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Und die Urgewalt der selben ewigen Götter habe ich wieder vor wenigen Tagen erkannt.
Es ist Vorfrühling geworden in der Heide. Der Sturm geht über sie hin. Regenschauer und Schneetreiben jagen übers Land, die Moortümpel liegen schwarz, auf den Weiden ist das Gras noch mißmutig braun, aber dazwischen bricht da und dort ein gelber Blütenstern auf, rührend einsam zwischen großen Flecken zersickerten, schmutzigen Schnees. Die Knospen an den Birken und Erlen schwellen an, die Blütenkätzchen werden locker und weich. Und darüber hin, über all dies hin, braust jagend der Wind, der wilde Sturm.
Ich ging durch den Bruchwald im Norden, gegen den Poggenpfuhl zu. Hasso hob witternd den Kopf. Da sah ich sie stehen – alles vergessend, nichts gewahrend – die zwei, und ich erschrak, erschrak vor der Gewalt der Leidenschaft, die sich vor mir 417 auftat . . . Da standen sie wie hingeweht, hingeschleudert vom Sturm: Thiessen und Stine Hannemann . . . Der alternde Mann und das kindjunge Weib . . . Standen, ineinander verwühlt und verkrampft, hielten einander umschlungen in brünstiger Gewalt – Regen und Schnee näßte ihnen das Gesicht, Stines Haar wehte im Wind . . . Es war wie ein verzweifelter Kampf, ein Ringen um Leben und Tod zwischen den Beiden . . .
Da zwang der Mann das Weib von sich ab, in einer letzten Besinnung. Aber Stine brach vor ihm nieder, in die Knie, umklammerte ihn – ihr Gesicht starrte zu ihm auf, ich hörte, vom Sturm verweht, etwas wie stammelnde Rufe, Schreie – und da war es um den Mann geschehen: er beugte sich nieder, umfaßte sie mit wildem Griff und riß sie empor, riß sie an sich, die Leiber bogen sich unter der Gewalt ihrer Leidenschaft, bis ein Erschlaffen über sie kam und sie voreinander standen, mit hängenden Armen und gesenkten Köpfen. Aber da straffte sich Thiessen hoch, streckte Stine die Hand hin und sie legte die ihre hinein. Und Hand in Hand gingen sie langsam davon, umbraust vom Lenzsturm, durch Bruch und Moor, langsam davon – zu Thiessens Haus . . .
Ich stand noch immer, wie erstarrt. Wie hatte ich nur so blind sein können, den ganzen Winter über! Hatte ich nicht bemerkt, daß Thiessen fast nie mehr zu uns kam, daß ich ihn hingegen bei Mertens traf, so oft ich dort eintrat? Und daß Stine wie gebannt saß, nichts sah und hörte als nur Thiessen? Und daß sie, war sie einmal allein mit uns, seltsam abwesend schien, mit einem verloren sinnenden Lächeln auf den Lippen?
Ich konnte mir jedes Wort denken, das dort im Sturm zwischen den beiden gesprochen worden war. Ich wußte, daß Thiessen ehrenhaft gehandelt hatte, das junge Leben nicht an sein alterndes hatte ketten wollen. Und ich wußte, was sie ihm gestammelt hatte, da sie vor ihm kniete: nimm mich, tot oder lebendig, ich kann nicht mehr lassen von dir . . .
Ich ging heim, in schweren Gedanken. Sah neuen, schweren 418 Zwist kommen zwischen Hannemann und Mertens. Wußte nicht, was ich tun sollte.
Inge merkte es mir sofort an, daß etwas Ernstes vorgefallen sei. Ich erzählte ihr alles. Ihr Gesicht wurde froh und sie lächelte wieder, wie vor Jahren, da sie zu mir kam:
»Und glaubst du denn nicht, daß das für die Beiden etwas Wunderbares ist, daß es – das Wunder für sie ist? . . . Du machst dir Sorgen, wie das enden soll, weil er zu alt für das Kind ist? Hast du dir nicht einmal die gleichen Sorgen gemacht für jemand andern, hm? Glaubst du nicht, daß er das junge Leben, das sich ihm blind ergeben hat, behüten wird mit all der zitternden Sorgfalt, deren nur der ältere Mann fähig ist, der das Leben kennt und es weiß, welcher Schatz ihm anvertraut ist?«
Indem sie das sagte, blickte sie mich an, mit einem so grundlos tiefen, ernsten und doch zugleich mütterlich lächelnden Blick, der es mich jäh begreifen ließ, daß der Mann immer, und sei er noch so alt, vor dem Weib, und sei es noch so kindhaft jung, wie vor der Mutter steht . . .
Da mußte ich selber lächeln und beugte mich vor der Mutterweisheit der Frau.
Aber am Abend ging ich zu Mertens. Sie mußten in Sorge um Stines Verbleiben sein. Ich traf den Doktor und Frau Elise in einer gelassen ruhigen, beinahe feierlichen Stimmung. Als ich eintrat, lächelte mir Mertens freundlich zu.
»Ich danke Ihnen, lieber Freund, daß Sie gekommen sind . . . Aber wir sind ganz ohne Sorge . . .«
»Ja – wissen Sie denn schon –?«
»Wir waren ja nicht blind! Und ist es denn nicht das Beste für die zwei?! . . . Als sie heute nachmittag aus dem Haus ging, weglief, müßte man eigentlich sagen, war uns klar, wohin sie ging . . . Und da sie bis jetzt nicht zurückgekommen ist, wissen wir auch, wo sie geblieben ist . . .«
Da beugte ich mich, ein zweitesmal an diesem Tag, vor der schlichten Weisheit eines edlen, gütigen Menschen. 419
Ich mußte es ein drittesmal tun, als ein paar Tage später Hannemann bei mir erschien. Ich war auf eine üble Auseinandersetzung gefaßt. Aber er war ruhig heiter, beinahe zufrieden . . .
Stine und Thiessen waren zu ihm gekommen und hatten ihm gesagt, daß sie Mann und Weib seien und beieinander bleiben würden. Und in Hannemann, dem Bauern, siegte das Einfache, das Natürliche. Es wäre ihm freilich lieber gewesen, wenn seine Tochter einen jungen Bauern genommen hätte, mit einem hübschen Hof und einem guten, runden Acker ringsum, mit einem Stall voll Rindern und Pferden . . . Aber das war nun einmal nicht . . . So sah er nur, daß ein Weib und ein Mann einander zur Ehe genommen hatten, wie es recht und billig ist, und er war zufrieden. Ein Städter hätte nur gefragt, ob seine Tochter »gut versorgt« sei; ein filziger Bauer hätte den Maler, den unnützen Bilderkleckser, bemängelt, den armseligen Acker und das kleine Haus des Eidams geringschätzig angesehen. Aber Hannemann mochte, als die beiden vor ihm standen, sich der Stunde erinnert haben, da ich im Obdachlosenasyl dem hoffnungslos Verzweifelten die Tür zu einem neuen Leben auftat. Und mochte bedacht haben, daß er heute, wenige Jahre nach seinem Unglück, wieder ein wohlhabender Bauer sei . . .
So fragte er mich denn bloß einfach und mit kargen Worten, wann die Hochzeit sein solle.
»Am ersten, sonnigen Frühlingstag«, sagte ich.
Dann gingen wir beide nach Mertenshof. Dort legten die zwei, der stille, feine Gelehrte und der Bauer, die Hände ineinander und endigten damit ehrlich den Groll, der noch immer trennend zwischen ihnen stand. Und ich konnte aus guter Überzeugung sagen: »Ich glaube, daß es so recht sein wird, wie es gekommen ist . . .«
Ich bewunderte Hannemanns frohe Gelassenheit um so mehr, als ihm auf seinem Hof schon wieder ein »Verlust« bevorsteht: die Marthe Kurz, die vor wenig Jahren erst aus dem Waisenhaus zu uns gekommen, wird nun auch heiraten – den jungen 420 Rothkopf, der sich zu einem baumlangen, starken Burschen herausgewachsen hat. Und die Marthe ist auch zu einer prallen Deern geworden, die mich immer an eine vollrassige Zuchtkalbin erinnert . . . Hannemann hat sich halb brummend, halb lachend in das Unvermeidliche gefügt. Es scheint, daß bei ihm die Mädels kein langes Bleiben haben . . . Wenn Marthe gegangen ist, will er nichts mehr von einer neuen Magd wissen, nur einen Knecht einstellen.
Aber auch mein Klas ist eines Tages bei mir erschienen und hat mir angezeigt, daß er zu freien gedächte –: die ältere Tochter des Jürgen Rothkopf . . . Ich habe es schon seit einiger Zeit kommen sehen und mich sonach langsam an den Gedanken gewöhnen können, daß auch Klas nicht mehr der vierzehnjährige Junge ist, als der er zu mir auf den Hof kam.
Daß nun die Kinder der beiden Bauern, die ich einmal aus tiefstem Elend zu einem neuen Leben auf neuer Erde geführt, in die Ehe treten wollen, beide bei uns neue Höfe besiedeln werden – empfinde ich wie ein Sinnbild und Zeichen. Immer wieder schließt sich ein Kreis, ein neuer tut sich auf und vollendet sich wie die früheren . . . Man vergißt über der Betrachtung das Hinfließen der Zeit, bis einer der Kreise sachte das eigene Haus, einmal vielleicht gar das eigene Herz berührt; dann fühlen wir mit einem tiefinneren Frieren, daß auch an uns die Zeit nicht vorübergegangen ist, daß auch wir alt geworden sind . . .
An einem strahlend schönen Maientag standen die drei Paare vor mir im Hof des Weihemals: Thiessen und Stine, Rothkopf und Marthe, Klas und Lise. Thiessen erschien unter ihnen wie der Vater der fünf andern und machte ein ziemlich ratlos betrübtes Gesicht. Aber Herberts wuchtiges Orgelspiel, das nach meiner Rede alsbald einsetzte, verscheuchte seine wenig erbaulichen Betrachtungen und gab der Stunde die große Würde und Feierlichkeit.
Klas und Rothkopf haben die beiden Höfe übernommen, die wir inmitten des großen Bruchs, zwischen Eichen- und Ulenhöh, 421 vorsorglich gebaut. Außer ihnen siedeln dort ja schon die beiden ehemaligen Diener Kalckreiths, so daß wir nun dies mächtige Gebiet von innen und außen her erfolgreicher als bis jetzt in Angriff nehmen und vollends urbar machen können. Thiessen aber ist mit Stine in sein kleines Haus zurückgekehrt, das im Sommer ein wenig erweitert werden soll, um Stines Mitgift, eine Kuh, etliche Schafe und Ziegen und Hühner, aufzunehmen.
Ein seltsames Leben führen die beiden Menschen in der Einsamkeit ihrer entlegenen Kate. Thiessen, der Mann mit den grauen Schläfen, der verbittert und vergrämt in die Heide flüchtete und hier mit einmal entdeckte, daß für ihn noch nicht alles zuende sei, daß immer noch ein Leben vor ihm stünde, wert, gelebt zu werden, der von neuem zu schaffen begann – reifer und tiefer als früher in seiner besten Zeit: er steht beinahe fassungslos vor dem Wunder, das ihm geworden ist, das Stine Hannemann heißt. Dieses Bauernkind, das sein junges, quellfrisches Leben dem sachte alternden Mann in einer rasenden Leidenschaft vermählte, die gleicherweise aus dem Begehren des Leibes kommt wie aus der anbetenden Verehrung des Künstlers. Nun wandert sie mit ehrfürchtig tastenden Schritten in die Welt hinein, die sie bei Mertens gleichsam von außen her bestaunen und lieben lernte, ohne zu ahnen, daß sie einmal einem Mann angehören würde, der selbst vollwertiger Bürger dieser Welt ist. In ihrem Gesicht ist immer noch ein ungläubiges Staunen zu lesen – daß all dies nun wirklich sein solle . . . Und Thiessen ergeht es ähnlich. Er umhegt Stine wie ein Kind, mit einer zarten, behutsam führenden Liebe, wie sie nur der alternde Mann gegenüber einem ganz jungen Weib empfinden kann und wie sie die Ursache dafür ist, daß junge Mädchen so oft weit ältere Männer jüngeren vorziehen. Sie fühlen, wie ihnen die dankbare, beschützende Liebe des Alternden weit mehr zu geben imstande sei als die achtlos nehmende und vergeudende des Jungen, dem es gar nicht zu Bewußtsein kommt, was für ein Schatz, welche Möglichkeiten seelischer Entfaltung in seine Hände gelegt wurden. 422
So erleben die beiden Menschen, von jenem Sturmtag auf der Heide an, nun ein wundersam zartes Glück – sehr still und verborgen, angstvoll verborgen, daß kein böser Blick, kein spöttisches Lächeln von außen her es sengend streife. Aber sie können beruhigt sein: es ist niemand auf Neulandhof, der es ihnen mißgönnte.
Unlängst traf ich Thiessen auf seinem Torfstich, die Schaufel lag neben ein paar eben ausgestochenen Ziegeln, und Thiessen saß am Rand eines Moortümpels und malte in fiebernder Hast ein Büschel Binsen, das sich in dem dunkelbraunen Wasser spiegelte. Ein früher Falter, der sich, auf einem Halm ruhend, die warme Sonne auf die leise wiegenden Flügel brennen ließ, kam mit auf das Bild.
Thiessen sah kurz auf, als er mich kommen hörte, und nickte mir zu – ein Zeichen, daß ich nicht unwillkommen sei. Nach ein paar gleichgiltigen Worten sagte er unvermittelt:
»Ich möchte nun die Entwürfe für das Fresko im Weihemal machen . . . Ich fühle, daß ich jetzt erst imstande bin, den Sinn von Neulandhof im Bild auszudrücken . . .«
Damit war er schon wieder an seine Arbeit verloren und schwieg, als fürchte er, bereits zu viel preisgegeben zu haben.
Als ich vor ein paar Tagen unversehens bei ihm eintrat und in seine Werkstatt kam, schob er rasch einen großen Karton, der auf die Staffelei gespannt war, beiseite. Ich aber hatte bereits gesehen, daß darauf in wuchtigen Kohlestrichen der halblebensgroße Akt einer stehenden Frau gezeichnet war und konnte mir denken, wer ihm dazu Modell gestanden . . .
Thiessen zeigte mir den ersten Entwurf zum Fresko: es soll nichts anderes darstellen als unser Leben auf Neulandhof, das dem Dienst an der Erde geweiht ist. Ein pflügender Bauer, ein Mann beim Torfstechen, weidendes Vieh; unter einem schattigen Baum ein junges Weib mit dem Kind an der Brust; in der Ferne ein Hausbau; ein paar spielende Kinder am dunkelbraunen Wasser des Moors. Und über allem die Sonne, die ewig 423 Gebende und Erhaltende. Das Bild ist recht so – es könnte nichts anderes dargestellt werden in unserem Weihemal.
Nach der Anbauarbeit im Frühling haben Inge und ich unsere Reise angetreten.
Für Inge war die Fahrt ein einziges, ungeheures Erlebnis. Eine neue Welt tat sich vor ihr auf. Landschaften in bunter Fülle, Ebene und sanftes Mittelgebirge, Seen und fruchtbares Ackerland, urmächtige Dome und trauliche Fachwerkhäuschen, Bilder, Plastiken, Königspaläste und verlorene Winkelgassen, Kreuzgänge in verlassenen Klöstern, Burgruinen, die Goethehäuser in Frankfurt und Weimar – eine unendliche Heerschau von Denkmalen deutschen Wesens zog an uns vorüber, jedes einzelne schwer an Sinn und Bedeutung. Mir war oft, als hielte ich einen wundervoll geschliffenen, edlen Stein in Händen und drehte, wendete ihn hin und her nach allen Seiten, so daß er mir immer neue Flächen zukehrte, jede, fiel das Licht in rechter Weise ein, aufblitzend in farbigen Strahlen: so erschien mir, tausendfältig verschieden und doch eins im innersten Kern, das deutsche Wesen und Sein.
Inge trank das Neue in vollen Zügen, dankbar beglückt, in sich ein. Sie war wie ein Kind auf einer Blumenwiese, das jauchzend von Blüte zu Blüte eilt. Für mich aber war die Reise unendlich mehr, ein Quell mannigfachster, oft widerstreitender Gefühle. Ich hatte all dies ja schon gesehen, auf meiner großen Wanderung nach dem Krieg, vieles auch früher schon. Damals allenthalben Elend, dumpfe Not und Verzweiflung, Hunger, wütender Kampf aller gegen alle – oft genug mit der Waffe in der Hand. Hoffnungslos grau und düster die Welt, wohin ich sah.
Diesmal nun – wie hatte sich alles gewandelt! Wohin ich sah – überall Ordnung, Wohlstand, Behagen, Genußfreudigkeit. Man glaubte unbedingt, in einem blühenden Gemeinwesen zu weilen, in dem es an nichts mangelte. Und doch – es war alles nur Schein, trügerisch schillernde Oberfläche. Ich besuchte in 424 München, Frankfurt und Köln Geschäftsfreunde des alten Kröling; sie äußerten sich in den ersten zehn Minuten des Gesprächs voll Zufriedenheit über das Geschäftsleben – und es will viel besagen, wenn ein Kaufmann das zugibt! – aber dann kam langsam das Gegenteil zum Vorschein und die Herren bekannten ihre schweren Sorgen über die wirtschaftliche Lage Deutschlands. Es ist innerlich alles hohl und morsch – alles Scheinkonjunktur, sagten sie. Jeden Tag kann der Krach da sein . . .
Es war ja auch klar. Woher sollte in einem Staat, der mit völlig untragbaren Auslandschulden belastet war, ein gesundes Wirtschaftsleben kommen! Nach so einem Gespräch war es mir immer noch tagelang, als liege ein dunkler Wolkenschatten über der Landschaft – mochte auch heller Sonnenschein sie überstrahlen . . .
In Ulm saß ich mit Inge im Dom, bei einem Orgelkonzert – und wieder übermannten mich die seltsamsten Gefühle. Ich mußte erkennen, wie sehr doch die Erlebnisse der Jugend ihre unversiegliche Gewalt behaupten, mag man auch späterhin das Schönste und Wunderbarste erfahren haben . . . Ich ging einmal allein durch die alten Gassen an der Blau, bis zu der Brücke, auf der ich damals jene Sängerin gefunden, ging zu dem kleinen Haus, in dem wir eine Nacht lang unter Küssen und Tränen selig gewesen. Und dies Erleben stand noch immer vor mir, nach zehn Jahren, glutvoll lebendig, nur überhaucht von einer stillen, namenlos wehen Trauer um einen Verlust, den nichts und niemand mir ersetzen konnte . . . Und das, obwohl ich seither die liebste und geliebteste Frau gefunden, in deren Seele ich für mein ganzes Wesen eine Heimstatt gefunden, eine Frau, die mir Kinder geboren hatte, die um mich war wie ein gütiges Schicksal selbst . . . War es vielleicht so, daß zwischen zwei Menschen, die sich für immer aneinander gebunden haben, doch, oder vielleicht eben deshalb, Grenzen bestehen bleiben, die man, aus einer letzten, leisen, seelischen Scheu heraus nie zu überschreiten vermag – weil man dann nachher, am hellen Alltag, einander nicht mehr ohne Scham 425 in die Augen blicken könnte, während man eben diese letzten Grenzen unbedenklich preisgibt, wenn man weiß, daß man einander nie mehr begegnen wird? – Es mag so sein. Und nach dieser allertiefsten Gemeinschaft sehnt man sich dann für alle Zeit, obwohl man weiß, daß sie nur für den Augenblick einer Stunde möglich war, die freilich durch das Vergessen aller Zeit für uns zur Ewigkeit wird . . .
So schritt ich, mit solch unendlich süßem, bitterem Gefühl, noch einmal die verlorenen Wege zu einer Tür, die sich für mich kein zweitesmal mehr öffnen konnte. Ich dachte nach, ob in meinem Tun und Empfinden Undank oder Schuld gegen Inge läge – und ich konnte nicht Ja dazu sagen. Seltsam, seltsam ist es um das beschaffen, was wir Seele, was wir Liebe nennen!
So kam es, daß ich auch diesmal wieder, wie vor Jahren, diese Wege immerzu suchend ging, suchend nach etwas Verlorenem, Unwiederbringlichem.
Aber vielleicht hat sich Inge heimlich gewundert, daß ich sie damals mit einer plötzlich aufflammenden, fast ungewohnten Leidenschaft überströmte, daß sie wie mit blutroten Rosen übergossen stand und mit leuchtenden Augen, strahlend in heimlicher Seligkeit, neben mir herging, lächelnd über etwas, das sich kaum in Worte fassen ließ. Und dies Glück, dessen Anblick mich beinahe erschütterte, gab mir die Ruhe und innere Gelassenheit endlich wieder zurück und tat mir auch einen neuen Weg zu Inges verborgenstem, heimlichstem Wesen auf. Das ist der köstlichste Gewinn dieser Reise . . . Aber es ist unfaßlich seltsam, daß man eine geliebte Frau inniger lieben lernt aus dem Umweg über die verlorene Geliebte einer Nacht . . .
Allenthalben auf unserer Reise trafen wir Männer in der braunen Uniform der SA., für uns ein ganz neuer, ungewohnter Anblick; wir trafen Abteilungen von Hitlerjungen, auf Landstraßen marschierend. Wir kamen bisweilen mit Parteigenossen ins Gespräch, während einer Bahnfahrt, auf einem Rheindampfer; und immer hatten wir das Gefühl, als sammle sich 426 langsam und stetig, ständig an Gewalt zunehmend, das Wasser eines Flusses, eines Stromes, vor einem hemmenden Wehr – steige an, schwelle hoch – bis einmal das Wehr unter dem unwiderstehlichen Druck nachgeben und zerbersten wird . . . Dann wird der Tag gekommen sein, von dem wir seit Jahren träumen, die Rettung erhoffen . . .
Es war an einem späten Abend in Hildesheim. Wir wohnten »am Zingel«, in einem Zimmer, vor dessen Fenstern eine blühende Linde stand. Von fernher tönte dumpfer Trommelschall, kam näher, langsam näher, jetzt hellte roter Fackelschein die Straße, das Trommeln wurde ganz laut – und da sahen wir sie: ein mächtiger Zug von Hitlerjungen, voran die Fahnen und die Trommler . . . Dumpf klang der Schall aus den großen Landsknechttrommeln, den schwarzen, mit weißen Runenzeichen bemalt. So zogen sie vorbei, hundert und hundert und tausend an der Zahl, der Rauch der Flammen stieg schwelend hoch, vom Fackelschein rotglosend durchstrahlt.
Wir blieben am Fenster, bis der Zug vorbei war, die Zuschauer auf der Straße sich verloren hatten. Aber auch dann noch fand ich den Schlaf nicht. Ich sah die Jungen ihren Weg ziehen, von Stadt zu Stadt, durchs neu aufblühende Land, eisern ihr Tritt. Sie schlagen die schwarzen Trommeln, auf denen weiß die heiligen Zeichen stehen. Sie blasen die schrillen Pfeifen zum Marsch und singen die Lieder mit ihrem scharfen, straffen Takt.
Das Trommeln hallt durch die Gassen, es hallt übers Land.
Das Trommeln geht durch ganz Deutschland. Es geht an jedem Haus vorbei und ruft in jedes Haus hinein.
Das Trommeln geht durch den Tag und geht durch die Nacht. Es ruft alle Jungen, die Jungen mit blondem und mit grauem Haar.
Mit der Trommel gehen, die durch Jahrhunderte ihr Leben gelassen haben für Deutschland, und es gehen die Lebenden, die bereit sind, es jeden Tag zu opfern für Deutschland.
Und auch ich gehe – irgendwo in dem unendlichen Zug – 427 mit der Trommel, wie ich einmal vor Jahren mit der Trommel gegangen bin . . .
Es ist eine unendliche Kraft in unserem Volk – sie muß nur recht geleitet werden. Wir fühlten sie in der himmelragenden Wucht der Dome, in tausend Bildwerken, deren Gestalt ein herrischer Wille zum Ausdruck seiner selbst geformt; wir fühlten sie in den alten Stadtmauern und Tortürmen; wir fühlten ihren fachenden Atem in den Rheinhäfen und in Hamburg, in den Stahlwerken von Essen, an der Ruhr. Es ist eine unendliche Kraft in unserm Volk; sie muß zusammengeballt werden in die Gewalt einer einzigen Faust, beherrscht von einem einzigen, einigen Willen . . . Dann ist die Stunde der Befreiung gekommen.
Als wir heimkehrten in die Einsamkeit der Heide, als wir unsern Hof, die andern Höfe ringsum wieder sahen, die Felder und Weiden, auf denen das Vieh graste, fiel die große Stille über uns, löschte alles Kleine und Belanglose aus dem Erleben der letzten Wochen aus, und nur das Große und Wesenhafte, das vor der Unendlichkeit der Heide bestehen konnte, blieb. Und aus diesem großen Wesen wuchs eine unbezwinglich drängende Kraft in mir hoch.
Sie ließ mich bei den Erntearbeiten beinahe für Zweie schaffen, gönnte mir Tag und Nacht nicht Ruh und Rast. Ich betraf mich nicht selten dabei, daß ich irgendwo allein im Bruch stand, fernab dem letzten Hof, und ins Weite spähte, scharfangespannt – als ob ich etwas erwartete, ein Kommen, ein Werden. Und wenn ich dann in mich hineinlauschte, war es mir immer, als hörte ich das große Trommeln wieder – aber von unten herauf, aus der Erde herauf . . .
Im August fand der große Parteitag in Nürnberg statt. Ich wäre fürs Leben gern hingefahren, um endlich einmal den Führer zu sehen, ihn sprechen zu hören! Aber wir hatten alle Hände voll zu tun mit der Ernte, die heuer besser ausgefallen ist als im vorigen Jahr. Doch ich fuhr wenigstens ein paarmal in die Stadt, 428 um die neuesten Zeitungen zu kaufen, die dann von Hof zu Hof weitergegeben wurden.
Bei der Rückkehr von der letzten dieser Fahrten geschah etwas Merkwürdiges.
Ich war ziemlich spät aus der Stadt weggefahren, da ich noch geschäftliche Besprechungen gehabt hatte, so daß ich den letzten Teil des Weges in völliger Dunkelheit zurücklegen mußte. Das kann ich jederzeit ohne Gefahr tun; die Pferde kennen jeden Schritt und Tritt.
Als ich an Mertenshof vorüberkam, stieg rotglosend der Mond über den Bruchwald empor und leuchtete in das Nebelmeer, das sich über das Land zu breiten begann. Ein gespenstig fahles Licht hellte mir den Weg, ohne daß dennoch der Blick weiter als zehn Schritte zu dringen vermochte. Langsam ließ ich die Pferde gehen.
Mit einmal tauchte der Zaun meines Vorgartens aus dem glimmernden Nebelbrauen, und ich erschrak heftig: da waren Pferde angebunden, Reitpferde, alle gesattelt, an manchem Knauf hing ein Karabiner. Daneben, auf den Boden hingestreckt, lagen Soldaten – Husaren, halb schlafend, schwer müde. Manche hielten die Zügel um den Arm geschlungen. Sie trugen seltsame Uniformen, wie sie heute in keinem Heer mehr zu finden sind . . .
An den Zaun gelehnt stand ein Offizier, er schien im Stehen eingeschlafen. Jetzt hob er – aufgeschreckt durch das Geräusch meines Wagens – plötzlich den Kopf – und da erkannte ich ihn . . .
Er sah mich an, verwirrt fast, strich sich über die Augen, dann rief er mich an, barsch und herrisch:
»Wo geht der Weg nach der Stadt, Bauer –?«
Mir schlug das Herz bis an den Hals, als ich ihm Bescheid gab:
»Der Weg geht da, wo ich hergekommen bin . . . Aber du solltest ihn kennen: du bist schon einmal den Weg geritten, Major Schill – in den Tod! Vor genau einhundertzwanzig Jahren! . . . Ich bin heute in der Stadt an der Stelle vorbeigegangen, wo du gefallen bist – damals, in der Zeit der Schmach . . .« 429
Er richtete sich auf, zog das Riemenzeug an seinem Rock zurecht und setzte den Fuß in den Bügel:
»So oft werd' ich den Weg noch reiten, bis er zum Sieg führt . . . Auf jetzt, Husaren – es wird hell wieder, bald steigt der Tag auf . . .«
Die Männer hoben sich vom Boden, sie sprangen klirrend zu Roß, sie ritten an mir vorbei, den Weg in die Stadt. Ging es zum Sieg, gings in den Tod?
Bald steigt der Tag auf . . . Ist es der Glaube der Toten, die immer wiederkehren, bis ihr Werk getan ist – ist es die zitternde Hoffnung der Lebenden?
Da schlug Hasso im Haus an und aus dem Tor kam Hinrichs mit der Laterne.
Der Hund sprang tanzend und bellend um den Wagen, begrüßte mich in stürmischer Freude.
Nun, da hatte mein allzeit zu Traum und Spökenkiekerei geneigtes Gemüt mir wieder einmal einen Streich gespielt! Ich war nachmittags wirklich in der Stadt, wie schon hundertmal, an der Tafel vorbeigegangen, die an Schills Tod gemahnt, an der Stelle, wo er damals im Straßenkampf fiel, in der Zeit von Deutschlands tiefster Knechtschaft und Erniedrigung. War unsere heutige Gegenwart nicht schlimmer noch als damals?
Dann hatte ich die Tafel und den tapferen Haudegen Schill wieder vergessen – aber nur zum Schein. Irgendetwas in mir hatte wohl während des ganzen Heimwegs an ihn gedacht. Bis er dann plötzlich vor mir stand mit seiner todmutigen Schar, bereit zum letzten Ritt . . . Vielleicht ist er damals wirklich diesen Weg geritten, hat wirklich hier gerastet . . .
Im Spätsommer und Herbst hatten wir mehrere schöne Musikabende im Weihemal. Meist saß ich dabei auf einer Bank im Hof, im Dunkel des Laubengangs, so daß wir nur die Sterne sahen. Ja, bisweilen saßen wir am halben Hang der Eichenhöh, wo Wießbach eine Bank bei einem Machandelbusch hingebaut hat. 430 Dort ist man ganz allein mit der Nacht und der Musik. Da gehen meine Gedanken dann oft weite Wege, ich höre gar nicht mehr, was gespielt wird – aber ich weiß trotzdem ganz genau, daß die Musik mein Denken leitet. Und da alle Musik, die bei uns gespielt wird, aus den Tiefen der deutschen Seele kommt, so ist auch der Weg, den sie meine Gedanken führt, nichts anderes als das Suchen und Tasten dieser Seele nach dem neuen Land, das noch unerschlossen vor uns liegt, das wir aber dereinst so und auf solchem Weg, in solcher Richtung, betreten sollen, wie es unserer Art gemäß ist. Wäre es doch möglichst vielen, wäre es doch Millionen Menschen in Deutschland möglich, so wie wir, wenigstens einmal in der Woche, ein paar Stunden in einem ähnlichen Weihemal zu verbringen, so wie wir im Angesicht der schönsten Bildwerke Musik zu hören! Könnten sie doch auch bisweilen eine Bach'sche Fuge hören und dabei ins Funkeln der Sternmyriaden aufsehen! Ich glaube, der Weg der ganzen Nation führte dann mit untrüglicher Sicherheit zu neuen Höhen – zu einer wahrhaften, wirklichen Höhe, nicht vielleicht zu einer »wirtschaftlichen Hochkonjunktur«, die gegenwärtig das einzige Ziel unserer Politiker ist. Aber aus dem Yazzlärm der Bars und Tanzdielen führt uns kein Weg auf neue Höhen!
Dann wendet sich meine Sorge immer wieder der Erziehung unserer Kinder zu. Sie muß, das ist meine unbedingte Überzeugung, so gestaltet werden, daß alles Große unserer Vergangenheit zur Grundlage ihres eigenen Lebens wird. Sie dürfen nicht wurzellos im Leeren treiben. Sie sollen die Gefühlskraft und die Glaubensmacht der Alten vor uns, ihre Gewalt des Erlebens von Glück und Leid, in ihr eigenes Sein herübertragen und damit der Welt ganz anders gegenüberstehen als wir heutigen halben Menschen des Übergangs. Uns ist das äußere Leben leicht gemacht worden durch Technik und tausenderlei Fortschritt. Aber wir haben diese Bequemlichkeiten mißbraucht, sind ihnen ganz verfallen, haben sie zum Inhalt und Zweck unseres Daseins gemacht und sind völlige, trostlose Materialisten geworden. Wie anders könnte 431 einmal das Leben der Kommenden sein, wenn sie all diese äußeren Hilfsmittel eben wirklich als Hilfsmittel gebrauchten, die nur dazu da sind, das verschüttete Leben der Seele wieder frei zu machen, wenn sie diese Mittel in den Dienst des Innenlebens stellten, mit der wiedererwachten uralten Kraft der Seele sie gebrauchten, um das Antlitz der Erde neu zu gestalten. Das soll uns das Reich der Zukunft bringen!
Denn es war schon einmal so – durch lange Zeit hin. Hätten wir je ein Reich gehabt, wenn es immer so gewesen wäre wie heute? Wenn es dem Volk einerlei gewesen wäre, ob einer dichtet oder malt oder einen Dom baut? Tausend Jahre hat unser Volk das Größte und Herrlichste geschaffen, was es auf Erden gibt, hat es geschaffen aus der Tiefe herauf, aus dem Volksblut und Volkswillen herauf. Und das ist eingegangen ins Volk, ohne daß es einer gewußt und gemerkt hat, hat jeden Mann geformt und jedes Weib, hat sie stark werden lassen und fest. In denen vor uns haben die großen Dome gelebt, haben die Dichtwerke gelebt, ohne daß sie es wußten. Im Blut. Stumm und blind. Aber gelebt hat es. Da war es. Und daraus haben sie gehandelt und gelebt und sind groß geworden. Und wenn die Not gekommen ist: stark und fest, wie Fels . . . Das war Heimat, war Erde. Denn aus der Erde ist es geworden. Dafür haben die vor uns gekämpft. Und darum haben sie bestanden – jedes Geschlecht vor seiner Zeit . . . Aber was ist das alles noch für uns Heutige? Firlefanz, um den sich keiner schert. Krampf. Darum haben wir den Krieg verloren – konnten ihn nie gewinnen. Und das muß anders werden, wieder so werden wie einst, sonst bleiben wir ewig unten in der Tiefe, werden vom unbarmherzigen Tritt des Schicksals zu Spreu zermalmt.
Das zu erreichen, dieses große Ziel, ist freilich unendlich schwer. Denn wir sind so in Grund und Boden verdorben, verkitscht, verludert, daß es mir graut, wenn ich daran denke. Durch »Bildung« läßt es sich sicher nicht erreichen, wenigstens nicht allein. Am ehesten durch den Glauben – durch einen großen Glauben an 432 etwas unendlich Großes. So wie im Mittelalter die Dome mit ihren tausend Steingestalten nur aus dem Glauben kamen. Damals war es der christliche Glaube, die Glaubensinbrunst, die das irdische Leben für ein jenseitiges hingab und verachtete. Dieser Glaube ist heute tot. Aber ein neuer muß kommen. Und wenn die Zeichen nicht trügen, ist er schon unterwegs. Ein neues Wort Gottes ist über die Zeit gesprochen. Es klingt in den Trommeln der Jungen, in den Marschliedern der Bewegung. Die Sterne der Vergangenheit stürzen unwillig vom Himmel. Unsere Herzen pochen laut. Wir stehen im Anfang und Aufbruch. Andere werden die Erfüllung sehen. Unser ist Glaube und Kampf. Die Kommenden werden bauen und wohnen. Aber wir haben die Fahne erhoben und schlagen die Trommeln. Wir haben das neue Wort Gottes vernommen. Unser ist seine Seligkeit.
Aber mit dem Trommeln und Singen ist es nicht getan. Und der »Glaube« – leider muß ich mir das gestehen – ist für Viele und Allzuviele nur –: die Hoffnung auf einen besseren Geschäftsgang in einem neuen Reich . . . Es wird lange Zeit brauchen, bis aus dieser niedrigen Spekulation ein wirklicher Glaube wird!
Mit bloßer Bildung ist es auch kaum getan. Man kann den Arbeiter, den Bauern, nicht »bilden«, wenigstens nicht in dem Sinn, wie man es bisher verstand. Aber eines kann man vielleicht tun. Man kann dafür sorgen, daß kein Kind, vom ersten Schauen und Hören an, mit jenem erbärmlichen, niederträchtigen Schund in Berührung komme, mit dem uns die Talmikultur der letzten dreißig, fünfzig Jahre überschwemmt und jede wahre Kultur erstickt hat. Wenn das gelänge, wenn jeder Mensch von Jugend auf – ganz unbewußt! – nur Gutes und Bestes um sich sähe und es aufnähme, dann könnte man ehrlich an eine innere Auferstehung unseres Volkes glauben. Und damit bin ich wieder bei der Frage der Erziehung unserer Kinder auf Neulandhof angelangt. Von ihnen sind ja schon fünf bis sechs in dem Alter, 433 daß man an ihren Unterricht denken müßte. Und in den nächsten paar Jahren wird es bald ein Dutzend sein. Aber wir konnten uns einstweilen doch nicht entschließen, einen Lehrer oder eine Lehrerin aus der Stadt für sie zu bestellen und eine regelrechte Schule einzurichten. Vielleicht später einmal . . . Überdies ist ja Genoveva Mertens Lehrerin gewesen und kann uns mit Rat und Tat helfen. Einstweilen hat sich alles ganz von selbst zum Besten gefügt.
Die Kinder lernen, bald bei Genoveva, bald bei Dr. Mertens oder bei Hanne Janssen, Lesen und Schreiben, ohne all die Mätzchen, mit denen die heutige Krüppelpädagogik die Kinder künstlich zu begriffsstützigen Schwächlingen stempelt, die nur mit Aufgebot höchster psychologischer Weisheit die unendlichen Schwierigkeiten des Buchstabierens überwinden können . . .
Unsere Kinder haben sehr merkwürdige Fibeln und Bilderbücher. Da sind die Märchen von Grimm, und Gedichte aus dem »Wunderhorn«; und es macht ihnen Vergnügen, Dürers Hasen und die Madonna mit dem vielen Getier zu betrachten. Den Hieronymus im Gehäus besehen sie immer von neuem mit vieler Lust, und vor dem Ritter mit Tod und Teufel gruseln sie sich alle ein wenig und verlangen ihn doch immer wieder zu sehen. Dagegen kommt ihnen kein aufdringlich lehrhaftes Bild, wie sie in den Schulen herumhängen und eine Atmosphäre der Langweile zu verbreiten pflegen, vor die Augen. Aber Rembrandts Radierung mit den drei Bäumen ist ihnen ein guter Bekannter – steht sie doch täglich lebendig auf der Eichenhöh vor ihren Augen. Und auch die paar elenden Farbdrucke, die vor Jahren unsere ehemaligen Arbeitsmänner aus der Stadt mitgebracht, sind auf meine sanften, aber eindringlichen Vorstellungen hin zwar ungern, aber doch gegen ein paar gute Nachbildungen von Landschaften von Thoma getauscht worden.
Sie können auch schon sehr nett singen – lauter uralte Lieder, und Herbert ruht nicht eher, bis er ihnen auch ein paar ganz vertrakt schwierige gotische Chöre beigebracht, zu denen er sie auf 434 der Orgel begleitet. Sie klingen herb und hart, der Kenner sieht aus ihren Tönen heraus die faltendurchfurchten Steingesichter der alten Meister – aber die Kinder singen sie doch alle gern, obwohl sie so gar nicht »lustig« sind.
Pflanzen und Tiere der Heide kennen sie ja alle, was davon sich pflücken und fangen läßt, haben sie alle in Händen gehabt. Aber daneben wollen sie doch immer wieder gern die schönen bunten Kupfer in Dr. Mertens' alten Kräuter- und Insektenbüchern besehen oder die zarten feinen Bilder in den Tiermärchen der Else Wenz-Viëtor.
Dann erzählt ihnen Hanne oder ihr Vater einmal wohl auch aus der Geschichte der Heimat, aus den Tagen der Hanse, von der wilden Schlacht bei Bornhöved, gegen die Dänen; und ich sage ihnen vom großen Krieg, in dem ich selber mitgefochten, und von dem Unglück, das nachher unser Vaterland betroffen. Und ich gehe weiter zurück in die vergangene Zeit, zeige ihnen die Not des dreißigjährigen Krieges und der Bauernkämpfe aus der Lutherzeit, und versuche, sie die gemeinsame Wurzel allen Unheils erkennen zu lassen, das je über uns kam. Ganz verstehen sie mich ja sicher nicht, aber ein wenig mag das dämmernde Ahnen wirr verflochtenen Schicksals sich über sie senken und späterhin, nach Jahren und eigenem Erleben, aus den Tiefen der Kindheitstage neu ans Licht steigen. Und immer wieder auch gehen wir mit ihnen ins Weihemal, vor die Bilder der alten Dome, der Holz- und Steingestalten, wecken in den Kinderseelen das Gefühl für die geheime Sprache des Faltenwurfs, des Mienenspiels, für den Zusammenklang aller Sprachen der Seele, die in Stein und Holz, in Musik und Versen, in Stürmen und einsamen Taten redet. Wir nehmen sie manchmal mit in die Stadt, in den Dom, zum Rathaus, führen sie vor die alten Bürgerhäuser, in denen für sie noch immer die stolzen, gewaltigen Wulfflams, die Handels- und Kriegsherren der Hanse wohnen. Ins Museum, zum Goldschmuck von Hiddensoe, zu den Funden aus der Steinzeit und den Hünengräbern von Rügen. Einmal 435 waren wir auch mit ihnen drüben auf der Insel, sind durch die unendlichen Buchenwälder gewandert, den Bodden entlang, haben die Grabhügel der Vorzeit gesehen und auf die Weite des Meeres hinausgeblickt.
Und dazwischen laufen diese Kinder draußen in Sonnenglut und Regenschauern, hüten auf einsamer Heide das Vieh, lauschen dem Lied der endlosen Weite. Wolken und Wetter gehn über sie hin. In den schwarzbraunen Moorwässern der Torfstiche quarrt verborgenes Getier, Libellen flirren drüber hin, leiser Windhauch weht von fernher mit einmal Musik an ihr Ohr, Orgelklang, eine Fuge Bachs, ein Finale Bruckners. Über der Einsamkeit schwebt ein Seeadler in gelassener Ruh, gehen Töne und Harmonien, Windatem und Wolkenzug; Regenwände sinken in den Fernen nieder, hüllen die Machandelbäume in graulila Schleierdunst.
Beim Pflugwerk führen die Kinder die Pferde, sie stecken und graben Kartoffeln, binden die Ähren zu Garben, fahren auf hochgeladenen Erntewagen zur Scheune, den Segen der Erde zu bergen. Sie lernen in schwerer Müh sich zur Scholle beugen, ruhend den Blick ins Himmelsblau zu senken. Sie liegen in den Tagen des Kornschnitts am Mittag im Schatten eines einsamen Baumes und sehen hinaus in die Heide, über der die warme Luft seltsam zittert und flimmert. Und dann sehen sie einmal auf einem Bild Thiessens dies alles – gemalt . . .
Sie werden es wohl nie alle in Worten aussprechen und erkennen und doch ihr eigen nennen, daß dies alles im tiefsten Wesen eins und ihre Heimat ist. Und daraus wird einmal ihr Tun und Leiden, ihr Leben und Sterben kommen.
Das ist die Welt der Kinder.
Ein eigentlicher Religionsunterricht fehlt in unserem Erziehungsplan und wird wohl auch immer fehlen. Einstweilen wären die Kinder ja auch noch zu jung dazu. Aber später einmal, wenn das Fragen in ihnen erwacht, das Fragen nach jenseitigen Seinsgründen – dann, hoffe ich, wird sich aus all ihrem bisherigen 436 Leben und Erfahren, aus allem, was sie bis dahin noch gelernt haben, ganz von selbst die Antwort ergeben. Und dann wollen wir auch versuchen, ihnen diese Antwort klarer, als es jetzt möglich wäre, im Sinn Meister Eckeharts, Kants und Goethes gestalten zu helfen. Dazu braucht es keine philosophische Schulung – die tiefste Erkenntnis ist immer ganz schlicht und einfach, faßlich für jedes Gemüt. Die Schwierigkeiten liegen stets vor dem Ziel . . .
Später einmal, vielleicht in zehn Jahren, will ich mit unseren jungen Menschen, wenn sie es wollen, auch die Bibel lesen – nicht als »heiliges« Buch, sondern nur als ein Denkmal neben vielen andern . . . Sie sollen es nicht kennen lernen als »Offenbarung«, sondern nur, um Angriffen gegen ihre Weltanschauung begegnen zu können, denen sie sicher einmal – nicht nur von kirchlicher Seite – ausgesetzt sein werden.
Es ist wundersam und beglückend für mich, zu sehen, wie die uralten Spukgestalten längst vergangener Zeit noch immer in unserem Fühlen, ja sogar in unserem Denken fortleben. Friedgert erzählt gern den Kindern die Märchen, die sie selbst als Kind gehört, sagt ihnen von den Korngeistern und Wassermännern, in deren Gestalt unsere Vorahnen das Walten des Göttlichen sich faßlich gemacht.
Wießbach, der ganz und gar der Mann des greifbar wirklichen Lebens ist, der keine Träume kennt – oder vielleicht: sie nicht kennen will! – hat mir einmal seine Bedenken mitgeteilt, ob es gut sei, die Phantasie der Kinder mit dem »alten abergläubischen Zeug« zu erfüllen. Er wunderte sich, daß gerade ich, der Gegner des Christentums, auf der andern Seite ruhig zusähe, wie »diese Ammenmärchen« den Kindern neuerlich überliefert würden, statt daß man »endlich einmal mit all dem Quark« Schluß mache . . .
Es ist mir kaum verständlich, wie blind in mancher Hinsicht selbst ein sonst so kluger Mensch wie Wießbach sein kann. Wie 437 er den Unterschied zwischen unserm uralten, erdgebornen Sagengut und dem Ungeist des Fremdglaubens einfach nicht zu sehen vermag . . . Ich sagte ihm:
»All diese Erzählungen und Bräuche sind der einzig faßbare Ausdruck für das Unfaßliche, für die ›Gewalten‹ um uns, in uns. Unsere Worte stammen aus Tag und Geist, sie kennen und bezeichnen nur eine Seite des Lebens und Seins: die Seite der Begriffe, des Denkens, der Logik. Aber jene Geschichten und Bräuche, jene unbeschreiblichen Gestalten wie der Schimmelreiter, die Nachtfrau, die Korngeister, die Mittagsfrau, sind gleichsam auch Worte, aber Worte einer andern Sprache, der Sprache des Ahnens, des Urgrunds. Auch sie sind schon Zugeständnisse an unseren Tagessinn, das Tagesdenken. Aber wer sie ganz in sich aufnimmt, sich einlebt in sie, taucht in die Tiefe, steigt wie Faust hinab zu den Müttern. Wer die Mütter mit leiblichen Ohren und mit dem Verstand des Gehirnes raunen hörte, vernähme jene Mären, sähe jene Gestalten; wer es vermöchte, sie mit dem Seelgrund und dem Ahnen allein zu vernehmen – die Worte versagen uns hier – der . . . wäre eins geworden mit der Tiefe, die Welt und Menschen und alles Sein und Wesen trägt . . .«
Diesmal hat mich Wießbach scheinbar wirklich verstanden.
Es bedeutet schon etwas, wenn der Bauer mit seinen Kindern pflügt oder erntet, und es klingen während seiner Arbeit Bach und Mozart, Haydn oder Schubert über ihn hin! Wenn er in der Abendstunde statt eines wüsten Wirtshauslärms vom Weihemal her geruhsam stille Weisen hört! Wenn in seiner Stube statt eines kitschigen Farbendrucks oder eines süßlich verlogenen Heiligenbildes ein guter Holzschnitt, die feine Nachbildung irgend eines Meisterwerkes hängt.
Freilich – das ist leicht auf Neulandhof, in einer kleinen Gemeinde, die in einer Hand liegt. Aber in einer Stadt – wie soll man es da anfangen? . . . Nun, alles, was man da tun kann, ist: es eben – anzufangen, so gut es geht. Wenn auch 438 hier einmal, mit dem Sieg unserer Bewegung, eine einheitliche Führung die kulturellen Belange in die Hand bekommt, wird auch da vieles leichter werden. Warum sollen nicht in den Eßräumen der Fabriken – die heute wüsten Kneipen gleichen – Blumen und schöne Bilder zu finden sein? Warum soll während der Mahlzeit nicht gute – durchaus nicht nur »ernste« und »schwere« – Musik zu hören sein? Freilich – wenn man dem heute noch erbärmlichen Geschmack der Leute nachgibt und ihnen nur immer noch erbärmlichere »Genüsse« bietet – dann ist auf einen inneren Aufstieg des Volkes nicht zu rechnen, dann versinken wir rettungslos in niedrigsten Materialismus, und alle Genialität, alle Arbeit und Aufopferung des Führers ist vergebens . . .
Über einige dieser Gedanken habe ich am Erntefest zu unseren Siedlern gesprochen. Und es war für mich eine der größten Freuden, die ich auf Neulandhof bisher erlebt, daß dann, in den nächsten Tagen, der eine und der andere Bauer, wie ich ihn so zufällig auf dem Feld traf und ein paar Worte mit ihm wechselte, mit der Bitte herausrückte, gelegentlich so eine Art Gottesdienst im Weihemal zu halten, dabei über irgend einen Gegenstand zu sprechen, der alle angehe, und dazu auch etwas schöne Musik spielen zu lassen. Ich habe mich nicht deshalb so sehr über diesen Vorschlag gefreut, weil es mir Vergnügen machen würde, mich als ein weltlicher Pfarrer in Pose zu setzen und mich reden zu hören, mir vor den Leuten etwas herauszunehmen – sondern weil ich daraus ersehe, daß die neue Weise den Menschen unserer neuen Erde bereits gemäß und richtig erscheint. So will ich denn versuchen, von Zeit zu Zeit über weltanschauliche und religiöse Dinge zu unsern Leuten zu sprechen, ja nicht vielleicht am Sonntag und schon gar nicht in jeder Woche, sondern zwanglos, wie es sich aus irgendwelchen Anlässen ergibt. Die Bauern sind es nicht gewohnt, über Gott und Welt sich eigene, klare Gedanken zu bilden; sie überließen das früher dem Pfarrer, nahmen seine Worte gläubig hin. Nun das anders geworden ist und sie die 439 Fremdheit dieser Lehren fühlen gelernt haben, brauchen sie, vielleicht nur in der ersten Zeit, einen Führer auf dem neuen Weg. Ich will nach Kräften versuchen, ihnen ein solcher zu sein, wie ich es bisher gewesen bin. Ich denke, daß es gar nicht notwendig sein wird, immer nur über das zu reden, was man gemeinhin »Weltanschauung« oder Religion zu nennen pflegt. Auch wenn ich über einen Dom, ein schönes Bild spreche, eine Dichtung lese oder einen Spruch Goethes, Kants, des Führers, zugrundelege und ihn erläuternd ausführe, wenn in diesen Vortrag oder in diese Rede an Stellen, die das eigene Nach-Denken der Zuhörer fordern, Musik eingefügt wird – so wird es jedesmal ein Gottesdienst sein . . . Ich möchte diese Gottesdienste am liebsten abends abhalten. Dann klingen die erweckten Gedanken ungestört nach, sie beschließen die zerteilende Vielfalt des Tages und führen die Seele in sich selber heim. Das Dunkel der Nacht nimmt die verwirrende Fülle der Tageswelt von uns weg und schenkt uns an uns selbst zurück.
Noch etwas ganz anderes habe ich begonnen. Ich besitze aus früheren Jahren, da ich noch Kunstwissenschaftler war, viele Lichtbilder; heuer, auf unserer Reise, sind wieder mehr als hundert dazugekommen. Nun habe ich noch einen Projektionsapparat gekauft, und so finden von Zeit zu Zeit auf Mertenshof im Flett Lichtbildabende statt. Ich will, daß unsere Bauern, die nie von ihrem Acker weggekommen sind, wenigstens aus diese Art die Herrlichkeit des deutschen Landes kennen lernen. Ich halte ihnen dabei durchaus keine kunstwissenschaftlichen Vorträge, wenn ich es freilich auch versuche, ihnen die Schönheit solcher Werke nahezubringen, die für das ungeübte Auge auf den ersten Blick eher abstoßend und häßlich wirken, wie etwa die Darstellungen auf der Hildesheimer Domtüre oder der Bernwardssäule, oder auch ein Vesperbild aus dem vierzehnten Jahrhundert. Daneben zeige ich ihnen Landschaften, Bauwerke, Bauernhäuser. An diesen Abenden fehlt kaum je ein Siedler von Neulandhof. So wird langsam, ohne aufdringliche »Bildungsarbeit«, ein dunkles und 440 doch mächtiges Gefühl von deutschem Wesen in ihnen lebendig werden, wenn Landschaft, Kunst, Gedankenwelt, Geschichte, Musik zusammenklingen und zur großen Einheit werden. Es wird keiner von ihnen über diese Dinge in klaren Worten Bescheid geben können und er soll es beileibe auch nicht! Je mehr und je ausschließlicher gefühlsmäßig all dies bleibt, je mehr ans Blut, nicht ans Denken gebunden, desto wirksamer wird es sein, desto nachhaltiger wird es das gesamte Wesen durchdringen und gestalten.
Am Sonnwendtag brannte das heilige Feuer auf der Eichenhöh, etwa hundert Schritte westlich vom Weihemal. Herbert und Kriehuber spielten dazu das Finale der fünften Symphonie Bruckners. Als am Schluß der urmächtige Bläserchoral einsetzte, da war es fast zuviel für uns alle. Ich war immer, schon im Musiksaal, von der übermenschlichen Gewalt dieser Musik wie zernichtet und doch gleichzeitig wie in alle Himmel emporgehoben worden; aber nun, vor dem lodernden Feuerbrand, in der unendlichen Nacht, unter dem eisig funkelnden Sternhimmel – wer soll das Übermaß des Gefühls beschreiben, das uns da – – zermalmte, zerbrach und dann in Sturmgewalt zur Höhe trug! Ich sah in angstvoll bleiche Gesichter, ich sah erschreckt aufgerissene Augen, ich sah kindhaft glückselig lächelnde Mienen, tränenüberströmte Wangen. Unsere Hilde klammerte sich zitternd an Inge und weinte an ihrer Schulter in Strömen.
In dieser Stunde durchlebte ich noch einmal den Krieg, meine Jugendjahre vor ihm, alles, was nachher kam, die Einsamkeit in meiner Kate, das Werden von Neulandhof, die Schicksale aller Siedler, Liebe und Glück, Kämpfe und Sorgen – und die Posaunen Bruckners verkündeten mir den endlichen und letzten Sieg Gottes auf Erden und im Himmel und gaben mir den Glauben an eine ewige Gerechtigkeit.
Als die letzte Glut erloschen war, gingen wir stumm auseinander, keiner konnte ein Wort sagen. 441
Und nun ist es wieder Frühling geworden. Die Pflüge gehen über die Felder. Die Zugvögel schwingen ihre Keile über den Himmel, Regenschauer fliegen über die Heide. Die ersten Blätter brechen auf den Zweigen der Birken und Erlen die braunen Hüllen der Knospen. Auf den Wiesen kommen die Blumen hervor. Immer wieder das gleiche Geschehen, das gleiche Erleben und immer auch wieder das gleiche heimliche Glück über das ewige Wunder der Erde. Je älter man wird, desto inniger empfinden wir den Dank an dies alljährliche Erneuen des Lebens. Der Jugend ist der Frühling gemäß, sie nimmt ihn auf, als müßte es so sein. Der Älternde fühlt das Wunder darin.
Am zweiten Tag im Mai rief mich Hinrichs nachhause, damit ich das Kind begrüße, das Inge mir geboren hatte . . .
Es ist ein Mädchen. Als Friedgert, die Gute, es mir lächelnd in die Arme legte, bat ich sie, es nach ihr Friedgert nennen zu dürfen. Sie nickte still und freundlich und ich sah ihre Augen feucht schimmern. Dann ging sie aus der Stube und ließ mich mit Inge allein . . .
Die Namensgebung der kleinen Friedgert feierten wir am Sonnwendtag, als die Sonne zuhöchst am Himmel stand. Alle Siedler kamen ins Weihemal. Als zweite Patin hatte ich Frau von Kalckreith gebeten. Und als ich die beiden Frauen nebeneinander am Malstein stehen sah, fiel mir zum erstenmal ihre Ähnlichkeit auf. Sie ist nicht in den Gesichtszügen zu finden; und dennoch könnten sie Schwestern sein. Sie haben beide das nämliche adelige, das will sagen edle Wesen, die gleiche in sich gefaßte, gesammelte Ruhe, die gleiche Strenge und heimliche Güte. Es wundert mich garnicht, daß die beiden in den zwei letzten Jahren beinahe Freundinnen geworden sind . . .
Auch Stine Hannemann und Klasens Frau haben Kinder geboren. Thiessen ist überglücklich über seinen Jungem Er arbeitet schon seit einem Monat an dem Fresko im Weihemal – aber dreimal im Tag läuft er den weiten Weg zu seinem Haus, um nach Weib und Kind zu sehen . . . 442
Das Fresko wird seiner Kunst ein bleibendes Denkmal sein. Dem pflügenden Bauern hat er Gestalt und Antlitz meines alten Hinrichs gegeben. Der Mann, der auf der rechten Seite des Bildes einen jungen Baum einpflanzt, bin ich. Hasso steht neben mir und sieht aufmerksam meiner Arbeit zu. Denn Thiessen meint, daß Hasso, einer der ersten Bewohner von Neulandhof, als allgemein geachtete und beliebte Persönlichkeit, unmöglich auf dem Bild fehlen könne! – Links sitzt ein junges Weib im Schatten eines rundwölbigen Baumes, sie hält ein Kind auf dem Schoß. Es ist Inge. Hinter ihr reckt eine Frau, fast noch ein Mädchen, die Hand nach einem Apfel im Geäst: Stine Hannemann. Sie hat die Stellung, wie ich sie auf der Aktstudie in Thiessens Werkstatt einen flüchtigen Augenblick lang gesehen.
Zusammen mit Wießbach arbeite ich nun, nach der Frühjahrsbestellung, daran, die Umgebung des Weihemals etwas auszugestalten. Die zwei Wege, die von Süd und von Nord her emporführen, werden leichter gangbar gemacht, rings um die Weihestatt selbst roden wir Unkraut und Krüppelsträuche aus und versuchen mit viel Mühe, Rasenflächen anzulegen. An den Hängen aber, überall, wo einer der schönen Machandelbüsche steht, zimmern wir eine Bank, halb in den Hang hineingebaut, so daß da bequeme Sitze für die bereitet werden, die das Orgelspiel im Freien anhören wollen.
Bei dieser Arbeit gehen unsere Reden mannigfaltig hin und her, meist gedenken wir der ersten, sorgenvollen Jahre auf Neulandhof, da wir nicht aus noch ein wußten und von allen vernünftigen Menschen als Narren verlacht wurden. Und Wießbach gestand mir dabei nicht nur einmal, daß auch er mich bisweilen verwünscht habe, mich und – seine eigene Dummheit und Übereilung, mit der er meinem Vorschlag gefolgt war. Ja, nun konnten wir freilich beide als ziemlich wohlhabende Männer, die den Stall voll Vieh und die Scheunen voll Frucht hatten, jener Zeit mit behaglichem Lachen gedenken . . . 443
Wenn Wießbach einmal nicht Zeit hat, arbeite ich allein, und das ist mir immer ganz lieb.
Es war an einem der ersten, ungewohnt heißen Tage im Juni. Ich war müde geworden und setzte mich auf eine Bank auf dem Südhang, in den Schatten eines Busches, und sah auf das große Moor hinab, das nun nahezu völlig urbar gemacht ist, durchzogen von Entwässerungsgräben. Aus den vier Höfen, die inmitten liegen, stieg Rauch auf. Fern im Süd liegt der Hof auf Ulenhöh. Links gegen den Wald das Haus von Petergen und das von Kleebinder und Müller.
Ich saß still und sah auf dies gewaltige Stück Ackerland, das wir in fast achtjähriger, unendlich mühseliger Arbeit gewonnen. Ein großer und gerechter Stolz kam über mich, aber auch eine tiefe Müdigkeit, als hätte ich eben erst dies ganze Moor allein gebrochen. Mag sein, daß ich ein wenig eingeschlafen bin; ich wurde aber bald wieder von einem näherkommenden Schritt aufgeschreckt und sah einen jungen Mann den Weg heraufsteigen – und das Herz begann mir mit einmal angstvoll zu pochen. Ich hatte ihn sicher noch nie gesehen, es war keiner von uns Siedlern, aber er kam mir seltsam bekannt vor; und als er, schon ganz nahe, mich bemerkte und freundlich zu lächeln begann, wußte ich plötzlich, woher ich das Gesicht hatte: so ähnlich sah ich selbst auf einer schrecklichen Gruppenaufnahme aus, die man in üblicher Weise von uns Abiturienten grade vor der Abgangsprüfung aus der Mittelschule gemacht hatte! Das nämliche halb kindliche, halb jungenhafte Gesicht, unfertig und unreif, ein ziemlich verzweifeltes Stück Mensch.
Der Ankömmling blieb vor mir stehen, zog höflich den Strohhut und lachte mich freudig an:
»Ja, Großvater, da bist du? Ich hab dich überall gesucht, auf allen Höfen! Du bist wohl müde geworden, von der Arbeit, bei der argen Hitze heute, nicht wahr?«
Ja, müde war ich, seltsam schlaftrunken und müde. Man spürte das Alter eben doch schon. Aber ich hieß den Enkel doch 444 sich neben mich setzen. Auch er mochte von dem weiten Weg müde sein.
»Ich wollte doch einmal wieder nach dir sehen, Großvater, wie es dir geht, wo du dich so garnicht bei uns blicken läßt . . . Warum kommst du denn nie zu uns nach Diethersdorf?«
»Ja, weißt du, Junge, es ist mir doch schon zu mühsam. Du darfst mein Alter nicht vergessen . . .«
»Es ist doch gar nicht so weit zu uns! Nur eine halbe Stunde mit dem Wagen, gleich hinter dem Wald, wo früher das Moor war, das du urbar gemacht hast . . .«
Nun, jetzt mochte der Kerl mich wohl schon für ganz schwachsinnig halten, daß er mir das noch erklären zu müssen glaubte, als hätte ich nie davon gehört!
»Du könntest doch gleich mit mir kommen, Großvater, nicht? Ich habe den Wagen da . . .«
Da hatte er wieder recht. Mein Gott, alte Leute sind schon recht schwerfällig. Man muß sie zu allem stoßen und drängen. Aber ich sagte: »Da will ich also mit dir fahren, mein Junge!«
Er schob den Arm unter den meinen, mich auf dem abschüssigen Weg zu führen, und während wir hinabschritten, schämte ich mich recht sehr meiner Gedächtnisschwäche. Denn es wäre jetzt doch wohl schicklich gewesen, mich nach der Familie seines Vaters, also meines Sohnes, zu erkundigen. Dabei wußte ich von keinem den Namen, nicht, ob außer meinem Begleiter noch andere Kinder da waren – rein garnichts . . . Ich war froh, daß der Bursche immerzu redete, so daß meine Unwissenheit doch nicht gar so auffiel und ich auch langsam etwas ins Bild kam. Gottlob, da stand schon im Schatten der großen Eiche ein hübscher Kutschierwagen, wir stiegen ein und fuhren los.
Dabei erinnerte ich mich eines Traumes, der mich nach dem Krieg jahrelang immer wieder gequält hatte: es stieg da jedesmal in mir die plötzliche, schreckliche Angst auf –: jetzt hast du dich ja schon seit undenklichen Zeiten nicht um deine Pferde bekümmert! Die armen Tiere stehen schon endlos lang im Stall, 445 sie müssen ja bereits völlig lahm und krumm sein . . . Soweit der Traum. Und wie hatte ich mich doch stets um meine Pferde gesorgt! Gerade so war es mir jetzt: wie ist es denn nur möglich, daß ich mich überhaupt nicht um meine Söhne und ihre Schicksale bekümmert habe?! Ich weiß ja überhaupt nichts von ihnen . . .
Der Wagen flog leicht federnd durch den Wald, über ein paar Felder, dann kam wieder ein Gehölz, und nun zeigte mein Enkel mit der Peitsche nach vorn:
»Siehst du, Großvater, da sind schon die ersten Häuser . . .«
Die Straße ging in angenehmen Windungen zwischen Siedlungen dahin, die zwischen Landhäusern und Bauernhöfen die rechte Mitte hielten. Sie lagen eingebettet zwischen Gärten, kleinen Föhren- und Birkenwäldern, Gemüse- und Blumenbeeten. Ja, vor allem Blumen sah ich sehr viel. Fernab bemerkte ich eine große Fabrik – aber auch sie war rings von Grün umgeben und mein Enkel erklärte mir, daß er, der selbst als Zeichner dort arbeite, gar nicht das Gefühl habe, in einer »Fabrik« zu sein, wie man sie ja noch an manchen Orten im Lande antreffe. Alles sei hell und freundlich, schöne Bilder hingen in allen Räumen, die Speiseräume seien angenehm und tadellos sauber ausgestattet, auf den freundlich gedeckten Tischen stünden überall Blumen. Und im Garten seien Ruhebänke, ein Schwimmbecken, ein paar Spielplätze. In einer solchen Werkstätte empfinde niemand die Arbeit als eine Last . . . Eine schöne, große Bücherei sei auch da. Und jeder Arbeiter habe wenigstens vier Wochen Urlaub im Jahr . . .
»Ihr müßt also euer Brot nicht im Schweiß eures Angesichtes essen –?« fragte ich lächelnd.
Mein Enkel sah mich verdutzt an. »Nein . . . Aber was für ein komischer Ausdruck ist das, den du da gebrauchst?«
»Nun, wenn du nicht weißt, wo das steht, Junge, ist es auch kein schade . . .«
Wir kamen an einem großen Park vorüber. »Du hast sicher 446 unsern Dom noch nicht fertig gesehen, Großvater . . . Ich denke, er wird dir gefallen. Sollen wir aussteigen?«
»Ja, den will ich sehen! Ich möchte doch wissen, zu welchen Göttern ihr betet . . .«
Wir hielten an, der Junge half mir aus dem Wagen. »Gehe nur immer diesen Hauptweg entlang, Großvater, dann kommst du unfehlbar hin. Ich fahre inzwischen heim, deinen Besuch anzusagen, und dann holen wir dich alle ab . . .«
So ging ich denn nun allein durch den großen Park. Er war nach der Art eines englischen Gartens angelegt, einzelne Baumgruppen wechselten mit Teichen, auf denen weiße Seerosen blühten, stille Wasserläufe zogen durch funkelnd grüne Wiesen.
Mit einmal hörte ich Musik. Sie kam von überallher, sie schien aus den Baumkronen, aus der blauen Sommerluft zu tönen. Aber ich sah nirgends ein Orchester. Weiß Gott, wie die Leute das angefangen hatten!
Manchmal hörte vielleicht gar niemand zu. Aber das machte wohl nichts. Irgendwer hört doch zu: die Luft, der Sommertag, die Wolken am Himmel. Es ist immer Schönes und Erhabenes rings um die Menschen, in der Luft, die sie atmen, im Licht, das ihre Augen trinken. Das geht in sie ein, ohne daß sie es fühlen, bildet sie, klärt sie, erhebt sie. Gott kümmert sich auch nicht darum, ob immer, wenn er schöne Wolkenberge am Himmel auftürmt, auch irgendwer sich an ihnen freue. Er hat sich nicht darum gekümmert, als er die Gebirge aufbaute, die Meere, Ebenen und Wälder schuf, ob jemand sich ihrer freuen werde. Sie sind immer da und immer wieder wird schon einer ihrer gewahr und nimmt aus ihnen Erhebung und Stärke. So sollte auch immer, wie es hier war, Musik und Schönheit um uns sein.
Ich ging langsam den Weg entlang, und jetzt sah ich auch einen großen Bau – es mußte der »Dom« sein, von dem mein Enkel gesprochen. Je näher ich kam, desto gewaltiger erschien er mir, desto mächtiger in seinen Formen. Ich könnte nicht sagen, in welchem Stil er erbaut war – er mochte sich wohl in all den 447 Jahren herausgebildet haben, in denen ich weltverloren auf Neulandhof mein Feld bestellte. Aber der Anblick des Baues war so unvergleichlich, daß mir das Herz fühlbar zu pochen begann. Ich hatte Ähnliches nur ganz selten in manchem gotischen Dom und – im Tannenbergdenkmal erlebt . . .
Ich trat ein. Eine mächtige Halle in der Mitte, um die sich kleinere Räume schlossen. In ihnen fand ich überall Bilder, daneben auch Plastiken aus Stein und Holz, alte, gotische, barocke und auch ganz neue – aber ich hatte nirgends den Eindruck eines Museums. Es schienen vielmehr angenehme, freilich sehr weitläufige Wohnräume zu sein, es fehlte nirgends an Blumen in schönen, großen Gefäßen, es gab stille, abgeschlossene Nischen und freundliche Sitzecken, überall mit bequemen Stühlen und Bänken ausgestattet. Und immer tönte dazu die Musik, von der ich nicht ergründen konnte, woher sie kam.
Langsam schritt ich durch die Säle und Zimmer, kam wieder hinaus ins Freie, in den glühenden Sommertag. Ein kleineres Gebäude stand in einem Birkenhain. Es war offen, ich trat ein. Ein schlichter, fast kahler Raum. In der Mitte ein mächtiger Erzleuchter, auf dem einsam eine Flamme lohte. Und rings an den Wänden fand ich Tafeln mit Namen über Namen – ich erkannte Stammbäume, wohl von den Einwohnern der Siedlung. Da kam eine große Erregung über mich – ich suchte und suchte, und mit einmal fand ich auch meinen Namen auf einer Tafel in großen Zeichen . . . Doch meine alten Augen waren schon zu schwach, die vielen Namen zu lesen, die unter dem meinen in kleiner Schrift einander folgten. Aber es waren ihrer viele . . . Da fühlte ich eine tiefe Dankbarkeit in mir aufsteigen. Und ich verstand den Sinn der Flamme, die unauslöschlich in dieser Halle brannte . . .
Ich trat wieder ins Freie. Ich setzte mich auf eine Bank, ich war müde. Zu viel hatte ich erlebt, zu viel hatte mich bewegt.
Eine Zeitlang war es völlig still gewesen. Nun setzte die Musik wieder ein – und der Herzschlag stockte mir: es war die 448 »Frühlingskantate . . .« Ich faltete die Hände wie zum Gebet und nach der anfänglichen Erregung erfüllte mich ein unbeschreibliches Glück, das Glück der Vollendung . . . Ich verlor mich in dieser schönsten Musik, die ich kenne, ging unter in ihr. Ich sank wie in ein blaues Meer und fühlte, daß mein Leben nun an sein Ende gelangt sei, daß mir die namenlose Gnade gegeben worden sei, in diesen Klängen mein irdisches Sein gelassen, in dankbarem Lächeln erlöschen zu sehen . . . Ringsum erdunkelte der Tag, ich entschlief . . .
Aber es kam ein neues Licht – ich schlug die Augen auf: ich saß noch auf der Bank – aber diese Bank stand auf dem Südhang der Eichenhöh . . . und aus dem Weihemal tönte Musik . . .
Da strich ich mir über die Augen und mußte lächeln über den alten Träumer und Spökenkieker! Nein – einstweilen war ich noch kein Greis, die Siedlung jenseits des blauen Märchenwaldes war noch nicht. Aber in meinem Leib war die Kraft, auch ihr noch den Weg zu bahnen ins Leben!
Es ging sachte gegen den Abend. In einer Stunde mochte die Sonne unten sein. Und so breitete sich schon über das weite Land die sanfte, glückselige Ruhe des vollendeten Tages . . .
Ich stand auf, schulterte den Spaten, ging die wenigen Schritte hinauf zum Weihemal. Für einen Augenblick trat ich in die Eingangshalle, zu sehen, wie weit das Fresko gediehen sei. Ich blickte auf das Bild, auf dem unser Schaffen bleibende Gestalt gefunden, schaute hinab auf die Felder und Höfe in Nord, im Süd. Und ich durfte mir sagen: mein Werk ist gesegnet worden, ich bin gerechtfertigt durch das Leben, das ich erweckte.
Denn ja: so ist nun die neue Erde geworden und es ist alles in die Weite und Fülle gediehen.
Auf den Feldern gehen die Pflüge, schreiten die Säer und werfen weithin das heilige Korn in die Furchen, schwingen die Mäher die blitzenden Sensen durch gelbe, rauschende Flut. Auf den Triften weiden die Rinder, die Schafe und Pferde. Im 449 Schatten der breitwuchtigen Eichen ruhen des Mittags die Schnitter, ruhen die jungen Frauen und reichen den Kindern die Brust. Es ist Fruchtbarkeit rings, wohin ich schaue. Die Hummeln und Bienen summen mit tiefem Geläut über die Heiden und kehren heim mit reicher Tracht. In den Gräben der Torfstiche blitzt das Wasser im Sonnenschein. Fern geht die Windmühle ihren geruhigen Gang.
Die Kinder arbeiten auf den Feldern und in den Höfen. Und es wird eine Zeit kommen, da vor den Häusern, auf der Bank, im Schatten der Obstbäume, die Alten sitzen und ruhen werden, gemächlich über die Heide hinblickend wie über ihr eigenes Leben und Werk, nachsinnend über die Zeit, da sie selber einmal jung gewesen . . . Und auch ich werde einmal so sitzen . . .
Und über den Pflügern und Mähern, über arbeitenden Menschen und Tieren, über den spielenden Kindern, den stillenden Müttern, den ruhenden Alten, geht wie das Lied unseres Lebens, wie die Melodie alles Lebens, das Spiel der Orgel hin.
Denn über allem, als der gleichsam in einem Punkt zusammenfließende Ausdruck unseres Seins, unseres Wollens, als der Sinn unseres Daseins, wie wir es gewollt und gelebt, ragt auf der Eichenhöh das Weihemal auf. Von ihm klingt über das Land hin, mit den Stürmen und milden Sommerwinden, das ewige Lied des Lebens. Doch nein: es klingt nicht von dort oben: aus unser aller Leben, Mühen, Sorgen, aus unserem Säen und Ernten, steigt dies Lied auf, verdichtet und sammelt sich und wird aus der Orgel zu irdisch hörbarer Musik. Der sie spielt, ist ein Mann, der nie recht hinter dem Pflug ging, nie säte, kaum je mit wenig Geschick die Sense schwang. Und doch vermag er alles zu spielen, was wir leben, denn er ist ein Künstler, und der Künstler ist nie ein Einzelner, er ist immer – alle.
So ist nun unsere Siedlung geworden. Nirgends ein Zaun, eine Mauer, ein Graben. Und doch geheim umhegt und überwölbt von einem umfassenden, bergenden Schild, unter dem wir alle, wie die Kinder eines Elternhauses, froh geeint sind, jeder für sich 450 allein, und doch nah, wenn wir einander suchen. Und die Musik von der Eichenhöh empfinde ich immer wie jene unsichtbare Wölbung, die sich über unsere Felder und unser ganzes Leben hochbaut, uns umschließt, umfriedet, eint und schützt.
Nehmt nie die Einsamkeit von uns, laßt uns nie zu Gemein-Menschen werden! Die Einsamkeit ist die Mutter alles Großen und Guten. Sie ist auch die Mutter aller echten, wahren Gemeinschaft. Wer nicht einsam sein kann, ist nur ein halber Mensch und ein schlechter Gefährte.
Unter solchem Denken schritt ich langsam, dankbares Glück im Herzen, den Weg hinab zu meinem Hof. Von weit schon sah ich Inge vor dem Haus sitzen, auf der Bank, im Abendlicht. Auf der selben Bank, auf der damals ich selber gesessen, da sie diesen Weg gekommen war, zu mir. Sie hatte das Kind an der Brust und sah geruhvoll den Pfad entlang, den ich schritt. Sie lächelte mir entgegen. Als ich vor ihr stand, umschmeichelt von Hasso, blickte sie mich an, prüfend und forschend, wie es ihre Art ist. »Was hast du, Inge?« fragte ich.
»Du siehst so merkwürdig aus, heute . . .«
»Wie denn?«
»Es ist etwas in deinen Augen, als ob du gar nicht sähest, was ringsum ist, sondern . . . viel weiter . . .«
»Das kommt vielleicht, Inge, weil ich eben einen sehr weiten Weg gegangen bin, auf dem ich viel gesehen habe . . .«
»Da wirst du müde sein . . . Komm hinein, es ist Zeit zum Abendbrot. Dabei kannst du mir dann erzählen, wo du gewesen bist, in welchem Land . . .« Und dabei lächelte sie.
»Ja, Inge . . . Aber vielleicht brauche ich es gar nicht erst zu tun. Denn ich glaube, du hast dieses Land in deinen Armen, an deiner Brust . . .«
Da blickte mich Inge mit einmal sehr ernst an und sagte etwas Merkwürdiges, über das ich seither oft nachgedacht habe und über das nachzudenken für uns alle nur sehr gut und heilsam sein könnte. 451
»Es müßte einmal dahin kommen«, sagte sie, »daß nur die Kinder zeugen, die selbst allzeit in jenes Land gehen können, die den Weg dorthin immerzu leicht finden – und auch den Weg zurück . . . Dann wären ihre Kinder wirklich Leben, wären wahrhaftig Zukunft, denn sie sind in Wahrheit das Vorwärtsschreiten der Eltern über ihre Zeit hinaus . . . Aber die den Weg und das Land nicht kennen, sollten es lieber sein lassen, denn in ihren Kindern ist keine Zukunft, sie irren weihelos durchs Leben und sind das Unglück der Zeit . . .«
Damit stand sie auf und ging ins Haus.