, der Kantor, die jungen Deerns und ein hoher Hut bei dem andern. Das war klein Mali, den Tag vor ihr Hochzeit. Heut Nacht ist Ewert dagewesen.«
Unten springt eine Tür auf. Rauhes, gutmütiges Männerlachen. Seliges Kindergejauchz. Punschgeruch, Tabaksrauch.
»Sie feiern all heute!« sagt die alte Frau. »Geh man jetzt, Elsalill! Geh du man. Sei du man zufrieden!« Sie hat etwas Ergreifendes im Ausdruck. Wie eine alte, todsüchtige Frau.
»Olsen-Großmutter,« sagt Elsalill, »ich komme wieder. Darf ich? Vielen Dank!«
»Darfst woll! Du darfst immer. Und sei du man froh, Elsalill!«
Elsalill tastet sich die kleine, schmale Schiffstreppe herunter. Sie weiß nicht, wie ihr ist. Sie läuft zum Heck, als ob sie sich an etwas festhalten muß. Klaus kann sie von alledem nichts sagen! Nicht von Ewert. Und nicht von ihren Gedanken.
Warum nicht? Sie weiß nicht, warum. Sie weiß auch nicht, daß sie weint. Weit geöffneter Augen, ohne Zucken und ohne Laut. Ja, so pflegt Elsalill zu weinen, wenn es ihr einmal geschieht. Sie hat auch nicht acht, daß sie die ganze Zeit zu der Lampe hinüber sieht im Deichwärterhäuschen. Sie leuchtet still und stark. Wie ein Stern.
Aber wie Elsalill noch so steht, an das Hecktor geklammert und ohne Laut weinend, verlöscht plötzlich die Lampe. Gleich darnach steht Vinzenz von Lassing neben Elsalill. Er nimmt ihre kalten Hände vom Hecktor und wärmt sie in den seinen. Wie sie dann zur Stadt gehen, zu den alten Häusern unter den riesenhaften dunklen Bäumen, erzählt Elsalill fliegender Stimme dem Freunde von Klaus diese letzte Stunde. Alles erzählt sie ihm. Jedes Wort und jeden Gedanken.