Karl Kraus
Grimassen - Aufsätze 1902-1914
Karl Kraus

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Razzia auf Literarhistoriker

Wo ich geh' und steh', wimmelt es jetzt von Literarhistorikern, also von Historikern, die in keinem Zusammenhang mit der Literatur stehen und darum nur Literarhistoriker heißen. Was soll ich mit den Leuten anfangen? Ich will die, die es schon sind, verstümmeln und darum die nachfolgenden verhindern. Ich will das Handwerk verächtlich machen. Ich will den Totengräbern zeigen, daß der Henker mehr Ehre aufhebt. Ich sammle die Fälle und bitte um Unterstützung. Stille Kreuzottern zu töten, ist schnöde und der steirische Landtag zahlt für jede zwölf – (hier will sich mir eine unerwünschte ldeenassoziation mit Herrn Rudolf Hans Bartsch ergeben). Ich zahle für jeden Literarhistoriker dreizehn Heller. Man folge mir in die Seminare, aber man scheue auch die Redaktionen nicht. Gerade dort nisten sie.


Einmal habe ich mich dafür interessiert, wann Lawrence Sterne gestorben sei und wann – da es doch nun einmal der Fall ist – Max Kalbeck geboren. Ich fand, daß über diesen genau so viel stand, wie über jenen. Seit damals glaube ich, daß der Brockhaus, wenn er über die Entfernung der Kassiopeia von der Erde Auskunft gibt, von einer Clique bedient ist.


Über Jean Paul fand ich die Bemerkung, er sei eigentlich kein Dichter gewesen, bezeichnend sei ja hiefür, daß er keine Verse geschrieben habe. Seit damals glaube ich, daß die Sphärenmusik von Charles Weinberger ist und das Buch der Schöpfung von Buchbinder.


Einer, der's gut mit mir meint, vermißte meine Biographie. Er teilte mir mit, er habe die Firmen Meyer und Brockhaus darauf aufmerksam gemacht, daß sie von ihren Vertretern am Wiener Platz infam belogen werden, weil die Fackel, wenn schon nicht, wie viele glauben, für den Geist, so doch für das Wiener Geistesleben mehr in Betracht komme, als die Werke des Herrn Dörmann. Die Firmen antworteten, daß sie sich auf ihre Vertreter verlassen müßten, und es blieb dabei, daß die Fackel selbst in der Rubrik »Wiener Zeitungswesen«, dem sogar die »Pschüttkarikaturen« nachgerühmt worden, fehlte. Zweifelt einer noch, daß ich die persönliche Sache aus anderen Motiven führe als weil sie das beste Beispiel für die allgemeine Unsachlichkeit ist? Glaubt einer noch, daß ich einen besseren Schulfall fände als mich? Mein Lebenslauf fühlt sich nur wohl dabei, wenn er von den Herren Walzel und Hauser nicht durch Beachtung aufgehalten wird. Der Strom mündet ins Meer und mit ihm fließt der Kehricht. Der Kehricht tut so, als ob's ihm der Strom zu danken hätte. Aber es dürfte wohl das Gegenteil der Fall sein.


Noch unwirtlicher aber ist's jetzt auf dem Semmering. Nicht wegen der Tuberkeln, aber wegen der Talente. Ein Berliner Verleger ist angekommen und nunmehr sollen die Hotels dort oben den deutsch-österreichischen Anthologien gleichen. Herr Sami Fischer könne keine Stunde mehr am Busen der Natur ruhen, ohne daß ihm die Literatur den ihren hinhält. Zweihundert fein differenzierte Begabungen, die aber voneinander nicht zu unterscheiden sind, haben sich schon jede ihr Zimmer gesichert. Lungern ihm vor der Tür, laufen voran, lauern hinter Bäumen, machen Waldzauber. Führen dem Verleger die Wunder der Natur vor, kopieren den Hahnenschrei, um ihn zu wecken, machen ihm das Echo, melken ihn. Auf den Waldwegen, wo sonst nur Stullenpapiere und Kurszettel vorkamen, liegen jetzt Manuskripte und Kontrakte herum, und der Semmering, diese idyllische Zuflucht der Börseaner, ist zur Börse geworden. Das hat der Mann vor fünfundzwanzig Jahren sich nicht träumen lassen, und wenn er, nachdenklich wie er ist, die Zeiten vergleicht, mag er finden, daß zwar die Literatur mehr trägt, aber die Kommittenten der Möbelbranche bessere Manieren hatten. Wie verkennt mich der anonyme Esel, der mich neulich der Gemeinheit für fähig hielt, dem Manne einen »Vorwurf« daraus zu machen, daß er früher ein anderes Geschäft hatte. Es war kein Angriff auf die Möbelbranche, die ich für nützlich, ja für unentbehrlich halte und vor allem für ein ehrlicheres Geschäft als die Literatur. Ich habe ihr aber den Vorwurf nicht ersparen können, daß sie ihre Leute nicht halten kann und daß einer der Ihren und sicherlich der Besten einer sich auf Romane geworfen hat. Jetzt sieht er, in welche Gesellschaft er geraten ist.


Von Herrn Otto Hauser, einem Übersetzungsbureau, heißt es:

Otto Hauser ist eine Art Kardinal Mezzofanti für die deutsche Literatur, niemand weiß genau zu sagen, wieviel Sprachen er eigentlich beherrscht (einige davon so vollendet, daß er sogar eigene Gedichte in fremden ldiomen wagen durfte), aber nach seinen bisherigen Publikationen und der staunenswerten Leistung seiner Geschichte der Weltliteratur dürften es wohl mehr als zwanzig sein.

Ich möchte bei Hauser nicht übersetzen lassen, finde aber sein Wagnis, eigene Gedichte in fremde Idiome zu übersetzen, sympathisch. Mit den Übersetzern ist's eine eigene Sache. Sie glauben immer, es genüge, wenn sie die andere Sprache können. Darum ist es wirklich nicht viel, wenn Hauser zwanzig Sprachen beherrscht, und wir, die nur deutsch sprechen, können uns dann eben zwanzigmal schwieriger mit ihm verständigen. Was haben wir denn davon, daß Hauser Gedichte des Li-Tai-Po lesen konnte? Übersetzt er sie in eine ihm fremde Sprache, so ist es ein Trugschluß, zu glauben, sie seien nun deutsch geworden, weil sie nicht mehr chinesisch sind. Zwanzig Sprachen zu beherrschen, ist eine traurige Eigenschaft, die den, der sie besitzt, früh welken macht. Was hat er von seinem Leben, wenn er immer Acht geben muß, daß ihm keine Verwechslung passiert? Unter allen Umständen mag eine solche Gabe den Betroffenen oft in Verlegenheit bringen, weil sich die Passagiere nur zu leicht versucht fühlen, ihn auch nach den Zugsverbindungen zu fragen. Nie jedoch würde es mir in den Sinn kommen, mir von einem athenischen Hotelportier die Odyssee übersetzen zu lassen. Am tragischen Fall Trebitsch hat es sich gezeigt. Zwischen dem Englischen und dem Deutschen war plötzlich jede Verständigung unterbrochen, und wenn wir auch nicht gerade bedauern mußten, daß uns die Kenntnis des dubiosen Herrn Shaw erschwert wurde, so war doch am Deutschen eine unerlaubte Handlung verübt worden. Wozu übersetzen? Es heißt eine Fliege mit zwei Schlägen treffen. Die Herren sollen, wenn sie Courage haben, in Privathäusern Lektionen geben. Mir kann's ja egal sein, was mit dem Portugiesischen geschieht; daß sich mit dem Deutschen nicht spaßen läßt, weiß ich zufällig. Wenn sich aber zwanzig Sprachen von Herrn Hauser beherrschen lassen, so geschieht ihnen recht.


Aus einer Literaturkritik:

Kein Zweifel, die Novellenfolge bietet ein gutes Diner: die obligate Suppe, diskret, nur ein paar Löffel, ein Glas Sherry darin – ein sanfter Fisch, ein leicht verdauliches Entree, ein sorgsam gebratenes Fleisch mit der Jahreszeit entsprechenden Gemüsen – noch eine Platte Spargel, dann Eis –; aber, wie nach solchen Diners, ist man am Ende des Buches noch hungrig. Es war alles ganz gut, aber es war nichts, wobei man sagen müßte: deliziös! Oder, um diesen prosaischen Vergleich zu beenden: Der »Falke« dieser Novellen ist ein ausgestopfter, ein konservierter Falke ... Sorrent, das Meer – das ist mit echter Meisterschaft gemalt. Knapp, statt gedankenvoll. Lassen die anderen Erzählungen zuweilen daran denken, daß die Vorwürfe zu ihnen Brosamen von einem reichen Tisch sind – der »kindliche Knabe« ist vollwertige Produktion.

Bitte auch etwas Speisepulver!


»Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte« von Albert Sörgel. Mit 345 Abbildungen. A. Voigtländers Verlag, Leipzig. »Meiner Braut gewidmet.« – Solche Intimitäten werde ich dem Herrn bald abgewöhnt haben. Daß die Fortpflanzung der Literarhistoriker nicht erwünscht ist und tunlichst erschwert werden soll, habe ich bereits zu verstehen gegeben. Heiratet dennoch einer, so erspare er dem Publikum die Anzeige! Wäre ich ein Weib und fiele auf mich die Wahl, den Sörgel glücklich zu machen, weiß Gott, ich überlegte mir's nach diesem Buch und täte es nicht. Über den Stil ist weiter nichts zu sagen, als daß die Befassung des Herrn Sörgel mit der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte purem Übermut entspringt. Oberflächlich wie ich bin, habe ich nur geblättert. Das tue ich immer und muß bekennen, daß ich mich eigentlich nur in meine eigenen Bücher vertiefen kann und auch nur, solange sie noch nicht erschienen sind. Hotelrechnungen und Literaturgeschichten überfliege ich; und merke doch sogleich, wenn dort etwas zu viel aufgeschrieben ist und hier etwas zu wenig. Und kenne doch den Sörgel weit besser als irgendeiner, der ihn studiert hat. Versenkte ich mich in ihn, so wäre ich bald unten durch; aber wenn ich ihn nur flüchtig berühre, so haben wir beide einen Jux davon. Ich behaupte also infolge oberflächlicher Kenntnis des neunhundert Seiten starken Werkes, daß es im Stil eines Chef de reception geschrieben ist, der aus den kleinen Verhältnissen von Zwickau (Sachsen) ohne Übergang in ein Hotel in Ostende geriet und sich dort einfach nicht auskennt. Er kommandiert mit den Leuten herum, belagert ihnen die Tür, wenn sie nicht auf die Minute die Wochenrechnung zahlen, will sie – in Ostende – eegalganz auf ihren Leumund prüfen und es kommt überhaupt zu peinlichen Weiterungen zwischen Zwickau und dem großen Leben. So scheint mir das Buch geschrieben. Alles was er über die Schönheit der Gegend in Reisebüchern gefunden hat, weiß das Männeken herunterzuschnattern, und ist dabei objektiv. »Nur so kann, meine ich, der Leser die literarischen Geisteskämpfe wirklich noch einmal erleben – als unparteiischer Zuschauer oder als Mitkämpfer auf der einen oder andern Seite: dem Leser ist oft die Wahl gelassen.« Badeabonnements, Eintrittskarten für den Gletscher besorgt die Direktion, Warmwasserheizung, Freiluft- und Liegekuren, photographische Dunkelkammer, eigene Hochwildjagd, feinstes Orchester, Lift, Forellenfischerei im Hause. Wie gewissenhaft und gerecht aber der Sörgel in der Literatur die Werte unterscheidet, beweist er hinreichend. Zum Beispiel: »Eine Zeitlang löste der Name Max Dreyer den Namen Otto Ernst aus. Nicht, daß Otto Ernst später als Dreyer in der Literatur heimisch wurde, mit ähnlichen Werken wie der Rostocker, nein : schon 1888 erschien von dem Hamburger Volksschullehrer Otto Ernst Schmidt ein Band Gedichte, ein Jahr später ein Band Essays ... Aber eine Zeitlang zwang das Volksschullehrerdrama »Flachsmann als Erzieher« an das Schauspiel vom »Probekandidaten« zu denken und eins mit dem andern zu vergleichen. Diese Gedankenverknüpfungen schwinden jetzt. Das Bild des Dramatikers Otto Ernst verblaßt, der Plauderer, der Erzähler, der Lyriker gewinnt. Zum Glück.« Über allem aber strahle das »Lächeln eines unbeirrten Optimismus«. Und nicht bloß, weil der Herr Otto Ernst geglaubt hat, »Die Liebe höret nimmer auf« werde im Burgtheater Kassa machen. Von Hermann Bahr »führen manche Fäden« zu dem nur wenig älteren Schnitzler. Aber ich durchschneide sie. Wedekind gegenüber kommt sich natürlich ein Hotelsekretär als Dichter vor. Denn »wenn Wedekinds Personen reden, dann reden sie ein schwulstiges Papierdeutsch, das halb der schlechten Zeitung, halb dem Kolportageroman angehört ... Dieser schwulstige oder stumpfe Stil ist mit daran Schuld, daß Wedekinds Dramen, hintereinander gelesen oder gesehen, bald langweilig werden.« Das schreibt der Mann, der sich »gezwungen« fühlt, Flachsmann als Erzieher mit dem Probekandidaten zu vergleichen und an beide zu denken. Solche Schweinerei ist heute in Deutschland möglich und wird dank ihr selbst und dank den schönen Bildeln, die ihr beigegeben sind, massenhaft unter den deutschen Familien abgesetzt. Vom Herrn Sörgel ist eben zu erfahren, was man über die modernen Dichter und Denker zu sagen hat, denn er hat nicht nur sämtliche Klischees und Waschzettel der letzten Jahrzehnte gelesen, nein, er weiß auch Bescheid, wer bei den Gründungen der Literaturvereine in den achtziger und neunziger Jahren im Gasthaus dabei war und daß eine hochfeine Bowle getrunken wurde. Er weiß Bescheid und tut ihn. Er hat sich sogar ein Porträt des Herrn Felix Holländer verschafft, der Sappermenter! Er weiß auch, daß dem Herrn Hanns Heinz Ewers, dem Commis voyageur ins Transzendente, fünf Seiten gebühren und Peter Altenberg zwei, Herrn Weigand sieben und Heinrich Mann drei, von den »Ausländern, die die deutsche Literatur entscheidend anregten«, d'Annunzio zwei Seiten und Strindberg eine halbe Zeile. Er weiß, daß in eine moderne Literaturgeschichte die delle Grazie und die Böhlau gehören, aber beileibe nicht die Else Lasker-Schüler. Er ist objektiv. Über Peter Altenberg hat er einen Geburtstagsartikel aufgepickt und da gelesen, daß ihn die Wachmänner und Marktweiber in Wien kennen; er gibt nicht die Quelle an, aber er bestreitet es wenigstens nicht. Er hat auch erfahren, es sei Altenbergs Wunsch, »daß die Seele durch ihn an Terrain gewinne«; er nimmt Notiz davon. Er weiß auch auf den ersten Blick, den er selbst auf die erste Seite eines Altenbergschen Buches geworfen hat, daß dort Mandarinenschalen gekaut werden; er erkennt, daß es ein sonderbarer Heiliger sei. Dieser Sörgel schreibt einen einheitlichen Stil, nämlich den Stil von fünfhundert gleichwertigen Literaturreportern, deren Meinungen ihm zugänglich und geläufig wurden. Er ist objektiv. Er kann sich die letzten Jahrzehnte ganz ohne mich denken. Während ich so ungerecht bin, mir die letzten Jahrzehnte ohne den Sörgel nicht denken zu können. Er gehört hinein. Ich würde ihn um keinen Preis totschweigen. Daß ich ihn nenne, wird mir bei der Presse nicht schaden. Würde der Sörgel, dem man Uninformiertheit nicht nachsagen kann, meiner Tätigkeit nur mit einer Silbe gedenken, würde er auch nur mit einem Achselzucken zu verstehen geben, daß er um sie weiß, es hätte dem Weihnachtsgeschäft, das mit seiner Literaturgeschichte gemacht wurde, geschadet und wäre bis zur Ostermesse nicht von Vorteil. So muß sich Sörgel damit begnügen, von mir seine Meinung über Herrn Harden zu beziehen. Wenig genug und auch das in plumpster Fasson. »Eine rätselhafte Natur!« schreibt Sörgel zunächst hin. Mehr wußte er nicht. Da kam ich und löste das Rätsel in nichts auf. Noch nannte Sörgel den Mann einen »Meister der Antithese«, aber er wurde durch die Lektüre meiner Aufsätze unterbrochen, in denen an einem von Gesundheit strotzenden Stil der Bandwurm festgestellt erschien. Sörgel, selbst ein Meister der Antithese, verband nun die höchste Anerkennung, die einer Sprache zuteil werden kann, mit einem Tadel, der die Sprache zur lästigen Rede herabsetzt. Er ist eben objektiv. Natürlich fällt es mir nicht ernstlich ein, die Meinungen, die man mir so jahraus jahrein abschöpft, zu reklamieren. Nicht daß die Leute, deren Lippen noch vom Trunke feucht sind, die Quelle nicht nennen, aber daß sie deren Existenz leugnen möchten, vergiftet die Quelle. Solch ein Sörgel hat immer Recht. (Ich kann beeiden, daß an dieser Stelle der Setzer »Tölpel« gesetzt hat, und ich habe den Druckfehler »Sörgel« daraus gemacht.) Er ist objektiv und konsequent. Denn das Benehmen der Leute mir gegenüber, der ihnen nichts getan hat, ist immer die Antwort darauf, daß ich ihnen etwas tun werde. Herr Harden ist im Buche des Sörgel mit der Feder in der Hand photographiert – aha ein Schriftsteller –, von mir ist nur die Fed–r übernommen und vom Sörgel gar nur die Hand.


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