Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ein todeswürdiges Verbrechen

»In einem von amtswegen eingeleiteten Eheungültigkeitsverfahren hatte sich das Zivillandesgericht unter Vorsitz des Oberlandesgerichtsrates Klissenbauer mit dem Fall der Eheleute H. zu beschäftigen, deren tragisches Schicksal die Öffentlichkeit schon mehrmals beschäftigte. Der Eisenbahnbeamte Emanuel H. hatte im Jahre 1877 in Langenwang mit Klaudine J. nach römisch-katholischem Ritus eine Ehe geschlossen, die angeblich im Jahre 1881 geschieden wurde. H. begab sich bald darauf in die Türkei, wo er eine Beamtenstelle bei den türkischen Staatsbahnen erhielt und heiratete am 16. Januar 1883 in Adrianopel gleichfalls nach römisch-katholischem Ritus die 27jährige Amalie Seh., die ihn während einer schweren Krankheit gepflegt und dadurch Anspruch auf seine Dankbarkeit erworben hatte. Im vorigen Jahr ging H. in Pension und kehrte mit Frau und Kindern nach Wien zurück, hauptsächlich um seine älteste geistesschwache Tochter hier in einer Anstalt unterzubringen. Bei irgend einer Amtshandlung des Magistrates wurde die zweifache Ehe aufgedeckt, der Magistrat trat den Akt der Staatsanwaltschaft ab, die gegen die Eheleute H. die Anklage wegen Verbrechens der Bigamie erhob. Vom Wiener Straflandesgericht wurde die Frau von der Anklage freigesprochen, der Mann zu zwei Monaten Kerkers verurteilt. Infolge der Aufregungen der Strafverhandlung und des nunmehr eingeleiteten Eheungültigkeitsverfahrens verfiel die Frau in Wahnsinn. Sie überfiel in einem Tobsuchtsanfall ihre geistesschwache Tochter mit einer Hacke, und als ihr Mann ihr die Hacke entriß, ergriff sie ein Küchenmesser und brachte sich mehrere tiefe Halswunden bei. Gegenwärtig befindet sich die Frau im Irrenhaus. In der gestrigen Verhandlung bestritten der Vertreter der Ehefrau und der Ehebandsverteidiger die Anwendbarkeit des österreichischen Rechtes. Der Gerichtshof sprach trotzdem die Ungültigkeit der Ehe aus. H. sei am 16. Januar 1883, dem Tage der Eheschließung, österreichischer Staatsbürger gewesen, weil nach einer Zuschrift des Magistrats er noch bis heute heimatsberechtigt erscheine. Wenn er auch ausgewandert sei, sei seine Staatsangehörigkeit nicht erloschen, da er weder den Austritt aus der österreichischen Staatsangehörigkeit angemeldet, noch sonstwie eine Staatsbürgerschaft erworben habe u. s. w.«

Ja, die österreichische Staatsangehörigkeit ist ein Verbrechen, und alle diese scheußlichen Verurteilungen erfolgen nicht wegen Bigamie, sondern wegen österreichischer Staatsangehörigkeit. Wenn Menschenopfer unerhört gebracht werden, so ist unsere Justiz nicht daran schuld. Gewiß, sie ist das zur Institution erhobene Vergehen gegen Gesundheit, Freiheit, Ehre oder Eigentum der österreichischen Staatsbürger. Aber hätte Emanuel H. seinerzeit auf einer Korrespondenzkarte an den Magistrat seinen Austritt aus dem Notverband dieses Staates, der unsere Wunden nicht heilt, angezeigt, so hätte seine arme Frau ihre Tochter nicht mit der Hacke überfallen müssen. Wer ist denn gezwungen, ein Österreicher zu sein? Vor Europa sich mit einer Farbenzusammenstellung zu blamieren, die man längst nicht mehr trägt? Mit der maschinellen Gleichmütigkeit des Zusammenbruchs in einer Clown-Farce, in der oft das leiseste Wort eine Zimmerdemolierung oder einen Massenmord bewirkt, spielen sich diese Ehetragödien ab. Staatsbürgerschaft, Liebe, Landesgericht, Hacke, Irrenhaus ... Und bloß zwei Monate Kerker? Nein, die österreichische Staatsangehörigkeit ist ein todeswürdiges Verbrechen!

Welthistoriker melden: Signor Caruso, der größte Tenor der Welt, wurde im Affenhaus des Zoologischen Gartens von New-York verhaftet. Ein Polizist beobachtete den Sänger, wie er einer ihm unbekannten Dame, die dagegen protestierte, in Gegenwart ihres Söhnchens handgreifliche Zärtlichkeiten aufdrängte. Caruso, der alles bestreitet, fiel weinend Conried um den Hals. Die Parkpolizisten sagen aus, daß sie von fünf ähnlichen Fällen, in denen Caruso sich an Frauen herandrängte, wissen, und behaupten, ihn schon einmal aus dem Affenhaus wegen eines gleichen Angriffs hinausgeworfen zu haben. Carusos Rechtsbeistand rief aus: »Es ist unwahr, daß Signor Caruso eine falsche Tasche in seinem langen Überzieher hat, durch die er seine Finger stecken und Leute berühren kann, während er seine Hände in den Taschen zu haben scheint.« Die Dame, die sich diesmal von Herrn Caruso merkwürdigerweise nicht um die Hüfte fassen lassen wollte, habe dem größten Tenor der Welt zugerufen: »Tun Sie das nicht noch einmal!« Nein, nicht einmal zur Wiederholung verlangt! Aber so traurig diese Erfahrung ist, die Rückentwicklung eines Tenors aus dem Wiener Opernhaus ins New-Yorker Affenhaus ist immerhin eine interessante biologische Tatsache. Auf der Bühne gehen die sexuellen Attacken über das hohe C nicht hinaus, im Leben muß eine anschaulichere Praxis die Stimmentfaltung ersetzen. Wer freilich die Beziehungen zwischen der Tenorstimme und den weiblichen Geschlechtsnerven einigermaßen kennt, hätte sich schon für eine Verhaftung Carusos im Opernhaus aussprechen müssen. Vorausgesetzt, man ist davon überzeugt, daß die Frauen die fast handgreiflichen Zärtlichkeiten eines Kehlkopfs als Belästigung empfinden. Das tun sie nun freilich nicht. Aber jedenfalls muß die öffentliche Meinung New-Yorks gegen die öffentliche Meinung Wiens in Schutz genommen werden. Das amerikanische Schamgefühl mag ja eine garantiert solide Sache sein, über die man sich auf unserm alten Kontinent lustig machen darf, und es mag wahr sein, daß drüben über hundert europäische Defraudanten mehr Freude ist, als über einen europäischen Wüstling. Trotzdem muß gesagt werden, daß in der Affenkomödie des Herrn Caruso ausnahmsweise nicht jenes Gefühl die Hauptrolle gespielt hat, das man in kultivierten Zonen als »sittliche Entrüstung« mit Recht verabscheut. Im Gegenteil scheint mir ein Gefühl für sexuelle Freiheit den ganzen Rummel bewegt zu haben. Nur die Flachköpfe unserer liberalen Presse halten es für Prüderie, wenn die amerikanischen Frauen einen Angriff auf ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht zurückweisen. Ich weiß nicht, nach welchem Gesetz Herr Caruso verurteilt wurde, aber ich vermute, daß nicht die öffentliche Schamhaftigkeit, sondern das Recht des Individuums, sich betasten zu lassen, von wem es selbst betastet sein will, gegen die Zärtlichkeit des großen Mannes geschützt werden sollte. In Amerika wahrt man den sexuellen Anspruch der Frau, indem man sie vor sexueller Ansprache schützt. Bei uns dürfen bloß die Herren der Schöpfung ihre Geilheit auf der Straße spazieren führen, dürfen Frauen anpöbeln, die von ihnen nicht beglückt sein wollen, und ein unbeteiligtes Publikum an den Exhibitionen ihrer Luchsaugen teilnehmen lassen. Man muß nur ein paar Mal diese Zudringlichkeit verglaster Blicke – wenn man mit einer Frau etwa ein Theater oder ein Restaurant betritt – erlebt haben, um die amerikanische »Prüderie«, die das Bett eben nicht als die Domäne des Mannes anerkennt, für eine kulturvollere Erscheinung zu halten als die mitteleuropäische Verfemung sinnlicher Frauen. Und bezeichnend für den Idiotismus, mit dem man hierzulande eine Frage der Freiheit als eine Frage der Moral auffaßt, ist der journalistische Eifer, der dem Lebenswandel jener Mrs. Graham nachspürt, um dem sexuellen Übergriff des Herrn Caruso eine mildere Beurteilung zu sichern. In New-York würde ein Wiener »Steiger« wegen Belästigung einer Kokotte nicht anders behandelt werden, als Caruso wegen Belästigung einer Mutter. Aber die ›Neue Freie Presse‹ entsetzt sich darüber, daß »bei der Verhandlung nicht einmal nähere Mitteilungen über die Person der Mrs. Graham gemacht wurden, und ob ihre Vergangenheit eine makellose sei«. Ist sie es nicht, so war Caruso nach österreichischer Auffassung womöglich berechtigt, das Kind, das Mrs. Graham an der Hand führte, als der Sänger sie abknutschte, zugleich über die Vergangenheit der Mutter aufzuklären. Das ist der Standpunkt der Leute, die es erst einen »Mißgriff« nennen, wenn die Polizei irrtümlich statt einer Prostituierten eine Frau der Gesellschaft drangsaliert hat. Und das ›Extrablatt‹ verlangt ausdrücklich, daß »die Belästigung anständiger Frauenspersonen auch bei uns der gerichtlichen Ahndung unterliegen solle« – so daß also eine Erweiterung der sittenrichterlichen Befugnis unserer Justiz die Folge wäre und jeder Lumpenkerl wenigstens erreichen könnte, daß die Tugend, auf die er es abgesehen hatte, gerichtsärztlicher Prüfung unterzogen werde. So sittenstreng wie das ›Extrablatt‹ denkt auch Herr Caruso. »Er habe Frau Graham bemerkt, doch habe er sich von ihr sofort abgestoßen gefühlt; denn sie, nicht er, habe sofort mit Avancen begonnen, welche er dahin deuten mußte, daß sie keine anständige Frau sei.« Diese Edelmänner wollen natürlich nur mit »anständigen Frauen« zu tun haben, wenn es sich ihnen um eine Unanständigkeit handelt. Und welcher Spießer wüßte den Spieß nicht im geeigneten Moment umzudrehen? Wer immer er sei, sein Zeugnis fände Glauben. »Sehen Sie her«, beteuerte so einer vor dem diensthabenden Sergeanten der Polizeistation, » ich bin Caruso, der große Tenorist!« ... Er war es wirklich. Denn ein Zeuge gab in der Verhandlung an: »Caruso versteht nicht englisch. Vielleicht, wenn ich zu ihm sage, Caruso, wollen Sie Luncheon mit mir einnehmen, versteht er mich. Er versteht auch: Wie geht's? Schönes Wetter! Frühstück, Dinner; aber wenig mehr.«

Das ›Extrablatt‹ über die Enthaftung der Regine Riehl. Wohl ein wütender Protest der Mädchenbefreier, die auf den Lorbeern ausruhten, die sie einem Schweinsrüssel abgenommen haben? In deutschen Verleger-Fachblättern, die die profitablen Geheimnisse eines redaktionellen Salons kennen, war die »Tat« gefeiert worden, und die Münchener ›Jugend‹, die der Hirth aller politischen Schafe Deutsch-Österreichs noch immer betreut, hatte dem Herrn Bader eine Hymne gewidmet. Nun ist Regine Riehl enthaftet, aber das ›Extrablatt‹ hat sich bereits so weit beruhigt, daß es diese sonderbare Befreiung einer Kupplerin aus dem geschlossenen Hause in der Alserstraße nicht mit jenem Pathos begleitet, auf das man immerhin hätte rechnen dürfen. Oder enthüllt es wenigstens die Gründe dieser Enthaftung gegen eine Kaution von lumpigen 50 000 Kronen – ein Bettel neben den Verdiensten der Riehl durch die Mädchen und des ›Extrablatts‹ um die Mädchen der Grünethorgasse? Da liest man plötzlich den Namen »Johann Altenburger«. Aha! Hier steckt vielleicht die Sensation. Siehe da, die Stelle lautet: »In der Hand trug sie eine Hutschachtel, welche einige Kleidungsstücke enthielt. Vor dem Tore in der Landesgerichtsstraße wartete der von Herrn Johann Altenburger gelenkte Einspännerwagen Nr. 281. Regine Riehl bestieg rasch den Wagen, ihr Vater nahm neben ihr Platz. Die Fahrt ging in die Grünethorgasse Nr. 24. Das unerwartete Erscheinen der Frau Riehl erregte in der Grünethorgasse großes Aufsehen. Kaum hatte der Wagen beim Hause gehalten, eilten schon Leute aus der Nachbarschaft herbei ...« Das ›Extrablatt‹ hat also wieder seine alte Richtung gefunden. Verurteilt wurde die Riehl wegen Einschränkung der persönlichen Freiheit, also wegen eines 94ers. Aber der Einspänner, der sie vom Landesgericht abholte, war der 281er! So löst sich alles in Wohlgefallen auf. »Und darum Räuber und Mörder!« möchte man ausrufen, wenn die Räuber und Mörder nicht zufällig Abonnenten des ›Extrablatts‹ wären.

Die Wiener Polizei hat eine Kriminalschule errichtet, in der Übungskurse für Polizei- und Wachebeamte abgehalten werden, und das – trotz dem kleinen Riehl-Zerwürfnis – polizeioffiziöse ›Extrablatt‹ eröffnet den ersten Kurs mit einer Reklame für den Polizeirat Stukart. Es bringt ein Titelbild, auf dem vor allem der Chef des Sicherheitsbureaus und ein vorzüglich getroffenes Skelett sichtbar sind, das angeblich zu Lehrzwecken dient, wahrscheinlich aber bloß als Symbol der körperlichen Sicherheit des Wieners aufzufassen ist. Die Raubmörder betrachten diese Vorlesungen als unschuldigen Zeitvertreib der Kriminalisten und haben gar nichts dagegen, daß im Hause des Nichtgehängten recht viel vom Strick gesprochen wird. »Die kleine Tasche auf dem Pult enthält jene Behelfe, welche der Beamte bei Tatbestandsaufnahmen benötigt, die Meßbänder, Lupen, Telegrammblankette und dergleichen.« »Und dergleichen« ist gut. Wahrscheinlich ist das Salz gemeint, das man einem Spatzen aufs Gefieder streut, wenn man ihn fangen will. Die Polizeikriminalistik mag noch so wissenschaftlich tun: die Meßbänder helfen nicht, solange in einem Staat die Meßgewänder Mode sind. »An einer Wand des Saales sieht man die verschiedenen Formen von Augen, Nasen und Ohren in Tabellen vereinigt.« Es sind die Augen, die einem Wiener Polizeibeamten über gehen, wenn die Wände eines Schlafzimmers Ohren haben, und die Nasen, die ihm inzwischen die Einbrecher drehen. »Zur vergrößerten Darstellung von photographischen Aufnahmen dient der im Saale aufgestellte Projektionsapparat«, und zur vergrößerten Darstellung der Verdienste des Wiener Sicherheitsbureaus dienen die Abbildungen des ›Extrablatts‹.

In einem Artikel »Humanität und Prostitution« hat ein christlich-soziales Blatt das letzte Wort, das zu dieser Frage überhaupt zu sagen ist, ausgesprochen. Zunächst setzt der leider anonyme Verfasser auseinander, daß man den Prostituierten »die Bonifikationen des Staatsschutzes, die jeder anständige Bürger beanspruchen darf, nicht angedeihen lassen kann, ohne das ehrliche Gewerbe herabzusetzen«. »Mit demselben Recht«, ruft er, »dürfte ja jeder Räuber und Mörder auf seinen Beruf pochen und denselben anerkannt und vom Staate geschützt wissen wollen«. Hier könnte man freilich einwenden, daß der Vergleich insofern nicht stimmt, als ja die Tätigkeit der Räuber und Mörder ihren Klienten nicht ganz dasselbe Vergnügen bereitet wie die Tätigkeit der Prostituierten den Klienten der Bordelle, und daß sich zum Beispiel Staatsbeamte, Offiziere und sogar christlich-soziale Redakteure nicht scharenweise allabendlich in den Räuberhöhlen und Mördergruben zu versammeln pflegen. Doch das macht nichts; der Verfasser will ja nur sagen: »Wie jener (der Mörder) sich am Gute des Nächsten vergreift und den Leib mordet, so wirkt die Dirne nur zu oft auch ehestörend und der Verkehr mit ihr mordet die Gesundheit des Vaters und ungeborner Geschlechter«, und für dieses Argument wird wohl jeder Leser, den die christlich-soziale Presse in Mauer-Öhling hat, Verständnis zeigen. Nicht minder für die praktischen Vorschläge, die der Verfasser macht. Er ist radikal. Der Dirne müßte »der Weg zum Laster auf jede mögliche Art erschwert, ja verleidet werden«. Wie aber macht man das? Nichts einfacher. »Wenn die öffentlichen Häuser als Naturnotwendigkeit erkannt werden, so hat man sie nicht als Vergnügungsetablissements, in welchen man an der Seite von mehr oder minder kostümierten Damen bei reichlichen Champagnerlibationen der Göttin der freien Liebe huldigt, sondern als Bedürfnisanstalten zu behandeln, die ohne jeden Sinnenkitzel nur ihrem Zweck dienen ... Ob aber die Metze, die sich ihres bürgerlichen Rechtes begab, als sie sich jenseits von Moral und Gesetz stellte, ihren Lohn allein behalten oder mit der Bordellmutter zu teilen hat, ist Nebensache. Zu viel Humanität wird dieser Kaste nur neue Anhängerinnen zuführen, während drakonische, alle Vergnügungen und Eitelkeit ausschließende Maßregeln eher abschreckend wirken dürften.« In der zügellosen Putzsucht sei der Urgrund der Prostitution zu finden. »Die seidenen Hemden und Strümpfe scheinen ebenso mancher viel verlangenswerter als die grobleinene Arbeitsschürze.« Das ist nur zu wahr. Aber ungeachtet der Erfahrung, daß die seidenen Hemden und Strümpfe auch so manchem Besucher der Metze verlangenswerter scheinen als die grobleinene Arbeitsschürze, muß in den Bordellen auf größere Einfachheit gesehen werden. Wenn die Prostitution eine Folge der Putzsucht ist, so ergibt sich von selbst die Forderung, daß man dem Bordellwesen die Formen klösterlicher Lebensweise aufpräge. Nur kein Sinnenkitzel! Einfache, schmucklose Büßerhemdchen werden die Mädchen ganz gut kleiden, während die aufgedonnerten Toiletten einerseits die sittliche Entrüstung der Besucher erregen, anderseits mit Erfolg auf deren verwerflichste Instinkte abzielen. »Wie sehr korrumpierend solche Brutstätten des Lasters wirken, hat die Depravierung aller jener Organe dargetan, die, zur Kontrolle berufen, ihrer Pflicht in der schwülen Atmosphäre des Freudenhauses ebenso vergessen hatten wie die Inwohnerinnen Tugend und Ehre. Solche auf gemeinem Gewinn beruhende Institute sind Pestbeulen und müssen anderen, zielvoll und anständiger geleiteten Platz machen, wenn sie nicht überhaupt ganz aus der Welt zu schaffen sind. Es wird sich dann zeigen, ob die Prostitution ein wirklich notwendiges Übel ist, wenn sie alles Flitters, Tandes und Sinnenkitzels entbehren muß.« So war's – wörtlich – am 13. Jänner der Zeitrechnung nach dem Prozeß Riehl zu lesen. Wie mag der Artikel aus der Anstalt in Mauer-Öhling geschmuggelt worden sein? Es heißt, eine Disziplinaruntersuchung sei eingeleitet worden, habe aber bisher zu keinem Resultat geführt. Die Anstaltsleitung stellt sich mit Recht auf den Standpunkt: Hoffnungslose Fälle nehmen wir auf; aber nicht in einem Stadium, in dem schon die Mitarbeit an einem christlich-sozialen Blatt stündlich eintreten kann.

Welcher Humor im Gerichtssaal noch immer am stärksten »zieht«? Der, den man sich im Theater nicht mehr gefallen läßt. Das Alter einer Frau und der böhmische Dialekt – das ist die unverwüstliche Gelegenheit für Improvisationen und »Schlager«, durch die Stars des Landesgerichts, die Lieblinge des Auditoriums zu wirken wissen. Wenn der Vorsitzende des Prozesses Odilon einen Zeugen auf das Mißverhältnis zwischen seinem Alter und dem »älteren Jahrgang, dem doch Frau Odilon angehört«, aufmerksam gemacht hat, so kann der Bericht »Heiterkeit« verzeichnen. Nun aber erst der Prozeß gegen einen Sänger namens Prochaska! Der »tschechische Akzent« des Angeklagten, auf den schon die Staatsanwaltschaft größten Nachdruck gelegt hat, wird immer wieder zur Belustigung der Hörer herangezogen. »Zeuge: Ich habe ihn auf der Bühne gesehen, aber es war mir zweifellos, daß er eine Zukunft habe. – Präsident: Wenn nicht diese Aussprache wäre! – Zeuge: Ja, es ist merkwürdig, Ungarn, Italiener, Franzosen, Engländer, wenn sie in ihrem Dialekt deutsch singen, gefallen, aber tschechische Aussprache macht lächeln. – Präsident: Wenn man beispielsweise stolz singt: Ich bin ein Rämer! (Heiterkeit).« Gespräch zweier Theaterfreunde: »Haben Sie schon den D. als Vorsitzenden im ›Böhm in Amerika‹ gesehen? Da müssen Sie hineingehen! Servus Prochaska, hat er zu ihm g'sagt! Wie der das bringt!« »Das ist noch gar nichts. Ich erinnere mich noch, wie der Holzinger ...«

In einer Gerichtsverhandlung, in der es sich um die Beschwerde eines »Exzedenten« über einen der neuestens so beliebten polizeilichen Übergriffe handelte, wurde nebenher die folgende Äußerung, die der amtierende Polizeikommissär getan haben soll, erwähnt: »Nur Eisen anlegen, wenn er keck ist! Ich bin Herr im Bezirke und herrsche über 200 000 Menschen«. Der Zar von Ottakring heißt Johann Kubachka. Johann Kubachka der Erste. Es ist sehr erfreulich, daß in den meisten anderen Bezirken Wiens schon die Konstitution eingeführt ist. Ich bin Untertan des Kommissariats Wieden, dessen Bevölkerung ihrem Herrscher eine Reihe freiheitlicher Errungenschaften dankt. Als ich zum Beispiel einst wiederholten Vorladungen wegen des Meldzettels keine Folge leistete, wurde mir, dessen hochverräterische Gesinnung klar zutage lag, stillschweigend Amnestie gewährt. Auf dem Alsergrund freilich konnte man eine zeitlang glauben, daß die Polizei an der Erhaltung der Leibeigenschaft interessiert sei. Bis endlich das befreiende Wort: »Madeln verführts mir den dicken Kommissär!« fiel und uns darüber aufklärte, daß die Behörde zu den bekannten »Opfern der Regine Riehl« gehört.

Vor einem galizischen Schwurgericht wird eine Frau, die ihr Kind totgeprügelt hat, von der Anklage des Mordes, beziehungsweise Totschlags freigesprochen und wegen »Überschreitung des häuslichen Züchtigungsrechtes« zur Strafe des Verweises verurteilt. »Sie Angeklagte, Sie haben Ihr Kind getötet. Daß mir so etwas nicht wieder vorkommt!« ... Und man erfährt nicht einmal, ob die Angeklagte für den Beweis ihrer Besserungsfähigkeit ein zweites Kind vorrätig hat.

Ein juristisches Blatt hat zugeben müssen, daß die Geschichte der Wiener Sittenpolizei in zwei Epochen zerfalle: die erste beginne mit der Gründung der Ostmark durch Karl den Großen, die zweite mit dem Prozeß Riehl. Aus der zweiten hebt es ein Ereignis hervor, das ein künftiger Gindely mindestens im Kleingedruckten verzeichnen wird: Wie ein Mann, der auf das Polizei-Kommissariat des vierten Bezirkes eskortiert wurde, weil er im Verdachte des außerehelichen Beischlafs mit einer Frau stand, der man nichts geringeres als clandestine Prostitution nachweisen wollte, sich die miserable Beleuchtung des Amtszimmers zunutze machte, um zu entwischen ... Nicht minder glücklich ward im siebenten Bezirk die Verhaftung der Kupplerin H. durchgeführt. Der peinliche Eindruck, den man von diesem krassen Akt polizeilicher Undankbarbeit empfing, wurde einigermaßen durch das Entgegenkommen jenes Amtsorgans gemildert, das, wie in kriminalistischen Kreisen behauptet wird, seit vier Wochen vor dem Kaffeehaus wartet, in dessen Klosett sich die Verhaftete auf dem Weg zum Polizeiamt zurückgezogen ha ... Fallen seh' ich Zweig' auf Zweige. Und dennoch darf man dem Gerücht nicht glauben, daß die Behörde gegen die Kupplerinnen bloß deshalb so streng vorgehe, weil sie »der Sachs« die Konkurrenz vom Hals schaffen wolle ... Ein rührender Zug: Die Polizei hatte also aus dem Prozeß Riehl erfahren, daß in einem tolerierten Hause Ausbeutung, Freiheitsberaubung, hygienische Verwahrlosung geherrscht habe. Aber sie fand in den anderen Häusern, die schleunigst untersucht wurden, nichts, was zu beanstanden gewesen wäre. Nur in einem einzigen wurde des Übels Wurzel entdeckt und beseitigt: das Klavier! Ein christlich-soziales Blatt hatte verlangt, daß die Prostitution des Sinnenkitzels entkleidet werde, und so verfügte die Polizei, daß wenigstens das Klavier aus dem Salon in die Rumpelkammer überführt und mit einem Tuch verhüllt werde. In stumpfer Ergebung sitzen die Mädchen und warten, bis wieder musikalischere Zeiten in Wien anbrechen. Der Kampf der Polizei gegen die Unsittlichkeit endet mit einem Sieg: Ein Bordellklavierspieler ist brotlos.


 << zurück weiter >>