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Es kommt doch immer anders, als man es vorausbedacht. Nun hatte ich es fast schon verschworen, auf Neulandhof noch fremde Siedler aufzunehmen, – und mit einmal sind gleich einige da – – und vielleicht die besten, die wir uns wünschen können.
Es hat sich die Gepflogenheit herausgebildet, daß jeder in der Stadt, der etwas von uns will, sich an Inges Mutter wendet, die, wenn einer von uns kommt, die Botschaft an ihn weitergibt. So teilte sie mir vor einiger Zeit mit, daß etliche junge Leute bei ihr gewesen seien, die bei uns siedeln wollten; sie hätten sich 382 »Artamanen« genannt und ihr einen außerordentlich guten Eindruck gemacht. Und dann sei noch jemand dagewesen, ein älterer, ziemlich knurriger Herr, ein Maler, der auch bei uns in der Heide wohnen möchte. »Ich will Ruhe haben vor dem Gesindel – weiter nichts! Die paar Jahre, die ich noch zu leben habe, will ich ungestört malen können, ein paar anständige Bilder . . . Sagen Sie das dem Herrn!« Damit ging er mit kargem Gruß.
Der Laufbursche bestellte die Anwärter in meinen Gasthof. Dort erschienen auch bald die »Artamanen«. Ich hatte den Namen noch nie gehört und erwartete, die Mitglieder irgend einer verschrobenen Gilde kennen zu lernen, wie sie ja allenthalben reichlich gegründet werden. Ich wurde angenehm enttäuscht: es kamen drei junge Männer – prachtvolle Burschen, ausgesprochen gutrassige Menschen, die mit offen frohen Augen um sich blickten und mir sofort derart gefielen, daß mein Entschluß auch schon gefaßt war, als sie an meinem Tisch Platz nahmen. Sie erklärten mir den Zweck ihres Bundes, der heute bereits weit verbreitet sei: junge, arbeitsfrohe Menschen, die des Stadtlebens überdrüssig seien, aufs Land zu bringen, sei es als Knechte zu Bauern, oder, wenn irgend möglich, als selbständige Siedler, vor allem in Grenzgebieten, wo die Gefahr der Überwucherung durch fremdes Volkstum besteht, etwa an der polnischen Grenze oder in Ostpreußen. Die Artamanen seien Fabrikarbeiter, Studenten, junge Männer und Mädchen aus allen Schichten des Volkes. Gefordert wurde nur artreine Abstammung, Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Partei und vor allem: Arbeitsfreude und der Glaube an Deutschland . . .
Nun sei hier zwar kein Grenzgebiet; aber es sei augenblicklich dort wenig zu wollen und so seien sie nun eben da und fragten, ob sie sich bei uns niederlassen könnten.
Ich sagte ihnen grundsätzlich zu. »Aber es steht so: wir haben wohl in den letzten Jahren ein großes Gebiet urbar gemacht, auf dem etwa drei bis vier Bauernhöfe Platz finden können. Doch muß ich dieses Land unbedingt den Söhnen unserer alten 383 Siedler einräumen, die mit uns daran gearbeitet haben, es fruchtbar zu machen. Sie werden in der nächsten Zeit wohl eigene Anwesen gründen. So ist also kein Raum mehr für neue Höfe auf unserem eigenen Grund. Aber östlich von Neulandhof« – ich zeichnete ihnen rasch einen Plan auf – »wäre noch Land, das mit einiger Mühe guten Boden geben könnte. Wir wollen sehen, ob wir es kaufen können.«
Die Artamanen erboten sich, aus den Mitteln ihres Bundes Geld beizusteuern. Aber das lehnte ich ab. »Unsere Siedlung ist ganz und gar aus Eigenem geworden. Von diesem Grundsatz möchte ich nicht abgehen. Wenn ihr etwas Geld habt – wendet es zur Ausstattung der neuen Höfe auf. Aber das Land und die Häuser selbst sollen aus den Mitteln von Neulandhof kommen.«
Das war ihnen wohl sehr recht. Ich ging mit ihnen zu unserem guten Rat – denn der Zustimmung der Gemeinde konnte ich sicher sein – und sodann zu Kröling, der gerne zu einem neuen Darlehen bereit war, das er uns ja wiederholt angeboten. So wurde der Landkauf eingeleitet und die jungen Leute empfahlen sich in froher Hoffnung.
Am späten Abend tauchte der Maler auf: ein ernster, verschlossener Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, der aber viel älter wirkte. Sein Haar war fast ganz grau, das Gesicht zerfurcht, wohl nicht von leiblicher Not allein. Er sagte mir ungefähr das nämliche, was er schon Inges Mutter mitgeteilt.
»Das Bolschewiken- und Judenpack, das heute in Kunst macht, hat jede wahre, ernste Kunst vernichtet. Heute herrscht infamste Lausbüberei, niederträchtigste Pfuscherei, bewußte Zerstörungswut im sogenannten Kunstleben . . . Nun, das wissen Sie ja selbst, wenn Sie Kunstgelehrter sind oder waren . . . Ich kann nirgends mehr ausstellen, nichts mehr verkaufen. Wer es, wie ich, heute noch wagt, ehrliche, erlebte Bilder zu malen, begegnet überall nur Hohn, wütendem Haß, er wird als Idiot und Fossil verächtlich gemacht – bestenfalls totgeschwiegen . . . Ich habe das satt . . . Ich habe die Heide seit je geliebt . . . Ich will den 384 Rest meines Lebens allein in ihrer Einsamkeit leben, noch ein paar anständige Bilder malen, die mich freuen – dann Schluß –!«
»Sie haben mit Ihren bitteren Anklagen leider nur zu recht, Herr Thiessen . . . Es würde mich freuen, Sie als Siedler auf Neulandhof begrüßen zu können; aber wovon wollen Sie leben? Sie müßten sich ein kleines Haus bauen, einen Acker bestellen . . . Werden Sie das imstande sein?«
»Das getraue ich mich noch . . . Ich bin auf dem Land aufgewachsen . . . Ich habe ein wenig Bargeld für ein paar blödsinnige Plakate und Illustrationen, die ich ausführen mußte. Das wende ich zum Bau einer Hütte auf. Das übrige muß mir der Boden geben. Den ganzen Tag kann man nicht malen . . .«
»Nun: am Nordende unseres Besitzes, östlich des sogenannten Poggenpfuhls, ist noch gerade so viel Land frei, wie Sie es nötig haben. Für einen richtigen Bauernhof wäre es zu wenig. Im Osten haben Sie Bruchwald, westlich den See, südlich Moor und Torfstich, nördlich viel Sumpf und Bruch. Sehen Sie sich die Sache einmal an . . .«
So fuhr ich des andern Tags mit Thiessen hinaus. Während des ganzen Weges saß er schweigend neben mir. In das harte, herbe Gesicht kam langsam ein Zug von Weichheit und Ruhe. Es war, als striche ihm die Einsamkeit mit leiser Hand über die Augen, aus denen die krampfhafte Spannung und die abweisende Kälte wich. Der Mann gefiel mir immer besser. Gern hätte ich einige seiner Bilder gesehen; aber das lehnte er mit einer vornehm lässigen Gebärde ab.
Ich bat Mertens, den Gast für ein paar Tage bei sich zu beherbergen. Da machte nun Thiessen große Augen: das hatte er sich auf Neulandhof nicht erwartet! Und als er dann auch noch die Weihestatt gesehen hatte, war sein Entschluß gefaßt. »Da scheinen doch Menschen zu wohnen – da bleibe ich!« sagte er.
Wir besahen das Land, das ich ihm zugedacht, und eine 385 Stunde später war alles erledigt. Zur Zeit wird bereits fleißig gebaut. Er selbst hilft dabei mit. Das Haus wird eine Werkstatt mit großem Fenster, ein paar Wohnräume sowie einen kleinen Stall enthalten. Mehr nicht.
Daneben gräbt er den Boden um – er will noch etliche Kartoffeln stecken, obwohl es dazu schon spät im Jahr ist. Die Abende verbringt er bei Mertens, besieht seine Sammlungen und fühlt sich anscheinend wohl bei uns.
Inzwischen ist der Landkauf für die drei Artamanen abgeschlossen worden. Und nun erlebten wir etwas Herrliches: eines Tages kamen zwanzig junge Burschen anmarschiert, alle mit Handwerkszeug bepackt. Es sind die Kameraden der drei Siedler, die ihnen ihre Höfe erbauen werden. Ein paar Fuhrwerke mit Holz und Backsteinen brachten sie mit. Sie wohnen in unsern leeren Scheunen, ziehen lachend und singend zur Arbeit. Sie sind Arbeiter, Handwerker, auch ein paar Studenten sind dabei. Alles geht flink und gewandt, unter Scherz und Lied, vonstatten, die Häuser wachsen aus dem Boden wie Pilze. Am Abend finden die Artamanen sich auf Mertenshof ein – aus dem offenen Tor tönt leise die Orgel, und dazu singen sie: alte Volksweisen, Marschlieder der Bewegung. Bisweilen tanzen sie auch alte Reihentänze.
Von allen Höfen kommen wir dann zusammen, sehen zu und singen mit. Es war immer ein guter Geist auf Neulandhof – aber seit die Artamanen da sind, ist es, als ob ein fröhlicher Sturmwind bei uns eingebrochen wäre. Wir haben unsere helle Freude an diesen Kerlen. Unsere Knechte – die Ausreißer vom vorigen Jahr – sind wie verwandelt. Aber am meisten freut sich Thiessen an allem.
»Die paar Wochen, die ich nun hier lebe, sind die schönste, jedenfalls die froheste Zeit meines Lebens gewesen«, sagte er mir einmal. »Ich hätte es nie zu hoffen gewagt, noch einmal solch Herrliches zu erleben . . . Ich fange an, wieder an Deutschland zu glauben . . . Nun möchte ich bald arbeiten . . .« 386
Ich aber wollte am liebsten alle Artamanen bei uns behalten! Bis nach der Ernte werden sie bleiben – dann gehen die meisten von ihnen nach dem Osten. Ich sehe ein, daß das wichtiger ist.
Knapp vor dem Kornschnitt sind die drei neuen Höfe fertig geworden und die Siedler sind mit jungen Mädels auf der Weihestatt vor mir gestanden. Das war ein wirkliches, wahrhaftes Fest!
Ich hielt den jungen Paaren eine Rede, wie noch bei keiner ähnlichen Gelegenheit. Dankte den Arbeitskameraden – nicht so sehr für die Hilfe, die sie den drei Siedlern gewährt, als vielmehr für die Freude, den Lebensmut, den Glauben, die sie uns allen durch ihr frohes Beispiel gegeben. Dankte ihnen, daß sie, aus russigen Fabriken, aus den Kreisen verhetzter Kommunisten kommend, sich zu einem derart vorbildlichen Leben und Werken emporgerungen. Ich wünschte ihnen alles nur erdenkliche Gute für ihr kommendes Leben. »Solange es bei uns noch junge Menschen gibt, wie ihr es seid, meine lieben Freunde – so lange ist Deutschland nicht verloren!«
Nach der Vermählungsfeier trat Petergen und sein Weib vor den Malstein: und ich legte ihrem vor ein paar Wochen geborenen zweiten Kind den Namen bei – Jürgen. Denn der Bauer Rothkopf ist Pate gewesen.
Und über uns war Sonne und Sommer und die Ernte stand in vollen Garben im Feld.
Wie herrlich ist doch das Leben – ein solches Leben!
Ehe die Artamanen uns verließen, haben sie noch eine gute Woche lang an der Weihestatt gebaut und dabei fast mehr zu Fleck gebracht als wir in all der Zeit bisher. Jedenfalls: der Turm ist vollendet – im Frühjahr wird die Orgel übertragen . . .
Thiessen wohnt nun bereits in seinem Haus. Ich habe ihm Hühner geschenkt, Kalckreith und Wießbach Mehl, Speck und Rauchfleisch. Zum Dank gab er uns kleinere Bilder. Mertens bekam für seine Gastfreundschaft ein besonders schönes Gemälde. 387
Thiessen ist sicher ein großer Künstler; aber für diese unsere Gegenwart taugt er nicht. Ein tief ins Erdleben versunkener, heimlich verträumter Romantiker, wenn ich schon ein etwas abgebrauchtes Schlagwort anwenden soll. Er ist auch ebensogut ein Realist. Aber immer empfindet man in seinen Bildern das Geheimnis des Werdens, das Weben um Urgründe des quellenden Lebens, die nur dunkler Ahnung, nie dem wissenden Auge fühlbar werden, und –: die Ehrfurcht davor, den großen, erschütternden Ernst, mit dem er dem Sein gegenübersteht.
Seltsam ist seine Art des Studiums. Ich traf ihn einmal im Freien, im Bruchwald, wie er einen zersplitterten Baumstumpf in voller natürlicher Größe auf einem Riesenkarton mit der Kreide zeichnete. Getreu bis in die kleinste Einzelheit, unerbittlich genau. In seiner Werkstatt sah ich ein Blatt: ein Moospolster, die einzelnen Hälmchen mit ihren bepelzten Fruchtkapseln – aber in etwa dreifacher Vergrößerung. So wurden die unscheinbaren Moospflänzchen zu abenteuerlich riesenhaften Bäumen versunkener Vorzeit, zwischen denen kleine, weiße Blüten scheu die Kelche öffnen, als seien sie die Erfüllung eines Schöpfertraums, den jene Moosbäume, nun die Alten, staunend Wahrheit werden sehen und ihn behüten, dankbar, daß sie ihn noch schauen durften.
Ein anderes großes Bild möchte ich einmal in unserer Weihestatt haben: eine Steinklippe an der Küste, unablässig von der grauen Meerflut gischtend überspült. Auch sie war in natürlicher Größe gemalt, jede Schaumblase, jeder Wasserspritzer war dargestellt, und doch alle Einzelheiten zusammengeballt von der zwingenden Gewalt eines Geschehens, das im tiefsten Wesen gleich ist den Mächten, die unsere Erde, alle Gestirne und Welten schufen.
So ist die Art des Meisters. Er sinkt, willenlos scheinbar, aufnehmend bloß, anbetend, möchte ich sagen, ins Walten und Werden der Erde ein, wird Baum und moderndes Holz, Welle und Stein, Sturmgischt und Möve, Moos und Farn, Schnecke 388 und Käfer. Und gestaltet sie dann mit herrischer Hand, aus dem Blick des Schöpfers heraus, stellt sie vor uns hin mit ihrem atmenden Leben und geheimen Wollen.
Ich bin glücklich, daß dieser Mann zu uns gefunden hat.
Die Artamanen haben uns verlassen. Wir haben ihnen eine Stunde weit das Geleite gegeben, haben ihnen Blumensträuße an die Brust geheftet und von ihnen Abschied genommen wie von Brüdern. Aber immer noch ist es uns, als schwinge die Lebensfreude und der Zukunftsglaube der jungen Menschen über uns; als wolle jeder, Herr und Knecht, nun das doppelte und dreifache leisten, um sich der Volkskraft würdig zu erweisen, die in diesen prächtigen Burschen sich so sichtbar verkörpert hat.
Thiessen hat sich erboten, in der Eingangshalle des Weihemals ein Fresko zu malen. Die Gittertore will er mit schmiedeisernem Rankenwerk ausfüllen. Und neben und zwischen den beiden Toren möchte er, in Ton gegraben, Inschriften anbringen, die er bereits entwirft.
Mein Knecht, der ehemalige Sträfling, ist seit dem Besuch der Artamanen vollends gewandelt und geheilt. Er ist froh und zufrieden, jede Erinnerung an seine dunkle Zeit scheint weggetilgt. Es ist nicht so, daß er seinen Fehltritt und die Strafe dafür vielleicht vergessen hätte. Aber er hat die Schuld und ihre Sühne in sein Leben eingefügt als einen harten, aber darum auch festen, sicheren Stein, auf den er bauen kann. Er ist mir blindlings ergeben und tut alles, was er mir oder Inge nur an den Augen absehen kann – aber ohne jede Liebedienerei, schamvoll versteckt. Am meisten fast freut mich seine Liebe zu den Tieren. Wo er kann, lockt er Hasso an sich und versucht mit ihm zu spielen. Aber der Hund hängt zu sehr an mir und Inge und nun, seit der kleine Giers Hammer seine ersten Gehversuche hinter sich hat, auch an dem Kind, um für andere Leute viel übrig zu haben; so hat Frank seine ganze Zärtlichkeit auf das Pferdepaar 389 gewendet, das er zu betreuen hat. Und die klugen, guten Tiere vergelten ihm seine Liebe mit einer fast drolligen Zutunlichkeit. Mit Vorliebe holen sie sich ein Stück gesalzenes Brot aus seiner Rocktasche.
So kommt der Herbst heran. Thiessen ist viel draußen im Bruch, bei den Torfstichen. Er hat Pfähle in den Boden gerammt, darauf ein riesiges Malgestell befestigt, das nachts mit Brettern gegen Regen und Nebel geschützt wird. Er ist jetzt unzugänglich und mürrisch abweisend; ich begreife, daß er keine Störung verträgt. Er malt, unbekümmert darum, daß niemand sein Bild kaufen, ja daß er kaum einen Ort finden wird, es aufzustellen. Er ist besessen von seinem Werk. »Es malt aus mir«, sagte er einmal.
Nun die Herbstarbeiten bald alle getan sind, hat Herbert einen kleinen Singechor gebildet. Die drei Artamanen und ihre Frauen, alle geschulte Sänger, Stine Hannemann, unsere Hilde, aber auch Klas, und – Frank sind dabei. Er übt mit ihnen seine geliebten spätgotischen Chöre, auch Weisen aus dem siebzehnten Jahrhundert, herbe, strengschöne Musik, zu der die Orgel sich wunderbar fügt.
Thiessen ist glücklich, wenn ihn bei seiner Arbeit im Bruch verwehte Klänge der Orgel überfliegen. »Ich male sie mit ins Bild«, sagte er mir, als er einmal etwas gesprächiger gelaunt war.
Es ist Winter geworden. Wir sind, nach einem Sommer und Herbst, der mir durch die Fülle des Erlebens schier endlos lang erscheint, wieder im Haus, in der Stube heimgeworden. Nun zappelt, kriecht und läuft unser Giers schon allenthalben umher, man hat seine liebe Not, ihn vor allzu naher Berührung mit Pferden und Kühen zu bewahren. Neulich entdeckte ich ihn im Stall, zwischen den Beinen von Franks Pferden, die ihn etwas 390 erstaunt beschnupperten. Mit den Kücken im Brutraum möchte er ständig spielen. Aber sein bester Freund ist Hasso, der ihm auf Schritt und Tritt folgt. An seinem Halsband hält er sich fest, wenn es einmal irgendwie kritisch wird.
Unsere Musikabende haben wieder begonnen. Die Halle auf Ulenhöh ist nun schon zu klein geworden für die Gäste. Denn die Artamanen mit ihren Frauen sind immer da, Hilde, Stine, Hinrichs, Friedgert kommen auch. Es wird Zeit, daß das Weihemal vollendet wird . . . Der neue Chor hat sich bereits hören lassen, und bei dieser Gelegenheit wagte sich auch Frank ins Haus des Obersten. Er blieb freilich etwas scheu und bedrückt, aber als ihm der Oberst eine Zigarre anbot, nahm er sie mit vieler Umständlichkeit, doch dankbar und geschmeichelt.
Die beiden Kögemanns waren nur zu Beginn des Winters ein paarmal da. Dann blieben sie weg – aber das hat einen guten und erfreulichen Grund: die junge Frau erwartet ein Kind. Sie fürchtet den weiten Weg nach der Ulenhöh, in der Nacht. Vor allem aber scheut sie sich wohl, aus der altüberkommenen falschen Schamhaftigkeit ihrer Kreise, sich in ihrem Zustand viel zu zeigen. So spinnen sich die beiden in ihrem Haus ein, in dem nun stille Erwartung, Bangen und Zuversicht eingekehrt sind. Gebe Gott, daß alles gut wird . . .
Genoveva ist in der gleichen Lage. Sie ist rührend anzusehen in ihrer keuschen, still hoffenden Mütterlichkeit; als strahle ein mildes Licht von ihrem leise lächelnden Antlitz. Die Enkel Kalckreiths, zu deren Betreuung sie einmal ins Haus gekommen, sind ganz zu ihren Kindern geworden. Sie haben die eigene Mutter wohl völlig vergessen, deren Bild ihr dumpfes, erstes Bewußtsein ja kaum fassen und bewahren konnte. Vielleicht ist das auch die Ursache einer seltsamen Bemerkung, die mir die Oberstin neulich machte, als ich einmal allein mit ihr war; seltsam bei dieser herb verschlossenen, streng beherrschten Frau. Es war an einem nebligen Abend, ehe die ersten Fröste einsetzten. Der 391 Diener hatte eben die brennende Lampe auf den Tisch gestellt, als ihm die Oberstin – mit einer gewissen Ängstlichkeit, wie mir scheinen wollte – auch schon auftrug, doch nur gleich die Fensterladen zu schließen. Dann trat, nach ein paar gleichgiltigen Worten, eine Stille ein, wie immer, wenn Frau von Kalckreith eine Bemerkung vorbereitet, die sie eine Weile noch zurückhält, weil sie ihr zu vertraulich erscheint. Nun aber sagte sie plötzlich:
»Ich bin glücklich, Genoveva im Haus zu haben – sie ist uns wahrhaftig eine liebe Tochter geworden . . . Das Kind, das sie erwartet, wird uns wie ein eigenes Enkelkind werden . . . Und doch ist es mir jetzt oft, als ginge draußen in der Nacht ein hungernder, frierender Schatten ums Haus und stierte mit dunklen Augen durch die Fenster – zu uns herein, ins Licht, nach den Kindern – nach ihren Kindern . . . Ich muß jetzt abends immer die Fensterladen schließen . . . wegen der Augen . . . Es wäre furchtbar, wenn auch Genoveva einmal diese Augen bemerkte . . .«
Es war mir, da die Oberstin mit leiser Stimme dies sagte, als liefe ein Kälteschauer durch ihren Leib.
»Ich kenne diese Schatten, Frau Oberst. Sie haben auch durch mein Fenster geblickt . . . Andere freilich . . . Aber ich glaube bestimmt, daß Genoveva sie nicht sehen wird. In ihren Augen ist zu viel Sonne . . .«
Wie zur Bekräftigung meiner Worte setzte in diesem Augenblick Musik ein: Geige, Cello und Klavier. In vollen Strömen fluteten die Töne dahin, breit und gewaltig, die Geige hob sich rein und klar über das dunkle Wogen der Bässe.
Die Oberstin sah mich an und ein leises Lächeln kam auf ihre Lippen – so wundersam rührend in diesem strengen Gesicht, daß ich aufstand und ihr die Hand küßte. Dann öffnete ich sachte die Tür ein wenig, um das Spiel besser hören zu können. Wir saßen schweigend und lauschten der Musik. Nach einer Weile sagte die Frau: »Mein Mann hat den Eltern Gertruds geschrieben. Sie war nur kurze Zeit bei ihnen. Wo sie jetzt ist, wissen wir nicht . . . 392 Die Antwort war sehr kühl und abweisend – man mißt offenbar uns alle Schuld an ihrer Flucht bei . . . Ich wollte Ihnen dies einmal sagen, damit Sie doch Bescheid wissen . . .«
Es ist ein halbes Jahr verstrichen, seit ich dies schrieb. Nun ist der erste Sommer über die Heide gekommen. Das ganze, bisher urbar gemachte Gebiet zwischen Eichen- und Ulenhöh ist nun fast ein einziges, riesiges Getreidefeld. Wir haben es im Herbst mit Anspannung aller Kräfte bestellt – aber wir haben auch gesehen, daß dies auf die Dauer nicht möglich wäre. Es müssen neue Höfe errichtet werden. Um sie erbauen zu können, haben wir diese einmalige Anstrengung auf uns genommen.
Bald nach dem Sonnwendfest mußte Friedgert eilends nach dem Poggenpfuhl kommen . . . Und am Abend erschien Kögemann und verkündete uns mit strahlender Miene die Geburt eines kleinen Mädchens . . . Wir haben es, als die junge Mutter wieder ausgehen konnte, im Weihemal Genoveva genannt, denn Herberts Frau ist Patin gewesen. Sie selbst wird, so hoffen wir herzlich, bald ebenso mit ihrem Kind im Weihemal stehen . . .
Nun ist auch die Ernte vorüber und geborgen! Wir haben zwölf Artamanen zur Hilfeleistung bekommen; nur ungern ließen wir die jungen Leute wieder von uns gehen.
Die Ernte ist nicht so reich gewesen, wie wir erhofft. Der Boden muß doch erst langsam durch Düngung fruchtbar gemacht werden. Immerhin haben wir so viel gewonnen, daß wir ohne Sorge in die Zukunft sehen können. Am Weihemal arbeiten nun wirklich zehn Mann, der Landkauf für die Artamanen ist zum Teil schon abgezahlt.
Auf den neuen Höfen geht es fröhlich her. Die jungen Siedler haben rastlos gearbeitet. Bei einem haben wir auch bereits einen Jungen mit dem Namen Thor benannt. Er hat es etwas eilig gehabt, das Licht der Welt zu erblicken, aber es hat niemand daran Anstoß genommen . . . 393
Thiessen hat den Winter mit unserer Hilfe leidlich überstanden. In seinem Häuschen sah es zwar übel aus – auf Ordnung hält er gar nichts, und lebte schließlich nur mehr in seiner Werkstatt. Im Frühjahr steckte er Kartoffeln, stach fleißig Torf. Es ist ihm gleichgiltig, was er zu essen hat, wenn er nur halbwegs satt wird. Er will arbeiten und kann völlig auf den Leib vergessen, wenn er in Entwürfe und Pläne vertieft ist. Aber er hat sogar ein paar Bilder verkauft: der »gute Rat«, der uns wieder besuchte, hat zwei kleinere erworben, und einer seiner Freunde ein großes Gemälde. So ist Thiessen nun, wie er knurrig sagte, über Nacht ein reicher Mann geworden und kann seine geringen Bedürfnisse aus eigener Tasche bezahlen – er mag nichts geschenkt bekommen. Aber als ich ihm sagte, daß ich sein Bild mit der Strandklippe sehr gerne für das Weihemal erwerben möchte, wurde er fast grob und erklärte, für alles, was dafür bestimmt sei, keinen Pfennig zu nehmen. »Sie haben alle an diesem Werk gearbeitet, haben Steine gesetzt, Holz gezimmert; da kann ich wohl auch ein paar Bilder und Entwürfe dazu beisteuern . . . Wenn eins meiner Bilder einmal dort hängen wird, ist es mir wertvoller, als wenn es in einem Museum kaum beachtet unter hundert anderen verstaubte . . .«
So ist nun auch Genoveva Mertens mit ihrem Kind in der Weihestatt gestanden. Dr. Mertens ist strahlend glücklich über den Enkel, den kleinen Ulf. Bei der Namensgebung ertönte zum erstenmal die Orgel aus dem Turm heraus . . .
Nun hört man sie bis hinüber auf die Ulenhöh und über den Wald bis zu den Höfen der Artamanen. Es war für uns alle ein einzigartiges Erleben. Zumal für Herbert. Da stand er mit seinem jungen Weib und dem Kind, da hörte er die Orgel, um deren Bau er von so manchem zuerst als Halbnarr verlacht worden, weithin übers Land klingen. Und da wuchsen rings die Mauern des Weihemals empor, dessen Gedanke von ihm und mir stammt, das einer ganzen, großen Gemeinde seelischer Mittelpunkt 394 sein wird. Von dem schon jetzt ein neuer und doch uralter Glaube ausstrahlt, ein Glaube ohne Priester und Dogma, der nichts anderes will und sagt, als daß wir uns in Ehrfurcht vor dem Göttlichen beugen, das in uns allen waltet, das alles gestaltet und werden läßt, dessen Gedanken Völker und Kulturen, Einzelmenschen und ihre Schicksale sind. Wie das Göttliche ist, wissen wir nicht; nur, daß jeder von uns es sich denken kann und muß, wie es ihm gemäß ist. Und wir sind überzeugt, daß wir diesem Gott nur in einer einzigen Weise recht dienen können: indem wir aus ganzer Kraft daran arbeiten, den Gottesgedanken, der deutsches Volk heißt, zu Leben und Tat zu gestalten. Das tun wir, indem wir den Acker bestellen, indem Thiessen malt, indem wir die Orgel und das Weihemal erbauen, schöne Musik spielen. Wir brauchen dazu keinen Priester, der sich eifernd und besserwissend zwischen uns und Gott drängte, der das vorgebliche »Wissen« um Gott als sein ausschließliches Vorrecht betrachtet. Mag der eine von uns zu seinem Gott nach alter Kindergewohnheit mit gefalteten Händen beten, der andere mit den Händen an der Pflugschar oder an den Orgeltasten, den Geigensaiten – es ist völlig einerlei. Mag er dabei mit seinem Gott reden wie mit einem gütigen Vater, oder überhaupt nicht in klaren Worten und Gedanken seiner bewußt werden – auch das ist völlig einerlei vor einem Wesen, das Meister Eckehart ein überseiendes Nichtsein genannt hat, weil es jenseits all unserer Vorstellungen thront.
Das alles ging mir, wie Wolkenschatten und Sonnenschein einander über die Erdflur hin jagen und folgen, durch den Sinn, indes Kriehuber im Turm die Orgel spielte. Als er mit gewaltig geballten Akkorden endigte, sah ich auf. Rings ruhte das Land im Sonnenschein, das Land, das uns soeben die Ernte geschenkt. Rings um die Eichenhöh lagen Hütten und stattliche Höfe, ging das Vieh auf den Weiden. Und um mich herum standen die Menschen, die eben Zeuge gewesen, wie einem Kind der Name beigelegt worden. Sie hatten alle die Köpfe gesenkt und auf manchen Wangen sah ich Tränen. Ich sah die Maurer mit 395 frisch gewaschenen, weißen Schürzen stehen – und in ihren Mienen ebenso tiefe Ergriffenheit wie bei uns Siedlern selbst. Ich mußte in diesem Augenblick an die würdigen Seelenhirten denken, die mich vor einem Jahr besucht hatten . . . Was hätten sie wohl zu diesem wahrhaften Gottesdienst gesagt, den wir eben gefeiert?
Und ich mußte endlich an das letzte Gebet denken, das Urs Brandt vor Giers und Herrn Florian gesprochen . . .
Wir haben nun den großen Bruch zwischen Eichen- und Ulenhöh aufgeteilt. Hannemann hat ein Stück genommen, Rothkopf, dessen Frau im Vorjahr auch ein Kind geboren, bekam einen größeren Anteil, ebenso Wießbach. Petergen braucht auch ein weiteres Gebiet. Inmitten des Bruchs aber bauen wir an günstigen Stellen neue Höfe, vier an der Zahl, jeder so gelegen, daß die zugehörigen Felder ringsherum liegen und leicht zu erreichen sind. Die beiden Diener Kalckreiths wollen nun auch heiraten und so werden sie für ihre jahrelangen treuen Dienste den gerechten Lohn ernten, indem sie als Bauern in zwei der neuen Höfe einziehen werden. Sie haben sich, als sie einmal in der Stadt bei der Artamanengruppe zu Besuch waren, mächtig in ein paar der jungen Mädels verliebt und damit kam für die beiden, die schon vermeinten, als alte Hagestolze ihr Leben auf Ulenhöh zu beschließen, mit einmal die Sehnsucht nach eigenem Hof und Boden. Sie haben lange gezögert, bis sie mit ihrem Anliegen herausrückten. Denn es erschien ihnen als arger Undank, ihren Oberst zu verlassen. Bis Kalckreith von der Sache Wind bekam und sie zu mir brachte, mit der Bitte, ihnen zwei Höfe zuzuweisen. Vorher aber hat er sie mächtig beschimpft, daß sie sich nicht früher mit ihrem Wunsch an ihn gewendet hätten!
Die beiden andern Höfe werden wohl von Klas und dem jungen Rothkopf besiedelt werden. Ich glaube, die zwei, so jung sie auch noch sind, werden doch auch bald daran denken, sich Frauen zu nehmen, und es wäre ja nur recht so. Ich habe auch schon so ungefähr meine Ahnung, wer es sein wird . . . 396 Kriehuber hat in der Orgelbauerei, bei der er ehemals arbeitete, zwei neue Register bestellt, die nun im Herbst noch eingebaut werden. Er war selbst hingefahren, um die Anfertigung zu überwachen.
Da war er nun in die alte Werkstätte zurückgekehrt, an der er ein Menschenalter tätig gewesen, bis der Arbeitsmangel seinen Herrn zwang, ihn zu entlassen. Dann hatte er sich zwei Jahre lang auf den Straßen umhergetrieben, immer mehr verlotternd, hungernd, ohne Hoffnung. Bis ihn der Zufall, ein ganz gemeiner Zufall, Herbert Mertens in den Weg führte . . . Er kam nach Neulandhof. Er begann wieder, eine Orgel zu bauen. Nach teilweise ganz neuen, nach Herberts und seinen, Grundsätzen und Gedanken. Fast ohne Hilfsmittel. Er wurde daneben zum Landbauer. Er lebte sich, ohne es recht zu merken, in die Weise von Neulandhof ein . . . Die Orgel gedieh, das Weihemal wuchs aus dem Grund – aus neuer Erde . . . Ringsum wohnten Leute, die so aussahen wie andere auch und doch alle neue, gewandelte Menschen auf neuer Erde waren. Alles schien ihm selbstverständlich, so allmählich war es geworden . . . Und eines Tages bestieg er den Zug, fuhr geradenwegs nach Württemberg, in das kleine Nest, zu seinem ehemaligen Herrn . . . Da stand er mit einmal wieder in der alten Welt, die unverändert geblieben war seit Jahr und Tag . . . Merkte plötzlich, daß er, der Alte, der sich längst abgeschlossen und fertig geglaubt, sich ganz und gar gewandelt habe, ein neuer, anderer Mensch geworden sei . . . Oder nein, vielmehr so war es: er war jetzt erst der echte, richtige Alois Kriehuber geworden, durfte der sein, der er seit je war, sein wollte, der aber in der krummen, verschrobenen Welt nie sich entfalten konnte . . . Und mit einmal sah er . . . Sah bewußt, mit klarem Blick, was Neulandhof bedeutete . . . und die Welt der andern erschien ihm nun so klein, so nichtig und falsch, so erbärmlich klein . . . Er kam aus dem Verwundern nicht mehr heraus. Und die andern hinwieder verstanden ihn nicht . . .
Bis auf einen: das war der Vitus Zweifel, der sechzehnjährige 397 Lehrling in der Orgelbauerei. Der hörte immer achtsamer zu, was Kriehuber erzählte, bekam immer größere Augen, und als Kriehuber wieder abreiste, fuhr er mit ihm und ist nun bei Kalckreith als Knecht eingetreten. Einstweilen aber hilft er noch beim Einbau der neuen Pfeifen mit und wundert sich täglich über all das Neue, das ringsum sich abspielt . . .
Ja, wir haben es alle nicht gemerkt, wie wir uns gewandelt haben – besser gesagt, wie wir das Neue, das in uns war, an den Tag gewirkt und gelebt haben . . . Und das, denke ich, ohne Stolz und Überhebung sei es gesagt, ist der eigentliche und ewige Gottesdienst von Neulandhof . . .
Es ist eine lange Zeit vergangen seit diesem letzten Satz; und es berührt mich eigenartig, daß ich, daran anschließend, ein kurzes und doch wieder so bedeutungsvolles Wort schreiben darf: Inge hat unser zweites Kind geboren . . . Es ist wieder ein Junge und wir wollen ihn Eckart nennen. Die Namensgebung aber soll mit einem anderen Fest zusammenfallen: mit der Vollendung des Weihemals . . .
Es ist Sommer. Inge sitzt wieder im Obstgarten, Giers Hammer spielt, von Hasso sorglich bewacht, zu ihren Füßen. Auf den Feldern reift die Ernte. Oben auf der Eichenhöh arbeiten die Werkleute an der Weihestatt, und wir alle helfen, solange wir jetzt noch etwas freie Zeit haben, aus Leibeskräften mit. Dr. Mertens ist vollauf beschäftigt, die Bilder, die im Weihemal hängen sollen, zu rahmen. Er hat in selbstloser Weise eine große Zahl seiner schönsten Radierungen, Stiche und Schnitte zur Verfügung gestellt. Thiessen hat zwei Bilder geschenkt: die Strandklippe und das Heidebild, das erste, das er auf Neulandhof gemalt. Dazu ein paar kleinere. In der Eingangshalle soll nun auch mein Leuchterengel seine endgiltige Stelle finden. Als Weiser für alle Siedler . . .
Nach der Ernte wollen wir ein großes Fest begehen. Und alle, aber auch wirklich alle Siedler freuen sich auf diesen Tag. Denn 398 das Weihemal ist für uns, deutlicher mit jedem Jahr, zum Sinnbild unseres Weges geworden, der uns jetzt erst wirklich bewußt zu werden beginnt. Es ist eine fieberhafte Geschäftigkeit über den Menschen, als könnten sie den Tag kaum mehr erwarten.
Inzwischen war ich einmal mit unsern beiden Waisenkindern in der Stadt im Waisenhaus. Ich tat es in ganz bestimmter Absicht: denn wir brauchten für Ulenhöh und für die neuen Höfe im großen Bruch ein paar Jungknechte. Und ich hatte richtig gerechnet: den begeisterten Schilderungen Hildes und Marthes war es wohl zuzuschreiben, daß sich drei Burschen entschlossen, zu uns herauszukommen und es mit dem Landleben zu versuchen. Der Seelenhirte der Anstalt war wütend, aber es half ihm ebensowenig wie bei den Mädchen.
Auch die Artamanen haben Arbeitskräfte nötig; aber die haben aus den Reihen ihres Bundes junge Männer bekommen. Wie viele Menschen leben nun schon auf Neulandhof!
Herbert und Kriehuber proben und stimmen die Orgel. Der Singechor hat sogar während der Erntezeit ein paarmal geübt – und das ist den geplagten Leuten hoch anzurechnen. So liegt über allen Höfen festliche Erwartung.
Am Morgen weckte uns brausender Orgelklang. Ich trat ans Fenster: über dem weiten Land lag erster Sonnenschein, Tau netzte die Gräser, am Himmel standen kleine, rosa getönte Wölkchen. Und über Moor und Bruch, über Wald und Äcker, Wiesen und Weiden, über die Höfe hin scholl es weit: Wacht auf – es nahet gen den Tag . . .
Wie oft hatte ich die Weise gehört, wie oft sie gesungen! Aber niemals noch hatte sie mich also ergriffen wie nun. Nahte uns wirklich ein neuer Tag? Frei von irdischer, frei von geistig-seelischer Verknechtung?
Das Spiel ging in ein kurzes Präludium über, dann setzte, über dem Thema des Chores, eine Fuge ein, türmte sich hoch und 399 endete in machtvoll geballten Akkorden. Herbert und Kriehuber durften mit ihrem Werk zufrieden sein. Ich glaubte, ein Riesenorchester zu hören . . . Und wie wird die Orgel erst klingen, wenn einmal alle Register eingebaut sind!
Als ich vors Haus trat, kam mir unser »guter Rat« entgegen, der am Vorabend des Festes angekommen war und sogar einen Herrn von der Landesregierung mitgebracht hatte. Er hatte das Orgelspiel auf einem Gang durch die Felder angehört. Nun drückte er mir die Hand, immer wieder, und ich sah Tränen in seinen Augen.
Als sich die Sonne dem Mittag zuwandte, ertönte neuerlich die Orgel mit rufenden Fanfarenklängen. Von allen Höfen wanderten die Siedler der Höhe zu. Unsere Gäste aus der Stadt, darunter auch manche Artamanen, gingen mit uns. Wir trugen alle festliche Kleider, die Jungen hatten Blumen in den Händen oder sie schwenkten grüne Baumreiser.
Der vertraute Bau, zu dem wir alle die Grundsteine gelegt, den wir unter unsern Händen wachsen und werden gesehen – er erschien uns jetzt mit einmal neu, als stünden wir das erstemal vor ihm. Denn nun, da er seiner Bestimmung übergeben werden sollte, wurde er in der Tat zu etwas Neuem: es war, als trete ein heimlich gehegter Teil der Seele plötzlich in greifbarer Gestalt vor uns hin und es erscheine uns als etwas Fremdes im Licht des Tages, was wir bisher nur dunkel unbestimmt geahnt, gefühlt. Und es war vielleicht keiner, der nicht eine leise Wehmut, eine seltsame Trauer darum empfand. Sie schwang als dunkler Unterton auf dem Grund unserer Festesfreude mit und gab ihr wohl erst die letzte Weihe und das zitternde Mitschwingen tiefster Gefühle.
Da ragte nun das mächtige Neuneck, die gewaltige Ringmauer, vor uns auf, teils aus dem nordischen Gestein der Findlingsblöcke, teils aus Backstein gefügt. Wuchtig stieß, den zwei Eingangspforten gegenüber, der Turm empor. Die Tore waren noch verschlossen – kunstvoll geschmiedetes Gitterwerk, nach dem Entwurf 400 Thiessens. Zu seiten der Tore aber und auf dem Mittelpfeiler sind in die Mauer drei große Tontafeln eingelassen, in die der Maler in eigenwillig herber Fraktur drei Sprüche eingegraben hat. Auf der mittleren Tafel steht die tiefste Erkenntnis der deutschen Seele:
»Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.«
Links liest man das Wort Meister Eckeharts:
»Du sollst nichts von Gott erkennen wollen, denn Gott ist über allem Erkennen. Er ist etwas ganz Überschwengliches, er ist ein überseiendes Nichtsein.«
Und auf die rechte Tafel schrieben wir den Satz Immanuel Kants:
»Religion ist Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, das heißt als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst, ohne daß Furcht und Hoffnung zum Grunde gelegt werden dürften.«
Diese Sprüche und die Folgerungen aus ihnen sollen unser Leben auf Neulandhof geleiten und beschützen. In ihnen liegt beschlossen, was deutsches Denken über Gott und Sein erkannt. Sie stehen stracks jedem fremden, morgenländischen Sklavengeist und ‑glauben entgegen, dem wir damit Absage tun.
Ich öffnete die bekränzten Tore und wir betraten den Innenraum des Weihemals. In der Eingangshalle ragt nun mein Leuchterengel aus der Wand – Weiser und Sinnbild unseres Weges in die Zukunft. Später wird Thiessen da ein großes Fresko malen. Einstweilen hängt hier sein Heidebild und die Strandklippe, um die die Brandung tost.
Und nun kamen wir in den Hof. Rings um ihn zieht sich der offene Rundgang, der einige Holzbänke und einzelne Sitze enthält. An den Balkenpfeilern werden sich später Klettersträucher emporranken.
In der Mitte des Hofes liegt der große Findlingsblock aus nordischem Granit, das Sinnbild der Erde und unseres Herkommens. Und hinter ihm ragt schwer und trotzig der vierkantige 401 Turm auf, der die Orgel birgt. In seinen Außenwänden sind längliche Mauerschlitze angebracht, durch die das Spiel frei ausklingt ins Weit der Heide.
Es war tiefe Stille, die Stille der Andacht und Weihe, über allen, die nun im Hof standen und das vollendete Werk und seinen Sinn empfanden. Da trat ich an den großen Felsblock, grüßte unsere Gäste und Siedler mit erhobener Hand und sagte ihnen von der Bedeutung unseres Baues. Ich will die Rede hier zu meinem Gedächtnis aufzeichnen.
»Als ich vor Jahren in die Heide kam und meinen Hof den Neulandhof nannte, als dann später dieser Name auf unsere ganze Siedlung überging, vermeinten wir damit nichts anderes, als daß wir eben neues Land, neuen Boden für Äcker und Weiden, gewonnen hätten.
Später erst erkannten wir, daß hier mehr geworden sei. Denn aus der neuen Erde kam ein neues Glauben, ein neues Hoffen. Heute wissen wir: Erde und Mensch, Erde und Glaube, Mensch und Erde und Staat gehören zusammen. Zusammen werden sie alt, zusammen erneuen sie sich wieder. So ist unsere Siedlung wahrhaftig ein neues Land, neue Erde geworden. Denn seht:
Land, Erde, seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden brach und unfruchtbar, ist hier unter unserm Pflug fruchtbar geworden und ernährt uns. Und Schritt für Schritt ging damit unsere innere, seelische Erneuerung, wir lernten neue Ziele glauben, wir lernten einen neuen, im Grund freilich uralten Glauben bekennen, der so alt ist wie unser Volk selbst: den Glauben, daß jeder Mensch selbst vor seinem Gott zu stehen hat, selbst für sich einstehen muß, ohne fremde Hilfe, ohne fremden Mittler, ohne eine öffentliche Gemeinschaft. Es ist ein stolzer, ein heldenhafter Glaube. Ihn hat uns die neue Erde geschenkt, die wir auch ohne fremde Hilfe, nur auf uns selbst gestellt, bezwingen lernten, die sich uns als gute, freundliche Mutter erwiesen hat, wie unser Gott sich uns als ein allzeit gütiger Vater erzeigt hat.
Und wir haben weiterhin erkannt: beides muß Hand in Hand 402 gehen: politische Erneuerung, innere, seelische Erneuerung im Glauben und Geist. Sonst bleibt alles ewig halb, ewig Stückwerk.
In solchem neuen Geist und Glauben haben wir dies Weihemal errichtet. Es enthält keine Zeichen, es ist keine Kirche, kein Tempel. Aber wir haben in ihm alles zusammengetragen, wessen wir mächtig sind, alles, was die höchsten Gedanken unseres Volkes über Gott und Ewigkeit werden ließen. Denn die Bilder und Dome, die Bilder aus Holz und Stein, die unsere Voreltern von Heiligen, von Gott und der Gottesmutter geschaffen haben – wir haben sie nicht aufgestellt, weil das Äußere, das sie scheinbar bedeuten, auch uns noch etwas besagte; sondern des Geistes wegen, aus dem sie geschaffen wurden – und weil dieser Geist, auch wenn er heute unter anderen Zeichen redet, der nämliche geblieben ist . . . Und wir haben Bilder von Landschaften, wir haben Rembrandt und Thoma, Dürer und Thiessen aufgestellt, weil aus jedem ihrer Bilder der nämliche deutsche Geist spricht, der nur in verschiedenen Zeiten verschiedene äußere Worte und Zeichen wählte, wählen mußte . . .
Hier, in dies Weihemal, werden unsere Kinder an warmen, sonnendurchfluteten Sommertagen, wenn das Mittagsschweigen über dem unendlichen Weit der Heide liegt, mit leisen, zögernden Schritten eintreten, werden von Bild zu Bild gehen, werden vermeintlich nur das Gegenständliche aufnehmen und fassen und dabei doch unvermerkt den deutschen Geist, der auch in ihnen lebendig ist, zu Tag und Tat wecken und stärken – ohne es zu wissen. Und das ist gut so! Denn aus diesem Geist werden sie dereinst blind und unfehlbar handeln, wenn die Stunde es von ihnen fordert – wenn sie vor Entscheidungen gestellt sind für ihr eigenes Leben, für das Leben des Volkes.
Und von diesem Turm aus wird die Orgel übers Land klingen. Sie wird Bach und Reger, Mozart und Beethoven und Bruckner spielen. Ihre Klänge werden den Pflüger am Pflug, den Schnitter in der Ernte überwehen; sie werden das Kind überrauschen, das seinen Namen empfängt, das junge Paar, das sich die Hände 403 fürs Leben reicht. Sie werden den Trauernden Trost singen, wenn wir einen Toten der Erde übergeben.
Und all das, Bilder, Dome, Musik, Arbeit und Ruhe – das ist unser lebenslanger Gottesdienst.
Wir glauben es fest, daß unter diesem Zeichen auf Neulandhof nie eine wahrhaft üble Tat geschehen kann . . .
Unser harrt die größte Aufgabe, die je einer Zeit, einer Menschengemeinde, einem Volk gestellt wurde. Wir sollen der Zukunft ein neues Menschentum schenken, ein neues Menschentum vorleben. Wir sollen den Schritt tun – weg vom Gegebenen, Überlieferten – hinaus ins ungewiß Bodenlose. Wie jener Leuchterengel. Die Fackel vorantragen. Weg von allen überkommenen, fremden Bekenntnissen, die sich so gerne als ›Religionen‹ gebärden, den Krücken der Schwachen, hin zur unmittelbaren Gewißheit Gottes. Wir müssen uns wieder, wie es einst Meister Eckehart forderte, voll tötlicher Zuversicht in den wilden Abgrund Gottes werfen. Selbst! Und allein!
Aber das können nur Menschen mit eigenem Innentum, nicht Massenmenschen. Keine Nichtsmenschen. Auch darum unsere Verpflichtung vor den Kommenden. Wir müssen ein neues Geschlecht heraufführen.
Ein neues: nicht, weil es zeitlich nach uns kommt, sondern weil es mit neuen Augen in eine neue Welt schauen soll. Vor diesem Geschlecht sollen Dinge und Zustände in Vergessenheit sinken, unter denen Jahrtausende gelitten haben. Die selbstgeschaffenen Götzen und Tyrannen, zu denen man aus der Knechtfurcht des innerlich Leeren und Haltlosen betete, von denen man sich das irdische Leben vergällen und zerstören ließ, um sich ein jenseitiges zu retten, vor dem sie einem Angst einjagten – die Angst, die erst jenen Tyrannen ihre Macht gab.
Auch wir wissen oder glauben zumindest mit Inbrunst, daß mit diesem Leben nicht alles zuende sei. Aber wir wollen vor einem anderen Leben keine Sklavenfurcht empfinden, sondern der Weisheit und Güte eines Gottes vertrauen, der uns dieses Leben 404 geschenkt hat, nicht, daß wir es in klappernder Angst vor einem andern uns selbst verbittern, sondern daß wir ihm freudig dienen, nach der uns eigenen Art, die er selbst uns einerschaffen hat. Und nach keiner andern und fremden.
Und darum sind die unsere schlimmsten Feinde, will sagen: die schlimmsten Feinde jener kommenden Gemeinschaft, die ihr Menschentum ersticken in sinnloser Lust und im Rausch, die von Fest zu Fest eilen und das Auge krampfhaft wegwenden von den Tiefen des Lebens, die jede Regung der Seele in schalem Gelächter betäuben, in hohler, alberner Lust und Scheinfreude.
Wir müssen immerzu mehr an die Zukunft als an die Gegenwart denken. Der Steuermann sieht voraus. Und wir müssen alle Steuermänner sein, die den Kommenden den Weg bereiten. All unser Tun gilt der Zukunft. Bei jeder wichtigen Handlung müssen wir uns fragen: wie werden ihre Folgen für die Kommenden sich auswirken? Lenken wir ihr werdendes Leben nicht in eine falsche Bahn? Jeder von uns, ob er nun Kinder hat oder nicht, ist ein Grundstein, der das Haus der Zukunft trägt. Das verpflichtet, das bindet! Eine ungeheure Verantwortung liegt auf uns allen. Und nur, wer sich ihrer bewußt ist, wer sich nach ihr richtet und nach ihr lebt, erfüllt seine Pflicht gegenüber der Zukunft, die einzig noch – Zeit ist, einzig noch uns gehört. Nur solche Menschen leben wahrhaftig, haben Teil am Leben des Volkes, der Gesamtheit. Nur solche Menschen, mag ihr Tun auch noch so bescheiden sein, sind nicht mehr wegzudenken aus unserem Volk-Sein.
Der Weg der Nation ist ein Opfer. Jedes Geschlecht erntet das Opfer der früheren, sein eigenes Leben ist ein Opfer ohne Erfüllung, das erst wieder die Kommenden ernten. So wird das Leben der Nation zu einer großen Schicksalsgemeinschaft durch die Jahrhunderte hin. Dankbar beuge ich mich vor den Früheren, deren Leben und Opfern mein heutiges Leben ermöglicht und gestaltet hat, und ich fühle mich voll der Verantwortung vor den Kommenden, deren mahnenden Blick ich auf mir ruhen weiß. 405
All dies und sein Ausdruck im äußeren Leben soll unser Weihemal sein. Es soll uns helfen, unsere Pflicht vor Gegenwart und Zukunft zu erfüllen, indem wir das Erbe der Vergangenheit auswirken in einen neuen Tag. Wir sind uns bewußt, daß wir wenigen Einzelnen, die hier auf Neulandhof leben, nicht das Leben des ganzen Volkes wandeln und neugestalten können. Aber jeder hat seine Pflicht an dem Ort zu tun, an den ihn das Schicksal oder Gott gestellt hat. Hat sie zu tun, so gut er es vermag. Und zudem: der kleine Stein, der in eine ruhende Wasserfläche geworfen wird, läßt schließlich den ganzen Spiegel des Sees in Wellenkreisen erzittern und schwingen . . .
Zum erregenden Mittelpunkt einer solchen Wellenbewegung soll nun auch, das hoffen wir, Neulandhof und sein Weihemal werden. Wir hoffen es – nicht, weil wir uns und unser Leben für so vorbildlich und mustergiltig halten, sondern nur darum, weil wir alle vom ersten Tag an ehrlich bestrebt waren, das zu tun, was wir für unsere Pflicht an unserem Volk halten. Und so möge, wie die Musik der Orgel von diesem Turm aus nach allen Seiten ins Weite schwingt, auch die Kunde und das Wissen von Neulandhof, die Kunde von einer neuen Erde, nach allen Richtungen unseres Heimatlandes dringen, die Herzen aufrufen und wachrütteln zu dem Glauben, daß wir einem neuen Tag, einer neuen wahren Zukunft entgegengehen!«
Indes ich den Arm zum Gruß erhob, setzte die Orgel ein – Herbert und Kriehuber begannen Regers Variationen über ein Mozartthema.
Ich aber führte, zusammen mit Dr. Mertens und Oberst von Kalckreith, unsere Gäste und die Siedler nun durch die Räume des Weihemals. Während wir durch den Rundgang schritten, der sich von der Eingangshalle beidseits bis zum Turm hinzieht, wo das Orgelmanuale steht, umflutete uns von ringsher die Musik. Sie war um uns und über uns, indes wir in den einzelnen kleineren Räumen, in die der Rundgang durch die auch ins Innere einspringenden Eckpfeiler geteilt ist, die Bilder und Radierungen, 406 die Holzplastiken besahen und die Sprüche lasen, die in großer Schrift an den Wänden stehen – Sprüche von Goethe, Kant, Adolf Hitler. So wurde alles zu einem einzigen, großen Ganzen: die ragenden Dome, die Bilder von Dürer, Altdorfer, Wolf Huber, David Caspar Friedrich, die Holzfiguren der unbekannten alten Meister, die Worte unserer Großen, die Musik. Und als wir uns wieder im Hof zusammenfanden, gab uns die riesige Schlußfuge Meister Regers das Geleite. Ich glaube, ich darf es sagen: ich habe noch nie in den Gesichtern so vieler Menschen derartig tiefe Ergriffenheit gesehen wie damals. Wir dürfen mit unserem Werk zufrieden sein.
Aber nun trat in den Kreis, der sich im Hof um den Malstein gebildet hatte, Inge mit dem Kind auf den Armen. Ich stellte mich an ihre Seite, und Dr. Mertens und der Oberst, die Paten, ebenso. Und so legten wir dem Kind im Angesicht der ganzen Gemeinde seinen Namen bei: Eckehart. Leise klang das Spiel der Orgel dazu. Es gab uns das Geleit, als wir das Weihemal verließen, als wir, jeder nach seinem Hof, unsere Wege nach Nord und Süd und Ost nahmen.
Am nächsten Tag brachten wir unsere Gäste in die Stadt zurück. Daß die Verwandten unserer Siedler, Inges und Genovevas Mutter, die Eltern Heideckes, und so manch andere, unser hohes Fest in beglückter Anteilnahme miterlebt, hat mich gefreut, aber nicht gewundert. Aber daß der Herr von der Landesregierung, der kaum auf dem Boden unserer Weltanschauung steht, trotzdem in ein beinahe fassungsloses Staunen, ja geradezu in helle Begeisterung geriet, das hatte ich nicht erwartet. Um so mehr hat es mich erfreut.
In mir aber ist seit dem Tag auf der Eichenhöh eine seltsame Leere geworden. Es ist mir, als sei mit der Vollendung des Weihemals ein Abschnitt meines Lebens abgeschlossen . . . Ja, im Tiefsten sagt mir eine Stimme, daß damit eigentlich mein Leben überhaupt – – vollendet sei, auch wenn ich vielleicht noch zwanzig, dreißig Jahre vor mir habe. Denn – es kann kaum mehr 407 etwas Neues für mich kommen. Unsere Siedlung kann wachsen, es können mir noch Kinder geboren werden – aber all dies ist nichts wesentlich Neues mehr . . .
Mag sein, daß auch der Herbst, der nun mählig in die Heide einzieht, an solchen Gedanken seinen Anteil hat. So ging ich tagelang wie verloren in der Heide umher, meist allein, manchmal von Hasso begleitet. Vielleicht haben die unten, in der Tiefe, meine Gedanken gefühlt – vielleicht haben meine Gedanken sie gerufen, ich weiß es nicht. Aber an einem etwas neblig dunstigen Morgen im späten September sah ich mich plötzlich wieder Hein Lünemann gegenüber, der an der nämlichen Stelle saß, wie damals, da er mir das erstemal begegnet war . . .
Er nickte mir gemütlich zu, nahm die Pfeife aus dem Mund und meinte gelassen:
»Na – Alter, das hast du gut gemacht, seit wir uns das letztemal gesehen haben! Alle Achtung! Wir haben uns alle bannig gefreut, daß es doch noch Kerle gibt, bei euch da heroben . . . Dein Neulandhof gefällt uns nicht schlecht, na – und das mit dem Turm da oben kann sich auch sehen lassen . . . Die Orgel hört man bis zu uns hinunter . . . Hasts fein gemacht!«
»Ihr seid also zufrieden mit uns, Hein?«
»Ja, Alter . . . Du hast was Ordentliches hingestellt. Jetzt sind wir drunten schon wieder still geworden und wollen dir nicht mehr ins Fenster gucken . . .«
»Könnt ihr ruhig tun, Hein. Manchmal ist mir, als wäre es eine bessere Zeit gewesen, da ich eure Gesichter an den Fensterscheiben fühlte . . . Weißt du – eine Zeit, die noch eine wirkliche Zukunft vor sich hatte . . . Aber heute steht es so mit mir, daß eigentlich nichts Neues mehr für mich kommen kann . . . daß ich, genau besehen, schon zu euch gehöre . . .«
»Jetzt redest du mal wieder wie ein richtiger Mensch. Das heißt wie einer, der nicht weiter sieht als bis zu seinen Stiefelspitzen . . . Daß es jetzt mit Deutschland wieder anfängt, vorwärts zu gehen, das ist dir wohl gar nichts, he?« 408
»Ja, das schon, Hein! Aber es bleibt noch genug Arges und Übles! Es geht bei uns noch immer alles drunter und drüber – wir sind so uneins wie je – und das nützen unsere Feinde!«
Lünemann winkte leicht mit der Hand ab: »Das ist mir ganz schnuppe. Und den andern auch. Wir da unten wittern nur die Dinge, die aus dem Blut kommen, aus der Tiefe. In der wir sind – und ihr. Mit euren Wurzeln wenigstens. Und was nicht aus den Tiefen kommt – davon fühlen und wissen wir nichts, denn es ist fremd und ganz gleichgültig . . . Das ist so Schaum an der Oberfläche, weißt du, Dreck, der beim ersten ordentlichen Wind wieder weg ist . . . Aber daß ihr euch endlich an unsern alten Marschall erinnert habt, das hat uns ehrlich wohlgetan, kann ich dir sagen! Habt doch noch einen Schuß Ehre im Leib . . . Na, und der Neue, drunten in München, der ist wohl auch nichts, was?!«
»Wie kannst du so reden! Der ist unsere ganze Hoffnung!«
»Siehst du? Unter uns ist einer, der ist sein Kamerad gewesen. Ist neben ihm gefallen. Der sagt immer: daß die Kugel mich erwischt hat statt ihn, das dank ich Gott jeden Tag . . . Paßt auf, der zieht sie noch alle aus dem Dreck! Der wirds schmeißen! Der ist so Einer, der aus den Tiefen kommt . . .«
»So glaubst du das wirklich, Hein?! Oder weißt du's gar am Ende? So red doch, Hein!«
»Glaubst du's denn nicht selber? Na also! Wirsts sehen. Bald!«
»Gebs Gott! Ist hoch an der Zeit! . . . Aber sag – willst du mich jetzt nicht einmal zu den Kameraden mitnehmen, wie du's mir damals versprochen hast? Nun bin ich bereit dazu . . .«
»Das hätte jetzt nicht viel Sinn mehr . . . Du könntest bei uns nimmer sehr viel lernen. Das Wichtigste, was wir von dir wollten, hast du schon getan: deine Pflicht nämlich. Etwas Anständiges hingestellt . . . Tu's weiter! . . . Na, und die andern besinnen sich jetzt auch schön langsam auf ihre Pflicht . . . Nun ist uns nicht mehr bang um euch . . .« 409
Jetzt hob sich der Frühwind und blies eine Nebelschwade vom Bruchwald her gegen den Graben, daß Hein Lünemann ganz darin verschwand. Und als der Dunst sich wieder verzog und die Sonne durchbrach, war die Stelle leer, wo er gesessen. Schade – ich hätte ihn noch gern um dies und das gefragt . . .
Aber darin hat er recht: es war undankbar von mir, nur an mich selber zu denken. Ist vielleicht auch im Kleinen, in meinem Kreis, das Meiste getan –: das Große und Größte steht ja noch aus. Und das erst wird ja das wahrhaft Neue sein. Ihm haben wir entgegenzuleben. Aber dies Neue, das noch unter der Schwelle der Zukunft zögert, erfüllt mich mit drängender Unruhe, die mich das Nahe kaum gewahren läßt.
Inge, mit ihren klugen, scharfen Augen, hat das wohl gefühlt. Und sie hat die Undankbarkeit, die darin liegt, die Undankbarkeit gegen sie und das Glück, das sie mir geschenkt – verstanden und verziehen . . . Denn sie weiß, daß sich der Blick des Mannes nicht im Nahen befangen läßt, daß er das Behagen, ja das Glück der Gegenwart nur zu leicht als etwas Selbstverständliches hinnimmt. Denn der Mann lebt eigentlich nur in der Zukunft, die Frau in der Gegenwart und Vergangenheit. Das Wort: »Weißt du noch, wie das war –« ist ein weibliches Wort. So fügen sich Mann und Frau erst zur ganzen Fülle der Zeit, des Lebens, und es kann keinem Teil aus seiner Art ein Vorwurf gemacht werden.
Ich bin vor einer Woche mit Inge in der Stadt gewesen. Obwohl der Besuch nur geschäftlichen Dingen galt, hat er doch für uns alle ein ganz anderes, schönes Ergebnis gezeitigt.
Inges Mutter erzählte uns von einer Gruppe merkwürdiger junger Schauspieler, die zur Zeit in der Stadt in Schulen auftrete und Mysterienspiele, Schwänke von Hans Sachs und andere alte Spiele aufführe. Sie nennen sich »Hamburger Spielschar« und es sei etwas ganz Außerordentliches, was sie leisteten. Wir konnten durch ihre Vermittlung einer Aufführung 410 beiwohnen. Zuerst kam ein altes Weltschöpfungsspiel. Die Darsteller – ein paar junge Männer von kaum mehr als zwanzig Jahren, bartlose Milchgesichter, dazu ein paar Mädchen oder junge Frauen – trugen schlichte weiße und bunte Leinenkittel, sie hatten völlig auf Schminke und Maske verzichtet, es gab keine Bühnenbilder – ein einfacher dunkler Vorhang hing an der Wand des Schulsaales. Und als Zuschauer saßen da Jungen von elf bis achtzehn Jahren – sicher alle zu Schabernak und verständnislosem Lachen bereit – aber sie lauschten, ergriffen und gebannt wie wir Alten. Da stand ein junger, bartloser Mensch in weißem Mantel als Gottschöpfer vor uns: sein Gesicht war toternst, die Gewalt des Willens ballte sich in die Hände, die schwer und wuchtig, zitternd beinahe, in äußerster Anstrengung, in die Lust griffen und vor unseren Augen rundwölbig die Sonne formten, die Erde, den Mond. Und alle überlief ein Schauer – der junge Mann dort war wirklich Gottvater, der aus dem Urstoff die Gestirne schuf und belebte, sie hinausstieß in leeren Raum zu unbekanntem Schicksal . . . Ich bin sicher kein Freund des alten Bibelberichtes; aber da, in dem eigenständigen Volksspiel, dargestellt in so meisterhaft großer Art, war Kunst und echte Gewalt. Das hatte nichts mehr zu tun mit dem alten Judenbuch.
Dann kam Hans Sachsens »Fahrender Schüler im Paradeis.« Jetzt entfalteten die zwei Schauspieler, die eben als Eva und Teufel uns alle in Bann geschlagen, eine übermütig tolle Laune, trieben mit dummgläubiger Einfalt ihre Possen und rissen alle zu frohem Gelächter mit.
Mein Entschluß stand fest: die Hamburger mußten bei uns spielen – im Weihemal! Ich unterhandelte mit dem Führer der Gruppe – er war der Einladung herzlich froh – nach drei Tagen sollte ich die kleine Gesellschaft holen lassen.
Auf dem Heimweg sagte ich zu Hilde, die mit uns gefahren war: »Siehst du, Kind, das war ein Gottesdienst. Nicht, weil das, was gespielt wurde, so ungefähr auch in der Bibel steht! 411 Aber weil du ergriffen warst, weil wir alle erschüttert waren . . .«
Vier Tage blieben die Hamburger bei uns. Jeden Abend mußten sie spielen und jedesmal waren alle Siedler da. Wir beleuchteten den Hof des Weihemals mit Fackeln, Orgelmusik umrahmte das Spiel. Und über uns funkelte der Herbsthimmel. Es war eine Bühne, wie sie die Hamburger noch nirgends gefunden. Aber sie spielten auch wie noch nie!
Wie gewaltig war es, wenn in der Nacht des Hofes, von rotgelbem Flammenschein überglost, Gottvater die Welt schuf, wenn das verstoßene Menschenpaar weinend ins Dunkel verschwand.
Wir sahen einen Totentanz aus dem 17. Jahrhundert. Aus dem Verborgenen her klang das wehmütig lockende Geigenspiel des Todes. Und er ruft die Menschen auf: aus den schwarzen Bögen des Laubenganges kam der Soldat, der den Krieg tapfer bestanden hat und nun doch dem Tod begegnen muß; es kam der Bauer, sorglich an den Fingern herrechnend, wie er den Acker bestellt und bald ohne Schulden stehen werde; es kam die junge Mutter mit dem Säugling an der Brust; der König, der Arzt, der Priester – und alle müssen dem dunklen Rufer folgen. Und als am Schluß der Tod langsam nach vorne schritt, den bannenden Blick auf uns gerichtet: »Nun ist an euch die Reihe –!« . . . da war keiner, dem es nicht eiskalt über den Rücken lief . . .
An zwei andern Abenden wieder lachten wir herzlich über Hans Sachsens lustige Schwänke, freuten uns an der quellfrischen Reinheit unserer Märchen, die in geschickter Bearbeitung vor uns lebendig wurden.
Diese Abende waren Feste für ganz Neulandhof und für die Spielleute selbst. Sie überboten ihre Leistungen von Mal zu Mal – sie wären am liebsten ganz bei uns geblieben. Nach jeder Aufführung waren sie in einem andern Hof zu Gast – und als sie schließlich doch von uns Abschied nehmen mußten, fuhren sie in einem mit allen Herbstblumen überschütteten Wagen zur Stadt zurück und mußten uns immer von neuem geloben, übers Jahr wieder zu uns zu kommen. 412
Am meisten aber freut es mich, daß diese Spiele und die Musik, die Herbert dazu auswählte, auf alle Siedler den gleichen, tiefen Eindruck machten. Der Oberst und Dr. Mertens hörten ebenso gebannt zu wie mein Hinrichs und Frank, wie die zwei Kögemanns oder Rothkopf und Kleebinder und Hannemann. Das Echte und Gute wirkt eben auf alle Menschen unseres Blutes.
Thiessen war völlig wie verwandelt. Den Führer der Spielschar malte er gleich am zweiten Tag als Gottschöpfer, wie er mit nervigen Händen vor sich in den Raum greift und die Sonne formt, eine der jungen Frauen, wie sie als Prinzessin sich über den Brunnen beugt und den verlorenen goldenen Ball sucht. Ich habe selten ein holderes Frauenbildnis gesehen. Aber ich habe Thiessen dann gleich gebeten, auch Inge zu malen, und er ist nun bereits fleißig an dieser neuen Arbeit.
Nun haben auch die beiden Diener Kalckreiths ihre Mädchen heimgeführt und die zwei neuen Höfe im großen Bruch bezogen. Die Herbstaussaat besorgen sie bereits selbst. Die Jungen aus dem Waisenhaus versuchen es bei ihnen als Knechte.
Es ist seltsam, daß auch jetzt, da wir uns wieder ins Haus eingesponnen haben, um das rings die verschneite Heide sich dehnt, in mir dennoch jene leise Unrast lebendig geblieben ist, die seit der Vollendung des Weihemals mich beunruhigt. Mein Blick, der jahrelang in den engen Umkreis von Neulandhof gebannt, nur auf unsere allereigensten Belange gerichtet war, hebt sich nun wieder von der Scholle unserer Äcker, von den Schicksalen unserer Siedler, und schweift ins Weite. Nun steht wieder das ganze deutsch Land vor mir, sein unbestimmt drohendes Schicksal. Es hat sich in den letzten Jahren nicht allzuviel geändert. Wohl sind wir zum Schein äußerlich halbwegs gesichert, wohl haben die fremden Truppen den Boden des Reiches verlassen – aber innerlich ist alles so faul und morsch geblieben wie früher, ja, 413 es gehört nicht viel Scharfblick dazu, um zu erkennen, daß wir unaufhaltsam einer Entscheidung um Leben und Tod entgegentreiben. Das Einzige, was mich mit Hoffnung und Zuversicht erfüllt, ist der stetige Fortschritt unserer Partei. Sie hat nun auch im Norden Fuß gefaßt, sogar in Berlin . . . Hitler fängt an, eine Macht im Staate zu bedeuten . . .
Das alles ist wohl die Ursache meiner Unruhe. Ich möchte einmal mit eigenen Augen sehen, wie es um uns steht – im Süden, im Westen . . . Ich möchte wieder, wie in dem Jahr meiner Wanderung, das Land durchstreifen und – schauen!
So haben wir beschlossen, Inge und ich, im kommenden Jahr, wenn die Anbauarbeit getan ist, eine Reise durchs Reich zu machen. Inge kennt ja so wenig von Deutschland. Ich möchte wieder nach München, Ulm, zu den Domen am Rhein, hinaus nach Hamburg und Bremen, aber auch ins Herz des Landes, nach Sachsen und Thüringen fahren, möchte sehen, wie es um Land und Menschen steht. Und will die Weite dieser Schau mit nach Neulandhof bringen, nicht nur mir, sondern auch den andern Siedlern zu Nutz.
Wir haben uns lange bedacht, ob wir Hilde mitnehmen sollen. Aber wir sind davon abgekommen. Sie ist noch etwas zu jung dazu, hat noch zu wenig Kenntnisse, um der Reise innerlich gerecht zu werden. Und auch ein etwas selbstsüchtiger Grund ist dabei mit im Spiel: ich möchte auf dieser Fahrt mit Inge allein sein . . .
Nun finden die Musikabende im Weihemal statt. Wir haben vorsorglich bei unserem Entwurf auch an den Winter gedacht und an geeigneten Stellen ein paar schöne Öfen eingebaut, nach alten Vorbildern gefertigt. Und so haben wir nun einen Musikraum, wie er herrlicher nicht zu denken ist: im unteren Turmgeschoß, wo das Orgelmanuale steht, ist hinreichend Platz für ein Streichquartett; sogar der Singechor kann sich leicht dort aufstellen. Die Zuhörer aber sitzen in den schwach beleuchteten Rundgängen, in 414 den einzelnen Nischen, wie sie durch die einspringenden Eckpfeiler geschaffen werden – jeder, wie es ihm behagt, allein oder mit ein paar gleichgestimmten Menschen beisammen – sie sehen Bilder, Radierungen und Holzfiguren vor sich – und dazu klingt von irgendwoher, wie aus dem Unsichtbaren, die Musik zu ihnen her . . . Bild und Ton werden eins . . . Ich saß einmal, als man einen Brahms spielte, dem Heidebild Thiessens gegenüber – und wußte schließlich nicht mehr, ob ich das Bild gehört oder die Musik gesehen hätte . . .
Wenn die Orgel spielt, ist es, als klinge der ganze Bau, als tönten die Steinmauern.
An diesen Abenden, die alle zwei Wochen stattfinden, fehlt kaum einer der Siedler. Und es ist jetzt wirklich so geworden, wie ich es erhofft: hier ist alle Scheu geschwunden, hier fühlen sich alle in gleicher Weise heim. Da sitzen auch unsere Knechte und Mägde ohne Verlegenheit. Jeder hat irgend ein Lieblingsbild, eine gotische Statue, die ihm besonders gefällt: zu denen setzt er sich und hört still zu. Und wenn er vielleicht einmal nicht in der rechten Stimmung ist oder die Musik nicht zu fassen vermag, so geht er leise weg und niemand wird dadurch gestört, er muß nicht gelangweilt sitzen bleiben, wie es etwa auf Ulenhöh oder in Mertenshof der Fall wäre, weil er denkt, daß es unschicklich oder unhöflich sei, vorzeitig aufzubrechen.
Auf Ulenhöh gibt es dazwischen immer noch Kammermusik, vor allem solche mit Klavier. Zu meinem Erstaunen und zu noch größerer Freude kommen zu diesen Abenden immer auch Hinrichs und Friedgert – bisweilen auch Frank . . . Sogar den beiden Kögemanns ist anscheinend das innere Ohr aufgegangen.
Aber es gibt jetzt noch etwas, um das man uns überall in der Welt beneiden müßte, wenn man davon wüßte: ein paarmal in der Woche, so gegen neun Uhr abends, spielt Herbert oder Kriehuber die Orgel, ohne daß wir uns im Weihemal einfänden. Dann sitzen wir alle in unsern Höfen, in der verschneiten Einsamkeit, der eine am Herd, seine Pfeife rauchend, der andere 415 bei einem Buch, wieder einer vielleicht bei einer Schnitzarbeit. Und mit einmal tönt es auf – Orgelklänge brausen über das Land, der Wintersturm spielt mit ihnen, trägt sie bald volltönend heran, reißt sie hinweg, läßt sie anschwellen und verebben. Und fast immer ist es dann so, daß dem Lauscher, wenn die ersten Akkorde sein Ohr treffen, das Herz fast angstvoll und erbangend zu schlagen beginnt –: ob des Wunders . . . Denn ja, es ist ein Wunder, das sich da vor uns erfüllt, immer wieder von neuem. Und nicht ich allein trete dann manchmal vors Haus – stehe in der sternklaren Winternacht und höre dem Spiel zu. Nicht ich allein: ich sah einmal meinen Frank hinter dem Haus auf einem Holzstoß sitzen – Thiessen wandert dann oft durch das Moor. Und wohl noch manch anderer auch.
Es sind ja nur ein paar wenige unter uns, die da auch wissen, was gespielt wird, ob das eine Fuge ist oder eine Doppelfuge; aber es ist ja völlig gleichgiltig! Was ich und Herbert so sehr ersehnten, es beginnt sich langsam zu erfüllen: die Musik durchdringt die Menschen, adelt und edelt sie, wird zu einem Teil ihres Ich. Schon jetzt merke ich das etwa daran, daß der eine oder andere Bauer vielleicht ein Buch, zu dem ich ihn im vorigen Winter nur mit einiger Mühe bereden konnte, nun ein zweitesmal verlangt.
Ist es eigentlich gar so erstaunlich, was wir da erleben? Im Mittelalter, bis weit in die sogenannte Neuzeit herein, bliesen die Stadtzinkenisten vom Turm die schwierigsten Musikstücke, kontrapunktische Kunstwerke, die heute nur noch wenige Kenner und Feinschmecker zu würdigen wissen. Aber damals hatten alle Bürger in der Stadt ihre Freude daran! Warum soll das nicht wieder so sein? Es gilt nur, einigen Schutt und Unrat wegzuräumen, dann blinkt der echte Wesenskern der deutschen Seele von neuem auf . . .
Aber das Gewaltigste und Schaurigste von solcher Musik erlebten wir, als in einer eisigen Nacht im ersten März Nordlicht über den Himmel flammte, in seltsamen Linien und Bögen 416 hinzackte und die dunkle Heide mit gespenstigem Licht überhellte. Wie damals in jener furchtbaren Nacht, als Giers Hammer mit der blutenden Stirnwunde am Weg stand . . .
Da schrillte es von der Eichenhöh auf – Sturmpfeifen und Trillern, das wie das Wiehern von Rossen klang – und jetzt jagte der Walkürenritt durch die Nacht . . . Ich hörte das Hojotoho der unbändigen Odinstöchter durch die unendliche Weite gellen, immer rasender, immer wilder tobte die Walkürenschar durch die Luft, indes am Himmel der unheimliche, grauenvolle Lichtschein hinzuckte, gelb-rot-purpurn, bis er erlöschend zerfiel . . . In dieser Nacht standen wir alle zitternd, mit hochschlagenden Herzen, vor unsern Häusern . . . Reiten die Walküren wieder? Jagt der Gott wieder über sein ureigenes Land – aufrufend, wildlachend in Kampfeslust, die Einherier hinter ihm drein, mit gellenden Rufen die falben Rosse spornend, daß sie noch Walholl erreichen, ehe der Tag graut?
In dieser Nacht war keiner, der nicht die alten Götter gefühlt, die ewig Lebendigen . . .