Karl Kraus
Grimassen - Aufsätze 1902-1914
Karl Kraus

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Grimassen über Kultur und Bühne

Feuilletonkorrespondenten, die mit einer schweißigen Beobachtungsgabe aus dritter Hand unser Geistesleben im Ausland repräsentieren, beklagen sich über den Wiener Komödiantenkultus. Es gibt Erkenntnisse, durch die man beweist, daß man keinen Geist hat. »Wohl dem Manne, der in Wien Schauspieler-Histörchen zu erzählen weiß! Er wird rasch gesellschaftlich beliebt; kennt er aber sogar einen der Lieblinge persönlich, dann wird es ihm an Einladungen nie fehlen, und die Huld schöner Frauen ist ihm sicher.« Das wäre ein ausgeleiertes Gedankenwerkel, wenn nicht die immerhin neue Auffassung mitspielte, wie man in Wien die Huld schöner Frauen erringt. Doch läßt sich über Vorurteile nicht streiten, und die Wahrheit, daß die verhätschelten Schauspieler »in den Größenwahn hineingetrieben werden«, ist unbestreitbar. Bemerkenswert ist lediglich die Wahl des Beispiels, an dem die Erkenntnis dargetan wird.

Wer ist gemeint? Welcher Wiener Komödiantentypus wäre so recht bezeichnend für das Übel, auf das unsere Sozialkritiker ihr schärfstes Auge haben? Ich denke, es müßte einer sein, dessen Popularität ein Maß wäre für den kulturellen Tiefstand der Gesellschaft, die ihm Ehren erweist, und Kunst und Begeisterung müßten zu einem Gesamtbilde des Ekels verschmelzen, das uns, wie aus dem Schaufenster jeder Ansichtskartenhandlung, in höchster Vollkommenheit noch angrinste, wenn man einen Querschnitt durch die soziale Struktur machen könnte. Wir formen den Ausdruck unseres kulturellen Bewußtseins, und wir haben den Schauspieler, den wir lieben. Besehen wir die Figur, die beim Bleigießen unserer Lebenswünsche zustande kam. Bei Gott, wenn sie nicht einem Handlungsreisenden gleicht, dann gleicht sie dem Schauspieler, dem Dichter, dem Advokaten, dem Komponisten, dem Maler, den wir lieben. Aber es stellt sich heraus, daß sie alle, alle dem Handlungsreisenden gleichen. In Manufaktur oder Literatur, in Juristerei oder Musik, in der Medizin oder auf der Bühne – immer ist es der sieghafte Überkommis, der den »Platz« beherrscht. An dem Wandel der Vorstellung etwa, die einst mit dem Namen Siegfried verknüpft war, mag man die Überlegenheit seines heutigen Trägers erkennen. Seine Haut hat auch nicht eine Stelle, die nicht hörnen wäre, und den Weg zum goldenen Hort kennt er besser als sein Vorgänger, denn seine Platzkenntnis ist verblüffend. Mühelos hat er sogar den deutschen Leutnant verdrängt, der nach Sedan schlecht und recht den heroischen Ansprüchen des Publikums genügte, bis er in die Karikatur entartete, und es ist eine überholte Anschauung, die das deutsche Leben heute noch vom zweifarbigen Tuch verhängt glaubt. Nicht die es tragen, sondern die in dem Artikel reisen, sind jetzt die Repräsentanten des Weltwarenhauses unserer Kultur. Der Offizier und der Beamte haben noch etwas »vorgestellt«; der Kommis und der Redakteur »vertreten« bloß. Gehört ihnen aber die Welt, die sie vertreten, so will es mich bedünken, daß ihnen auch die Bühne zu gehören hat. Über unseren Tragödien senkt sich ein Vorhang, und schon erfahren wir, wo man die billigste Kunstbutter bekommt. Und dabei wird sie wahrscheinlich gar nicht erzeugt, sondern nur verkauft. Ehedem hatte der Schuster ein persönliches Verhältnis zu seinem Leder; heute hat der Dichter keines zu seinen Erlebnissen. Es gibt keinen Erzeuger mehr, es gibt nur noch Vertreter. Darum können wir ohne einen Girardi leben; aber wehe, wenn man uns den Herrn Treumann verhaften wollte!

Die Kraft einer humoristischen Natur, die uns durch ein Augenzwinkern in eine Welt des Frohsinns versetzte – so tief hat sie nie in der Zeit gewurzelt, wie die Technik des tanzenden Kommis. Wir verzichten auf die erdgewachsene Kunst und schätzen, was am Platz begehrt ist. Jene geben wir an den Berliner Basar ab, wo zwischen Hausrat und Schmückedeinheim jetzt auch lebendige Werte verlangt werden. Girardi in Berlin – und uns begrüßt an allen Plakatsäulen das bedeutende Antlitz des wiedereroberten Herrn Josephi, den das Mutteraug' sogleich erkannt hat. Und wie würde es erst jenen flotten Geist entbehren, um den jetzt die Exekutionsbeamten mit den Enthusiasten raufen müssen? Das ist mein Wien, die Stadt der Lieder! dürfte eine Girardische Betonung lauten. Hat dieser Götterliebling wirklich jemals so gut das Wiener Volkstum repräsentiert wie jener Ghettoliebling (wieder nur eine falsche Aussprache) die herrschende Engros-Kultur? Girardi hat nichts vertreten; er war. Doch die Engrossisten, für die heute Theater gespielt wird, wollen für ihr Geld sehen, was einer nicht ist, nur was er kann. Der Kommis muß heute gesellschaftlichen Schliff haben, er muß perfekt Konversation führen, er muß tanzen können – sonst geht die Partie zurück. Die Töchter und die übrige Partieware an den Mann bringen, ist Lebensinhalt. Das Theaterspiel, das immer eine Eskomptierung der Lebenswünsche bedeutet, darf an keine andern Probleme rühren. Vor zwanzig Jahren noch saß eine Gesellschaft im Parkett, deren Väter die Kaution in der Brust höher gehen fühlten, wenn der Leutnant, der Schwerenöter, auf der Szene erschien. Dann kam die Zeit der schweren Not, die Weber aßen Hundebraten und das Bürgertum rief: »Die Kunst soll uns erheben, den Schmutz der Gasse haben wir zu Hause!« Endlich wird es wieder hell, verirrte Wünsche finden in den Hafen und zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. Der tanzende Prokurist erobert sich lustige Witwen und Dollarprinzessinnen, er wird sich auch noch, der Schwerenöter, die Tochter der Firma Bachstelz & Biach erobern, die ohnedies schon nach einem Autogramm vom Fritz Werner fiebert, aber bisher mit einem Brief von Peter Altenberg vorliebnehmen mußte. (Dessen Pathos wahrlich seine eigene Unterschrift hat, wenngleich es sich oft in der Adresse irrt, und dessen Humor zu dem Besten gehört, was wir heute nicht verstehen. Auch einer, den die Zeit in schlechte Gesellschaft gebracht hat; einer für sich und darum keiner für alle. Das Gesindel nimmt ihn nicht ernst, wenn er heiter ist. Bleibt er bei der Kunst, so wird sein Ton nicht gehört.) Gott, wie fesch! rief Fräulein Isolde Biach, während der Dichter sie auf die adelige Seele hin untersuchte; Gott, wie fesch, rief sie, als die Devise aufkam: Der Zeit ihren Treumann!

Es war der Augenblick, da man das kolossale Defizit an Humor, das die moderne Salonoperette belastet, als einen Überschuß an Psychologie zu deuten begann. Unseren Feuilletonisten gelang es, den Viktor Leon für die Kultur zu retten. Sie waren nicht so ehrlich, zu bekennen: was sich da oben auf der Operettenszene abspielt, gefalle ihnen, weil es nach der Branche riecht. Nein, der Pofel, der es zu Jubiläen bringt, weil die Volksseele jetzt der Hausiererfrechheit applaudiert, sollte ein Versuch zur Psychologisierung der Operette sein. Dem Dichter der »Lustigen Witwe«, dessen Einfluß auf das Geistesleben der Gegenwart ja unbestreitbar ist, wurde von dem Psychologen Salten nachgesagt, »seine biegsame Natur sei halt von der Epoche langsam gemodelt worden«. Denn er habe den Stoff des »Attaché« sich nicht bloß beigebogen, sondern in eine exotische Sinnlichkeit getaucht und es sei ihm nicht so sehr um die Tantimen, als um die »Enthüllung des Triebhaften« zu tun gewesen. In Herrn Treumann tanzte Dionysos selbst über die Bretter, die wieder eine lichtere Welt bedeuten sollten; nicht ohne daß Nietzsche als Claquechef bemüht wurde, erschien der Typus des Feintuchreisenden als das Idealbild kommender Kulturen hingestellt. Es war ganz meine Meinung, wenn ich von unserm Theater auf unser Leben schließe; nur mit dem Unterschied, daß sie mich lebensüberdrüssig macht, während ein perfekter Psycholog alle Engel den dummen, dummen Reitersmann singen hörte. »Etwas so restlos Freies, Schwerloses, Schwebendes, das wie eine große Schönheit ist«, wurde am Herrn Treumann bemerkt, und die Fähigkeit, »einen erhöhten Zustand des Menschlichen zu geben«. Ohne Zweifel: um die Reste herunterzuholen, um auf der Leiter zu schweben und im nächsten Moment wieder unten bei der Kundschaft zu sein, dazu ist schon eine gewisse Gelenkigkeit notwendig. Ob das aber gerade eine schauspielerische Qualität bedeutet? »Vom Psychologischen läßt er nicht«, hieß es vom Herrn Treumann. Nein, das tut er nun einmal nicht. Weil er zum Beispiel eine eingelegte Ballade nicht singen kann, wie es die früheren Operettenhelden konnten, so wird er wohl oder übel zum »Menschendarsteller:« »er packt die ganze schöne Einlage, sprengt sie mit seiner Eifersucht auseinander, zerfetzt sie und wirft sie der Geliebten keuchend, stückweise, abgerissen ins Gesicht; er singt keine Ballade, er ist dazu im Augenblick nicht gelaunt...« Welch ein eigenwilliger Moderner! Er verschmäht die billigen Mittel einer angebornen Komik, die ihm fehlt. Er hat keine Stimme, er hat Psychologie; er ist kein Sänger, er ist ein rasender Balladenschwengel. Auch findet seit langer Zeit bekanntlich ein Ausverkauf mit dem Worte »schlamperte Grazie« statt, und es schwebt mir vor, daß es zu den »abfallenden Schultern der müden Kulturen« paßte und zu jener »karessanten Sinnlichkeit«, die gleichfalls an Herrn Treumann beobachtet wurde. Es hieß, er sei »so lyrisch, daß sich alle Mädchen in ihn verlieben müssen«, und anderseits »so aus dem Geblüt geschmackvoll, daß er auch auf alle Männer wie eine Erquickung wirkt, und ich erinnere mich, daß das Umkippen seiner Stimme in dem Ausruf: »Njegus ... Ge . . lieb.. ter, komm her« – zweifellos das Widerwärtigste, was ich je in einem Theater erlebt habe – in vielen Wiederholungen als ein Echo des Lebensrufes gepriesen wurde. »Und hat mans nur einmal von ihm gehört, dann sagt mans ihm tagelang alle Augenblicke unwillkürlich nach: Njegus ... Ge. . lieb . . ter. .« Beneidenswert, wen die Gehirnqual dieser Lustigkeit, die das Wiener Publikum fünfhundertmal bestanden hat, zu einer neuen, rosigeren Weltbetrachtung stimmen konnte! Ich möchte mich aus solcher Gedankenwelt nach Hallstatt flüchten, um wieder Sprudelgeistern zu begegnen, und wenn ich dort einen Kretin fände, der Tag und Nacht seine Katze streichelt, ich fände den Glauben an die Menschheit wieder.

Aber diese wahrlich scheint den Lärm der Geistesarmut zu ihrem Glücke zu brauchen, und die tanzende Humorlosigkeit ist es, was sie heute auf der Bühne zu sehen verlangt. Hat einer schon einmal untersucht, welche Elemente es sind, die die unaussprechliche Gemeinheit dieses neuen Operettenwesens zusammensetzen, und was im Grunde jene tobsüchtige Begeisterung in allen Kulturzentren bewirkt, auf welche die Erde schließlich mit einem Beben antwortet? Man bedenke, daß die charmante Pracht einer Offenbachschen Welt versunken ist, und daß sie einst mit allen ihren Wundern nicht das Entzücken verbreitet hat, das heute ein bosniakischer Gassenhauer findet, den ein Musikfeldwebel geschickt instrumentiert, oder selbst nur der Tonfall, mit dem ein humorloser Komiker die Worte »Njegus, Geliebter, komm her!« spricht. Man bedenke, daß die Anmut Johann Straußscher Walzer bei weitem nicht so bühnenfremd war wie die Kitschigkeit ihrer Nachahmungen. Man sage sich, daß die lieblichen Werke der Lecocq, Audran, Sullivan, Suppé heute durchfallen, wenn sie neu in Szene gehen; daß kein Direktor es wagt, es mit den guten Theaterstücken Millöckers, wie »Apajune«, »Gasparone«, dem »Vize-Admiral«, zu versuchen, welche doch schon durch einen gewissen Mehlzusatz dem musikalischen Geschmack des heutigen Wienertums entgegenkamen ... Kein Zweifel, diese Fülle von Wohlklang, Grazie und Humor hat sich überlebt. Wir mögen es glauben, daß die Zeit noch kommen wird, in der der Freudengenius eines Offenbach an die Seite Mozarts tritt: heute sehen wir ihn von dem dürftigsten Walzerspekulanten verdrängt; und daß kein Ton jener Heiterkeit aufkomme, die einst von den Namen Orpheus, Helena, Blaubart, Gerolstein und Trapezunt in unsere Herzen schlug, dafür sorgt der von der Mischpoche gemodelte Herr Viktor Leon. Man vergleiche nicht etwa »Pariser Leben« mit der »Lustigen Witwe«; man höre nur ein paar Takte aus einer der unberühmten, stets verstoßenen Operetten am Klavier, etwa das Lied vom heiligen Chrysostomus aus Offenbachs »Schönröschen:« und wenn man solchen Schimmer von den Reichtümern empfangen hat, die einmal mit der Stunde verschüttet wurden, dann frage man sich, warum wir unsere Armut so in Ehren halten! . . Der Grund von all dem: die Welt wird vernünftiger mit jedem Tag; wodurch naturgemäß ihr Blödsinn immer mehr zur Geltung kommt. Sie beschnuppert die Kunst auf ihren Wahrscheinlichkeitsgehalt und wünscht ihn von allen Symbolen entkleidet. Darum hat sie das Märchen und die Operette in die ästhetische Rumpelkammer geworfen.

Die Funktion der Musik: den Krampf des Lebens zu lösen, dem Verstand Erholung zu schaffen und die gedankliche Tätigkeit entspannend wieder anzuregen – diese Funktion, mit der Bühnenwirkung verschmolzen, macht die Operette, und sie hat sich mit dem Theatralischen ausschließlich in dieser Kunstform vertragen. Denn die Operette setzt eine Welt voraus, in der die Ursächlichkeit aufgehoben ist, nach den Gesetzen des Chaos, aus dem die andere Weit erschaffen wurde, munter fortgelebt wird und der Gesang als Verständigungsmittel beglaubigt ist. Vereint sich die lösende Wirkung der Musik mit einer verantwortungslosen Heiterkeit, die in diesem Wirrsal ein Bild unserer realen Verkehrtheiten ahnen läßt, so erweist sich die Operette als die einzige dramatische Form, die den theatralischen Möglichkeiten vollkommen angemessen ist. Das Schauspiel kann immer nur trotz oder entgegen dem Gedanken seine Bühnenhaftigkeit durchsetzen, und die Oper führt durch die Inkongruenz eines menschenmöglichen Ernstes mit der wunderlichen Gewohnheit des Singens sich selbst ad absurdum. In der Operette ist die Absurdität vorweg gegeben. Hier klafft kein Abgrund, in dem der Verstand versinkt; die Bühnenwirkung deckt sich mit dem geistigen Inhalt. Im Schauspiel siegt das Schauspielerische auf Kosten des Dichterischen, denn um uns zu Tränen zu rühren, ist es ganz gleichgültig, ob Shakespeare oder Wildenbruch die Gelegenheit bietet; in der Oper spottet das Musikalische des Theatralischen, und die natürliche Parodie, die im Nebeneinander zweier Formen entsteht, macht auch den tatkräftigsten Vorsatz zu einem »Gesamtkunstwerk« lächerlich. Das Theater ist die Profanierung des unmittelbaren dichterischen Gedankens und des sich selbst bedeutenden musikalischen Ernstes; es ist der Hemmschuh jedes Wirkens, das eine Sammlung beansprucht, anstatt sie durch die sogenannte Zerstreuung erst herbeizuführen. Das Wortdrama wird an dem Ausbreitungsbedürfnis des letzten Komödianten zuschanden, und die Andachtsübungen einer Wagneroper sind ein theatralischer Nonsens. Zu einem Gesamtkunstwerk im harmonischesten Geiste aber vermögen Aktion und Gesang in der Operette zu verschmelzen, welche eine Welt als gegeben nimmt, in der sich der Unsinn von selbst versteht und in der er nie die Reaktion der Vernunft herausfordert. Offenbach hat in seinen Reichen phantasielebender Unvernunft auch für die geistvollste Parodierung des Opernwesens Raum: die souveräne Planlosigkeit der Operette kehrt sich bewußt gegen die Lächerlichkeit einer Kunstform, die im Rahmen einer planvollen Handlung den Unsinn erst zu Ehren bringt. Daß Operettenverschwörer singen, ist plausibel, aber die Opernverschwörer meinen es ernst und schädigen den Ernst ihres Vorhabens durch die Unmotiviertheit ihres Singens. Wenn nun der Gesang der Operettenverschwörer zugleich das Treiben der Opernverschwörer parodiert, so ergibt sich jene doppelte Vollkommenheit der Theaterwirkung, die den Werken Offenbachs ihren Zauber verleiht, weit über die Dauer aller politischen Anzüglichkeiten hinaus, auf die die Nichtversteher seines Wesens den größten Wert legen. An der Regellosigkeit, mit der sich die Ereignisse in der Operette vollziehen, nimmt nur ein verrationalisiertes Theaterpublikum Anstoß. Der Gedanke der Operette ist Rausch, aus dem Gedanken geboren werden; die Nüchternheit geht leer aus. Dieses anmutige Wegspülen aller logischen Bedenken und dies Entrücken in eine Konvention übereinanderpurzelnder Begebenheiten, in der das Schicksal des Einzelnen bei einem Chorus von Passanten die unwahrscheinlichste Teilnahme findet, dies Aufheben aller sozialen Unterschiede zum Zweck der musikalischen Eintracht, und diese Promptheit, mit der der Vorsatz eines Abenteuerlustigen: »Ich stürz' mich in den Strudel, Strudel hinein« von den Unbeteiligten bestätigt und neidlos unterstützt wird, so daß die Devise: »Er stürzt sich in den Strudel, Strudel hinein« lauffeuerartig zu einem Bekenntnis der Allgemeinheit wird – diese Summe von heiterer Unmöglichkeit bedeutet uns jenen reizvollen Anlaß, uns von den trostlosen Möglichkeiten des Lebens zu erholen. Indem aber die Grazie das künstlerische Maß dieser Narrheit ist, darf dem Operettenunsinn ein lebensbildender Wert zugesprochen werden. Ich kann mir denken, daß ein junger Mensch von den Werken Offenbachs, die er in einem Sommertheater zu hören bekam, entscheidendere Eindrücke empfangen hat als von den Klassikern, zu deren verständnisloser Empfängnis ihn die Pädagogik antrieb. Vielleicht konnte ihm das Zerrbild der Götter, den wahren Olymp erschließen. Vielleicht wurde seine Phantasie zu der Bewältigung der Fleißaufgabe gespornt, sich aus der »Schönen Helena« das Bild der Heroen zu formen, das ihm die Ilias noch vorenthielt. Und er zog aus der bukolischen Posse, die die Wunderwelt des »Blaubart« einleitet, mehr lyrische Stimmung, von dem spaßigen Frauenmord mehr echtes Grauen und echte Romantik, als ihm Dichter bieten konnten, die es darauf abgesehen haben. Von dem Entree eines Alcalden, den zwei Dorfschönen um seine Perücke herumdrehen, mochte ihm das Bild der lächerlichen Hilflosigkeit geblieben sein, wenn sich ihm einst die Kluft zwischen Gesetz und Leben öffnen wollte, und alle Ungebühr in Politik und Verwaltung offenbarte sich ihm schmerzlos in der Wirrnis, die die Staatsaktionen der Operette zur Folge haben.

Eine Gesellschaft aber, die das Lachen geistig anstrengt und die gefunden hat, daß sich mit dem Ernst des Lebens bessere Geschäfte machen lassen, hat den blühenden Unsinn zum Welken gebracht. Sie imponierte sich mit ihrer Pfiffigkeit, als sie die Unwahrscheinlichkeit einer Operettenhandlung entdeckte. Und wie sollte es denn möglich sein, den im Verdienerleben unaufhörlich tätigen Intellekt für einen ganzen Abend auszuschalten? Auch ist der Feuilletonlektüre eine vordem nie geahnte Ausbreitung der Bildung gelungen, und diese läßt sich mit Schäferspielen und märchenblauen Unmöglichkeiten nicht mehr abspeisen. Der aufgeweckte Verstand hat den Unsinn entlarvt und seine Rationalisierung durchgesetzt. Was geschieht? Der Unsinn, der früher das Element war, aus dem Kunst geboren wurde, brüllt losgebunden auf der Szene. Unter dem Protektorat der Vernunft entfaltet sich eine Gehirnschande, die ihre dankbaren Dulder ärger prostituiert als ihre spekulativen Täter. Die alten Operettenformen, die an die Bedingung des Unsinns geknüpft bleiben, werden mit neuer Logik ausgestopft, und der Effekt läßt sich etwa so an, als ob nun die opernhafte Lächerlichkeit von einer Bande entfesselter Tollhäusler demonstriert würde. Die Forderung, daß die Operette vor der reinen Vernunft bestehe, ist die Urheberin des reinen Operettenblödsinns. Jetzt singen nicht mehr die Bobèche und Sparadrap, die Erbprinzen und die Prinzessinnen von Trapezunt, die fürchterlichen Alchymisten, in deren Gift Kandelzucker ist, keine musikalische Königsfamilie mehr wird vom bloßen Wort »Trommel« hingerissen, kein Haus des Tyrannen wirft einen falsch mitsingenden Höfling um. Aber Attachés und Leutnants bringen sachlich in Tönen vor, was sie einander und uns zu sagen haben. Psychologie ist die ultima ratio der Unfähigkeit, und so wurde auch die Operette vertieft. Sie verleugnet den romantischen Adel ihrer Herkunft und huldigt dem Verstand des Commis voyageur. Der Komiker, der keine Komik hat und sein Lied schlecht singt, muß freilich ein Menschenschicksal darstellen: wer aber ein Menschenschicksal darstellt, macht die Narrheit, dabei zu singen, komplett, und das Gedudel im Orchester setzt den Respekt vor einem Seelendrama wie der »Lustigen Witwe« beträchtlich herab. Doch die ernstgemeinte Sinnlosigkeit auf der Bühne entspricht durchaus der Lebensauffassung einer Gesellschaft, die auf ihre alten Tage Vernunft angenommen hat und dadurch ihren Schwachsinn erst bloßstellte. Und ihren Blößen die Stoffe zurechtzumachen, ist eine Legion talentloser Flickschneider am Werke. Der Drang, das Leben der musikalischen Burleske zu verifizieren, hat die Gräßlichkeiten der Salonoperette erzeugt, die von der Höhe der »Fledermaus« – des Übels Urquell – über die Mittelmäßigkeit des »Opernballs« in die Niederung der »Lustigen Witwe« führen. Von der natürlichen Erkenntnis verlassen, daß ein phantastisches oder exotisches und mindestens ein der Kontrolle entrücktes Kostüm notwendig ist, um das Singen in allen Lebenslagen plausibel zu machen, und ohne Ahnung, daß ein singender Kommis im Smoking eine Gesellschaftsplage sei, wagt diese neue Industrie das Äußerste.

Aber sie darf es wagen. Denn ihrem Publikum dient die heutige Operette bloß als ein Vorwort zu den grölenden Freuden des Nachtlebens. Auf die weit aufgesperrten Mäuler der Volkssänger, die der »Champagnerwurzen« das Vergnügen durch den Trost »Es muaß ja net der letzte sein« erhöhen, will man durch den Theatergesang vorbereitet werden. Vom Psychologischen lassen sie nicht. Und vielleicht erklärt uns ein Feuilletonist noch diesen protzigen Mangel an Genußfähigkeit als tiefere Bedeutung. Wir vermöchten sonst in dem Tasten nach einer roheren Gegenständlichkeit der musikalischen Genüsse nur den vollbusigen Geschmack wiederzuerkennen, die Kolatschenweltanschauung, die jetzt mit dem Stolz der kulturellen Überlegenheit getragen wird. Die Wiener Operette hat sich mit dem Geist des »Drahrertums« verbündet und verzichtet auf das Opfer der Phantasie, das sie einst ihren Genießern zugemutet hat. Ihre Entartung ins Volkssängerische, ihre neue Tendenz, dem niedrigsten Nachtlokalpatriotismus zu schmeicheln und die Welt als einen großen Guglhupf aufzufassen, mit der Wienerstadt als dem einzigen Weinberl darin, ihre Anbiederung an den Stefansturm, auf dessen Spitze Herr Gabor Steiner gedacht wird, wie er eine Schenkelparade der himmlischen Heerscharen inszeniert – diese ganze Entwicklung der Operette ins Walzerische und Drahrerische würde ihre Satire in einer musikalischen Burleske verdienen, wie sie Offenbach aus der Lächerlichkeit der opernhaften Gebärde geschaffen hat. Der Spott ergäbe sich umso müheloser, als die neue Operette auf der Höhe ihrer Verknödelung sich selbst des Operngestus bedient und einen Fünfkreuzertanz mit einem Posaunenfest der Instrumentation beschließt. Die Satire, die hier einzusetzen hätte, wäre eine vollkommene Rehabilitierung des wahren Kunstwertes der Gattung. Nun kehrt sich die Parodie vom »Petroleumkönig«, die in einem Wiener Kabarett großen Zulauf findet, allerdings gegen die volkssängerhaften Allüren der modernen Ausstattungsoperette. Aber es ist hundert Vorstellungen gegen eine zu wetten, daß die Verfasser ihren Erfolg nicht diesem Spott, der von geringer Dichtigkeit ist, sondern der Vorliebe des Publikums für das Objekt des Spottes verdanken. Weil es zwei sind, die den Text dieser Parodieleistung zustandegebracht haben – jedem für sich wäre ja Witz nicht abzusprechen –, so wird das Publikum in dem Glauben bestärkt, es handle sich eben um eine jener feierlichen Operetten, denen es die Riesenerfolge zu bereiten pflegt, und es scheint entschlossen, auch an dieser hier seine Ausdauer zu bewähren. Da sie besser ist als die anderen, wäre den Autoren ein solcher Lohn zu gönnen, und mindestens möchte, wer ihre Absicht durchschaut, den Librettisten und ihrem Komponisten raten, einmal Ernst zu machen und eine lustige Operette zu schreiben. Diesmal hatten sie den kunstwidrigen Einfall, die alten Operettenformen zu verhöhnen, um deren neuen Mißbrauch lächerlich zu machen. Aber das Publikum freute sich sogar an jenen wieder und lachte über einen komischen Diener, der im Hintergrund die Gebärden seines Herrn mitmacht, ohne zu merken, daß diese Komik tiefere Absicht sei, nämlich ein Spott auf die Komik. Das Publikum lachte unrichtig, und daraus können die Librettisten die Lehre ziehen, daß sie es das nächste Mal genau so machen sollen. Sie hatten den Vorsatz, den »Operettenblödsinn« zu geißeln. Was jedoch gegeißelt werden soll, ist das blödsinnige Streben der heutigen Operette, sich einen Sinn beizulegen, der die Albernheit ins Unmittelbare rückt, ihr Eifer, den Mangel an Komik durch Logik wettzumachen und die Stelle, auf der ein Sänger stehen sollte, mit einem Psychologen zu besetzen. Konsequenz der Charaktere und Realität der Begebenheiten sind Vorzüge, zu denen nicht erst Musik gemacht werden muß. Daß ein schlafendes Liebespaar von einem Polizistenchor nicht geweckt wird, ist in der Welt der musikalischen Unberechenbarkeit durchaus möglich, und die Wahrscheinlichkeit, daß es im Leben anders geschieht, ist die wertlose Erkenntnis einer rationalistischen Satire, die sich nicht zu hoch über das Niveau eben der Intelligenz erhebt, der die beglaubigte Albernheit der modernen Operette ihre spottwürdigen Triumphe verdankt. Ich fürchte, wenn diese Intelligenz bei der fünfhundertsten Aufführung des »Petroleumkönig« erfährt, daß er eine Parodie sei, wirds bei dieser Aufführungsziffer sein Bewenden haben.

Was im Bannkreis der Operettenschande am stärksten auffällt, ist die demokratisierende Wirkung, die von ihr ausgeht. Man gewahrt eine förmliche Lust, sich mit Helden und Schicksalen der neuen Operettenwelt zu encanaillieren, und eine Gesellschaftsschicht, die gewiß ihrer Dienerschaft winkte, wenn befrackte Handlungsreisende mit roten Schweißtüchern in ihre Salons eindrängen, läßt sich von diesen ihre Liebesabenteuer und Eifersuchtsszenen vorsingen. Es herrscht eine Neugierde nach den Privatangelegenheiten der Kommis, die einen Menschen, der nach zwanzig Jahren wieder einmal in eine Operettenvorstellung kommt, geradezu deprimieren muß, und wenn solch ein koscherer Schwerenöter mit den Worten des Meisters Leon versichert: »So eine Depesche ist oft fatal – o Elektrizität! – Es gibt Zeiten, wo man wünschte – daß man dich nicht erfunden hätt«, dann ruft ein anscheinend den besseren Ständen angehörendes Publikum nicht »Hinaus!«, sondern tobt vor Begeisterung. Es gibt keine gesellschaftlichen Vorurteile mehr. Die Teilnahme des Publikums an den Intimitäten der Operettengestalten wäre noch entschuldbar, wenn Stumpfsinn und Gemeinheit nicht ohne hinreichende musikalische Bedeckung sich hervorwagten und vor allem in der bizarren Tracht entfernter Länder oder Zeiten. Unbegreiflich ist aber, daß wir in der sozialen Nähe der Salonoperette den Insult ihrer Zumutungen nicht spüren. Und es ist dann wieder nur zu begreiflich, daß wir unser Interesse für die unvermummten Träger der Handlung auch auf ihr Leben außerhalb der Bühne erstrecken. Der Naturalismus des singenden Kommis erleichtert die Identifizierung mit der Privatperson, und der Schauspielerkultus, der ehedem ein gerechter Lohn der künstlerischen Leistung war, ist heute bloß die Konsequenz einer übernommenen gesellschaftlichen Verpflichtung. Ihr unterwerfen sich selbst solche Kreise des Publikums, von denen man annehmen müßte, daß sie in einem Feintuchreisenden, der tanzen kann, noch nicht den Gipfel der kulturellen Entwicklung erblicken. Daß vollends die Schichten, die heute die Theaterwerte kotieren, nicht anders denken, ist natürlich. Überraschend freilich, daß das Pathos, mit dem sie sich zu Herrn Treumann bekennen, bis zu revolutionären Stimmungen wachsen kann. Das Schicksal eines Sängers, der so verzwickte Kontraktbrüche begeht, daß die Jurisprudenz versagt, weil sie nicht genug Mathematik gelernt hat, und daß sie sich mit der einstweiligen Verhaftung helfen muß, mag die Theatertinterl und Freikartenschnorrer eines Kaffeehauses immerhin alterieren. Daß sich aber dieses Interesse bis zur Einmengung in eine Amtshandlung, Gewaltanwendung gegen die Schergen des Exekutionsgerichts und bis zu flammenden Reden der studentischen Jugend erhitzen kann, ist ein erfreulicher Beweis dafür, daß in Wien der Kulissenklatsch politische Begeisterung noch nicht ertötet hat und daß diese jederzeit mobil zu machen ist, wenn es den Kulissenklatsch gilt. Und was wiegt die Erinnerung an den Einzug der Wache in das Parlament gegen dieses Erlebnis! Unvergeßlich bleibt der Augenblick, da ein Tarockspieler die Meldung brachte: »Das Kaffeehaus ist von Polizei besetzt!« Als aber gar einer der Anhänger des Herrn Treumann den Ruf ausstieß: »Es lebe die Freiheit!«, bezog diesen einer der vielen Direktoren, denen der Mann die Treue hielt, auf den Gratiseintritt und verteilte auf der Stelle siebzig Freikarten. Hätte er Messina aufgebaut, der Jubel einer Welt hätte den Tumult der Dankbarkeit nicht überbieten können, den solche Hochherzigkeit auf dem sicheren Wiener Boden erregt hat. Aber warum duldet der schweigend? Warum stellt sich kein Erdstoß ein, der uns künftig eine Zeitungsnachricht ersparte wie die, ein Theateragent habe dem Volke zugerufen: »Hier ist er! In Freiheit vorgeführt!«. Warum wurde uns nicht durch ein Elementarereignis rechtzeitig der Anblick des Konterfeis entzogen, das einen kaiserlichen Rat und Hoflieferanten darstellt, wie er eben damit beschäftigt ist, bei der versuchten Verhaftung des Herrn Treumann dabei zu sein? Für die versuchte Verhaftung wird sich die Polizei vor den Billardspielern zu verantworten haben. Aber warum erbarmt sich nicht die kleinste Pestilenz und verhindert uns, Bulletins über den Gesundheitszustand, über Lektüre, Wäschebeschaffung, Aufregungszustände des präsumtiven Häftlings zu empfangen? So sind wir den entfesselten Zeitungsgewalten hilflos preisgegeben. Und an die gelinderen Schrecken der Natur erinnert nur die Tatsache, daß bei solchen Gelegenheiten Weiber zu Hyänen werden. Sie benützten nämlich das Gedränge, das bei der versuchten Verhaftung entstanden war, um die Tränen des Herrn Treumann zu trocknen und für ihn zu weinen, und eine Meldung besagt sogar, daß sie sich zwischen den Liebling und die Hermandad geworfen hätten. Das war denn das einzige Moment, das über die Staatsaktion hinaus an das Walten der Naturmächte erinnerte. Aber die sind blind; und ich möchte bezweifeln, daß der Liebling für die Damen eingetreten wäre, wenn die Polizei sie wegen Einmischung in eine Amtshandlung verhaftet hätte ...

Ohnmächtig stehen wir den Katastrophen der Kultur gegenüber und wenn uns der Schrecken des Überstandenen und die Angst vor der Wiederholung die Ruhe eines Rückblicks gönnen, dann sehen wir, wie sich das Bild dieser Stadt verändert hat, seitdem sie sich den Zwischenhändlern des Geistes übergab. Sind dies die oft beklagten Exzesse des Schauspielerkultus? Sind es nicht vielmehr Ausbrüche des Selbstbewußtseins einer angelangten Kaste, die an ihrem Weltbesitz nicht rütteln läßt und noch das Recht, das dem einzelnen widerfährt, als ein Unrecht gegen ihre Gesamtheit abwehrt? Das Theaterinteresse mag dem Tenor zu Hilfe eilen – aber die Bedrängnis des Kommis ruft jene große Solidarität herbei, die heute vor einem Schuldturm so pathetisch wird, wie einst vor einer Teufelsinsel. Nein, das sind nicht mehr die Auswüchse eines Kultus, das sind die Zeichen einer Kultur! ... Wenn aber der Sozialkritiker, dessen Geist am Eingang dieser Betrachtung stand, in der Schauspielerverehrung unsern ganzen Jammer sieht, wohl ihm! Und wenn er behauptet, der Inbegriff dieses Jammers sei die Verehrung Alexander Girardis, so ist wahrlich der Jammer größer, der dem Feuilletonkommis Druckerschwärze an die Hand gibt, um den Glanz eines Künstlernamens zu beschmieren. Nein, er meint nicht den Treumann; er meint Girardi! »Es gab nur Girardi-Stücke mit Girardi-Rollen«, klagt er, und freudig stellt er fest, daß nach dem Abgang des Mannes, dem eine Stadt den Humor eines Vierteljahrhunderts verdankt, »die Operette befreit aufatmet«, daß sie »ohne und gegen Girardi ihre Welterfolge errang«. Und das ist die Wahrheit. Denn das bloße Dasein dieses Schauspielers vermochte von der Nichtigkeit einer dramatischen Produktion abzulenken, die ihm nur das Stichwort gab. Nun verlangt aber diese Nichtigkeit Beachtung. Die Leere möchte nicht mehr bloß Spielraum einer Persönlichkeit sein; die Gemeinheit will um ihrer selbst willen geliebt werden. Solchem Anspruch ordnen sich die Nullen des Operettentheaters unter. Dekorateure und Tänzer sorgen dafür, daß das Publikum den Ausfall an schauspielerischem Vermögen nicht merke. Dem Zug der Künstler zum Varieté entspricht die Verpflanzung boxender Känguruhs auf das Theater. Es gibt keine Girardi-Stücke mehr, aber es gibt Girardi-Stücke ohne Girardi, und da die Welt den Blödsinn ohne den Kommentar der Kunst verständlicher findet, so atmet der Blödsinn befreit auf und erringt seine Welterfolge. Und der Komödiantenkultus ändert seinen Kurs. Die alte Theaterliebe verfolgte den Schauspieler ins Privatleben, aber der Mißbrauch, der die Person umlärmte, gehörte zu dem guten Brauch, die Persönlichkeit zu verehren. Und die Neigung der Menge, dem Wagen eines Künstlers die Pferde auszuspannen, schien das natürliche Verhältnis der beiderseitigen Bestimmungen wiederherzustellen. Heute ist sie noch bescheidener geworden: sie wiehert schon begeistert, wenn ein Roßtäuscher im Wagen sitzt.


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