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Der Rosselenker mit dem roten Fes ließ seine moderne Droschke vor einem großen Hotel halten.
Ein kleiner Herr entstieg ihr, trotz seiner Bejahrtheit und Körperfülle mit jugendlicher Gewandtheit, und die vor dem Portal lungernden Kellner stürzten herbei, als ob es der erwartete Großmogul gewesen wäre.
Denn diese schwere, doppelte Uhrkette mit einer Unmenge riesiger Petschafte und anderem Anhängsel, die Brillanten an den Fingern, diese Schlipsnadel, und wie nun dieser kleine dicke Herr seinen schwarzen Gehrock und den blanken Zylinder zu tragen wußte, dieser Schmiß, wie das alles saß – Donnerwetter, das war ganz sicher ein Fürst im Reiche der Finanzwelt!
Nun hätte einmal jemand auf die Idee kommen sollen, dieser selbe Mann, die unnahbare Würde selbst, hätte noch gestern abend in roten Pumphöschen und blauem Jäckchen zwischen den Odalisken getanzt!
Aber auch der nachfolgenden Dame, der Mr. Cerberus Mojan beim Aussteigen galant die Hand reichte, hätte man nicht geglaubt, würde sie erzählt haben, sie wäre noch gestern abend die niedrigste Sklavin im Serail gewesen, Wäscherin, an Fußrheumatismus krank in ihrer Kawansi liegend.
Das gestern noch alte Weibchen sah plötzlich ganz jung aus. Vor allen Dingen machte das wohl das schwarzgefärbte Haar – doch nein, sie war überhaupt eine ganz andere geworden. In den Zügen, besonders im Auge lag der Unterschied! Keine Spur mehr von den blöden, stumpfsinnigen Augen, diese funkelten vielmehr vor Lebenslust, und ihre Nasenflügel blähten sich, als wolle sie das rings um sie pulsierende Leben einsaugen, und sie war willens, es zu genießen, hatte sich schon darauf vorbereitet, sich gewappnet, wie es ein Weib tut, bei dem die Natur mit anderen Reizen gegeizt hat – schon spannte sich das Oberkleid über einem vollen Busen, dem man ja nicht ansehen konnte, daß er eingesetzt war.
Mr. Cerberus Mojan streckte mit einer unnachahmlichen Bewegung die Hand aus, und die Kellner harrten wie die dressierten Pudel der Worte, die jetzt kommen würden.
Und sie kamen.
»Ääääääähhh – Hotel Royal?«
So viele Worte wären für die dressierten Pudel gar nicht nötig gewesen.
»Sehr wohl, Herr Baron, dies ist das Royal Hotel.«
»Ääääääähhh – Mister Hatting?«
»Sehr wohl, Exzellenz, Mister Hatting logiert hier.«
»Ääääääähhh – anwesend?«
»Sehr wohl, Durchlaucht, Mister Hatting befindet sich im Lesezimmer.«
»Kikerikikiiiiihhh – gluck gluck gluck gluck – gack gack gack gack – kikerikikiiiiihhh!!!«
Das war aber nicht etwa von Mr. Cerberus Mojan gekommen! O nein! So hatte es hinter ihm geklungen, und der kleine Dicke drehte seinen kurzen Hals wie eine Schildkröte in der Schale.
Auf der Straße trieb ein Wahnsinniger sein Wesen, so klein und dick wie Mr. Mojan. Er fühlte sich als Hahn, legte nebenbei auch Eier. Bekleidet war er mit roter Pumphose und blauem Jäckchen.
Der geneigte Leser weiß Bescheid. Der echte Mufti war aus seiner Gefangenschaft entlassen worden, hatte sich zufällig gerade hierher verirrt.
Mr. Mojan wußte natürlich von nichts.
»Ääääääähhh – was das?«
»Das ist ein Muschlin, königliche Hoheit, ein Verrückter, der in der Türkei heilig gehalten wird.«
»Ääääääähhh – selber verrückt.«
Mr. Mojan hätte seinem Doppelgänger gar keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt – er hatte die Wette gewonnen, damit war die Sache für ihn erledigt – wenn nicht noch etwas dazwischengekommen wäre, was sich gerade hier abspielte.
Auf der Bildfläche erschien ein Trupp Eunuchen, durch Goldborten als kaiserliche gekennzeichnet. Sie nahmen den menschlichen Hahn in die Mitte, er ließ sich willig abführen.
Die Kellner fühlten sich verpflichtet, dem vornehmen Herrn, der doch offenbar hier fremd war, gleich die allerneuste Neuigkeit mitzuteilen, über die zurzeit ganz Konstantinopel sprach.
»Der ist aus dem Serail entsprungen, jedenfalls heute nacht während der großen Feuersbrunst. Sonst ist das ja unmöglich. Der ganze Dachstuhl des Hauptgebäudes ist abgebrannt. Dabei soll auch der Basch-Kiatibi verbrannt sein, das ist der Hofastrolog, der dort oben sein Observatorium hatte, und mit ihm zwei Odalisken, die gerade bei ihm waren. Das ist nämlich dadurch in die Öffentlichkeit gedrungen, weil ...«
»Ääääääähhh – weiß schon. Ääääääähhh – interessiert mich nicht.«
Wieder war es eine unnachahmliche Geste der Würde und Grazie, wie Mr. Mojan den blankgewichsten Zylinder lüftete und der Dame seinen Arm bot. Und wie er sie nun so in das Portal hineinführte, wie er die Beinchen warf, die Füßchen setzte, sich in den Hüften wiegte – wirklich, dieses kleine dicke Männchen hätte auf jedem Parkett sofort die respektvollste Aufmerksamkeit erregt. Das war ein Mann, dessen Gunst sich kein Fürst verscherzen wollte, auch wenn man noch gar nicht wußte, wer er eigentlich war. Das lag in seinem ganzen Auftreten. –
Drei Minuten später befanden sich die beiden in einem Zimmer einem jungen, eleganten Herrn gegenüber, dessen Energie nur mit Mühe eine Aufregung unterdrückte.
»Ich bin es, Jordan Hatting ist mein Name. Mit wem habe ich die Ehre?«
Der eben erst eingetretene Mojan machte ein ganz merkwürdiges Gesicht, ebenso merkwürdig, wie in Träumen versunken, stand er da.
Plötzlich machte er wie ein Laubfrosch einen Satz nach rückwärts, gegen die Tür, hatte diese mit Vehemenz aufgestoßen.
Es klatschte – nämlich die Tür klatschte gegen die Nase eines Kellners, der sie in der Nähe des Schlüsselloches gehabt hatte.
»I du Mistkäfer elendiglicher, du voll Jauche gepumpter Wiedehopf stinkiger!!!«
Nun noch einen eleganten Fußtritt, der den Kellner gleich bis ans andere Ende des Korridors beförderte, und mit Würde kehrte Mr. Cerberus Mojan in das Zimmer zurück, als ob gar nichts geschehen wäre.
»Ääääääähhh – Nadelbüchse.«
»Semiramis,« gab Mr. Hatting das andere Stichwort.
»Die Nadelbüchse der Semiramis – stimmt. Ääääääähhh – Zunge zeigen.«
»Ich bitte, das richtige Stichwort genügte doch,« sagte der Herr mit einiger verlegener Entrüstung.
»Machen Sie Ihren Mund auf, stecken Sie die Zunge heraus.«
Der Herr wandte sich von der Dame ab und steckte wirklich seine Zunge weit heraus. Mojan brachte seine Nase dicht daran. An der Zunge war ein kleines Wärzchen zu sehen.
»Richtig, ein Hühnerauge auf der Zunge. Ziehen Sie die Zunge wieder ein und machen Sie den Mund wieder zu.«
Jetzt schickte Mr. Mojan jedem Satze kein ›ääääähhh‹ mehr voraus, auch stotterte er nicht mehr. Damit schien er aber auch gänzlich seine Höflichkeit verloren zu haben.
Denn höflich war das nicht gerade, wie er jetzt mit dem Daumen über die Achsel nach der Dame deutete und sagte:
»Das isse.«
Das heißt, er hatte es auf englisch gesagt, aber auch die englische Sprache hat ihre Dialekte, Jargons und vulgären Ausdrücke, und in der deutschen Übersetzung würde das eben gelautet haben: Das isse.
»Madame Lefort? Es ehrt mich sehr, Sie kennen zu lernen und Ihnen zu Ihrer glücklichen Befreiung gratulieren zu dürfen.«
Die Französin hatte sich aus der letzten, niederträchtigen Behandlung, die sie seitens ihres Begleiters erfuhr, sehr wenig gemacht, fächerklappernd stand sie daneben, erwiderte die Verbeugung des jungen Herrn, den sie mit funkelnden Augen betrachtet, wollte gleich zu schwatzen beginnen.
Sie wurde sofort durch eine gebieterische Handbewegung ihres Begleiters unterbrochen, die ganz deutlich sagte: ›Halt's Maul, ich will sprechen!‹
Unterdessen hatte Mojan umständlich seine Brieftasche gezogen und dieser ein Blatt Papier entnommen.
»Hier habe ich gleich die Quittung aufgesetzt: Von Mr. Cerberus Mojan die Madame Eugenie Lefort richtig erhalten zu haben bescheinigt ... nun Ihren Namen. Bleistift genügt.«
Hatting unterdrückte ein Lächeln, als er seine Hand nach dem Papier ausstreckte. Doch schnell zog Mojan es zurück.
»Neneneneneee, so fix geht das nicht. Vorläufig ist die da noch mein Eigentum. Ich habe Auslagen für sie gehabt, die müssen mir erst ersetzt werden.«
»Aber ich bitte, geehrter Herr, das ist doch ganz selbstverständlich...«
»Neneneneneee, Geschäft ist Geschäft. Wollen Sie mir die Auslagen ersetzen oder nicht?«
»Na, sicher.«
»Haben Sie tausend Francs bei sich?«
»Gewiß. In englischem Geld.«
»Ich habe nach Francs gerechnet. Hier ist die Aufstellung. Ich habe aber nur die eine, und die möchte ich behalten. Wollen Sie nachschreiben.«
Der junge Mann zog das Notizbuch, und Mojan begann vorzulesen.
»Zwei Stiefel, einen linken und einen rechten a Stück ein Franc – zusammen 2 Francs.«
Hatting schielte nach der Dame. Sie war höchst elegant gekleidet, aber die Schuhe, diese Schuhe! Elegant sahen diese allerdings auch aus, aber ... ins Nasse durfte sie damit nicht treten, sonst fielen die Sohlen ab – und morgen waren sie überhaupt in die Brüche gegangen.
»Haben Sie notiert?«
»Ich habe.«
»Weiter: zwei Strümpe, einen lilililink – hopsa! – einen linken und einen rechten. Stück 15 Francs, macht zusammen 30 Francs.«
»Ein Paar Strümpfe?!«
»Ein Paar Strümpfe. Jawohl, gucken Sie sich die Dinger nur mal an.«
Daß man sie bewundern konnte, dafür sorgte bereits die Französin durch kokettes Aufraffen ihres Rockes, als wären in dem Hotelzimmer Wasserpfützen.
Alle Wetter! Ja freilich, solche bunte Seidenstickerei, Handarbeit!
Nun aber reime sich jemand ein Paar Schuhe für 2 Francs und ein Paar Strümpfe zu 30 Francs zusammen!
Mojan fuhr fort, die Kostenberechnung vorzulesen, er ging sachgemäß von unten nach oben.
»Also ein Paar Strümpfe, 30 Francs. Zwei Strumpfbänder, 4 Sous. Ein Paar Unterhosen – das heißt, es ist nur eine, aber sie hat zwei Beine – eine Unterhose mit Klimbim, 58 Francs. Ein Unterrock, einen halben Franc. Noch einen Unterrock, 1 Franc. Ein dritter Unterrock Nummer 1 und Unterrock Nummer 2 – 150 Francs. Da hängt nämlich wieder viel Klimbim dran. Gott, wenn ich solche Spitzen an meiner Unterhose hängen hätte. Ein Hehehehe – hopsa! – ein Hemd, 1 Franc 5 Sous. 1 Sou – 4 Pfennige. Eine Polstermatratze aus Gummi, vorn auf der Brust festzuschnallen, aus zwei Teilen bestehend, aus einem linken und aus einem rechten – jeder Teil 125 Francs, macht zusammen 250 Francs. Ein Korsett dazu, um das Ding festzuhalten – anderthalb Francs ...«
»Ein Korsett zu anderthalb Francs?« wagte Mr. Hatting zweifelnd einzuschalten.
»Na, ist das etwa nicht genug?! Ich trage gar kein Korsett und lebe auch! Weiter! Jetzt wird's aber haarig. Ein falscher Zopp – 12 Francs. Ein Hut zu diesem falschen Zopp – 60 Francs. Ein dem Hute entsprechendes Kostüüüühhhm – 300 Francs. Eine Diamantbrosche, um das Kostüüüüühhhm oben an der Gurgel zusammenzuhalten, 2 Sous.«
»Eine Diamantbrosche für 2 Sous?«
»Na, Sie denken wohl, ich kaufe der eine echte?!
Ein paar Handschuhe, einen lilililink – hopsa! – einen linken und einen rechten, zusammen 2 Francs. Eine Zahndreckbürschte, 5 Sous. Haarfärbemittel, 3 Francs. Das Stück Seife will ich nicht berechnen, das habe ich selber zubekommen. Aber die Hälfte der Droschkenfahrt nach hier verlange ich – einen Franc. Und dann habe ich ihr noch extra als Taschengeld 5 Sous gegeben, damit sie nicht in Verlegenheit kommt. Schrumm, fertig!«
»Und die Entschädigung für Ihre Bemühungen?«
»Können Sie ja gar nicht bezahlen! Was meinen Sie wohl, was ich mit der in dem Ramschbazar durchgemacht habe!«
Wer einige Phantasie besaß oder Scharfsinn, konnte sich das aus obiger Preisliste entnehmen. Die Französin hatte immer das Teuerste, ihr Schutzpatron immer das Billigste kaufen wollen. Manchmal war es dem einen, manchmal war es dem anderen gelungen, den Kopf durchzusetzen, nur in den wenigsten Fällen waren sie sich auf halbem Wege entgegengekommen.
Auf diese Weise waren die Zweifrancstiefel und die Dreißigfrancstrümpfe mit den Fünfzehnpfennigstrumpfbändern zusammengekommen, der Unterrock für einen Franc mit dem für 150 Francs, das Dreihundertfranckostüüüühhm mit der Diamantbrosche für acht Pfennig, usw.
»Nun rechnen Sie zusammen.«
Die gezogene Summe stimmte mit der Mojans überein, er gab auf eine Fünfzigpfundnote heraus.
»So, jetzt dürfen Sie über den Empfang der Dame quittieren.«
Es geschah. Der junge Mann hatte es aus Jux sogar ›dankend‹ getan.
»Dankend? Das war nicht nötig. Der Dank ist vielmehr auf meiner Seite, daß ich sie glücklich losgeworden bin. Ääääääääähhh – Mahlzeit!«
Ein Lüften des Zylinders, und Mr. Mojan hatte schon die Türklinke in der Hand.
»Aber ich bitte Sie – wo ist denn Mister – Sie wissen ...«
»Der ist noch drin.«
»Wann wird er kommen?«
»Weiß nicht. Wird schon kommen. Ääääääähhh – Mamamamama – hopsa! – Mahlzeit!«
Und hinaus war er. Jetzt konnte die Französin über den knickrigen Filz schimpfen. Doch als sie zu erzählen begann, mußte sie mehr noch lachen. – –
Kurze Zeit darauf betrat Madame Lefort an der Seite ihres neuen Beschützers den kleinen Speisesaal des Hotels, in dem an separierten Tischchen serviert wurde.
Ein einziger Gast saß drin, ein eleganter, nicht mehr allzujunger Herr mit martialischem Schnurrbart, und ... tödlich erschrocken zuckte die Französin zusammen.
Sie befand sich noch in der Türkei, mitten in der Hauptstadt, in der Nähe des Serails, aus dem sie entflohen. Wer sie wieder einlieferte bekam eine Belohnung, und sie war des Todes. Mindestens erlag das schwächliche Geschöpf den Peitschenhieben.
Vergebens hatte sie ihren Begleiter gebeten, die Mahlzeit doch lieber auf dem Zimmer einzunehmen. Nein, nur nicht geheimtun, im Gegenteil ganz frei auftreten!
Und nun mußte sie gleich hier ein bekanntes Gesicht sehen!
Ihrem Begleiter, einem gewieften Detektiven, in Nobodys Diensten stehend, war ihr Schreck natürlich nicht entgangen, er wußte sofort alles.
»Ruhe,« sagte er leise, während er sich gelassen nach einem passenden Tisch umsah. »Es ist ja absolut keine Gefahr vorhanden. Sie kennen ihn?« »Ja.«
»Ach nein, dort ist es zu sonnig. – Wer ist es?«
»Maurice.«
»Kennen Sie denn nur den Vornamen?«
»Monsieur Kasin.«
»Ein Franzose?«
»Ja.«
»Woher kennen Sie ihn?«
»Aus Paris. Er machte auch die Reise nach Kanada mit.«
»Sie verkehrten mit ihm?«
»Ganz intim.«
»So. Wird er Sie wieder erkennen?«
»Ich weiß nicht. Ja – nein – ich hoffe – ich glaube nicht.«
Das hatte bald geklungen, als ob es ihr recht lieb gewesen wäre, wenn sie von dem Herrn erkannt worden; denn sie hatte sich von ihrem ersten Schreck gleich wieder erholt, einsehend, daß sie ja gerade von diesem Herrn gar nichts zu fürchten hatte.
So etwas merkte aber auch ihr Begleiter, er hatte auch schon eine Ahnung welchen Charakter das ihm anvertraute Dämchen besaß, er hatte bereits einen versteckten Platz hinter einer Säule erspäht, wo sie mit jenem nicht kokettieren konnte.
Zu spät! Der Herr hatte die Eingetretenen gemustert, er stutzte, setzte den Klemmer auf, erst Zweifel, dann malte sich in seinem schönen Gesicht unverkennbares Staunen, und schließlich stand er schnell auf und ging auf die beiden zu.
»Ist es möglich!! Eugenie!!«
Sie wußte noch nicht recht, was sie tun sollte. Sie begann wie eine Rose zu glühen.
»Mein Herr ...«
»Ihr Herr Gemahl?« fragte der Herr, vorläufig nur die Hand an den Zylinder legend, den er aufbehalten hatte.
»O nein.«
Die Hand wurde gleich von der Hutkrempe zurückgezogen; Mr. Hatting, der von jetzt an gar nicht mehr beachtet wurde, fühlte die ganze unverschämte Dreistigkeit dieses Mannes heraus.
Und die Französin schien zu merken, wie sein freudiger Blick so erstaunt auf ihrer Diamantbrosche ruhte. Denn für acht Pfennig kann man nicht gerade eine gute Imitation verlangen.
»Ja, wie ist mir denn – Sie waren doch zuletzt an einen Monsieur Lefort verheiratet, nichtwahr?«
»Ja.«
»Sind Sie nicht Witwe?«
»Ja.«
»Nun, und ... Sie haben doch die Erbschaft angetreten?«
»Mein Herr, ich möchte Sie bitten ...«
Der sich einmischen wollende Hatting, der um eine Schattierung bleicher geworden war, wurde von Eugenie unterbrochen, die wie von einer Natter gestochen aufgefahren war.
»Eine Erbschaft? Ich eine Erbschaft?«
»Mein Herr,« begann der Detektiv nochmals, »ich muß dringend bitten ...«
»Was wollen Sie?!« fuhr ihn der andere an. »Madam Lefort, hat dieser Herr ein Recht, Ihnen das Wort zu verbieten?«
»Nein, nein!!« schrie die Französin förmlich auf. »Er hat überhaupt gar kein Anrecht auf mich.«
»Gar kein Anrecht? Desto besser. Na also. Haben Sie die Erbschaft wirklich nicht angetreten?«
»Welche Erbschaft denn nur?«
»Haben Sie nicht einen Onkel?«
»Einen Onkel?«
»Fedor Welinsky.«
»Ja ja, meine Mutter war eine geborene Welinsky.«
»Hatte sie nicht einen Bruder?«
»Ja ja, den Fedor, aber der ist gestorben, verschollen.«
»Mitnichten. Das ist kein anderer als der Amerikaner Elias Ingelby.«
»Zum letzten Male nun, mein Herr, ich muß diese Dame jetzt unbedingt allein sprechen ...«
»Nein!! Nein!!! Sprechen Sie!!! Ich habe eine große Erbschaft gemacht?«
»Mein Gott, wo haben Sie denn nur das letzte Jahr gesteckt?!«
»Ich – ich – ich – ich war im Krankenhaus!«
»Und Sie wissen gar nicht, daß man Sie ein ganzes Jahr lang in allen Zeitungen der Welt gesucht hat?«
»Mich? Mich?! Wieviel ist es denn? Eine Million?«
»Eine Million? Kennen Sie denn den Elias Ingelby nicht?«
»Nein! Nein!! Zwei Millionen?«
»Das ist der Besitzer der Platinwerke im Kaukasus!«
»Drei Millionen?«
»Eine halbe Milliarde!«
»Und ich – ich – wieviel krieg ich davon ab?«
»Er hat Sie zur Universalerbin eingesetzt.«
Aaaaaaaahhh ... pieps.
Da lag sie. Das hatte sie nicht vertragen können. Blaß konnte sie nicht werden, sie war zu sehr geschminkt.
Und um die Ohnmächtige entspann sich zwischen den beiden Männern ein förmlicher Kampf. Jeder wollte sich ihrer annehmen, sie ganz haben.
»Ich bin der Beschützer dieser Dame!«
»Hier kommt mir etwas verdächtig vor. Hand von ihr, oder ich rufe die Polizei!«
»Herr, lassen Sie mit sich sprechen!«
»Was, Sie wollen Gewalt anwenden?«
»Ich habe auf die Dame ein ebenso großes Recht wie Sie!«
»Wissen Sie, wer ich bin?«
»Geht mich gar nischt an, ist mir ganz schnuppe!«
»Ich bin der Großfürst Alexei Karamsin!!«
– – – – – –
Eine Stunde später traf Nobody in dem Hotel ein. Er sah bleich und angegriffen aus, was man wohl selten bei diesem eisernen Manne zu beobachten Gelegenheit hatte.
Und nun dieser Empfang, den ihm Mr. Hatting bereitete!
»Sie ist nicht mehr hier, sie ist meiner Aufsicht entführt worden!«
Hastig erzählte er, wiederholt seine Unschuld, die Unmöglichkeit beteuernd, sie dem Russen wieder zu entreißen.
Mit fest zusammengepreßten Lippen hörte Nobody ihm zu. Was er sich dabei dachte, hätte ihm kein Mensch ansehen können. Wohl etwas bleich, aber sonst die steinerne Ruhe selbst.
Nur einmal unterbrach er den sich mit Worten überstürzenden Erzähler gleich im Anfang.
»Mr. Hatting, wenn Sie die Ruhe verlieren, wenn Sie durch solch eine Kleinigkeit nervös werden, dann habe ich mich in Ihnen getäuscht, dann eignen Sie sich nicht zum Detektiv.«
Bei solch einer Kleinigkeit, hatte er gesagt?
Es war geradezu wunderbar, wie Nobody oft nur mit einem einzigen Wort, nur so wie zufällig ausgesprochen, einen Menschen beeinflussen konnte! Diesem Manne hier hatte er dadurch sofort wieder seine Kaltblütigkeit zurückgegeben. Jetzt klang seine Erzählung ganz anders. Mit einem Male entschuldigte er sich auch nicht mehr, im Gegenteil, er gab seine Schuld zu! Und Selbsterkenntnis ist bekanntlich der Anfang aller Weisheit – und aller Männlichkeit. Nur Feiglinge und Waschlappen entschuldigen sich immer, suchen ihre Fehler auf andere zu schieben.
»Ich ließ mich dadurch, daß ich einen russischen Großfürsten vor mir hatte, verblüffen, das muß ich offen gestehen, ich ließ die beiden ungehindert in einen Wagen steigen ...«
»Bitte, auf welche Weise hätten Sie denn das auch verhindern können? Die Dame konnte doch frei über ihren Willen verfügen, der hatten Sie doch gar nichts zu befehlen.«
Überrascht blickte der Detektiv den Sprecher an. Ja, das war eben Nobody!
»Nein, die Schuld liegt an mir,« fuhr Nobody fort. »Ich habe einen großen Fehler begangen. Es ist aber auch ein unglücklicher Zufall dabei. Gleichgültig! Über vergossene Milch soll man nicht weinen. Der Schaden läßt sich wieder gutmachen. Wohin fuhren die beiden?«
»Nach dem Hafen. Der Herr, nur mit wenigen Worten von der Dame, als sie wieder zum Bewußtsein erwachte, darüber orientiert, daß sie aus dem Serail entflohen sei, hatte kaum Zeit, seinen Koffer mitzunehmen. Sie bestiegen den ersten besten Dampfer, der zur Abfahrt bereitlag ...«
»Woher wissen Sie das?«
»Nun, ich bin dem Wagen natürlich gefolgt.«
»In einem anderen Wagen?«
»O nein, einem fremden Kutscher hätte ich mich nicht anvertraut. Ich bin hinterhergerannt.«
»Bravo! Und weiter?«
»Unterwegs überlegte ich, ob ich die türkische Polizei anrufen sollte. Dann hätte aber alles andere herauskommen können, ich hätte es ja überhaupt verraten müssen, um die dem Serail Entflohene festzuhalten, und es war mir sehr zweifelhaft, ob Ihnen das angenehm gewesen wäre.«
»Um Gottes willen nicht! Haben Sie sich erkundigt, wohin der Dampfer fährt?«
»Natürlich! Nach Odessa.«
»Aha! Das wird der Großfürst selbst nicht gewußt haben, und als er es dann erfuhr, wird es ihm sehr unangenehm gewesen sein. Ein türkischer Dampfer?«
»Ein russischer.«
»Wie heißt er?«
»Moskowitsch. Nicht etwa ein Passagierdampfer, nur ein kleiner Frachtkasten, der so bei Gelegenheit auch Passagiere mitnimmt.«
»Aber wieviel Knoten er macht, darüber haben Sie sich wohl nicht erkundigt?«
»Über alles. Höchstens acht Knoten.«
»Geht er direkt nach Odessa?«
»Direkt. Legt unterwegs nirgends an. Ich hatte doch die Absicht, gleich hinterherzufahren, es wäre auch gegangen, ich hätte ja selbst noch das Deck dieses Dampfers erreichen können. Aber wo blieben Sie dann? Dann saßen Sie hier und warteten, wußten gar nicht, wo ich sei. Nein, ich habe sofort an unsere Filiale nach Odessa telegraphiert, daß man dort bereit ist, die Ankommenden zu empfangen und wenigstens zu beobachten. Nun geht mittags ein schneller Passagierdampfer von hier nach Odessa, mit dem sind wir noch viel eher dort. – Als ich dies alles wußte, bin ich wieder hierhergeeilt, um auf Ihre Ankunft zu warten.«
»Hatting, Sie sind ja ein Kapitalmensch! Und Sie klagten sich erst der Energielosigkeit an? Sie haben meinen Fehler fast schon wieder gutgemacht. Hier haben Sie eine Zigarre. Also mittags geht der Dampfer?«
»Punkt zwölf.«
»Den benutzen wir. Wenigstens ich. Für Sie werde ich einen anderen Auftrag haben. Und nun lassen Sie mich mal allein. Ich will einen Brief schreiben.«
Aber Nobody schrieb keinen Brief. Kaum war er allein, als er sich mit einem leisen Stöhnen gegen die Lehne seines Stuhles fallen ließ.
»Mich hat ein böser Traum gequält,« flüsterte er.
Einige Minuten stierte er so vor sich hin, dann tastete er an seiner Brusttasche, es knisterte, schon da zuckte er zusammen, er griff hinein, zog ein Telegrammformular hervor, wie mit ängstlicher Scheu faltete er es auseinander ... und da stand es:
»Die betreffende Bleikiste leer. Nichts Schriftliches darin. Gar nichts.«
Vor drei Stunden hatte Nobody an seine Frau die chiffrierte Anfrage depeschiert, ob sich in seinem Keller noch die präparierte Leiche jenes Selbstmörders befände. Gabriele mußte sofort wissen, um was es sich handelte, war sie doch dabei behilflich gewesen, die Leiche zu mumifizieren; außer Edward Scott kannte nur sie das ganze Geheimnis.
Und hier war die Antwort!
Die rote Erscheinung des Mephistopheles gestern nacht im Serail war kein Traum gewesen!
Aber auch stöhnen konnte Nobody jetzt nicht mehr. Er suchte vielmehr nach Erklärungen.
Fast zwei Jahre war es nun her, da sich in seinem Arbeitszimmer jene Szene abgespielt, die mit dem Selbstmord des geheimnisvollen Besuchs geendet hatte.
Monsieur Sinclaire hatte sich aufgehangen. Der Tod war nicht infolge eines Wirbelbruchs, sondern infolge Erstickens eingetreten. Das hatte Nobody mit Sicherheit konstatiert. Beim Hängen brechen die Halswirbel auch nur, wenn der Betreffende aus einiger Höhe herabstürzt, wie es beim offiziellen Hängen geschieht, es ist dies eine Erleichterung des Todes. Oder es muß eine sehr schwere Person sein, deren Halswirbel nicht die Last des ganzen Körpers tragen können.
Eine Sektion nahm Nobody an der Leiche nicht vor. Daß er es konnte, ist schon früher einmal gesagt worden. Nobody hatte noch in reifen Jahren als Detektiv einen regelrechten Kursus in Medizin und besonders in der praktischen Anatomie durchgemacht, nur so nebenbei, hatte es aber in einem Vierteljahre weiter gebracht, als wohl mancher junge Student innerhalb einiger Semester.
Es lag kein Grund vor, die Leiche zu sezieren. Dann hatte Nobody einen Einfall gehabt. Auch er hatte ein Mittel entdeckt, um Leichen vor Verwesung zu schützen. Es gibt deren ja schon genug, teils äußerlich, teils innerlich angewendet, Gelehrte machen aus der Mumifizierung auch eine Spezialität. Das Einsetzen in Spiritus ist doch eigentlich nichts anderes; selbst der Fleischer, der verbotenerweise seine Wurstwaren mit einem gewissen Borsalze imprägniert, ist zu diesen Spezialisten zu rechnen.
Nobodys rastlos erfinderischer Kopf hatte auf Grund eines schon vorhandenen Mittels ein neues entdeckt. Es mußte dem Tiere oder dem Menschen kurz nach dem Tode in die noch mit warmem Blute gefüllten Adern gespritzt oder besser unter Druck hineingepumpt werden.
Während jener Studienzeit hatte er wiederholte Versuche mit diesem Mittel angestellt. Doch nur an Tieren, sonst nur noch einmal an einer menschlichen Hand. Die präparierten Objekte setzte er in große Glasflaschen oder Glaskisten, welche hermetisch verschlossen und in einem sich durch vollkommene Trockenheit auszeichnenden Keller ausgestellt wurden.
Aber Nobody war mit seinen Erfolgen durchaus nicht zufrieden. Die präparierten Objekte verwesten allerdings nicht, trockneten nur aus, verwandelten sich in Mumien – und das haben schon die alten Ägypter und noch andere Völker verstanden.
Hierbei sei etwas eingeschaltet. Der Schreiber dieses hat selbst vor etwa zehn Jahren in Amerika eine Wanderausstellung besucht, in der solche Präparate zu sehen waren. Tiere, Kadaver, mit allen Eingeweiden, vollständig erhalten, vollständig geruchlos. Auch menschliche Glieder waren vorhanden, ganz natürlich, in allen Teilen beweglich, wie eben erst abgeschnitten. Vielleicht noch interessanter waren die großen Schlangen, bei deren Biegsamkeit man so recht deutlich sehen konnte, daß auch zwischen den einzelnen Wirbeln noch die Knorpel vorhanden waren, und es wurde gezeigt, daß es sich nicht etwa um eine Ausstopfung handelte, was bei einzelnen Präparaten ja auch ganz ausgeschlossen war. Man kann doch nicht einen menschlichen Fuß, ein Herz, einen ausgeschnittenen Magen ausstopfen.
Es war das Geheimnis des Schaustellers, eines Italieners, der es um keinen Preis verkaufen wollte – aber wohl nur darum nicht, weil er mit der italienischen Regierung wegen eines Verkaufs in Unterhandlung stand. Was daraus geworden ist, weiß der Schreiber dieses nicht. Der Mann wollte von New-York nach Europa und auch nach Deutschland gehen, und es ist daher leicht möglich, daß ein und der andere Leser diese präparierten Objekte selbst gesehen hat.
Nun ging vor einigen Jahren durch die Zeitungen der Bericht, daß ein italienischer Professor, der so wunderbar zu präparieren verstand, sein Geheimnis der italienischen Regierung für eine Million Lire angeboten hätte. Es wurde nach italienischer Weise lange, lange Zeit gefeilscht, darüber starb der Erfinder, seine ganzen Sachen hat er vorher verbrannt, sein Geheimnis mit sich ins Grab genommen.
So hat in den Zeitungen gestanden. Kein Zweifel, das ist derselbe Mann gewesen.
Damals aber, als Nobody auf dem Glanzpunkt seiner Detektivlaufbahn stand, gab es so etwas noch nicht, da ging es nicht über eine Mumifizierung, Austrocknung der organischen Leichenteile hinaus. Auch das Einsetzen in Spiritus kann die Natürlichkeit durchaus nicht erhalten. Das ist nämlich auch nichts weiter als ein Austrocknen. Alkohol zieht begierig Wasser an, er saugt also das Wasser aus dem Gewebe heraus, mit der Zeit ändert sich dieses total, alles klappert zusammen.
Nun, seine Kunst, soweit er sie gebracht, wollte Nobody doch einmal an einer menschlichen Leiche probieren. Alles, was er in der letzten Zeit erlebt und gesehen, mußte ihn ja dazu anregen, und gerade den Mann wollte er präparieren, der selbst solch eine Sammlung von menschlichen Präparaten besaß.
Hier war es auch aus einem anderen Grunde sehr leicht möglich. Es dürfte bekannt sein, wie schwer es in England die studierenden Anatomen haben, sich Leichen zu verschaffen. Nur von der Justiz Gehenkte dürfen seziert werden, sonst nicht einmal Selbstmörder. Und auch die gehenkten Verbrecher müssen wieder zusammengeflickt und regelrecht begraben werden. Darin ist das pietistische England sehr eigensinnig, da läßt das Gesetz nicht mit sich spaßen, nimmt keine Koryphäe der Wissenschaft davon aus. Infolgedessen ist dort die Zunft der Leichenräuber entstanden, die noch heute in England blüht. Sie stehlen die Leichen von den Kirchhöfen.
Bei diesem Manne hier hatte es keine Gefahr, aus Gründen, die hier wohl gar nicht erst angeführt zu werden brauchen.
Nobody öffnete an der noch warmen Leiche eine Ader und spritzte unter Druck sein Präparat hinein, daß es bis in die feinsten Verästelungen der Blutkanäle dringen mußte. Irgend eine weitere Behandlung war nicht nötig.
Zuerst also hatte Nobody, weil er die Präparate doch beobachten wollte, immer in Glasgefäße eingesetzt, und zwar anfangs hermetisch verschlossen, hatte solche Gefäße auch luftleer gemacht, war aber zu der Überzeugung gekommen, daß sich die Präparate gerade bei freiem Luftzutritt viel besser hielten, allerdings vorausgesetzt, daß die Luft kühl und vollkommen trocken war, welche Bedingungen dieser Keller alle erfüllte.
Einen so großen Glaskasten, um die menschliche Leiche hineinzulegen, besaß Nobody nicht. Er nahm einen großen Kasten aus Bleiblech, der sich zufällig im Hause befand. Der Deckel hätte verlötet werden können, doch, wie gesagt, der Luftabschluß brachte die Leiche sogar in Gefahr, daß sie trotz des Mittels doch noch verweste. So wurde überhaupt gar kein Deckel daraufgelegt.
Langausgestreckt lag die Leiche in dem sargähnlichen Bleikasten zwischen den präparierten Tieren aller Art. Ein gewisses Gefühl hielt Nobody ab. die Leiche unbekleidet hineinzulegen, auch von einem Totenhemd und dergleichen wollte er nichts wissen. Nein, er ließ dem Toten seine Kleidung, den schwarzen Gehrockanzug, mit Kragen, mit goldener Uhrkette und allem, so wie er bei ihm eingetreten war. Nun massierte Nobody die noch weichen Gesichtszüge, bis die Todesstarre eintrat, und er brachte es fertig, dem Gesicht denselben Ausdruck von teuflischem Haß und Hohn zu geben, wie es damals durch die Schiffsluke herausgesehen hatte.
So lag das menschliche Rätsel in dem Bleisarge, und wenn er auch mit der Zeit zur Mumie ausgetrocknet, diese Teufelsfratze würde doch immer zu erkennen sein. Jedenfalls war es eine interessante Erinnerung, was er da in seinem Keller aufbewahrte – noch etwas ganz anderes als eine in Spiritus eingesetzte Mißgeburt, über welche mancher Anatom in Verzücken geraten kann, die er auf seinem Schreibtisch immer vor Augen haben muß, an deren Anblick er sich weidet wie ein Kunstenthusiast an einem wertvollen Gemälde, das er auf der Auktion erstanden. Solche Gegenstände, die irgend etwas Geheimnisvolles an sich haben, sind tatsächlich geistige Sporne, so wie der Schreiber dieses vor sich auf seinem Arbeitstisch stets eine Sphinx haben muß, ein kleine Figur aus rotem Ton, auf der beim Aufblick sein Auge ruht, und fehlt die Sphinx einmal, so ist es auch mit dem Schreiben vorbei, die Sphinx muß in ihrer erhabenen Ruhe und mit ihrem starren Blick erst wieder vor ihm liegen.
Nobody hatte diesen Kellerraum verschlossen und war, wie wir wissen, sofort nach Ägypten gereist.
Unterdessen waren fast zwei Jahre vergangen, und Nobody, einem Seemann vergleichbar, der auf Segelschiffen große Fahrten macht, war inzwischen nur ein einziges Mal zu Hause gewesen – aus Mexiko war er gekommen, jenen blondlockigen Knaben mit den schwarzen Augen hatte er mitgebracht, den er bei den Mönchen gefunden – er hatte ihn mitgebracht, um ihn dem mütterlichen Schutze seiner Gattin zu übergeben, als Gespielen seiner eigenen Jungen – und dann war Nobody abermals gleich wieder abgereist, ohne einmal in jenen Keller gegangen zu sein.
Und nun! Ja da blieb einfach der Verstand stehen!
Hätte Gabriele, welche alle Schlüssel besaß, auf die Anfrage zurücktelegraphiert, es sei alles in Ordnung, die Leiche befände sich noch in dem Bleisarge ... na, Nobody hätte an einen Traum, an eine Vision oder an sonst etwas geglaubt, an einen Doppelgänger dieses Monsieurs Sinclaire – aber so, die Leiche verschwunden ... das ging eben über den gesunden Verstand desjenigen, der nicht an Gespenster, Hexen, Werwölfe und dergleichen Dinge glaubt!
Doch die Fassungslosigkeit währte nicht lange, so war Nobody wieder der alte, der mit klarem Kopfe überlegen konnte.
Nein, er hatte nicht geträumt, keine Vision gehabt. Und wenn die Leiche nicht mehr in seinem Keller lag, dann war die rote Gestalt im echten Mephistopheles-Kostüm von gestern Nacht auch der echte Sinclaire gewesen, der wieder zum Leben erwacht war.
Wie konnte das nun wohl möglich sein? Lag die Vermutung nicht sehr nahe, daß der geheimnisvolle Mann einen Selbstmord nur simuliert hatte, gar nicht tot gewesen war, um so eine Gelegenheit zur Flucht aus dem Gefängnis zu finden, in das ihn ein Schlauerer gebracht hatte?
Möglich war es; für Nobody wenigstens lag es im Bereiche der Möglichkeit. Denn jenes ähnliche Beispiel von einer Zwischenstufe zwischen Tod und Leben, nämlich wie sich indische Fakire lebendig begraben lassen, vier Wochen lang und noch länger, metertief unter der Erde bei völligem Abschluß der Luft, das ist nicht etwa eine Schwindelei, wie ›Aufgeklärte‹ einfach behaupten. Sie sollen nur hingehen nach Indien, aber nicht mit einer Reisegesellschaft von Cook oder Stange, sie dürfen nicht immer im Hotel wohnen, müssen einmal die ausgetretenen Heerstraßen verlassen! Immer hinunter ins Volk!
Dieses Lebendigbegrabenlassen ist nämlich eigentlich eine religiöse Handlung der indischen Heiligen, eine asketische Bußübung, zu der nicht jeder Uneingeweihte zugelassen wird!
Es gibt genug einwandfreie Augenzeugen, besonders in England unter den in Indien gewesenen Beamten und Offizieren, an deren Berichten nicht zu zweifeln ist – diese Beamten haben nämlich die Macht, solche Vorstellungen zu fordern, sonst muß die ganze Gegend darunter leiden – und der bekannte Carl du Prel hat für dieses Phänomen eine vollständige Erklärung gegeben, und der Schreiber dieses hat auf einem arabischen Pilgerschiffe von einem indischen Fakir und mehreren arabischen Derwischen, welche sich vor türkischen Großen produzieren mußten, noch ganz andere Experimente ausführen sehen, entsetzliche, haarsträubende, und immer mittels einer vorangehenden Autohypnose, indem sie sich nämlich erst in Ekstase versetzten, auf eine grauenhafte Weise, die hier gar nicht beschrieben werden soll.
Also möglich war es, daß der geheimnisvolle Mann, der wohl noch mehr konnte als Brot essen, seinen Tod nur simuliert hatte. Die Flüssigkeit, welche Nobody in nur geringer Menge ins Blut pumpte, war nicht ein direktes Gift. Was es überhaupt gewesen ist, sagt er nicht.
Ja, aber ... hätte er denn, wenn er dergleichen beabsichtigt, so etwas Schriftliches hinterlassen? Er machte doch den Gegner, dem er entfliehen wollte, zum Mitwisser seiner Geheimnisse, indem er ihm das mit dem Teufelsbrunnen verriet! Dann hätte er mindestens eine falsche Angabe gemacht, so daß Nobody beim Drehen jenes Hebels in dem Brunnenschächte in die Luft geflogen wäre!
Und nun zweitens, der Hauptgegengrund für jene Annahme: Wenn Nobody nun den vermeintlichen Toten in einen Sarg gepackt, diesen zugenagelt und in die Erde versenkt hätte, so wie eben jeder andere Mensch unter normalen Verhältnissen begraben wird? Nobody zweifelte, daß sich der zum Leben Erwachte ohne jede Hilfsmittel da wieder herauspaddeln konnte. Und eine Hilfe von außen? Wenn Nobody ihn nun seziert hätte? Die Glieder wieder zusammenflicken und neues Leben einpusten, wie's im Märchen steht – nein, so was gibt's heutzutage nicht mehr.
Wenn es wirklich nur eine Simulation gewesen wäre, so hätte der Gehenkte etwas ganz anderes Schriftliches hinterlassen, eine innige Bitte, seine letzte – »Ich verzeihe Ihnen, aber bitte, bitte, behandeln Sie meine Leiche so und so, und bringen Sie sie da und dahin ...« – oder so etwas Ähnliches.
Nein, nein! Der gute Mann hatte mehr Glück als Verstand gehabt. Er war nicht tot gewesen, ganz gegen seinen Willen, die Einspritzung hatte ihm nichts geschadet, er war wieder zum Leben erwacht, hatte sich aus seinem Sarge und aus Nobodys Hause auf englische Weise verabschiedet. Zu rechnen freilich war damit, daß dieser unvergleichliche Anatom auch schon mit seinem eigenen Körper Experimente angestellt hatte, etwa sein Blut infiziert hatte, um sich giftfest zu machen – dies nur als Beispiel angeführt – er hatte eben dem Einfluß des Todes diesmal noch getrotzt. Aber daß es so kommen würde, das hatte er selbst nicht gewußt, ganz bestimmt nicht!
Was würde dieser geheimnisvolle Mann nun ...
Nobody machte in seinem Gedankengange einen Abschnitt, und den nächsten leitete er damit ein, daß er sich schallend auf den Schenkel klatschte, und dann sagte er zu sich selbst mit dem vergnügtesten Gesichte der Welt:
»Famos, daß dieses Männchen noch lebt! Dann werde ich ihn zum zweiten Male kriegen, dann ihn aber ganz anders einpökeln!«
Das war so echt ›nobodysch‹ gewesen.
Wie drängte es ihn, jetzt sofort mit dem Expreßzug nach London zu jagen, um weitere Untersuchungen über das Verschwinden zu machen!
Gabriele hatte keine Veranlagung zur Detektivin. Daß sie telegraphierte, in dem leeren Bleikasten sei auch kein beschriebenes Papier, war schon sehr viel, was ihrer Auffassungsgabe zu allen Ehren gereichte. Aber sie hätte z. B. auch gleich melden können, ob etwa das Schloß des Kellergewölbes von innen erbrochen worden sei.
Wie gesagt, so gern hätte sich Nobody sofort an Ort und Stelle begeben! Nein, er hatte gegenwärtig ein anderes Ziel im Auge, und er wollte es erreichen, und um alle Kräfte dafür einsetzen zu können, dazu mußte er sich alle anderen Gedanken aus dem Kopfe schlagen! Das ist auch, was man Geisteskonzentration nennt.
Eben weil er dies nicht gleich getan, hatte er auch den großen Fehler begangen. Er hatte die telegraphische Anfrage gleich aufgeben wollen, sobald er die Mauern des Serails hinter sich gehabt, der Schalter war besetzt gewesen, dann hatte er auch gleich auf die Antwort gewartet, zu der Annahme der schnellsten Erledigung berechtigt, weil die Depesche, mit einem Stichwort versehen, direkt in sein Haus lief, dieses Stichwort des Champion-Detektivs ward auch von allen englischen Postämtern bevorzugt, alle anderen Depeschen mußten warten – aber es war doch nicht so schnell gegangen, wie er gedacht hatte.
So hatte er seine Zeit vertrödelt. Sonst wäre er eine Stunde früher hiergewesen, und ihm, dem Detektiv Nobody, hätte der russische Großfürst jenes Weib nicht entführen sollen!!!
Zu spät! Und Nobody machte dafür nicht etwa den Herrn Mephistopheles verantwortlich. Das war ganz einfach seine eigene Schuld, und nun mußte er zur Strafe deswegen erst nach Odessa fahren!
Aber wer hätte auch geahnt, daß der eigentlich erste Mensch, der die aus dem Serail befreite Sklavin zu sehen bekam, gerade ein früherer Liebhaber von ihr sein mußte!
Und nun war das gerade auch noch der Großfürst Alexei Karamsin, der früher unter einem anderen Namen mit der liebebedürftigen Französin poussiert hatte!
Der geneigte Leser erinnert sich doch wohl dieses Namens? Das war der russische Großfürst, dem die Frau durchgebrannt war, weil sie sich nicht an einen andern Mann verschachern und mit der Knute karbatschen lassen wollte, die von Nobody nach dem Koloradotale zu ihren Freundinnen begleitet worden war.
Das Schicksal ist immer gerecht! Diesem russischen Großfürsten ging es in der letzten Zeit recht traurig!
Wie es genug englische Lords gibt – und jeder Lord ist thronberechtigt! – die nichts weiter ihr eigen nennen, als was sie auf dem Leibe tragen, und noch nicht das einmal, so gibt es auch einige russische Großfürsten, deren pekuniäre Lage keine glänzende ist.
Ja, Karamsin hatte riesige Güter – aber sie brachten ihm nichts ein. Ein Ukas des Zaren, durch welchen den Bauern nur einige wenige menschenwürdigere Lebensbedingungen zugebilligt wurden, etwa daß nicht mehr zwanzig Menschen in einer Hütte schlafen durften, sondern nur noch fünfzehn, weswegen mehr Hütten gebaut werden mußten, das konnte so einen Gutsbesitzer gleich an den Abgrund des Ruins bringen. Und ein Großfürst ist ein Großfürst, der braucht zum standesgemäßen Leben mehr Geld als andere Sterbliche.
Durch die Heirat mit der schwerreichen Erbin war dem Alexei Karamsin ja aus der Klemme geholfen worden. Aber sie hätte nicht wieder durchbrennen sollen. O ja, durchbrennen konnte ja seine Frau, nur ihr ganzes Geld hätte sie nicht mitnehmen dürfen! Das war eine Niederträchtigkeit von ihr gewesen!
Einmal im freien Amerika, war von ihr nichts mehr zu wollen. Karamsin brachte trotz aller Schwierigkeiten eine Scheidung fertig, um sich nach einem anderen weiblichen Geldsack umzusehen.
Das aber sollte ihm noch mehr Schwierigkeiten bereiten – nicht das Umsehen, sondern das Kriegen – als die Scheidung.
Der Zar, ein edler Charakter, hatte Näheres über diese faulen Verhältnisse gehört, andere Sachen kamen dazu – Großfürst Alexei Karamsin wurde bis auf weiteres ins Exil geschickt. Das heißt, er durfte sich noch in Rußland aufhalten, nur nicht mehr als Großfürst, und wenn er seinem biederen Namen Alexei Karamsin diesen Titel voransetzte, so war dies Vorspiegelung falscher Tatsachen, und wenn er sich als Großfürst nur fünf Kopeken pumpte, so war das Hochstapelei. Überall konnte er sich noch Großfürst nennen, nur nicht mehr im heiligen Rußland.
Da war es mit ihm schlimm bestellt. Eine lumpige Millioneuse kann so ein Großfürst nicht gebrauchen. Am liebsten ist ihm eine Prinzessin, an deren Hand gleich ein ganzes Ländchen baumelt. Aber so eine will doch keinen Mann haben, der nur von Kellnern und in Gesellschaften zweiter und dritter Güte als russischer Großfürst respektiert wird, im übrigen nicht einmal von einem Kommerzienrat, der alljährlich zur Marschallstafel geladen wird, um es nicht mit dem Hofe zu verderben, zu dem der Verbannte nämlich keinen Zutritt mehr hat. Und genau so wie eine echte Prinzessin denkt jedes amerikanische Goldfischchen im heiratsfähigen Alter. Die wollen für ihr vieles, vieles Geld etwas ganz anderes haben als einen verbannten russischen Großfürsten.
Da sah er sie wieder, seine einstige Poussade, von der er wußte, daß man sie seit einem Jahre in allen Blättern suchte, um sie als einstige Erbin des russisch-amerikanischen Platinschmelzers Ingelby einzusetzen!
Und sie war frei.
Und sie war ... telekail.
Und für 200 Millionen Rubel oder eine halbe Milliarde pfiff Herr Alexei doch auf die ganze Großfürsterei. Schon für die Hälfte war er bereit zu pfeifen.
Und punkt zwölf Uhr pfiff Nobodys Dampfer zur Abfahrt nach Odessa.
– – – – –
»Sie wünschen?«
Von oben herab hatte es der stolze, hochgewachsene Herr zu dem Manne gesagt, der so bescheiden vor ihm stand. Noch nicht einmal seinen Namen kannte er. Der anständig gekleidete Mann, der in einem Hotel von Odessa Madame Lefort hatte sprechen wollen, war sofort vorgeführt worden – nur daß er nicht die begehrte Dame, sondern den Großfürsten Alexei Karamsin zu sehen bekam.
Aber eine kleine Spannung, wenn nicht Besorgnis, war doch in den aristokratischen, maßlos stolzen Zügen zu lesen.
»Sie wünschen?«
»Ich möchte Madame Lefort sprechen.«
»Weswegen?«
»Ich muß eine Unterredung unter vier Augen mit ihr haben.«
Man hätte dem so bescheiden aussehenden Manne gar nicht zugetraut, daß er so energisch sprechen könne. Und die spannungsvolle Besorgnis in des Fürsten Zügen ward immer größer.
»Wie heißen Sie?«
»Auch das werde ich nur Madame Lefort anvertrauen, von der ich weiß, daß sie sich im Hotel befindet.«
»Haben Sie vielleicht mit der Entführung dieser Dame aus dem Serail des Sultans zu tun?«
»Allerdings.«
Da wich die Besorgnis und Spannung aus dem Antlitz und machte dafür einem kampfeslustigen Hohn Platz.
»Das hätten Sie gleich sagen sollen, mein Lieber! Sie wollen die Angelegenheit mit dem Kuratel regeln?«
»Allerdings.«
Also die Französin hatte ihm bereits alles erzählt. Desto besser! Dann konnte sich Nobody diesem Herrn gegenüber alle weiteren Worte ersparen.
»Ich werde meine Braut sofort rufen, Sie auch allein mit ihr lassen. Ich will mit dieser lächerlichen Geschichte gar nichts zu tun haben.«
Er wandte sich der Tür zu. Ein Ruf hielt ihn noch einmal zurück.
»Ihre Braut?«
»Ja, Madame Lefort ist meine Braut.«
»Ich danke Ihnen. Ich wollte dies als Bestätigung, daß ich auch recht gehört habe, nur nochmals aus Ihrem Munde vernehmen.«
Der Großfürst ging. Gleich darauf trat statt seiner die Französin ein, von einem mächtigen, russischen Windhund begleitet, in der Hand eine Hundepeitsche.
Die Tür blieb halb offen. Selbstverständlich stand ihr Galan dahinter.
Nobody hätte sie bald nicht wiedererkannt. Die war mit einem Male wieder ganz jung geworden. Und wie gehässig die erst so blöden Augen auf ihm ruhten, und zugleich ebenso zum Kampfe herausfordernd wie vorhin die des Großfürsten.
»Mit wem habe ich die Ehre?« wollte sie zuerst mit zeremonieller Höflichkeit beginnen, was ihr freilich schlecht gelang.
»Mein Name ist Sandow. Ich bin derjenige, der Ihre Flucht aus dem Serail ermöglicht hat.«
Jetzt versuchte sie, die zeremonielle Höflichkeit in das freudigste Staunen zu verwandeln, was ihr noch schlechter gelang.
»Aaaaahhh, mein Retter!! O, wie soll ich Ihnen danken!«
Sie machte eine Bewegung, als wolle sie in die Tasche greifen, vielleicht um das Portemonnaie zu ziehen.
»Ja, sind Sie denn nur wirklich derselbe, dem es gelang, als Eunuche verkleidet in das Serail zu schleichen? Ich habe Sie ja gar nicht richtig zu sehen bekommen. Sie sehen jetzt ganz anders aus, sprechen auch ganz anders.«
»Das glaube ich wohl. Ja, ich bin derselbe. Doch Madame, ich bin Geschäftsmann, machen wir es kurz. Wollen wir nicht sofort zu einem Notar gehen?«
»Wozu?«
»Nun, um unseren Kontrakt gesetzlich rechtskräftig zu machen.«
»Welchen Kontrakt?« stellte sie sich erstaunt. »Wovon sprechen Sie denn nur?«
»Madame, spielen wir doch keine Komödie. Sie übergeben mir die Vormundschaft über Ihren Sohn und stellen sich freiwillig unter Kuratel.«
Wie sie jetzt die Augen weit aufriß, das gelang ihr viel besser.
»Sie sind – wohl nicht recht – bei Sinnen?! Was schwatzen Sie denn da nur eigentlich? Ich beginne mich wirklich zu fürchten.«
»Das glaube ich, und ich bin wirklich kein Mann, der mit sich spielen läßt. Soll ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen?«
»Noch einmal? Was meinen Sie damit?«
»Genug! Sie wollen Ihren Verpflichtungen, die Sie eingegangen sind, nicht nachkommen?«
»Welchen Verpflichtungen?«
»Schon gut. Nur das eine möchte ich noch ...«
»Haben Sie etwas Schriftliches von mir?«
»O, Madam, ich hatte schon eine kleine Ahnung, oder vielmehr eine sehr starke Ahnung, daß alles so kommen würde. Aber auch ich habe mich vorgesehen.«
Sie machte doch wieder ein sehr besorgtes Gesicht.
»Waren in der finsteren Kammer etwa Zeugen, welche unser Gespräch hörten?«
Gleich hinter der Tür erklang ein unwilliges Husten. Nobody machte sie wohl auf den begangenen Fehler aufmerksam, aber seinen Vorteil nützte er nicht aus – selbstverständlich mit Absicht nicht.
»Sehen Sie, wie gut Sie sich mit einem Male auf alles entsinnen können! Nein, so wenig ich mir etwas Schriftliches von Ihnen geben ließ, so wenig hatte ich Zeugen, ich traute allein Ihrem Versprechen, was mir eigentlich bei jedem ehrlichen Menschen genügt.«
»Aaaahhh,« fing sie da wieder höhnisch an, um ihrer Verlegenheit Herr zu werden. »Jetzt erst verstehe ich Sie! Sie hatten gehört, daß ich eine halbe Milliarde geerbt habe, nicht wahr?«
»Ganz richtig.«
»Und Sie wollten mich nur unter der Bedingung befreien, daß ich Ihnen diese halbe Milliarde abtrete.«
»Madam, Sie sprechen sehr inkonsequent. Jetzt erinnern Sie sich mit einem Male an alles. Das freut mich. Und das stimmt auch, so ist es.«
»Mein Herr, das ist Erpressung!!!«
»I Gott bewahre. Erpressung ist was ganz anderes. Sie hätten doch ganz gut im Serail bleiben können. Ganz nach Wunsch. Allerdings stellte ich Ihnen ein Entweder – Oder, und dazu hatte ich die Berechtigung. Fragen Sie nur einmal einen Advokaten, wenn Sie's nicht glauben.«
»Sie wußten, daß ich die reiche Erbin sei, und Sie haben es mir nicht gesagt – Sie sind ein Halunke!!!«
»Für diese Beleidigung werde ich Sie verklagen. Auch das hatte ich gar nicht nötig. Sie waren bereit, sich unter Kuratel zu stellen, wenn ich Sie aus dem Serail befreite, und damit basta! Außerdem nun aber habe ich Ihr Vermögen ja gar nicht für mich beansprucht, ich selbst will keinen Sou davon haben ...«
»Hahahaha, machen Sie sich doch nicht lächerlich, wer Ihnen das glaubte!«
»Warten Sie, lassen Sie mich nur aussprechen ...«
»Für wen denn sonst?«
»Für Ihren Sohn, wie wir ausgemacht hatten. Vorläufig bekommen Sie nur die Hälfte der Zinsen des Vermögens ...«
»Für meinen Sohn?« stellte sie sich wiederum erstaunt, zu immer neuen Winkelzügen greifend, weil sie gegen die eiserne Ruhe dieses Mannes ganz ohnmächtig war. »Ich habe keinen Sohn.«
»Nanu! Nun schlägt's aber gleich dreizehn! Jetzt wollen Sie wohl auch noch ableugnen, daß Sie in jener mexikanischen Ansiedlung eines Sohnes genasen?«
»Ich?«
»Da hilft nun kein Leugnen, Sie sind die Madame Lefort, da will ich schnell genug Zeugen und andere Beweise bringen, da brauche ich nicht erst den Farmer Longworth herbeizuholen.«
»Na ja,« gab sie jetzt wieder zu, in ihr Ableugnen nicht einmal System bringend. »Was ist mit diesem Wechselbalg?«
Nobody machte eine Bewegung, als bekämpfe er mit aller Macht die Aufwallung eines furchtbaren Zornes. Er beherrschte sich.
»Daß Sie Ihr eigenes Kind einen Wechselbalg nennen, gereicht Ihnen nicht gerade zur Ehre ...«
»Es war eine Verirrung meines Geschmackes, mich an den Hals jenes Indianers zu werfen.«
»Und mich freut es, daß jetzt Ihr Gedächtnis wieder intakt ist. Gestatten Sie mir nun eine Frage? Jener Herr vorhin, der mich zuerst empfing, nannte Sie seine Braut. Mit welcher Berechtigung?«
»Gewiß, Großfürst Alexei Karamsin ist mein Bräutigam,« war die stolze Antwort des eitlen Weibes.
»Sie sind verlobt? Seit wann denn?«
»Wir haben uns gestern verlobt.«
»Verlobt?« stellte sich Nobody immer erstaunter. »Aber wozu denn nur?«
»Hahahaha,« lachte sie gezwungen, »Sie können ja köstlich naiv fragen! Wozu man sich verlobt! Wir werden schon morgen die Hochzeit feiern.«
»Hochzeit? Sie wollen heiraten? Das können Sie doch gar nicht?!«
»Was? Weshalb denn nicht?«
»Na, Sie können doch nicht in Bigamie leben?«
»Was? Was schwatzen Sie da für Unsinn?«
»Na, Sie sind doch schon verheiratet!«
»Gewesen, ich bin Witwe.«
»Gewesen, ja, Witwe gewesen! Sie sind doch dem Schwarzfußindianer Wanitoba legitim angetraut worden. Sie sind mit ihm unters Büffelfell gekrochen, das haben Sie selbst rühmend gesagt.«
Ein starrerstaunter Blick, dann warf sich das Weib in einen Stuhl und brach in ein schrilles Gelächter aus.
»Mit einem Indianer legitim verheiratet, hahahha!! – Weil ich mit ihm unters Büffelfell gekrochen bin, hahahahaha, das ist ja ein köstlicher Witz!!!«
Da hob Nobody seine rechte Hand, und während er sprach, schüttelte er drohend immer den Zeigefinger.
»Ich – will – einmal – ein – Exempel statuieren, daß man die heiligen Gesetze auch des wildesten Volkes, denen man sich freiwillig unterworfen, nicht als Witz aufzufassen, sondern sie zu respektieren hat! Die Zeremonie, welcher Sie sich mit jenem Schwarzfußindianer unterzogen, war eine regelrechte Trauung! Sie hatten das gewußt, Sie selbst haben das gewünscht! Sie sind mit Wanitoba verheiratet! Und er lebt noch! Und damit basta! – Sie können nicht noch einmal heiraten!«
Sie war wieder aufgestanden. Ihre weitere Verachtung klang doch sehr erkünstelt.
»Mann, machen Sie sich doch nicht lächerlich.«
»Lächerlich? Sie werden sehen! Wagen Sie es, morgen vor den Traualtar zu treten!«
»Sie wären der rechte, eine Trauung zu verhindern!«
»Das werden Sie ja sehen. Und ich sage Ihnen: ich – ich werde dazwischentreten und mit lauter Stimme rufen, daß die Braut kein Recht hat, diese Ehe einzugehen, weil sie nämlich schon verheiratet ist – und ich sage Ihnen: Himmel und Hölle werde ich in Bewegung setzen, daß die ganze Welt einmal anerkennen soll, wie auch die Ehe des ärmsten Indianers als heiliges Sakrament zu respektieren ist, wenn diese Ehe beiderseits auf Treu und Glauben abgeschlossen worden, auch wenn kein christlichsanktionierter Priester einen Trauschein ausgestellt hat. Mit allen Mitteln, die mir zu Gebote stehen, werde ich diesen Fall einmal rücksichtslos verfolgen. – Aber haben Sie keine Sorge, daß Sie als Squaw in den Wigwam jener Rothaut zurückwandern sollen. Dieser brave Indianer, dem Sie das Herz gebrochen haben, ist für Sie viel zu gut! Wissen Sie, wohin Sie gehören? Daß Sie Ihr eigenes Kind verleugnet, es einen Wechselbalg genannt haben, das hat bei mir dem Fasse den Boden ausgeschlagen. Ich – bringe – Sie – zurück in das Serail, zurück als Sklavin in die Waschküche – unter die Peitsche des Kislars, da gehörst du hin, du verworfenes Weib, über welchem noch jede Dirne himmelhoch steht, die wenigstens ihr Kind liebt!«
»Hund!!!«
Und eine Hundepeitsche war es, welche durch die Luft pfiff.
Die Lederschnur klatschte in Nobodys erhobene Hand, und mit einem Male hatte er in derselben Hand den Griff dieser Peitsche, noch einmal pfiff sie durch die Luft, und diesmal zog die Lederschnur einen blutigroten Streifen quer über das ganze Gesicht des Weibes!
Ein gellendes Geheul, sie schlug die Hände vor das Gesicht ...
»Hilfe, Hilfe – faß, Woiwod, faß!!«
Aber Woiwod faßte nicht, den Hund hatte Nobodys Blick auf seine Stelle gebannt – dagegen kam aus der Tür der Großfürst herausgestürzt, wollte sich auf den Vermessenen werfen ...
Und noch einmal pfiff die Peitschenschnur durch die Luft ...
»Da, edler Großfürst, das ist die Revanche, daß du deine Frau geknutet hast – so, nun tretet beide morgen vor den Traualtar hin!!«
Auch über das Gesicht des Fürsten zog sich eine rote Schwiele hin – mit einem tierischen Gebrüll wollte er sich auf Nobody stürzen – noch mehr aber als der vorgehaltene Revolver hielten ihn vielleicht diese eiskalten Augen zurück, verwandelten ihn in eine keuchende Statue.
»Großfürst Alexei Karamsin,« erklang es da mit schneidender Stimme, »ich stelle mich Ihnen vor – ich bin Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent, Waffenmeister des Hosenbandordens; auf meinem Schwerte wird demnächst Ihr höchster Gebieter, Seine Majestät der Zar, seinen Ordenseid erneuern – Sie wissen, was ich damit sagen will – ersparen wir uns alle weiteren Förmlichkeiten – ich nehme Ihre Forderung an ... ich bestimme schwere Säbel!«
Und ruhig steckte Nobody den Revolver ein, verbeugte sich und verließ das Zimmer.
– – – – – – –
Ganz Odessa wußte es. Man sprach von nichts anderem.
Im Hotel Prince of Wales logierte der berühmte Detektiv Nobody, der zugleich Champion der englischen Königin war.
Und im Hotel gegenüber logierte der Großfürst Alexei Karamsin. Wegen eines Frauenzimmers, das der Großfürst bei sich hatte, war es zwischen beiden zu einer Szene gekommen; der englische Baronet hatte den russischen Fürsten geprügelt.
Aber schon eine Stunde später konnte es auch der Milchjunge erzählen, der seine Ziegen als lebendiges Reservoir durch die Straßen trieb, um die Milch gleich vor den Türen der Hausfrau in den Topf zu melken: nein, das war nicht nur so ein Frauenzimmer, sondern der Großfürst will sie morgen in aller Schnelligkeit heiraten, es ist schon alles vorbereitet, aber der englische Detektiv will das nicht haben, er hat alle beide mit der Peitsche im Gesicht bearbeitet.
»Gott, wie interessant!« wurde in den Salons geflüstert, besonders von schönen Damenlippen. »Werden sie sich nicht schlagen?«
»Gewiß doch! Im Hotel des Großfürsten sind vorhin zwei Säbel abgeliefert worden, mächtige Dinger – Karasch, Sie wissen, der Fechtlehrer, ist hinbestellt worden – obgleich Karamsin übel zugerichtet worden ist und seine Schwiele im Gesicht mit Eis kühlen muß, will er das Duell doch nicht verschieben, er nimmt noch einige Fechtlektionen.«
»Aber dieser Nobody ist ein Engländer, dem das Duell verboten ist.«
»Ach, was kümmert sich Nobody um so etwas!«
Offenbar war die Sympathie aller auf Nobodys Seite. Und er war der Waffenmeister des Hosenbandordens, von dem eigentlich verlangt wird, daß er der beste Fechter Englands ist – das wurde wenigstens früher von dem Champion der Königin gefordert, und bei diesem Nobody dürfte das auch heute noch zutreffen – und wenn er den Großfürsten, diesen Unmenschen, der seine Gattin geprügelt und ins Elend getrieben hatte, nur nicht etwa schonte!
Ja, wenn man nur gewußt hätte, wann und wie und wo das Duell stattfinden sollte! Man mußte sich begnügen, die beiden Hotels zu umlagern. Daß sich die Polizei eingemischt hätte, das war hier ganz ausgeschlossen.
Was für Sekundanten sie wohl hatten? Da kamen sie schon! Die beiden Herren, die jetzt das Hotel Prince of Wales betraten, waren sicher die von Nobody bestellten! Was der eine von ihnen für ein merkwürdiger Kauz war, so klein und so dick und bei all seiner Gravität doch so possierlich! Und wie eilig es die beiden hatten!
Und dann beobachtete man noch anderes, was viel zu denken gab, mehr noch zum Schwatzen.
Diese zahllosen Depeschen, die der englische Detektiv plötzlich abschickte! Nach London, nach Paris, nach New-York, nach Städten, von denen man noch gar nichts gehört hatte, und ebenso bekam er auch zahllose Depeschen wieder zugestellt. Auf dem Hauptpostamt war ein Apparat nur für ihn reserviert.
Die Telegramme waren sämtlich chiffriert, bestanden nur aus Zahlen. Was mochte er nur so viel zu telegraphieren haben? An wen? Machte er auf diese Weise sein Testament? Ordnete er seine Angelegenheiten? Erledigte er noch schnell einen Kriminalfall?
Vergebens zerbrach man sich den Kopf.
Dann kamen die beiden Sekundanten des Großfürsten aus dem anderen Hotel herüber. Sie wurden von Nobodys Sekundanten empfangen, Champagnerpfropfen knallten.
Die Sekundanten des Großfürsten waren zwei russische Edelleute; die des englischen Detektivs hießen Mr. Jordan Hatting und Mr. Cerberus Mojan, beide Amerikaner. Das hatte man nun schon herausgebracht.
Und der chiffrierte Depeschenwechsel zwischen dem Hotel zu Odessa und zwischen aller Welt ging den ganzen Tag ununterbrochen weiter.
– – – – – – –
Ein neuer Morgen begann zu grauen.
Neben dem Wäldchen hielt eine Equipage. Zwei Herren gingen fröstelnd auf und nieder, ein dritter packte auf dem Rasen seinen Verbandkasten aus. Großfürst Karamsin lehnte mit über der Brust gekreuzten Armen an einem Baum.
Wie ein Feuermal leuchtete die rote Schwiele quer über seinem finsteren Gesicht. Die hinterließ eine böse Narbe, die konnte später auch ein Sachunkundiger von einem ehrenvollen Säbelhieb unterscheiden.
Was tat's? Es würden bald noch andere Blutzeichen hinzukommen.
Der Russe war sich bewußt, mit wem er in den nächsten Minuten zum Zweikampf antreten würde. Er machte sich gar keine Hoffnung. Mochte er selbst in der Führung des krummen Säbels noch so firm sein – er hatte schon genug von diesem Nobody gehört. Monsieur Karasch, der Fechtmeister, der den englischen Detektiv näher kennen wollte, hätte ihm gar nicht erst solche haarsträubende Dinge zu erzählen brauchen.
Ein Feigling war dieser Russe nicht etwa. Er hätte das Duell wegen der Wunde im Gesicht, die seinen Blick doch trüben mußte, aufschieben können, der Vorschlag war ihm gemacht worden – er hatte es abgelehnt. Schon morgen, heute, mußte diese Ehrensache erledigt werden.
Er wollte alle Kraft und Kunst zusammennehmen, um seinem Gegner wenigstens eins auszuwischen. Nur unter einer Bedingung würde er gern auf diesen Wunsch verzichten; wenn ihn Nobodys Säbel nicht nur zum Krüppel machte.
Lieber eine tüchtige Prim, die den Kopf gleich bis zum Halswirbel spaltete.
Aber wie dieses freundliche Gesuch anbringen? Darüber grübelte der Fürst nach, wie er so, an seiner Unterlippe nagend, an dem Baume lehnte.
»Sie kommen! Ganz pünktlich!«
Eine zweite Equipage fuhr vor. Die Sekundanten begrüßten sich. Nobody unterhielt sich mit dem Arzte.
Jeder der vier Sekundanten hatte einen Säbel, unter denen die Duellanten dann auswählen konnten. Sie wurden umständlich miteinander verglichen.
Die Mensur, der Abstand der Zweikämpfer, wurde ausgemessen.
Dann gab es auch noch andere Zeremonien zu erledigen, ehe sich die Duellanten in Positur stellten und ihnen die gewählten Waffen übergeben wurden.
»Mr. Mojan, übernehmen Sie es,« flüsterte Hatting.
Mojan klemmte seinen Säbel – fast so lang wie er, nur nicht so dick – zwischen die Beine, zog den Quadratmeter eines grünen Taschentuches hervor, in dem ein roter Halbmond mit Stern, betrachtete es tiefsinnig, brachte es an seine Nase, trompetete in den Mond hinein, drehte das Monstrum von einem Taschentuch herum, trompetete in den Stern hinein, und als er sich austrompetet hatte, nahm er mit Würde das Wort.
»Meine Herren – ääääääähhhh. Schon in der Bibel – äääähhh – steht geschrieben – ääääähhh – der Mensch – ääääähhh – lebt nicht von Brot allein – ääääähhh – und Sie alle werden wissen – daß in der Bibel – ääääähhh – auch noch etwas anderes steht. So schwer – ääääähhh – der vorliegende Fall nun auch sein mag – ääääähhh – so ist eine Versöhnung – ääääähhh – doch nicht gänzlich au–au–au–au–ausgeschlossen ...«
»Ich bin zu einer Aussöhnung bereit.«
Der Großfürst und seine Sekundanten glaubten ihren Ohren nicht trauen zu dürfen, diese Worte aus Nobodys Munde zu hören.
»Herr, wollen Sie mich auch noch foppen?!« fuhr der Großfürst wütend auf.
»Durchaus nicht, es ist mein bester Wille, mich mit Ihnen zu versöhnen. Ich bin auch zu einer Abbitte bereit. Ich habe einen besonderen Grund dazu.«
»Lassen wir die Herren allein,« entschied Mr. Hatting, und die anderen, so kopflos sie auch waren, schlossen sich ihm an, zogen sich etwas in den Wald zurück.
»Ist es Ihr Ernst?«
»Ja. Ich bin in der Nacht zur Überzeugung gekommen, daß ich Ihre Trauung mit jener Dame ja doch nicht verhindern kann ...«
»Ah, also doch!« durfte der Großfürst triumphieren.
»... und der Beweis, daß Madame Lefort mit einem Indianer verheiratet ist, dürfte sich schwer erbringen lassen. Ich spreche ganz offen. Außerdem habe auch ich Instruktionen zu befolgen, es sind mir solche auf telegraphischem Wege zugegangen ...«
»Daß Sie sich in diese Angelegenheit nicht mischen sollen?«
»Ja.«
»Von welcher Seite aus?«
»Das muß mein Geheimnis bleiben. Übrigens handelt es sich eigentlich nur um jene indianische Zeremonie; es würde doch böses Blut erzeugen, wollte man solch eine Zeremonie als heilige Handlung ausfassen, die jeder Christ respektieren muß, da müßte man ja selbst die Menschenfresserei der Karaiben billigen ...«
»Ich verstehe, ich verstehe.«
Mochte der Großfürst von dieser plötzlichen Inkonsequenz, um nicht zu sagen Charakterlosigkeit seines Gegners denken was er wolle, mochte er sonst auch ein noch so furchtloser Ritter sein – jedenfalls kam ihm dieser Gesinnungswechsel äußerst gelegen.
»Dies alles,« fuhr Nobody in bescheidener und dennoch stolzer Weise fort, »wäre noch kein Grund zur Versöhnung. Ich habe Sie furchtbar beleidigt. Dennoch biete ich Ihnen die Hand. Mit einer Bitte.«
»Was wollen Sie?« stieß der Großfürst zornig hervor.
»Sie, ein Edelmann, müssen für Ihre beleidigte Ehre Genugtuung fordern. Aber wissen Sie auch, daß Sie, wenn Sie mir mit dem Säbel gegenübertreten, unrettbar verloren sind?«
»Oho! Das wird sich ja finden! Auch ich weiß mit dem Kavalleriesäbel umzugehen!«
»Bitte, seien Sie so offen wie ich. Ich habe mich schon gedemütigt genug. Kommen Sie mir wenigstens etwas entgegen. Ich mag mich nicht selbst rühmen. Aber sollten Sie nicht schon von mir gehört haben? Wenn Sie mich auch nur mit der Säbelscheide zu ritzen vermögen, so will ich mir noch nachträglich eine Kugel durch den Kopf schießen – auf mein Ehrenwort! – doch bei Ihrem ersten Ausfall muß es geschehen – denn im nächsten Augenblick schlage ich eine Finte, die Sie nicht parieren sollen – und die mich bedrohende Waffe liegt am Boden – und Ihre Hand, Ihr ganzer Arm soll noch daran sein.«
Der Großfürst preßte die Lippen zusammen. Zum Krüppel geschlagen werden – das war ihm der entsetzlichste Gedanke.
Nobody ließ ihm keine Zeit, zu Worte zu kommen.
»Wir können ganz offen sprechen, niemand hört uns. Wir sind beide Christen. Es ist mir um jenes Kind zu tun. Sie wissen. Es ist ein reizender Junge. – Kurz und bündig: Sichern Sie mir zehn Millionen Rubel zu, die ich auf des Kindes Namen schreiben lassen werde. Für einen Mann, dessen Frau eine halbe Milliarde zu erwarten hat, ist das doch eine Kleinigkeit. Dann ist die ganze Sache erledigt.« – –
Was des Großfürsten Sekundanten dachten, als sich die ganze Duellaffäre so in Wohlgefallen auflöste, als der Großfürst sogar in Nobodys Equipage stieg, das wissen wir nicht. Einen hohen Begriff von dieses berühmten Detektivs Charakter mochten sie eben nicht bekommen haben, und dasselbe galt wohl auch für die Madame Lefort, als sie den Ausgang erfuhr.
Doch was machte sich denn Nobody aus fremden Meinungen! Und die beiden anderen waren mit dieser Wendung sehr, sehr zufrieden!
In einem Zimmer seines Hotels stellte der Großfürst einen Wechsel über zehn Millionen Rubel aus, so gut wie bares Geld.
»Das ist der höchste Wechsel, der jemals ausgestellt worden ist,« sagte sich Nobody, »den präsentiere ich gar nicht, der kommt in meine Raritätensammlung.«
Nobody irrte sich, und er konnte auch nicht wissen, daß fast zu eben dieser selben Zeit im fernen Südafrika der Diamantenkönig Cecil Rhodes einen Wechsel oder Scheck über zwei Millionen Pfund Sterling oder vierzig Millionen Mark ausschrieb, womit er die Kimberley-Minen gekauft hatte.
»Ich danke verbindlichst,« sagte Nobody mit vergnügtem Lächeln, als er den Wechsel mit der Riesensumme einsteckte, »ich danke im Namen eines unmündigen Kindes. Vorläufig ist es ja nur ein wertloses Stückchen Papier ...«
»So gut wie bares Geld,« versicherte der Großfürst mit herablassender Handbewegung.
»Nun, ich werde den besten Gebrauch davon machen. Ist denn das mit der Erbschaft auch wirklich ganz sicher?«
Na und ob! Totsicher. Sie mußten nur nach Amerika gehen, nach New-York, wo Elias Ingelby sein Testament hinterlegt hatte. Dort aber war alles schon klipp und klar – Madame Lefort oder dann vielmehr schon die Großfürstin Karamsin mußte nur immer das Geld einstreichen, die Hypothekenbriefe und die anderen Wertpapiere nachzählen – wobei ihr der Gatte wacker mit half.
– – – – – – –
Die Gemütlichkeit dieses rätselhaften Mannes, der sich Nobody nannte, ging noch viel, viel weiter. Er war eben eine Seele von einem Menschen.
Sogar Trauzeuge war er, nämlich bei der Zeremonie, die gleich darauf im Hotel von einem russischen, schon bestellt gewesenen Priester vorgenommen wurde, und der zweite Zeuge war Mr. Cerberus Mojan, der seinen Schmerbauch nicht schlecht herausreckte.
»Amen,« sagte der Priester: die Ringe wurden gewechselt, und dann waren die Neuvermählten bereit, die Glückwünsche entgegenzunehmen.
Nobody zögerte noch etwas damit, es sah aus, als wolle er erst eine kleine Ansprache halten, und so geschah es denn auch.
»Gestatten Sie mir erst noch eine Bemerkung. Der verstorbene Platinfürst Elias Ingelby hat früher wirklich Fedor Welinsky geheißen. Er hat wirklich eine Schwester gehabt, die Maria hieß. Dieser Schwester oder ihren Kindern hat Elias Ingelby tatsächlich sein Vermögen vermacht. Aber dieser Fedor Welinsky, Gnädige, war nicht Ihr Onkel, seine Schwester also auch nicht Ihre Frau Mutter. Schlagen Sie nur im Petersburger Adreßbuche nach, wie viele Fedor Welinskys es da gibt, und so dürften auch die Marias nicht dünn gesät sein. Hier liegt also ein verzeihlicher Irrtum vor. Auch ich befand mich ein ganzes Jahr lang auf dem Holzwege. Nun ist die ganze Sache erledigt. Hier, mein Freund, Mr. Mojan, brachte mir gestern die letzte Ausgabe des New-Yorker Herald, in der die Erledigung dieser Erbschaftsgeschichte amtlich bekannt gemacht wird. Vor acht Tagen haben sich die Kinder der echten Maria Welinsky endlich gemeldet, haben die Erbschaft bereits rechtskräftig angetreten. Daß alles so ist, darüber habe ich bereits gestern telegraphische Erkundigungen eingezogen. Jawohl, stimmt alles. – Und nun wünsche ich Ihnen recht vergnügte Flitterwochen.«
»Didididididito,« sagte Mr. Cerberus Mojan und schloß sich dem Hinausgehenden an.
Hinter ihnen war es still wie im Grab. Das waren ja auch keine lebendigen Menschen mehr, die waren schon von der Todesstarre befallen worden. –
Sie reisten dennoch nach Amerika, obgleich sie sich schon hier mit untrüglicher Gewißheit darüber orientieren konnten, daß ihre Sache hoffnungslos verloren war.
Schon auf dem Passagierdampfer ward dem brutalen Russen gedroht, wenn er sich noch einmal an seiner Frau vergriffe, würde er in eine Arrestzelle gesperrt. Und in New-York ließ man es nicht nur bei der Drohung bewenden.
Als eine Frau aus dem Fenster um Hilfe rief, ihr Mann mißhandele sie, wolle sie morden, wurde dieser Mann von der Polizei festgenommen und nach kurzem Richterspruch zu einigen Monaten Gefängnis verurteilt. Und dieser Mann hieß Alexei Karamsin und hatte sich als russischer Großfürst in die hohe Gesellschaft einführen wollen, was ihm aber wegen gänzlichen Geldmangels mißlungen war.
Dann sind beide verschwunden. In Rußland tauchte der Großfürst nicht wieder auf, obgleich er dort doch noch immer riesige Besitzungen hatte. Aber erst hätte er jenen Wechsel einlösen müssen.
O nein! Lieber nicht!
Das Schicksal, personifiziert in Nobody, hatte gerichtet!
– – – – – – –
Vier Tage später drückte Nobody Frau und Kinder an sein Herz.
In die Freude des Wiedersehens durfte sich kein fremder Gedanke mischen. Aber einmal mußte es doch kommen.
Nobody erzählte. Gabriele teilte ja nicht etwa die Detektivarbeit ihres Mannes; wenn er abreiste, wußte sie manchmal gar nicht, wohin und weswegen, seine Erfolge und Abenteuer bekam sie gewöhnlich erst später zu lesen – aber hier war doch einmal eine große Ausnahme.
Ruhig hörte sie zu. Diese Frau war mit Gott und sich selbst im reinen, sie konnte nichts so leicht schrecken, am allerwenigsten so etwas. Ja, wenn ein großes Unglück geschehen wäre, wo es weinende Witwen und Waisen gab! Aber so etwas, wo ein toter Mensch wieder lebendig geworden war – das beeinflußte ihre Gemütsstimmung nicht.
»Seltsam!«
»Hast du während meiner Abwesenheit nichts Auffälliges bemerkt? Vielleicht gleich in den ersten Tagen nach meiner Abreise.«
»Gar nichts.«
»Haben die Hunde nicht einmal in der Nacht angeschlagen?«
»Das wohl, aber stets fanden wir gleich einen einfachen Grund dazu. Nein, sonst hat sich im Hause gar nichts Besonderes ereignet.«
»War denn der Kellerraum verschlossen?«
»Ja, ich mußte den Schlüssel umdrehen. Doch willst du nicht selbst einmal hinuntergehen? Vielleicht findest du irgendwelche Spuren.«
Gewiß, Nobody hatte nur die ersten Fragen gestellt. Gabriele begleitete ihn.
Die Mitnahme eines Lichtes war nicht nötig. Überall flammten elektrische Glühbirnen auf, auch im Keller.
Ehe Nobody an der betreffenden Tür den Schlüssel ansetzte, untersuchte er das Schloß. Nichts Auffälliges.
Jetzt schloß er auf. Ein Druck, und der Kellerraum war taghell erleuchtet.
Auf Regalen standen in Glasflaschen und Glaskästen die einbalsamierten Tiere der verschiedensten Art, in natürlicher Stellung – ein recht interessantes zoologisches Museum kleineren Maßstabes.
Auf einer Stellage, mit einem samtnen Tuche überdeckt, ruhte die lange, sargähnliche Bleikiste.
»Hattest du jemanden bei dir, als du hier warst?« war Nobodys erste Frage.
»Nein.«
»Wer hat denn den Deckel wieder darübergelegt?«
»Nun, ich allein.«
»Du konntest dir Schaden tun!!« war der nächste Gedanke des zärtlichen Gatten.
»O, er war gar nicht so schwer,« lächelte Gabriele, die ehemalige Wüstenräuberin, die manchmal wohl noch ganz andere Kraftleistungen vollbracht hatte.
Nobody hob den Bleideckel ab und ...
Ein Blick in den Sarg, ein erstaunt fragender Blick auf seine Frau – und schnell ließ er den Deckel fallen, um die taumelnde Gabriele aufzufangen.
Da lag er! Lag genau noch so da, wie ihn Nobody vor zwei Jahren hingelegt hatte, gestiefelt und im schwarzen Gehrockanzug und das schwarze Haar in der Mitte sorgfältig gescheitelt, die eine Hand an der goldenen Uhrkette – nur daß diese Hand ganz ausgetrocknet war, ebenso wie das Gesicht, obgleich dieses die von Haß und Hohn verzerrte Teufelsfratze beibehalten hatte – alles genau so, wie es nach Nobodys Berechnung hatte im Laufe zweier Jahre kommen müssen.
Gabriele hatte sich sehr schnell von ihrem Entsetzen erholt. Schon dieses Entsetzen hatte genug erzählt. Dann war es eine Folge ihres unerschütterlichen Gottvertrauens, was ihr so schnell die Ruhe wiedergab, und diese Seelenruhe drückte sich allein schon in ihrer ersten Frage aus.
»Wann war es, als du mich telegraphisch fragtest, ob Sinclaires Leiche noch in dem Bleisarge läge?«
»Vor sechs Tagen.«
»Nun, Alfred, du weißt, daß ich immer kerngesund gewesen bin. Auch während deiner Abwesenheit war ich es. Und ich leide doch auch nicht an Halluzinationen. – Heute vor sechs Tagen, gegen zehn Uhr morgens, erhielt ich dein Telegramm, ich entzifferte die Geheimschrift, ging sofort hierherab, schloß auf, nahm den Deckel ab ... und da hat in dieser Bleikiste diese Mumie nicht gelegen. Der Kasten war leer. Glaubst du mir das, Alfred?«
Ja, Nobody glaubte diesen mit so gelassener Ruhe gesprochenen Worten. Der Kopf ihm ab, wenn sich seine Gabriele hierin auch nur geirrt hätte!
Aber ein Ächzen entrang sich seiner Brust.
»Gabriele, o, Gabriele – ist denn das nur eine Erklärung?!!«
– – – – – – –
Nobody saß in seinem Arbeitszimmer, die Ellbogen auf die Platte des Schreibtisches gestemmt und den Kopf in die Hände. So stierte er vor sich hin, und lange, lange Zeit schon hatte er so gesessen.
Da plötzlich legte sich eine weiche Hand auf seine Stirn.
Obgleich seine Gedanken mit Dingen aus dem Jenseits beschäftigt gewesen waren, schrak er nicht im mindesten zusammen – er kannte ja diese weiche Hand, sie hatte sich gar oft schon auf seine Stirn gelegt, um sorgenvolle Falten zu glätten.
»Gabriele, ach, Gabriele!«
»Gib dich nicht dem Grübeln hin, Alfred. Es geschieht nichts, auch kein einziges Härchen wird auf unserem Haupte gekrümmt, ohne daß Gott es will. Und ich glaubte bestimmt, bin fest davon überzeugt, daß du auch noch dieses Rätsel lösen wirst, und dann wirst du lächelnd an jene Stunde zurückdenken, da du in alledem etwas Übernatürliches erblicktest. Verlaß dich drauf: auf ganz natürliche Weise wird sich alles erklären.«
Hastig sprang Nobody auf und ergriff ihre Hand.
»Gabriele, ich danke dir, daß du so zu mir gesprochen hast. In diesem Augenblicke haben deine Worte einen Entschluß in mir geändert.«
»Was für einen Entschluß?«
»Meinen Detektivberuf ganz aufzugeben.«
»O, Alfred, das wirst du nicht tun!! Du würdest eine Unterlassungssünde gegen die ganze Menschheit begehen!«
»Nein, nein – es war ja auch nur so ein Gedanke, es ist schon wieder vorbei.«
Erst später erkannte Nobody voll und ganz, was für einen Heroismus diese Frau in diesem Augenblicke gezeigt hatte.
Denn war es nicht ganz bestimmt ihr sehnlichster Wunsch, der geliebte Mann und Vater ihrer Kinder möchte den gefährlichen Detektivberuf, der ihn gewöhnlich elf Monate des Jahres fern von seinem Hause hielt, aufgeben, um ihn immer an ihrer Seite zu haben?
Ganz gewiß! Aber nein, erst kommt die Pflicht, und so gefährlich und so ungewöhnlich auch der erwählte Beruf sein mag, bei ihm hat eine geheimnisvolle Stimme mitgesprochen, es ist etwas Göttliches dabei, solange dieser Beruf nur für die Mitmenschen von allgemeinem Nutzen ist, daß die innere Stimme mit dem Gewissen harmoniert, und das ist der Grund, weshalb man sowohl den Schleusenräumer als den Henker achten soll.
»Nur noch ein einziges Wort möchte ich darüber verlieren,« fuhr Gabriele fort. »Könntest du in dieser Angelegenheit nicht Edwards Sehergabe benutzen?«
»Ja, wenn ich nur wüßte, wo dieser Kerl wieder einmal steckt!?« konnte Nobody schon wieder in scherzendem Tone rufen, und gleich ging Gabriele auf dieselbe Stimmung ein, zeigend, wie sie ihren Mann zu behandeln, sorgenschwere Gedanken von ihm abzulenken wußte.
»Dann, Alfred, möchte ich dich einmal um eine Gefälligkeit bitten,« lächelte sie.
»Um eine Gefälligkeit? Das sind ganz einfache Worte, aber es klingt so geheimnisvoll. Was hast du da unter der Schürze?«
Schon immer hatte sie ihre linke Hand unter dem seidenen Schürzchen verborgen gehabt.
»Ja, das ist es eben. Du berühmter Detektiv hattest noch niemals Gelegenheit, für deine eigene Frau tätig zu sein – Kleinigkeiten ausgenommen – du hast mich ja erst unter der Maske des Wüstenräubers entdeckt, sonst wäre ich ja gar nicht deine Frau geworden ...«
»Und das nennst du eine Kleinigkeit? Na, ich danke!« erklang es in heiterstem Tone. Nobody war schon wieder ganz der alte.
»Ja, aber ich habe dich noch niemals gebeten, für mich wirklich als Detektiv tätig zu sein. Wenn ich einmal meine Schere verlegt hatte – na, die hätte ich schließlich selber wiedergefunden ...«
»Jawohl, nun schmälere auch noch meine Verdienste und meinen Ruhm! Aber Tatsache, du hast einen Auftrag für mich? Bringt mir die Sache auch etwas ein, wenn ich sie in die Hand nehme?«
Man sieht wohl, welch heitere Stimmung zwischen den beiden schon wieder herrschte, und so sind auch die folgenden Worte aufzufassen.
»Du kannst dir sogar einen neuen Lorbeer in deine Ruhmeskrone flechten, aber – aber ...«
»Nun heraus damit. Was hast du da unter der Schürze?«
»Ja, das ist es eben,« erklang es abermals in kläglichem Tone. »Ich – ich getraue mir gar nicht recht, es zu sagen. Ich denke, du kannst jedem Menschen immer alles gleich ansehen?«
»Blicke mich an!« befahl Nobody und riß seine Augen in komischer Weise möglichst weit auf, und Gabriele tat dasselbe.
»Siehst du, du kannst mir nicht ins Auge blicken.«
»Nicht?«
»Du wirst abwechselnd rot wie eine Klatschrose und dann wieder weiß wie eine frischgetünchte Kalkwand.«
»Davon merke ich gar nichts.«
»Dieses Farbenspiel geht auch nicht äußerlich, sondern nur innerlich vor sich, und ich blicke in dein Inneres. Gabriele – ich muß es dir offen sagen – es tut mir leid, weil du meine Frau und die Mutter meiner unerzogenen Kinder bist, aber – Gabriele, du hast ein furchtbar schlechtes Gewissen!«
»Ja,« erklang es in weinerlichem Tone.
»Gabriele, du hast etwas gemaust.«
»Ja,« erklang es wie vorhin.
»So gesteh! Enthülle das Korpusdelikti, das du da unter deiner Schürze verborgen hältst.«
»O nein, Sie sollen nicht gleich mein Richter, sondern erst mein Rechtsanwalt sein.«
»Auch gut. Also vertrauen Sie sich mir an.«
»Ich habe – habe – ich benutzte gestern eine Droschke, und da – und da ...«
»Und da haben Sie das Pferd ausgespannt und mitgenommen? Vom juristischen Standpunkte aus betrachtet, ist das ja allerdings einem Diebstahle gleichzuachten ...«
»Ach nein, nicht das Pferd ...«
»Auch gleich die ganze Droschke mit? Aber ich bitte Sie, Madam, Sie können doch da unter Ihrer Schürze nicht ein Pferd samt der Droschke haben?«
»Ich habe in der Droschke etwas gefunden.«
»Aha. Und es nicht abgeliefert, nicht wahr?«
»O doch, aber – aber ...«
»Wohl ein Brief, den Sie vor der Ablieferung an den rechtmäßigen Besitzer abgeschrieben haben?«
Mit grenzenloser Überraschung blickte Gabriele auf.
»Woher weißt du ... nein, kein Brief, aber – aber – so etwas Ähnliches ...«
»Dann vielleicht eine Photographie, die Sie vor der Ablieferung kopiert haben.«
Gabrieles Erstaunen wuchs nur. Sie brachte tatsächlich unter ihrer Schürze eine Photographie zum Vorschein.
»Woher in aller Welt kannst du denn das nur wissen?«
»Ja, daher eben der Name Detektiv! Übrigens hast du mir die Sache nicht allzuschwer gemacht, und auch unter deiner Schürze verriet sich so etwas Eckiges. Was ist nun mit dieser Landschaft?«
»Erst mußt du mein Gewissen reinigen oder mich den Gerichten zur Bestrafung ausliefern. Das Original, welches ich fand, habe ich auf dem Fundbureau der Polizei abgeliefert, habe aber vorher die Photographie kopiert, weil sie für mich ganz besonderes Interesse hatte. Erst hinterher fiel mir ein, daß ich mich am Ende gar einer strafbaren Handlung schuldig gemacht habe ...«
»Ach wo! Du darfst jede Photographie vervielfältigen, nur die Vervielfältigungen ohne Erlaubnis des Urhebers nicht in die Öffentlichkeit, nicht in den Handel bringen.«
»So bin ich also schuldlos?«
»Wie ein Engel.«
»Nun sieh dir die Photographie nur einmal richtig an!«
Nobody war schon dabei. Das Ganze stellte eine gebirgige Landschaft vom wildesten Charakter dar, und der Vordergrund links, wohin der Photographenapparat eingestellt gewesen war, zeigte nun allerdings etwas ganz Auffälliges.
Es war ebenfalls eine wüste Felsenmasse, in die wohl eher der Meißel eines Künstlers als die nach Laune schaffende Natur Gebilde gebracht hatte.
Aus der Ecke eines vorspringenden Felsens war ein grinsendes Menschengesicht gemacht worden, darüber eine Löwenklaue, daneben am Boden ein zum Sprunge geduckter Panther oder Tiger – am meisten aber herrschte die menschliche Fratze vor, und wer nur etwas Phantasie besitzt, der kann doch auch fast aus jeder verzerrten Figur, in der noch einige Löcher sind, ein menschliches Gesicht machen, mit und ohne Bart, mit gerader und krummer Nase, schiefmäulig, mit Hörnern oder mit einem Federhelm auf dem Kopfe – und so hatte auch hier die Phantasie eines genialen Bildhauers frei gewaltet.
Nobody schätzte Hunderte von solchen Figuren und Reliefbildern ab, und als er zur Lupe griff, erkannte er, daß diese Umgestaltung der natürlichen Felsen in Figuren noch viel, viel weiter nach hinten ging.
»Das ist allerdings originell!!«
»Nicht wahr? Und sieh, ich habe doch in der ägyptischen Wüste selbst so eine Liebhaberei betrieben, nur daß ich meine Blöcke, die ich bearbeiten wollte, an versteckten Plätzen suchte, ich wollte meine Anwesenheit doch nicht verraten. Aber nun hier – so ganz offen – das muß ja eine Sehenswürdigkeit allerersten Ranges sein! Und nun betrachte vorn den Cäsarenkopf, diese klassischen Züge, dieser Geist, der daraus spricht, diese Stirn, diese Nase – das ist ein gottbegnadeter und akademisch geschulter Künstler, der das dort in Gottes freier Natur geschaffen hat!!«
»Hm. Wo mag sich denn dieses offene Atelier befinden?«
»Das eben frage ich den berühmten Detektiv Nobody. Nun detektive mal.«
»Hm. Da stellst du an meinen Scharf- und Spürsinn gar keine so leichte Anforderung. Die Sache mache ich nicht billig. Kein lebendiger Mensch, kein Tier, kein Baum, nicht einmal ein Grashalm – ja, nun frage ich einen Menschen, wie soll man denn aus diesen Schutthaufen, Berge genannt, erkennen, in welcher Gegend der Erde die eigentlich liegen?«
»Das herauszubringen ist eben deine Sache. Wozu habe ich denn sonst einen Detektiv geheiratet?«
»Das muß in einer ganz unbekannten Gegend der Erde sein, sonst wäre dieses Bildhaueratelier in Gottes freier Natur doch, wie du auch schon gesagt hast, eine Sehenswürdigkeit allerersten Ranges, da müssen ja die Besucher in Scharen hinströmen.«
»Nun, Mister Nobody, mit dieser Bemerkung zeigen Sie nicht gerade einen besonderen Scharfsinn. Das habe ich mir beim ersten Blick auch gesagt.«
»Weißt du, ich werde ein Rundreisebillet nehmen und die ganze Erde abkleppern.«
»Nach dort dürfte noch keine Eisenbahn führen.«
»Dann lasse ich mir eine hinbauen. Wenn ich nur erst wüßte, in welchem Erdteil oder auf welcher Hälfte der Erdkugel dieses Gebirge eigentlich läge!«
»Kannst du weitgereister Mann wirklich gar nichts aus der Struktur der Gebirgsform erkennen?«
»Hm, das könnte Südafrika fein, oder – oder – auch Norwegen könnte in Betracht kommen.«
»Nicht vielleicht auch das amerikanische Felsengebirge oder das chinesische Zentralgebirge?«
»Auch nicht unmöglich. Na warte mal, das wollen wir schon kriegen. Die Hauptsache ist, daß die Berge oben spitzer sind als unten, das ist schon ein wichtiger Anhaltepunkt. Da ist am Himmel auch eine Wolke. Wo habe ich diese Wolke nur schon einmal gesehen? Na, das wollen wir gleich kriegen.«
Aus dieser scherzhaften Unterhaltung ersieht man, wie schnell Nobody alle die drückenden Gedanken, die das Wiedererscheinen jenes Mephistopheles in ihm erzeugt, von sich geschüttelt hatte – oder vielmehr seine Gabriele war es, die dies zustande gebracht hatte.
Während der letzten Worte hatte Nobody einige Zeilen auf ein Stück Papier geschrieben, jetzt steckte er dieses nebst der Photographie in ein Fach seines geheimnisvollen Schreibtisches, dessen Funktionen wir schon einmal beobachtet haben.
Das Fach wurde geschlossen, es schnappte etwas.
»Was willst du tun?«
»Das wirst du gleich sehen. Ich lasse jetzt die papierne Gebirgsmasse analysieren, und aus dem Resultat werde ich mit Sicherheit erkennen, ob die Gegend überhaupt auf unserer Erde liegt oder auf einem anderen Planeten.«
»Wirklich, kannst du das?« fragte Gabriele naiv, wohl an etwas anderes denkend.
Nobody mußte lachen.
»Scherz beiseite. Dieses kolossale Werk eines Bildhauers, das sich aller Kenntnis der ganzen Menschheit entzieht, interessiert mich außerordentlich. Ich habe nichts weiter vor, ich werde der Lösung dieser Aufgabe meine ganze Kraft widmen.«
Freudig blickte Gabriele auf. Es war gelungen, er hatte das Grübeln über die ganze Mephistophelesangelegenheit niedergerungen!
»Wann hast du die Photographie gefunden?«
»Am Freitag voriger Woche, also heute vor neun Tagen. Ich war in London, fuhr von Kings Croß nach Piccadilly, benutzte das geschlossene Cab Nummer 2127.«
»Hast du dich nicht gleich an den Kutscher gewendet, wegen seines letzten Fahrgastes?«
»Warte nur, das Finden war nicht so einfach, die Photographie lag nicht so offen da. Mir fiel es während der Fahrt ein, einmal die Zeittabelle aus der Faltentasche zu ziehen, die sich nach polizeilicher Vorschrift in jedem Cab befinden muß. Ich war neugierig, ob diese vorsintflutliche Tabelle, die seit Einführung der Kontrolluhren doch ganz überflüssig geworden sind, immer noch geführt wird. Richtig, die schmierige Tabelle stak noch drin, mit Namen und poetischen Ergüssen bedeckt, ich zog sie ganz aus der Tasche – da fiel auch diese Photographie heraus, oder vielmehr das Original der meinen. Du kannst dir denken, was sie auf mich als Bildhauerin für einen Eindruck machte. Die mußte ich haben! Und ich unterlag der Versuchung ...«
»O, Gabriele, Gabriele, wie tief bist du gesunken, das hätte ich dir nie zugetraut!!« sagte Nobody mit schwermütigem Kopfschütteln.
»Wenigstens erst eine Kopie wollte ich davon machen,« fuhr Gabriele lachend fort. »Denn ich hatte schon so etwas wie eine Ahnung, daß der Besitzer der Photographie nicht so leicht zu ermitteln wäre. Ich also, ohne dem Kutscher erst etwas zu sagen, schnell nach Hause und das Bild kopiert, ich selbst habe es getan ...«
»Danach sieht es auch aus,« mußte Nobody wiederum einschalten.
»Sooo? Ist es mir nicht etwa gut gelungen?« »Sehr gut, das wollte ich ja hiermit sagen. Nun und weiter?«
»Dann bin ich wieder nach London gefahren und habe die Photographie auf dem Fundbüreau der 18. Polizeiwache abgegeben, mit allen Angaben und mit der Bitte, die betreffende Person, die sich melden würde, dringend zu ersuchen, sich an mich wenden zu wollen.«
»Die Herren von der Polizei waren gegen Nobodys Gattin hoffentlich wie die Ohrwürmchen?«
»Nu natürlich. Ich genierte mich ordentlich, nur mit Mühe konnte ich verhindern, daß man gleich den Polizeidirektor von London zitierte. Der Fund wurde in der üblichen Weise im Amtsblatte bekannt gegeben und wird es ganz gegen die sonstige Gewohnheit noch heute am neunten Tage.«
»Hat sich noch niemand gemeldet?«
»Nein, und man muß doch annehmen, daß es eine gebildete Person gewesen ist, für die die Photographie Wert gehabt hat, und daß sie also auch weiß, wie sie etwas Verlorenes wiederbekommen kann.«
»Was willst du hiermit sagen? Das war undeutlich ausgedrückt.«
»Ich meine, daß die Person die Photographie schon vor längerer Zeit in jene Tasche des Wagens gesteckt und auf das Wiederbekommen derselben bereits seit langer Zeit verzichtet hat.«
»Ja, das ist daraus allerdings zu schließen. Ein Verlust ist nicht angemeldet worden?«
»Selbstverständlich nicht, sonst hätte man mir das doch gleich gemeldet. Nun kommt es aber darauf an, wie lange solche Verlustlisten aufbewahrt werden.«
»Zehn Jahre, dann werden sie verbrannt.«
»Na, zehn Jahre war die Photographie noch nicht alt, danach sah sie nicht aus, wenn sie in der Tasche auch noch so gut geschützt sein mochte.«
»War an der Photographie irgend etwas Bemerkenswertes?«
»Gar nichts. Das Positiv war auf einen Pappkarton geklebt.«
»Kein Name, keine Firma?«
»Auch nicht. Es war offenbar die Aufnahme eines Amateurs.«
»Hm. So hat der Mann – ich will einen Mann annehmen – entweder seinen Verlust gar nicht bemerkt oder er hat nach vergeblichen Bemühungen es aufgegeben, die Photographie wiederzubekommen. Oder er hat noch keine Zeit und Gelegenheit gehabt, Nachforschungen anzustellen. Oder er ist tot. Oder er ist todkrank. Gibt es noch andere Möglichkeiten?«
»Nein. Als gewissenhafter Mensch hast du alle Möglichkeiten aufgezählt.«
»Doch, es gibt noch eine andere Möglichkeit, weswegen die Photographie nicht wieder abgeholt wird.«
»Welche?«
»Der betreffende Mann hat ein böses Gewissen.«
»O, Alfred, wo denkst du denn gleich hin!«
»Ich denke eben immer an alles. Es kann doch sein, daß mit dieser Photographie, oder vielmehr mit jener Gegend, die er abgenommen hat, ein Geheimnis verbunden ist, und nun hast du dich auf der Polizei auch gleich als Gattin des englischen Champion-Detektivs vorgestellt, das hat der betreffende Mann erfahren – verstehst du?«
»Ja, ich verstehe, aber ...«
»Ich weiß, was du sagen willst. O nein, glaube ja nicht, daß ich hinter allem und jedem immer gleich ein Verbrechen wittere. Dann wäre es mit mir als Detektiv schlecht bestellt, dann würde ich immer wie ein toller Hase herumjagen. Immerhin, es ist jede Möglichkeit zu erwägen. Und jedenfalls handelt es sich hier doch um eine Gegend, die man als eine unentdeckte bezeichnen kann, und alle diese Figuren kann auch nicht nur ein einzelner ausgemeißelt haben, und hätte er auch ein ganzes Leben lang Tag und Nacht gearbeitet ...«
»Ja, daran habe ich auch schon gedacht!«
»Siehst du! Es handelt sich offenbar um eine ganze Gesellschaft von Künstlern, die dort im geheimen gearbeitet hat, und zwar lassen einige Figuren auf die neuere Zeit schließen, ich habe mit Bestimmtheit einen Napoleonkopf erkannt. Einer dieser Gesellschaft hat eine Photographie verloren, es wäre ihm höchst unangenehm, wenn man nach dem natürlichen Original forschen wolle, es finden würde – deshalb meldet er sich lieber gleich gar nicht. Das alles ist ja nur eine Vermutung, aber jedenfalls in Erwägung zu ziehen.«
In dem Schreibtisch, der schon früher näher beschrieben wurde, war ein Glockenton erklungen.
»Nun, meine liebe Gabriele, werde ich dir einmal beweisen, was der Detektiv Nobody, den du deinen Mann nennen darfst, alles kann. Ich werde dich sofort nach jener Gegend führen.«
»Was willst du tun?« fragte Gabriele, diesmal nicht auf den humoristischen Ton eingehend.
»Dich sofort nach jener Gegend führen, du sollst sie nicht nur auf der Photographie sehen, sondern gleich in Wirklichkeit.«
»Ja, weißt du denn ...«
»Du sollst sie sehen. Du reist sofort hin.«
»Ist sie denn hier in England, hier in der Nähe?« staunte Gabriele immer mehr.
»Wir sind sogar schon da. Hier im Schreibtisch befindet sie sich. Nun blicke hier hinein!«
Nobody hatte aus dem Aufsatze des Schreibtisches zwei dicht nebeneinander stehende Knöpfe herausgezogen, die man für Handgriffe von Fächern gehalten hätte. Das war also nicht der Fall, sondern es zeigten sich in Augenweite kleine Öffnungen mit Gläsern.
»Hier bringe deine Augen dran!«
Gabriele tat es, sie stieß einen Ruf des staunenden Entzückens aus.
Wirklich, sie glaubte, jene wilde Gebirgsgegend, wie die Photographie sie wiedergegeben hatte, plötzlich richtig vor sich zu haben, also auch alles in natürlicher Größe, jeder kleinste Gegenstand plastisch hervortretend, dazu übergossen vom Sonnenschein.
Nobody war in seinem Hause natürlich mit allen Hilfsmitteln ausgestattet, welche Wissenschaft und modernste Technik einem Detektiv nur bieten können. Er hatte ein eigenes photographisches Atelier, mit ausgebildeten Künstlern, mit photographischen Apparaten, wie man sie in solcher Vollkommenheit nur noch auf den Sternwarten findet. Dort war im Handumdrehen von der Photographie ein Doppelbild gemacht worden, für das Stereoskop geeignet.
Gabriele glaubte, alle Geheimnisse dieses Schreibtisches zu kennen, an dem einst Nobody mit wahrer Leidenschaft gearbeitet hatte, mit eigener Hand, aber immer wieder mußte sie bei Gelegenheit etwas Neues daran entdecken – und nun dieses Stereoskop in dem Schreibtische, das war wieder das Allerneueste!
Es war auch ein Bild von wunderbarer Vollkommenheit, wozu die elektrische Beleuchtung viel beitrug.
»Herrlich, entzückend!!« jubelte Gabriele ein übers andere Mal. »Nein, wie das alles plastisch hervortritt! Die kleinste Kleinigkeit kann man ganz deutlich unterscheiden, man möchte es mit der Hand greifen! Ja, da ist der Napoleonskopf, von dem du vorhin sprachst. Und diese Hand, wie wundervoll die herausgearbeitet ist! Und dort, das ...«
Mit einem gellenden Schreckensschrei taumelte Gabriele plötzlich zurück.
»Um Gottes willen, was hast du?!« schrie Nobody, hinspringend und die an allen Gliedern Zitternde haltend.
»Nichts, nichts,« flüsterte die nach Fassung Ringende. »Und doch – mir war gerade so – laß mich noch einmal hineinblicken.«
Zuerst brachte Nobody seine Augen an die Gläser.
»Ich kann nichts Besonderes bemerken, was mich stutzig macht,« meinte er nach einer Weile.
»Es kann ja sein, daß ich mich geirrt habe. Und doch – blicke einmal rechts nach dem großen Felsen, der heller ist als die anderen.«
»Ja, den sehe ich.«
»Merkst du nicht etwas daran?«
»Nein, nicht das geringste.«
»Dieser zeigt gar keine Skulpturen.«
»Nein, das ist aber auch das einzige Ausfallende daran – ja, dort links, das scheint ein menschliches Auge zu sein.«
»Scheint es dir nur so?«
»Hm. Das wird doch wohl das Relief eines menschlichen Auges sein, sorgfältig gearbeitet, nur muß man sich erst hineindenken können, es ist wie bei einem Vexierbild.«
»Hast du noch nicht das andere Auge und die Nase gefunden? Es ist nämlich wirklich ein Vexierbild.«
»Nein, noch nicht.«
»Beachte unten den dunkleren Felsen, der sich an den großen lehnt, denke dir, das sei der struppige Vollbart eines ...«
»Alle Wetter!!« stieß da plötzlich Nobody hervor, und auch er wäre bald zurückgeprallt.
Jetzt, da er das Vexierbild enträtselt hatte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen – in Riesengröße grinste ihm die bekannte, von Haß und Hohn verzerrte Teufelsfratze entgegen!!
– – – – – – –
Das Telephon hatte geklingelt. Der Polizeidirektor ließ anfragen, ob Sir Alfred Willcox anwesend sei, ob er in diesem Falle sich nach dem Polizeipräsidium bemühen wolle, oder ob ihm der Besuch des Herrn Polizeidirektors in seiner Wohnung angenehmer sei.
Der höchst interessante Fall, dem die Londoner Polizei ratlos gegenüberstand, wurde schon durch das Telephon in großen Umrissen geschildert. Der Champion-Detektiv eilte sofort hin, um sich zur Verfügung zu stellen. Was Nobody erfuhr, sei hier in anschaulicher Weise wiedergegeben. –
Auf der Oxfordstreet, einer der Hauptstraßen des inneren Londons, promeniert ein eleganter Herr, nicht mehr jung, das Haar ist an den Schläfen schon etwas ergraut, aber durch Haltung, Geschmeidigkeit und besonders durch das lebhafte Auge noch einen jugendlichen Eindruck machend.
Die wimmelnde Oxfordstreet ist wenig zum Promenieren geeignet, und auffallend ist es, wie sich der elegante Herr, der sicher den besten Gesellschaftskreisen angehört und auf dem Parkett wie im Strome des Lebens zu Hause ist, von der hastenden Menschenmenge drängen und herumstoßen läßt, und noch merkwürdiger ist, wie er dabei immer so ängstlich und hilflos lächelt. Er mustert die Geschäftsläden, offenbar auch die Hausnummern, suchend irrt sein Blick zwischen den Straßenpassanten, er läßt sich dabei immer anrempeln, mit fortschleifen, immer mit jenem halb belustigten, halb verzweifelten Lächeln.
Auf der Kreuzung zweier Straßen steht ein Konstabler, gleich einem Feldherrn mit erhobenem Arm Ordnung in das Kampfgetümmel bringend, die Schlacht lenkend. Ihm steuert jetzt der Herr zu, er muß dabei die breite Straße überschreiten, und wie er dies tut, mit welcher Ruhe er sich zwischen den Wagen und Pferden hindurchwindet, das beweist wieder, daß er hier in seinem Elemente ist, was aber so ganz und gar nicht mit seinem sonstigen Gebaren übereinstimmen will.
Er hat die Insel in der brandenden Großstadt erreicht, von welcher aus der Konstabler dirigiert, die Wagenreihen anhält, um einen Menschenstrom passieren zu lassen, und sie wieder frei gibt.
»Bitte, Konstabler.«
Der Angeredete hat nur einen einzigen Blick übrig.
»Left side! Stop – Sir?«
»Ich – ich – weiß nicht, wo ich wohne.«
»Go on!! – – – – – Sie haben den Namen Ihres Hotels vergessen?«
»Ich – ich – weiß auch nicht, ob ich überhaupt in einem Hotel gewohnt habe.«
Der Konstabler verzieht keine Miene. Er hat nur Augen für die Schlacht der Wagen und der Menschen.
»To left, to left!! – – Wie ist Ihr Name?«
»Ich – ich – kann mich nicht mehr entsinnen,« sagte der Herr mit jenem unsicheren, halb belustigten, halb verstörten Lächeln.
Der Konstabler hat nicht einmal einen erstaunten Blick übrig für den Mann, der nicht weiß, wie er heißt.
»Stop! – – – Sie haben Ihr Gedächtnis verloren?«
»Ja – ich glaube – es muß wohl so sein – ich kann mich auf gar nichts mehr besinnen.«
Da hat der Konstabler auch gar keinen Grund, eine Miene zu verziehen. Er bekommt etwas ganz Alltägliches zu hören.
Geradezu unheimlich ist es, wie sich in den großen Weltstädten, besonders in London und in New-York, die Fälle mehren, daß Menschen plötzlich vollständig das Gedächtnis verlieren. Das ist der Fluch der rastlosen Jagd nach dem Mammon! Den ganzen Tag wird unermüdlich gearbeitet, spekuliert – am Abend geht es in den Klub oder zum Vergnügen, je toller desto besser, bis zum Morgengrauen, dann nur wenige Stunden Schlaf, der gar kein Schlaf zu nennen ist, seinen Körper weiß man durch Massagen oder auch durch viel gefährlichere Hilfsmittel frisch zu halten – aber eines schönen Tages ist das Gedächtnis weg!!
Man befindet sich auf einem Geschäftsweg – mit einem Male blickt man erstaunt auf – ja, wohin wolltest du denn eigentlich? – man weiß absolut nicht mehr, wer man ist, wo man wohnt, was man zuletzt getan hat, man erkennt auch die alten Freunde nicht wieder – man weiß gar nichts mehr.
Zum Glück ist das wohl immer nur ein vorübergehender Zustand. Die Natur hat einmal eine eindringliche Warnung gegeben. Wird der Mann in seine Behausung oder in sein Geschäft gebracht, wo er nur bekannte Gesichter um sich sieht, vertraute Stimmen hört, was etwas ganz anderes ist, als wenn er so auf der belebten Straße eine bekannte Gestalt erblickt, die ihn anredet, macht er aus Gewohnheit wieder die alten Handgriffe, so kehrt mit einem Male auch wieder das Gedächtnis zurück, gewöhnlich ohne weitere böse Folgen zu haben.
Nun heißt es aber, erst den Betreffenden dorthin zu bringen, wohin er gehört.
Wohl jeder Mann – Frauen weniger – hat irgend etwas Schriftliches bei sich. Die von der Gedächtnislosigkeit Befallenen gehören meist den besser situierten Geschäftsleuten an, die eine Brieftasche bei sich führen.
Merkwürdig ist es, daß die Betroffenen gewöhnlich gar nicht daran denken, sich aus solchen Papieren zu orientieren, was sie recht wohl könnten, denn dieser Zustand ist nicht etwa zu vergleichen mit Wahnsinn!
Aber sie sind meist auch gar nicht imstande, aus dem Inhalte der Brieftasche zu erkennen, wer sie eigentlich sind, und wo sie wohnen.
Da sind Briefe – ›Herrn Gottlieb Schulze, Berlin‹ – oder ›To Mr. Jonas Perth, London‹ – das London sogar unterstrichen – ja, du lieber Gott, der Betreffende kann doch nicht alle Schulzens und alle Perths aufsuchen und den Hausherrn fragen, ob er das nicht vielleicht selber wäre. Es brauchen gar nicht solch allgemeine Namen zu sein – die Schwierigkeit ist immer eine große. Selbst ein Paß nützt nichts, da steht keine Wohnung angegeben.
Diese Fälle, daß jemand plötzlich sein Gedächtnis verliert, mehren sich so, daß sie gar nicht mehr durch die Zeitungen in die Öffentlichkeit dringen. Durch die Häufigkeit aber hat die Polizei hierin auch eine große Routine bekommen. Hierbei bedient sich die Polizei auch einmal der sonst verpönten Hypnotik, durch den Polizeiarzt, meist mit Erfolg. –
»Haben Sie Briefe oder so etwas bei sich?«
»Ja, das wohl, aber – aber – ich kann mich nicht darin zurechtfinden.«
»Sie haben es schon probiert?«
»Ja, aber ...«
»Warten Sie hier, bleiben Sie hier stehen. Ich werde gleich abgelöst.«
Die Ablösung kam, der Konstabler bestieg mit dem Herrn ein geschlossenes Cab und fuhr nach seiner nahen Polizeiwache.
Der Herr zeigte sich vor dem Polizeileutnant sonst durchaus vernünftig. Auch seine Brieftasche hatte er schon visitiert, was zu den Ausnahmen zu rechnen war, oder er mußte schon sehr lange umhergeirrt sein. Auch fand er sich in seine Lage gleich hinein. Denn man muß sich nur vorstellen, wie sich da ein Mensch benehmen mag, der sich nicht in seine Lage finden kann, plötzlich so vollständig das Gedächtnis verloren zu haben, was für Szenen der da aufführt!
Nicht so dieser alte Herr mit den aristokratischen Zügen und den noch im Jugendfeuer leuchtenden Augen.
»Ich habe fünf Briefe bei mir,« erklärte er ruhig, »alle an Mr. Edwin Dudley gerichtet. Dieser Edwin bin offenbar ich. Andere Briefe kommen gar nicht in Betracht. Wollen Sie meine Brieftasche sehen?«
Er machte eine Bewegung, um die Brieftasche zu ziehen, der Polizeileutnant wehrte ab.
»Bitte – wenn irgend möglich, nehmen wir in solchen Fällen keinen Einblick in Papiere und Briefschaften. Haben Sie denn keinen Briefumschlag mit Adresse?«
»Keinen einzigen. Sonst hätte ich mir ja schnell allein zu helfen gewußt.«
»Steht die Adresse dieses Mr. Edwin Dudley nicht am Kopfe eines Briefes?«
»Auch nicht. Auf zweien nur ›London‹, auf einem ›Manchester‹, auf einem ›Bordeaux‹ ...«
»Das genügt vorläufig,« unterbrach ihn der Polizeileutnant.
Der Herr hatte dennoch seine Brieftasche gezogen, begann den Inhalt auf dem Tisch auszupacken. Der Polizeileutnant sah mit keinem Blicke hin, jedenfalls mit Absicht nicht.
Die Polizei mag hierin strenge Vorschriften haben. Es sind wiederholt Fälle vorgekommen, daß sich dann hinterher solche Geistesbewußtlose beschwert haben, die Polizei hätte während ihres unzurechnungsfähigen Zustandes Einblick in ihre Privatkorrespondenz genommen, und das ist in England, wo bekanntlich nicht einmal der Gerichtsvollzieher so ohne weiteres das Haus betreten darf, wo es nicht so leicht ist, selbst bei dringendem Verdachte eine Haussuchung abzuhalten, ein Verbrechen erster Klasse.
Und wenn das nun ein Staatsmann war? Danach sah dieser vornehme Herr nämlich gerade aus.
»Wollen Sie mir sagen, wer den einen oder den anderen Brief an Sie geschrieben hat? Ich halte Sie doch jetzt für zurechnungsfähig, nur das Gedächtnis ist Ihnen verschwunden, Sie haben nicht nötig, mir die Namen der Briefschreiber zu nennen.«
»Aber warum denn nicht? Die sämtlichen Briefe, die ich überhaupt in meiner Tasche habe, sind von einem Mr. H. L. Bavasour in Kalkutta unterzeichnet. Es handelt sich um ...«
»O, in Kalkutta! Da dürfte die Ermittlung dieses Herrn, der dann Auskunft über Sie geben kann, längere Zeit in Anspruch nehmen.«
So ging das noch einige Zeit hin und her, ohne daß man dabei vorwärtskam, bis der Polizeileutnant eine andere Frage stellte.
»Wissen Sie, was man unter Hypnose versteht?«
»Jawohl.«
»Haben Sie sich schon einmal hypnotisieren lassen?«
Der Herr wußte ganz genau, was Hypnotik ist – aber ob er sich schon einmal habe hypnotisieren lassen, darauf konnte er sich unmöglich entsinnen. Hierin liegt auch kein Widerspruch, das läßt sich ganz gut zusammenreimen.
»Das Allereinfachste wäre, wenn Sie sich hypnotisieren ließen. Das nimmt unser Polizeiarzt vor, es geschieht in Gegenwart vieler Zeugen, Sie können solche auch bestimmen.«
Jawohl, der Herr erklärte sich sofort bereit dazu.
Der Polizeiarzt kam, im Kreise von vielen Konstablern und anderen Beamten wurde das Experiment vorgenommen. Es gelang nicht, den Herrn einzuschläfern.
Jetzt wurde ein an der Polizeiwache angestellter Straßenkehrer geholt. Dieses Männchen mit der Geiernase konnte noch ganz anders hypnotisieren als der Polizeiarzt. Auch das Wetter vorherbestimmen und Warzen versprechen konnte er, und wenn das Wetter anders wurde und die Warzen nicht weggingen, so war das eben die Schuld des Wetters und der Warzen und nicht die seine. Aber im Hypnotisieren hatte er wirklich etwas los.
Also der Straßenkehrer mußte sich erst Gesicht und Hände waschen, und dann fing er an zu blinzeln und zu kneten und zu kommandieren.
Der Herr wollte nicht einschlafen.
»Na, wenn Sie egal lachen!«
Unterdessen war der Polizeileutnant immer mehr zu der Überzeugung gekommen, hier einen Mann von gewichtiger Stellung vor sich zu haben. Daß ihm ein solcher namens Edwin Dudley nicht bekannt war, hatte nichts zu sagen. Der Herr sprach das Englische durch die Nase, dazu einige besondere Angewohnheiten – ganz sicher ein Amerikaner! Und England hatte gerade damals allen Grund, mit den Vereinigten Staaten auf freundschaftlichem Fuße zu stehen.
Der Leutnant telephonierte den Polizeidirektor an, teilte ihm alles mit, auch seine Vermutung. Vorsicht bei Behandlung dieses Mannes sei geboten.
Etwas warten! Dann meldete das Telephon, der Polizeidirektor würde selbst hinkommen, wahrscheinlich auch Sir Alfred Willcox.
Nobody kam. Er hatte sein Elixier bei sich, brauchte es aber nicht anzuwenden. Seinem magnetischen Blicke konnten auch diese feurigen Augen nicht widerstehen.
»Schlafen Sie – ruhig – ganz ruhig – antworten Sie auf meine Fragen – nicht wahr, Sie werden mir antworten?«
»Ja,« sagte der Schlafende mit schweren Kinnbacken, und hier vor den Augen aller wendete Nobody natürlich seinen geheimen Nackengriff nicht an, er verfuhr nicht anders als die öffentlich auf der Bühne auftretenden Hypnotiseure.
»Wie heißen Sie denn?«
»Edwin – Dud – Dud – Dud ...«
»Sprechen Sie langsam und deutlich. Das Sprechen fällt Ihnen auch gar nicht schwer, das glauben Sie nur. Wie heißen Sie?«
»Edwin Dudley.«
»Wo wohnen Sie?«
»Jm Hotel – Hotel - in Bryards Hotel.«
Schon war das Telephon im Gange. Bryards Hotel wurde von der 16. Polizeiwache angefragt, ob dort ein Mr. Edwin Dudley logiere. – Jawohl, seit zwei Tagen. – Wie sieht er ungefähr aus? – Ein stattlicher Herr, schwarzer Schnurrbart, das Kopfhaar an den Schläfen leicht ergraut ... Schluß!
Nobody wußte, wie weit er hier gehen durfte. Gar nicht weiter.
»Sie werden bei drei aufwachen. Eins – Sie werden ganz munter sein, wie nach einem gesunden Schlafe – zwei – Sie werden wissen, daß ich Sie hypnotisiert habe und sich sogar sehr gestärkt fühlen – drei!!!«
Der Herr schlug die Augen auf. Daß er so verstört um sich blickte, konnte nach der Hypnose nicht auffallen.
»Können Sie sich erinnern, daß Sie ...«
»Ich bin hypnotisiert worden?« stieß er hastig hervor.
»Ja.«
»Über was hat man mich ausgefragt? Was habe ich gesagt?«
»Nun, man hat Sie nur nach Ihrem Namen und nach Ihrer Adresse gefragt. Können Sie sich denn jetzt auch im wachen Zustande erinnern?«
»Gewiß doch, ich wohne in Bryards Hotel. O, ich weiß recht wohl, was mir passiert ist, ich befand mich auf dem Wege nach ... nevermind, ich hatte einen Geschäftsweg vor, da bekam ich plötzlich wie einen Stich durch den Kopf ... nevermind, habe höchste Eile.«
Der Anfall war vorüber. Für diesmal geheilt! In solchen Fällen zeigt sich, wie segensreich die Hypnose in gewissenhafter Hand sein kann.
Der Herr hatte es äußerst eilig.
»Meine Brieftasche – ah, hier – jawohl, ich entsinne mich auf alles, auch was man mich in der Hypnose gefragt hat – all right, that'll do – was bin ich schuldig? Nichts? Bitte, hier eine Fünfpfundnote, machen Sie beliebigen Gebrauch davon. Meinen verbindlichsten Dank. Good bye.«
Vergebens warnte man ihn, sich gleich wieder auf die Straße zu begeben – er ließ sich nicht aufhalten, wichtiges Geschäft, versäumte Zeit einholen, keine Begleitung – nur das Cab, welches schon vorgefahren war, nahm er dankend an.
»Den trifft's bald wieder, und dann geht es nicht mehr so gut ab,« sagte der Polizeidirektor und rechnete sich zur höchsten Ehre an, sich mit dem Champion-Detektiv der Königin noch etwas unterhalten zu dürfen.
Bald wußte sich Nobody freizumachen. Das hier war die 16. Polizeistation, seine Frau hatte jene Photographie auf der 18. hinterlegt, gar nicht weit von hier, da konnte er gleich einmal hingehen und sich das Ding ansehen.
Er begab sich zu Fuß hin, legitimierte sich als Sir Willcox, fragte nach jener Photographie.
»Die ist gerade abgeholt worden, vor fünf Minuten!«
»O jemine! Von wem?«
»Von einem Herrn. Lady Willcox wünschte doch die Adresse des eventuellen Abholers zu wissen – hier steht sie, Mr. Lewis Clade, Brighton on Sea, Denverplace 72.«
»Weiß der Herr, daß Lady Willcox ihn sprechen möchte?«
»Gewiß, ich sagte es ihm ausdrücklich.«
»Und was sagte er?«
»Gar nichts, er brummte etwas vor sich hin, hatte es sehr eilig.«
»Wissen Sie, wo der Herr sich hier aufhält?«
»Nein.«
Brighton on Sea ist von London in zwei Stunden zu erreichen, deshalb braucht man keine Wohnung zu suchen.
»Ich werde einmal in Brighton anfragen, vielleicht kann ich gleich erfahren, wo der Herr dort zu treffen ist.«
Nobody setzte sich telephonisch mit der Hauptwache von Brighton in Verbindung.
»Ist Ihnen dort ein Mr. Lewis Clade bekannt, wohnhaft am Denverplace Nummer 72?«
Die Antwort kam prompt zurück:
»Gibt es gar nicht, der Denverplace geht nur bis 48.«
Jetzt wurde die Sache bedenklich.
»Haben Sie von dem Herrn eine Legitimation verlangt?«
»Nein. Er konnte die verlorene Photographie genau beschreiben, er sagte, er habe sie ...«
»Wie sah er ungefähr aus? Was für einen Eindruck machte er?«
»O, ein sehr feiner Gentleman, schon ältlich, aber noch jung aussehend, mit schwarzem Schnurrbart und an den Schläfen ergrauten Haaren ...«
»Haben Sie etwas an seiner Uhrkette hängen sehen?«
»Ja, eine Berlocke, wohl aus Schildpatt, wie ein großer Perlmutterknopf ...«
Jetzt konnte Nobody in Gedanken ein weiteres ›O jemine!‹ sagen.
Er hielt sich keine Sekunde länger auf, in ein Cab gesetzt und nach Bryards Hotel gejagt.
»Bedaure, Mr. Dudley hat vor zehn Minuten das Hotel verlassen, mit seinem Gepäck, ohne Angabe einer Adresse.«
– – – – – – – –
Wieder saß Nobody in seinem Arbeitszimmer, den Kopf in die Hände gestemmt, und konnte über das Walten des launischen Schicksals nachdenken.
Diesmal riß ihn keine weiche Hand aus seinem Grübeln, sondern ein Klingelzeichen, das im Schreibtisch ertönte.
Eine Depesche. Aus Aden.
»Du wirst erwartet. 17, 28, 6 Komma 4 südliche Breite; 142, 15, 11 Komma 9 westlich von Greenwich. Edward Scott.«
Wieder einmal! Und solch eine genaue Ortsangabe, die Sekunden noch in Zehntel geteilt, hatte ihm sein prophetischer Freund noch nie gemacht!
Die Sekunde des Breitengrades berechnet man auf rund 300 Meter, so nahe am Äquator laufen die Längengrade, welche sich den Polen zu natürlich immer mehr nähern, fast parallel, die Entfernung zwischen zwei Längengraden beträgt dort also ebenfalls 300 Meter, nun der zehnte Teil davon, das find 30 Meter – der Hellseher bestimmte demnach einen Platz von 20 Metern Länge und 80 Metern Breite, auf dem Nobody von jemandem erwartet würde.
Wo lag dieser Platz? Zur ungefähren Bestimmung hatte Nobody die Karte im Kopfe.
Das war ganz bedeutend westlich von Peru, mitten im Großen Ozean.
Die Landkarte gab genauere Auskunft.
Die betreffenden Breiten- und Längengrade gingen über die Paumotuinseln hinweg.
Paumotu heißt in der Sprache jener Eingeborenen, welche auf diesen Koralleninseln ein kümmerliches Dasein führen, die Wolke, womit sie ›Insel-Wolke‹ ausdrücken wollen, und wie eine Wolke sieht die Angabe dieser Inseln auf der Landkarte auch aus, es sind eben zahllose Koralleninseln, tatsächlich noch nicht gezählt.
Nur die Engländer haben diesen Namen beibehalten. Die Franzosen führen auf ihren Karten als Namen ›Gefährlicher Archipelagus‹ an, die Holländer sprechen von niedrigen Inseln, die Spanier nennen sie Kannibaleninseln, und das mit Recht, auf diesen Eilanden steht die Menschenfresserei noch in vollster Blüte, anfangs wohl eine Folge der Nahrungsnot, woraus eine Gewohnheit geworden ist.
Für genauere Antworten mußte die Spezialseekarte dieser Gegend befragt werden, allerdings immer noch sehr mangelhaft.
Doch gerade dieser östliche Teil der Gruppe war genauer aufgenommen worden, danach kreuzten sich die beiden Zehntelsekundenlinien – wenn man dies mit dem Zirkel auf der Seekarte überhaupt bestimmen konnte, auf der größeren Insel Apucarua.
Was erzählte das nautische Lexikon über diese Insel?
Gar nichts. Und von der ganzen Paumotugruppe wußte es nur zu sagen, daß sämtliche Bekehrungsversuche der Eingeborenen – fälschlicherweise von den Engländern Kariben genannt, bei welchem Namen wir aber doch bleiben wollen, so wie wir ja auch für die Eingeborenen Amerikas den ganz falschen Namen ›Indianer‹ akzeptiert haben – gescheitert wären, weil die Kariben die Missionare immer verspeist hätten, und eine Besitzergreifung dieser Koralleneilande lohne sich nicht.
Produziert, ohne Hinzutun von Menschenarbeit, wurden dort nur Kokosnüsse, welche von Tahiti aus kleine Segelklipper abholten.
Aber auch nach Tahiti gibt es bis heute noch keine regelmäßige Schiffahrtsverbindung. Nur bei Gelegenheit gehen Frachtdampfer hin, eben um die aufgespeicherte Kopra abzuholen, den zusammengepreßten Kern der Kokosnuß.
Solch eine Gelegenheit mußte Nobody abwarten, um erst einmal nach Tahiti zu kommen. Was aber dann weiter?
Daß er auf den niedrigen Koralleninseln nicht jene wilde Gebirgsformation finden würde, in welcher der Meißel von Bildhauern gearbeitet hatte, das war selbstverständlich.
Etwas anderes würde er dort finden, aber ebenfalls direkt oder indirekt mit der Teufelsfratze zusammenhängend, darüber war sich Nobody ebenso klar.
Und was damit zusammenhing, das mußte unbedingt vor aller Welt geheimgehalten werden. Würde er in Tahiti eine geeignete Mannschaft zusammenbringen können? Sicher nicht, wahrscheinlich nicht einmal ein geeignetes Fahrzeug finden.
Also konnte er gleich hier in London einen eigenen Dampfer anschaffen oder doch chartern, mieten, und dann mußte er sich freilich immer wieder fremden Seeleuten anvertrauen.
Nobody dachte an seinen alten Freund Flederwisch, an die ›Wetterhexe‹. Seit der Auflösung dieses idealen Kompanieverhältnisses hatte er noch keinen Ersatz dafür gefunden, sich gar nicht danach umgetan.
Gedacht, getan – Nobody setzte eine Depesche auf, nach den Schwefelinseln, ob Kapitän Flederwisch dort sei oder wo er sich sonst aufhalte.
Das Telegramm mußte seinen Weg durch Rußland und China nehmen. Kennt der elektrische Funke auch kaum eine Entfernung, so kamen hier doch andere Hindernisse in Betracht, Umschaltungen und dergleichen – vor morgen abend konnte er die Antwort nicht erhalten, und es war sehr, sehr die Frage, ob man dort stets wußte, wo sich der ruhelose Kapitän Flederwisch immer zurzeit mit der ›Wetterhexe‹ aufhielt.
Noch hatte Nobody das aufgesetzte Telegramm in der Hand, eben wollte er es zur Beförderung seinem Schreibtisch anvertrauen, als dieser ihm eine neue, soeben angekommene Depesche auslieferte.
Sie kam aus Algier.
»Ich erwarte dich mit der ›Wetterhexe‹ in Lissabon. Flederwisch.«
Was sollte Nobody dazu sagen? Hier hatte eben wieder sein hellsehender Freund die Hand im Spiele!
Nobody bestellte sein Haus, um die Landreise nach Lissabon anzutreten.
Ach, wenn er geahnt hätte, als er Abschied nahm von Frau und Kindern, was ihm diese Reise bringen würde!
Konnte Nobody eigentlich davon sprechen, daß er schon einmal Unglück gehabt hätte? Nein, gewiß nicht. Ja, für seine eigene Person Widerwärtigkeiten aller Art – aber daraus machte sich doch Nobody nichts.
Und während dieser Reise, ohne daß er es wußte, es erst nachträglich erfahrend, sollte das Unglück über ihn und über sein Haus kommen, ihm das Herz zerfleischend!