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I. Die Fahrt der Argonauten

Freetown, jetzt 14 000 Einwohner, an der Sierra-Leoneküste gelegen, ist der einzige bedeutende Hafen von Westafrika.

Obgleich englischer Besitz, war es ein deutscher Dampfer, welcher kam, um die Post zu bringen und abzuholen.

Jetzt passierte er das Fahrwasser der Reede, auf der einige Schiffe und Fahrzeuge vor Anker schaukelten.

Das Deck des Postdampfers war sehr leer. Er nahm wohl Passagiere mit, aber nur bei Gelegenheit, auch nur erstklassige.

An der Reling standen zwei tabakkauende Matrosen, blonde Germanen. Der Dampfer kam sehr dicht an einem kleinen Kutter vorbei, dem man die italienische Felucca schon von weitem ansah.

Da hielt sich der eine der beiden Matrosen die Nase zu.

»O Mensk, o Mensk, wat ssstinkt dat Skip!«

Es war nämlich ein Ostfriese – direkt ut Jeiver, jau, jau.

Auch der andere hatte sich mit einer Gebärde des Abscheus von der Feluke abgewandt.

»Das ist ein chilenischer Guanokasten!«

»Nee, dat rücht nich nach Guano, dat ssstinkt nach Sk ...!«

Der Ostfriese sprach ein recht unästhetisches Wort aus. Aber sonst hatte er ganz recht, so roch es, das mußte auch Nobody bestätigen.

Nobody benutzte diesen Dampfer von Lissabon aus. Schon in Denver City hatte er aus den Schiffsplänen gewußt, daß er am schnellsten nach Freetown gelange, wenn er sich zunächst nach Lissabon begab. Hier hatte er also den besten Anschluß.

So telegraphierte er von Denver City aus, daß seine nächste Adresse New-York sei. In New-York meldete ihm eine der vielen Depeschen, die hier für ihn bereitlagen, daß jener Professor, dem er damals den Rubinring mit dem wunderbaren Stein zur Untersuchung übergeben hatte, gestorben sei, der Ring war nach Nobodys Wohnung zurückgekommen.

Was sollte er dort liegen? Nobody hatte ihn schon mehrmals vermißt. Er sollte nach Lissabon geschickt werden, und während Nobody über den großen Heringsteich kreuzte, machte der Ring die Landreise nach Lissabon, und so kam es, daß ihn Nobody wieder – nicht am Finger, sondern in der Tasche hatte.

Jetzt hatte Nobody anderes zu tun, als den penetranten Gestank der Feluke zu ergründen.

Der Dampfer lief in den Hafen ein. Daß Nobody hier nicht Edward Scott finden würde, das war ihm inzwischen klar geworden. Aber welchem Freunde würde er sonst begegnen, dem er sich anschließen sollte?

Es liegt doch ein großer Reiz in solchen ungewissen Zufällen, und nun gerade Nobody war für solchen Reiz außerordentlich empfänglich. In diesem Augenblicke, als der Dampfer am Kai anlegte, hatte der eiserne Mann das Herz eines Kindes, welches auf den Ton der Klingel wartet, die zur Weihnachtsbescherung rufen soll.

Last- und Gepäckträger, Hoteldiener, Hausierer, Bettler, Neugierige – lauter schwarze Gestalten, nur selten einmal das weiße Gesicht eines Agenten oder Kommis – aber vergebens schaute sich Nobody in dem Gewühl, welches von Land aus sich über die Laufbrücke auf das Deck ergoß, nach einem bekannten Gesicht um.

Nun, so schnell ging das wohl nicht. Es würde schon noch kommen. Der Glaube an die Sehergabe seines Freundes war unerschütterlich geworden.

Die aufdringlichen Träger zurückweisend, arbeitete er sich mit seinem Köfferchen durch die Menge. Dann aber mußte er sich den Sitten des Landes fügen, dessen Boden sein Fuß betrat.

Freetown macht Anspruch auf den Ruhm, die zivilisierteste Stadt von ganz Westafrika zu sein, und das mit Recht. Heute hat dieses Städtchen schon eine Menge von elektrischen Straßenbahnlinien, damals gab es fast ebensoviele Cabs und Handsoms, das sind die englischen vier- oder zweirädrigen Wagen, als sich Europäer in der Stadt befanden.

Wehe dem Europäer, der sich in Freetown zu Fuß auf der Straße sehen läßt! Einen größeren Gang wenigstens kann er nicht machen. Von seinen weißen Landsleuten wird er über die Achsel angesehen, weil er gegen die guten Sitten verstoßen hat, von der schwarzen Bevölkerung wird er gleich direkt boykottiert. Er bekommt keinen Dienstboten mehr, das schwarze Zimmermädchen verweigert dem Gast, der zu Fuß gekommen ist, das Waschwasser. Das sind eben Sitten, gegen die nicht anzukämpfen ist, und die vielen schwarzen Kutscher wollen doch auch leben.

Nobody war noch nicht in Freetown gewesen, hatte sich aber über alles schon zur Genüge orientiert.

Also zuerst auf einen der zweirädrigen Wagen zugesteuert.

»Wohin, Sir?« fragte der schwarze Rosselenker.

»Fahren Sie mich in irgendein besseres Hotel!«

»All right, Sir, Angostura-Hotel.«

Das Angostura-Hotel war voll besetzt. Ein zweites auch, ein drittes ebenfalls. In Freetown wurden nämlich die ersten Elfenbeinkarawanen aus dem Innern erwartet, deshalb zeigte das Städtchen auch den wimmelnden Charakter eines Ameisenhaufens.

Endlich im vierten Hotel wurde der Gast angenommen. Doch es sollte eben nicht sein. Nobody hatte den Kutscher bezahlt, dieser hatte sich schon entfernt, als dem Gaste bedeutet wurde, daß es leider ein Irrtum gewesen sei, es wäre dennoch kein Zimmer mehr frei.

Nobody regte sich über solche Kleinigkeiten nicht auf, nahm es nicht übel. So frühstückte er wenigstens in der Gaststube. Dieses Hotel war nach unseren Verhältnissen eigentlich mehr ein Gasthof mittlerer Güte, aber höchst komfortabel, alles blitzsauber. Hier gab es ja auch schwarze Diener genug, die nichts weiter zu tun haben, als nur immer zu scheuern und zu putzen und dafür nur Essen und alljährlich ein Hemd erhalten. Schlafen tun sie als Wächter vor der Haustür auf einem Fetzen Teppich.

Dann trat Nobody mit seinem Köfferchen wieder auf die belebte Straße hinaus. Wo blieb denn nun der Freund? Nobody war wirklich gespannt darauf. Und dieser Freund sollte es nicht so leicht haben, Nobody hatte sich einmal recht verändert, hatte sich das Aussehen eines Herrn mittleren Alters mit schwarzem Vollbart gegeben, einen gutbürgerlichen Eindruck machend – von dem Nobody mit den idealen Zügen war jetzt jedenfalls nichts mehr zu erkennen.

»Cab oder Handsom, Sir?« schrie ein Negerjunge dem in der Tür Stehenden zu, der natürlich auf eine Droschke wartete.

»Gleichgültig.«

Der Junge rannte davon und kam bald mit einein vierrädrigen Cab wieder, wofür er sein Trinkgeld erhielt.

Nobody trat an den Kutschersitz heran.

»Wissen Sie nicht ...« Nobody schnüffelte, »ein Hotel oder Gasthof ...« Nobody schnüffelte noch stärker, »wo noch ein Zimmer ...« Himmel, was stank dieser Droschkengaul, »... frei ist?«

»Yes, Sir, im Rosenhotel sind noch Zimmer frei – ein sehr gutes Hotel,« entgegnete der weißbärtige Neger, der einen sehr würdigen Eindruck machte, wobei er sich vom Bock etwas herabbeugte.

Nobody aber prallte vor dem würdigen Rosselenker förmlich zurück.

Pfui Luder, was roch der Kerl aus dem Halse! Nein, ging der üble Geruch nicht von der ganzen Gestalt aus? Erst hatte er den armen Gaul im Verdacht gehabt.

Na, gleichgültig, der Stänkerfritze saß ja hoch oben auf dem Bock, der Fahrgast war von ihm durch eine Scheidewand getrennt.

»Fahren Sie mich nach dem Rosenhotel!«

Nobody öffnete den Schlag und ...

Himmel Herrgott, was war aber das erst für ein Duft, der von den Polstern ausging? Gerade wie nach ...

Nein, Nobody wagte das Wort nicht einmal in Gedanken auszusprechen. Wenn die Gesellschaft darnach war, wenn der Detektiv sich selbst als Runks präsentieren mußte, dann war er wohl solcher Ausdrücke fähig, aber sonst waren sie seinem Charakter fremd.

Ja, das war's: von den sonst sehr sauber gehaltenen Polstern ging gerade derselbe penetrante, Uebelkeit erregende Geruch aus, wie vorhin von der italienischen Feluke.

Was für ein Zusammenhang herrschte hier? War vielleicht einer der Mannschaft in dieser Droschke ...

Ein Wagen fuhr so dicht vorüber, daß Nobody schnell einsteigen mußte, wollte er nicht überfahren werden, und da setzte sich das Cab auch schon in Bewegung.

Na, egal. Lange konnte die Fahrt ja nicht währen. Nobody saß mehr im Stehen, wenn man sich so ausdrücken darf, um seine Hose möglichst wenig mit den verdächtigen Polstern in Berührung zu bringen, und hielt die Nase über den Schlag hinaus.

Die Straße, in dem das Rosenhotel lag, hatte keine Läden, hier hatten sich hauptsächlich die reichen Geschäftsleute angesiedelt, daher war die Straße weniger belebt, und zu den recht eleganten Villen paßte auch dieses Hotel – zwar nicht sehr groß, aber schon von außen einen sehr vornehmen Eindruck machend.

Nobody entlohnte den Kutscher und trat in das Portal. Kein Portier, kein Kellner. Alles wie ausgestorben.

Er öffnete die Tür zum Gastzimmer, und obgleich sein Blick auf blanke Spiegelscheiben und luxuriöse Kronleuchter und Marmortische und auf ein Büfett fiel, das einem Aufbau von Kristall glich, so wäre er doch am liebsten gleich wieder umgekehrt, er prallte auch zuerst entsetzt zurück, denn auch hier wehte ihm ein Duft entgegen, der nichts mit Rosen zu tun hatte.

Aber wie gebannt blieb Nobody auf der Schwelle stehen. War es denn nur möglich? Hier in Freetown an der Westküste sollten sie sich einmal wiederbegegnen? Und sollte es gar etwa der Freund sein, dem er sich anschließen mußte?

In dem Zimmer befand sich nur eine einzige Person, offenbar ein Gast, ein älterer Herr, sehr klein und sehr dick, trotz der herrschenden Tropenglut in einen schwarzen Gehrockanzug gekleidet, dabei auch noch bis an den Hals zugeknöpft, auf dem Kopfe einen hohen Zylinder, von dem anstatt des weißen Nackenschleiers ein schwarzer herabwehte, und daß der Mann trauerte, verriet auch noch ein besonderes schwarzes Band um den Zylinder und ein zweites um den Arm. Schwärzer und tiefer hätte er seine Trauer überhaupt gar nicht ausdrücken können, besonders der schwarze Nackenschleier erinnerte lebhaft an die unglückliche Witwe.

Der kleine, dicke Herr marschierte in dem Gastzimmer zwischen den Marmortischen auf und ab, wühlte mit den Fingern in den graublonden Bartkoteletten und führte dabei ein Selbstgespräch. Aber ein ganz merkwürdiges Selbstgespräch:

»Rrrrrrrrrrr – – – pft pst pft – – – bscht bscht bscht – – – rrrrrrrradsch kladderadatsch datsch datsch – – – brrrrummderreummbumbum – – – pft pft pft ...«

»Cerberus Mojan, ist es möglich!!« rief Nobody in grenzenlosem Staunen.

Der Erkannte und Genannte blieb stehen, noch einmal ›pst pst pst – bruch bum pstsch pstsch‹ – dann machte er sein Maul sperrangelweit auf und machte es mit einem hörbaren Krach wieder zu, und dann verbeugte er sich, so weit das sein Schmerbauch zuließ.

»Sehr angenehm – freut mich sehr, daß Sie mich schon kennen – treten Sie näher, ich bewillkomme Sie als meinen Gast.«

Himmelbombenelement, was war das in diesem Rosenhotel ein Duft! Und jetzt verspürte der Geruchsnerv des Nähertretenden mit Sicherheit, daß dieser mörderliche Gestank nur von diesem Manne hier ausgehen konnte, von seinem Freunde Cerberus Mojan.

In der Droschke hatte es übel gerochen, die italienische Feluke hatte gestunken, aber hier war die Quelle, von diesem Manne ging der Gestank aus, hier wurde er stechend, atemversetzend.

Doch jetzt war Nobody hauptsächlich überrascht, seinen alten Freund Mojan hier wiederzutreffen, das beherrschte alle anderen Empfindungen. Und Nobody hatte nicht vor, ihn noch einmal zu mystifizieren, das war nichts Neues mehr, er wollte sich gleich zu erkennen geben.

»Nun sagen Sie mal, Sie alter Schwede, wie kommen Sie denn eigentlich hierher nach Freetown? Sie erkennen mich natürlich nicht.«

Nein, das sah man gleich dem fetten Gesicht an. Wie sollte er auch eine Ahnung haben.

»Nobody,« flüsterte der Detektiv.

Jetzt machte der Dicke ein verächtliches Gesicht und eine entsprechende Handbewegung.

»Na, denken Sie denn etwa, ich hätte Sie nicht gleich erkannt? Sie wissen doch, wer und was ich bin. Setzen Sie sich. Was wünschen Sie zu trinken?«

Mr. Mojan spielte seine Rolle ganz gut. Es war, als ob die beiden nur einmal fünf Minuten getrennt gewesen wären. Das half aber auch über eine lange Einleitung hinweg, gerade so etwas liebte Nobody.

Er setzte sich an einen Marmortisch. War denn Cerberus Mojan jetzt hier in Freetown Wirt und Hotelier geworden? Nun, das würde er ja alles noch erfahren. Jetzt nur auf alles eingehen.

»Haben Sie Bier?«

»Echt Münchner Export.«

»Herrlich! Her mit zwei Flaschen! Sie trinken natürlich mit.«

»Aber das sage ich Ihnen gleich: bei mir kostet die Flasche einen Dollar. Wenn's Ihnen zu teuer ist, müssen Sie an den Hafen gehen, in den Spelunken kriegen Sie's billiger.«

»Machen Sie keine Witze. Sind Sie denn hier der Wirt?«

»Yes, Sir,« entgegnete der Trauerflor, der hinter das Büfett gegangen war, wo bald zwei Stöpsel knallten.

Mit zwei Flaschen und zwei großen Bierseideln deutschen Fabrikates kam er zurück, schenkte die Gläser voll, in jedes ging gerade eine Flasche, und setzte sich.

Das dunkle Bier schäumte auch nicht im mindesten.

»Na dann prost.«

Mojan hatte nach dem Anstoßen aus seinem Glase einen tiefen Schluck getan.

»Fein, was? Sieht zwar nicht besonders aus, der Schaum fehlt, aber sonst schmeckt das Bier vortrefflich.«

Nobody roch noch einmal in sein Glas und dann nahm er nur ein zaghaftes Schlückchen.

»Hören Sie, das ist kein Bier, das ist Jamaikarum von der schwersten Sorte.«

Mojan nahm noch einmal einen guten Zug.

»Ja, Sie haben recht, es ist Rum. Ich habe mich in den Flaschen vergriffen. Na, egal, trinken wir's für Bier. – Wie geht's denn sonst?«

»Gestatten Sie, daß ich erst einmal meinem Staunen Luft mache: was in aller Welt treiben denn Sie hier?«

»Mein Aufenthalt hier ist nur ein vorübergehender.«

»Ich denke, das Hotel hier ist das Ihre?«

»Auch nur vorübergehend.«

»Wie soll ich das verstehen?«

Cerberus Mojan schob seine Augenbrauen bis zur Glatze hinauf und machte eine seiner unnachahmlichen Handbewegungen.

»Geheimnis.«

Ja, der quecksilberne Cerberus Mojan konnte auch ein Stockfisch sein, wenn er wollte.

Die Unterhaltung kam gleich im Anfang ins Stocken. Der kleine Mann versenkte sich in das Bierseidel mit Rum.

»Sie sind in Trauer?«

»Ja.«

»Um wen, wenn ich fragen darf?«

»Das müssen Sie doch am allerbesten wissen.«

»Ich? Keine Ahnung.«

»Um meine Frau.«

»Um Ihre Frau? Waren Sie denn unterdessen verheiratet?«

»Nun hören Sie aber auf!! Sie wissen doch am allerbesten, daß ich Witwer bin und was ich an meiner Frau verloren habe!«

Und Mojan zog ein riesiges, rotes Taschentuch hervor und trocknete sich die Augen.

»Mei – mei – meine gu – gu – gu – gute Susanne, äääääähhh!« heulte und schluchzte er.

Nun freilich wußte Nobody, weswegen sein Freund trauerte. Er war noch immer derselbe, unverbesserlich! Dem war nicht mehr zu helfen.

Der Schmerz um die letzte Cherokesin hielt nicht lange an, Mojan versenkte sich wieder in's Rumglas, und keine Unterhaltung wollte zustande kommen.

Da mußte Nobody anders vom Leder ziehen.

»Hören Sie mal, Mojan, nehmen Sie's mir nicht übel, aber – aber – Sie stinken gerade wie ein verfaulter Wiedehopf.«

O nein, Cerberus Mojan nahm es nicht übel, vielmehr verklärte sich sein Gesicht gleich.

»Nicht wahr?« fragte er freudestrahlend.

»Was ist denn das nur?«

»Jaaaaa! Hier, hier,« freudestrahlte der kleine Dicke weiter, gegen seine Brust klopfend.

»Was haben Sie denn da in der Tasche?«

»Etwas Feines, etwas Pikfeines.«

»Na ich danke!! Das stinkt gerade wie – wie ...«

»Das muß es auch, es stinkt noch lange nicht genug, es muß noch viel mehr stinken, dann ist es erst gut.«

»Na, ich danke! Was ist es denn nur?«

»Haben Sie keine Ahnung?«

»Nicht die geringste.«

»Dann tut es mir leid. Geheimnis. Sie werden schon später sehen, wenn ich die Menschheit damit überrasche. Ich habe eine hochwichtige Erfindung gemacht. Und draußen habe ich noch eine ganze Tonne voll.«

Schon ging Nobody eine Ahnung auf. Er wollte sich aber vergewissern.

»Wo draußen?«

»Draußen auf dem Wasser.«

»Doch nicht auf der italienischen Feluke?«

Mojan nickte geheimnisvoll mit dem Kopfe.

»Yes, Sir. Da habe ich eine ganze Tonne voll drauf.«

»Sagen Sie einmal, sind Sie vielleicht in dem Cab Nummer 68 gefahren? Der Kutscher ist ein alter Neger mit weißem Bart.«

»Yes, Sir, das ist meine eigene Kutsche.«

»Das ist doch ein Mietswagen.«

»Habe ich auch kaufen müssen. Die fährt jetzt für meine Rechnung. Auch dieses Hotel habe ich kaufen müssen. Jaaa, was meinen Sie wohl, was mich meine Erfindung schon alles gekostet hah!«

Und er erzählte. Den Ursprung dieses Geheimnisses allerdings bekam Nobody nicht zu erfahren.

Es handelte sich um ein Faß, gefüllt mit einem stinkigen Stoffe, das Mojan aus irgendeinem Grunde mit sich führte.

Bis nach Genua hatte er die Tonne glücklich gebracht – von woher, das war wiederum Geheimnis –, hatte aber schon auf der Eisenbahn viel Unannehmlichkeiten gehabt, und in Genua fingen diese erst recht an.

Kein Packträger, kein Spediteur wollte sich mit der Tonne befassen, von der solch ein entsetzlicher Teufelsgestank ausging, und noch weniger erklärte sich ein Kapitän bereit, die Tonne mitzunehmen, nicht einmal Mr. Mojan als Passagier, und wenn er noch so viel zahle; denn von dem ging ja derselbe Teufelsgestank aus, da liefen ja alle anderen Passagiere da-davon, das ganze Schiff wurde für immer verpestet.

Ja, es gelang ihm nicht einmal, einen Dampfer zu chartern, d. h. zu mieten ...

»Wohin wollen Sie nur eigentlich das Zeug bringen?« wurde der Erzähler von Nobody unterbrochen.

»Geheimnis, lieber Freund, Geheimnis. Südwärts. Meinetwegen auch: um Kap Horn herum. Aber über alles andere bewahre ich unverbrüchliches Schweigen.«

Zuletzt erklärte sich der Patron einer italienischen Felucca bereit, das Teufelsfaß an Bord zu nehmen und es um Kap Horn herumzubringen, irgendwohin, vorausgesetzt, daß der Signor gleich die Feluke kaufe.

»Und Sie haben deswegen gleich den ganzen Kutter gekauft?!«

Ach, wenn's weiter nichts war! Was Mr. Mojan wegen dieses Stinkfasses nicht alles schon gekauft hatte! Oder doch Geld dafür ausgegeben hatte! Er hatte den Eisenbahnwagen, in dem das Faß gestanden, auf seine Kosten scheuern lassen müssen, die Eisenbahnverwaltung drohte mit einer Klage, eher hatten sie das Faß nicht herausgeben wollen – aus dem Coupé, in dem Mojan selbst gesessen, hatten die Polster herausgerissen und durch neue ersetzt werden müssen, so hatte er alles verstänkert, und so hatte er immer nur zahlen und zahlen müssen.

Die Feluke mit dem geheimnisvollen Stinkfaß ging ab. Alle Matrosen bekamen doppelte Heuern, sonst wäre keiner geblieben. Nach Passieren der Straße von Gibraltar wurde der Kutter in einem Sturme etwas leck geschlagen, mußte Freetown anlaufen, ins Dock gehen.

Mojan wollte einstweilen in einem Hotel logieren. Er bestieg ein Cab. Der arglose Kutscher, der Besitzer des Fuhrwerks, ahnte ja noch nichts. Auch der Wirt des Rosenhotels war so harmlos, den anrüchigen Gast aufzunehmen.

Da kam jammernd der Kutscher jenes Wagens gelaufen. Kein Mensch mehr wolle mit ihm fahren, der Wagen sei ja für immer und ewig verstänkert ...

»Na, um keine Umstände weiter zu haben, habe ich Droschke und Pferd gleich gekauft, der Kutscher steht jetzt in meinen Diensten, und wenn niemand mit ihm fahren will – Nevermind, ich kann's mir ja leisten. Am andern Morgen kam der Wirt zu mir und machte Krakeel, ich verpestete ja sein ganzes Haus, er wollte mich hinausschmeißen – na, da habe ich eben gleich das ganze Hotel gekauft, ich kann's mir ja leisten. Gäste kommen freilich nicht mehr her, deshalb sind auch alle Kellner und Dienstboten weggelaufen – desto besser, dann trinke und esse ich eben alles selber, und wenn die Feluke wieder seeklar ist, mache ich die Bude eben zu. Sehen Sie, so bin ich zu diesem Hotel gekommen, das heißt, ich bin erst seit gestern drin. Jaaaa, was meinen Sie wohl, was mich meine Erfindung schon gekostet hat! Aber da wird auch was draus!«

Nobody konnte nur den Kopf schütteln. Immer derselbe! Ein Glück nur, daß er sich so etwas wirklich leisten konnte. Der brachte auf harmlose Weise Geld unter die Leute.

»Na, da verraten Sie mir doch, was das eigentlich ist?« bettelte Nobody.

»Nee, wird nicht verraten. Ich will nicht umsonst drei Jahre lang im Verborgenen gearbeitet haben.«

»Drei Jahre lang?«

»Jawohl, gleich nachdem ich der letzte Cherokese geworden war, fing ich mit den Experimenten an.«

»Sie haben es auch bei sich?«

»Eine Probe davon, ganz genau dasselbe wie in dem großen Fasse ist.«

Nobody beschnüffelte ihn einmal. Pfui Deibel!

»O, da müssen Sie erst einmal das große Faß anriechen, das ist erst eine Wonne!«

»Ich danke. Bei Ihnen genügt's gerade.«

»Sie werden dereinst anders sprechen.«

»Sie haben es erfunden?«

»Ich selber,« war die stolze Antwort.

»Eine chemische Erfindung?«

»So etwas Aehnliches.«

»Vielleicht Kakodyl?«

»Ka – ka was?«

»Kakodyl. Das ist Arsendimethyl, eine chemische Verbindung, sehr giftig und fürchterlich stinkend. Auch die chinesischen Stinktöpfe, deren sich die Seeräuber bedienen, entwickeln es.«

»Giftig? Nee, meine Erfindung ist nicht giftig, ganz im Gegenteil. Das heißt, ich will mich nicht selbst überschätzen. Es ist eigentlich keine Erfindung von mir, ich habe es nur selber gemacht. Na, ahnen Sie nun immer noch nicht, was es ist?«

Aha, jetzt kam ihm der große Erfinder doch entgegen, er konnte sein Geheimnis doch nicht für sich behalten, es brach ihm das Herz.

»Es fängt mit dem Sch an.«

»Mit dem Sch?« wiederholte Nobody sinnend.

Er ging in Gedanken alles durch, was mit dem Sch anfing und so entsetzlich stinken konnte.

»Na? Na? Sch ... Sch ... na? Na? Schei ... Schei ...«

Aaaaahhhh!! Jetzt ging Nobody ein Seifensieder auf. Daß er aber auch nicht gleich darauf gekommen war! Freilich, so roch es auch gerade, das hatte doch auch gleich jener Matrose herausgefunden.

»Ach so, also ...«

Nobody beugte sich vor, brachte seinen Mund an Mojans Ohr und flüsterte etwas hinein.

Da aber schnellte der kleine Dicke wie von einer Tarantel gestochen empor.

»Sir, wofür halten Sie mich eigentlich?!« rief er in beleidigtem Tone. »So etwas nehme ich nicht einmal in den Mund, noch viel weniger schleppe ich es mit mir herum! Und nun gleich ein ganzes Faß voll! Und braucht man dazu etwa drei Jahre, um das zu machen? Und schmeckt das etwa gut? Denn ich habe Ihnen doch schon einmal erklärt, daß alles, was gut schmeckt, mit dem Sch anfängt. Schweinebraten, Schokolade, Schampagner, Schildkrötensuppe ...«

»Achso, es ist etwas zu essen?!«

»Nu natürlich, mit etwas anderem gebe ich mich doch gar nicht ab. Schei ... Schei ... na?«

»Und es stinkt so gräßlich?«

»Das muß es, sonst taugt's nicht. Schei ... na?«

»Nee, Mr. Mojan, da komme ich nicht drauf!«

»Und Sie wollen ein Detektiv sein? Sie sind ein Rhinozeros. Na, ich will Ihnen auf die Sprünge helfen. Es steht ja auch auf meiner Karte.«

Und er zog seine Brieftasche, Nobody erhielt eine Visitenkarte.

Visitenkarte

Indianerhäuptling, Käsefabrikant und Novellist – es war und blieb eine Tatsache. Doch eins nach dem andern.

»Also Käse?«

»Na, endlich!«

Nobody beschnüffelte ihn nochmals von vorn und von hinten.

»Nee, Geehrtester!« sagte er dann mit aller Entschiedenheit. »Solch einen Käse, der so stinkt, den gibt's überhaupt gar nicht in der Welt – oder es ist einer aus der vierten Dimension.«

»Und es ist doch Käse!«

»Dann essen Sie ihn selber.«

»Es ist der feinste Scheidamer.«

»Sie meinen wohl Schiedamer?«

Jawohl, das meinte Mr. Mojan. Als Engländer oder Amerikaner aber sprach er das ie wie ei aus.

»Ja, was soll es aber nun mit diesem infernalischen Käse? Weshalb schleppen Sie ein ganzes Faß davon mit sich?«

Erst mußte Nobody sein Ehrenwort abgeben, nichts zu verraten, dann enthüllte Mojan seine epochemachende Erfindung. Freilich so alles bekam Nobody wiederum nicht zu hören.

Er hatte ein Rezept. Woher er das hatte, das sagte er nicht, und wer das nicht hatte, konnte seinen Käse doch niemals nachmachen.

Vor drei Jahren hatte er in Holland zwanzig Zentner Schiedamer gekauft und sie in einem Fasse vergraben, jetzt hatte er sie wieder ausgegraben, nun war der Käse so, wie er gegenwärtig roch, nun mußte er noch einmal den Aequator passieren, so wie auch der Engländer seinen Portwein einmal über den Aequator schickt, ehe er ihn trinkbar findet, jedenfalls soll er dadurch bedeutend gewinnen – so geht wenigstens die Sage, ob's wahr ist, weiß man nicht – deshalb war Mr. Mojan jetzt mit der Feluke unterwegs, und hatte der Käse diese Periode überstanden, dann wurde das flüssige Zeug wieder fest, verlor auch wieder den abscheulichen Geruch, und dann ...

.

Und Mr. Mojan schwärmte weiter von dem köstlichen Stoffe, mit dem er demnächst die Menschheit beglücken würde. Dann wurde diese Käsevergraberei natürlich im Großen betrieben.

Nobody hatte zuletzt mit sehr wenig Interesse zugehört. Er betrachtete die Karte in seiner Hand.

»Mr. Mojan, Sie sind und bleiben ein originelles Huhn. Daß Sie Indianerhäuptling sind, weiß ich; daß Sie Käsefabrikant geworden sind, habe ich jetzt erfahren; und nun sind Sie auch noch unter die Schriftsteller gegangen? Sie schreiben Novellen?«

»Das wissen Sie noch nicht?«

»Mir ganz neu.«

Jetzt verwandelte sich der Käsefabrikant in den Dichter, seine Gebärden wurden mit einem Male ganz andere.

»Ich – äh – arbeite gegenwärtig an einem fünfbändigen Romaaan. Der Band zu 880 Seiten, die Seite mit 42 Zeilen, die Zeile zu 20 Silben.«

»Sind zusammen ... dreihundertundneunundsechzigtausendsechshundert Silben.«

»Stimmt! Habe ich mir auch schon ausgerechnet.«

»Und wie heißt der Roman?«

»Ueber den Gesamttitel bin ich mir noch nicht ganz klar. Ich möchte den ganzen Roman gern ›Liebe oder Delirium‹ nennen, möchte diesen Titel aber auch für das erste Buch verwenden.«

»Liebe oder Delirium? Ein sehr schöner, inhaltsvoller Titel. Und was behandelt der Roman?«

»Er soll das ganze menschliche Leben wie in einem Spiegel wiedergeben,« war die bescheidene Antwort. »Das erste Buch spielt in einem norwegischen Dorfe zwischen einem Pfarrer, der früher Missionar gewesen ist, und seiner schwarzen Dienstmagd, die er aus Honolulu mitgebracht hat. Das zweite Buch führt den Leser nach Honolulu selbst und spielt zum größten Teil teils unter, teils auf einem Affenbrotbaume. Das dritte Buch wickelt sich auf einem Ballsaale ab, wo eine Petroleumlampe explodiert. Das vierte Buch wirft den Leser mitten hinein in die Heilsarmee. Und das fünfte Buch endlich spielt zwischen zwei Essenkehrern, die in einem Schornstein stecken und nicht wieder herauskönnen. Das sind nämlich zwei Nebenbuhler. Hören Sie, Nobody, was für eine dramatische Wucht ich da hineinzulegen weiß – wie sich die beiden schwarzen Kerls in der Feueresse Herumbalgen – immer rauf, immer runter – 880 Seiten lang, die Seite zu 42 Zeilen, die Zeile zu 20 Silben – Sie haben gar keine Ahnung!«

»Allerdings, das scheinen packende Sujets zu sein. Wie weit ist denn der Roman schon gediehen?«

Das Quecksilber sprang auf und begann im Zimmer hin und her zu rennen.

»Das ist es ja eben! In meinem Kopfe ist der ganze Roman ja fix und fertig, aber das Schreiben, das Niederschreiben! Seit meiner Käsegeschichte leide ich so am Tatterich, das dreijährige Studium und Experimentieren Tag und Nacht hat mich so nervös gemacht! Ich hab's mit dem Diktieren versucht – es kommt niemand nach. Und wenn ich einmal im Fluß bin, kann ich nicht immer Pause machen, da fliegt mein Geist, wie er fliegt, da schüttele ich die Gedanken nur immer so aus dem Aermel.«

»Sie müssen sich einen Stenographen nehmen.«

»Hat sich was! Habe ich auch schon versucht. Es kommt keiner mit. Sie müssen mich nur einmal schwadronieren hören, wenn ich im Dichten bin. Können Sie stenographieren?«

»Gewiß, und bei mir können Sie so schnell sprechen wie Sie wollen, ich komme nach.«

»Ach nöööö?!«

Wie eitel Sonnenschein flog es über das fette Gesicht.

»Mensch, da kommen Sie mir ja wie gerufen! Da wollen wir gleich einmal loslegen, vielleicht bringe ich heute noch das ganze erste Buch fertig!«

Er rannte hinter das Büfett und holte ein Pack weißes Einwickelpapier, legte es vor Nobody auf den Tisch.

»Hier ist Papier, hier ein Bleistift, und nun mal los. Die Interpunktionszeichen sage ich gleich mit, die brauchen Sie natürlich nicht wörtlich nachzustenographieren, wie ich's schon einmal erlebt habe. Aber schnell geht's bei mir, das sage ich Ihnen.«

880 Seiten zu je 42 Zeilen zu je 20 Silben heute noch nachzustenographieren, dazu hatte Nobody nun weniger Lust. Na, eine halbe Stunde konnte er es ja einmal probieren.

»Was machen Sie denn da?« fragte er erstaunt.

Mojan hatte seinen Gehrock ausgezogen, wendete ihn vollständig um, da zeigte es sich, daß der schwarze Gehrock inwendig mit einem blau und weiß gestreiften Futter versehen war, und so zog er ihn an. Dann nahm er den Zylinder ab, brachte aus der Tasche eine rot und blau gestreifte Kappe zum Vorschein, zog aus seinem Hosenbein ein langes Futteral hervor, entnahm ihm eine Pfauenfeder, befestigte sie auf der Kappe, und so setzte er sie auf.

»So, fertig. Das ist mein Dichterkostüm. Ohne das geht's nicht. So muß ich mich immer im Spiegel besehen, und je heftiger die Pfauenfeder nickt, desto schneller kommen die Gedanken.«

Nobody wußte ja, daß fast jeder Künstler und Dichter seine Eigentümlichkeiten hat, und wenn Schiller zur geistigen Anregung öfters in eine Kiste mit faulen Aepfeln roch, so zog Cerberus Mojan eben den Duft von dreijährigem Käse vor – aber so ein Kostüm mit einer nickenden Pfauenfeder, das war ihm doch neu.

»Sind Sie bereit?«

»Passen Sie auf – eins, zwei, drei – los!«

Und der Novellist Cerberus Mojan schoß los. In einem Atemzuge rasselte er alles herunter.

»Liebe oder Delirium Fragezeichen weltgeschichtlicher Roman in fünf Büchern von Cerberus Mojan Punkt alle Rechte behält sich der Verfasser vor Komma insbesondere das der Uebersetzung Punkt höööööööööööhhhhhh,« schöpfte er tief Atem. »Sind Sie nachgekommen?«

»Jawohl.«

»Lesen Sie's vor.«

Nobody tat es.

»Gut, sehr gut. So, das war die erste Seite. Blättern Sie herum, nun kommt die zweite Seite. Aufgepaßt! Eins, zwei, drei – los! Liebe oder Delirium Fragezeichen weltgeschichtlicher Roman in fünf Büchern von Cerberus Mojan Punkt ...«

»Aber das ist doch ganz genau dasselbe.«

»Hööööööhhhhh. Halten Sie doch Ihr schnoddriges Maul, bis Sie gefragt werden!! Stören Sie mich nicht in meinem dichterischen Gedankenflug!!« wurde der gefällige Stenograph grimmig angeschnauzt. »Hat nicht jedes anständige Buch zwei Titelblätter, was? Wie? He?«

»Ach so.«

»Na ja. Außerdem kommt auf der zweiten Seite noch etwas anderes hinzu, während das ›Alle Rechte‹ wegbleibt. Nun muß ich aber noch einmal von vorn anfangen. Also aufgepaßt! Eins, zwei, drei – los! Liebe oder Delirium Fragezeichen weltgeschichtlicher Roman in fünf Büchern von Cerberus Mojan Punkt erstes Buch Punkt schwarzer Schnee Punkt Höööööööööhhhhhh. Sind Sie nachgekommen?«

»Jawohl.«

»Lesen Sie's vor.«

Es geschah.

»Gut, sehr gut. Wie finden Sie diesen Untertitel: schwarzer Schnee? Das ist nämlich symbolisch, weil das Buch doch im kalten Norwegen spielt, und es ist eine schwarze Köchin. Blättern Sie herum. Nun die dritte Seite des Buches. Aufgepaßt! Eins, zwei, drei – los! Liebe oder Delirium Fragezeichen weltgeschichtlicher Roman in fünf Büchern von Cerberus Mojan Punkt erstes Buch höööööööhhhhhh schwarzer Schnee Punkt erstes Kapitel Punkt die Katastrophe Punkt hööööööhhhhh ich bin etwas kurzatmig hööööööhhhh das schreiben Sie aber nicht mit hööööööhhhhh nun wollen wir erst mal trinken hööööööhh.«

Beim Trinken verschluckte sich Nobody einmal, daß er lange husten mußte, und es war ihm nicht übelzunehmen. Dann mußte er die ganze Geschichte zum dritten Male vorlesen, und der Dichter war zufrieden.

»Merken Sie, wie es bei mir fleckt, wie ich die Gedanken nur so aus dem Aermel schüttele?«

»Es ist erstaunlich!«

»Nicht wahr? Nun weiter, jetzt geht's los.«

Cerberus legte die Hände auf den Rücken, marschierte in seinem bunten Rocke hin und her und wackelte mit der Pfauenfeder. Er sah gerade aus wie eine chinesische Pagode.

»Also aufgepaßt! Eins, zwei, drei – los!«

Nobody hatte Angst, jetzt bekäme er dasselbe Lied zum vierten Male zu hören. Doch es sollte anders kommen, jetzt ging die Geschichte wirklich los.

»Unterdessen ... hm hm hm hm ... unterdessen ... hm hm hm hm ... un – terrrr – dessen ... hm hm hm hm – – – kommen Sie mit?«

»O ja,« entgegnete Nobody und mußte sich auf die Lippen beißen.

»Wirklich? Sie können fabelhaft schnell stenographieren. Also weiter. Sagen Sie nur, wenn's gar zu fix gehen sollte. Wo war ich stehen geblieben? Also noch einmal von vorn. Aufgepaßt! Eins, zwei, drei – los! Unterdessen ... hm hm hm hm ...unterdessen ... hm hm hm hm ...

un – terrrr ... ha ha ha ha hazzziehhhh ... der verdammte Schnuppen! Trinken wir erst einmal. Prost!«

Sie tranken, und dann ging es wieder los:

»Unterdessen ... hm hm hm hm ... unterdessen ... hm ... wissen Sie, ich habe etwas den Faden verloren. Das kann doch auch dem genialsten Schriftsteller einmal passieren, nicht wahr?«

»Gewiß doch. Aber erlauben Sie eine Frage – ist das der Anfang des Kapitels?«

»Nu natürlich!«

»Aber mit Unterdessen anzufangen, das ist doch etwas gewagt.«

»Sind Sie Schriftsteller, Mr. Nobody?«

»Nein, Gott sei Dank nicht.«

»Jaaaa, mein lieber Freund, dann können Sie auch gar nicht mitsprechen. Originell, originell – darauf kommt es an – daran erkennt man das Genie! Bleiben Sie nur beim Stenographieren. Nehmen Sie den Bleistift zur Hand. Aufgepaßt! Eins, zwei, drei – los! Unterdessen ... hm hm hm hm ... unterdess ...«

Die Tür ging auf, ein vierschrötiger Seemann trat ein.

»Der Kutter ist klar, Patron, Ihr könnt an Bord kommen.«

Cerberus Mojan schlug die Hände zusammen und blickte zur Decke empor.

»Kommt dieser Kerl gerade, wenn ich im besten Zuge bin, wenn die Gedanken nur so auf mich einstürmen. – Na, egal, wir haben ja an Bord noch Zeit genug, bis Kap Horn kann der ganze Roman diktiert sein. Sie kommen doch mit? Natürlich, Sie haben ja doch nichts zu tun. Also packen Sie Ihre Papiere zusammen, wir gehen gleich an Bord.«

O nein, so hatten sie nicht gewett ...

Nicht das Wort, sondern der Gedanke blieb ihm vor Schreck stecken.

Nobody hatte noch gar nicht daran gedacht, jetzt aber mit einem Male ward ihm mit fürchterlicher Gewißheit klar, daß das Schicksal, personifiziert in Edward Scott, ihn dazu bestimmt hatte, diesen verrückten Kerl auf seinem stinkigen Käsekasten rund um Kap Horn zu begleiten!

Doch nur kurz war das Sträuben, kurz der Kampf zwischen Vernunft und Glauben – dann war Nobody zu allem bereit.

»Gut, ich begleite Sie.«

»Na, ganz selbstverständlich, da gibt's doch überhaupt gar keine Widerrede. Die Zeit werden wir uns schon vertreiben, und daß ich gut verproviantiert bin, können Sie sich doch denken. Gehen wir!«

»Und was wird aus Ihrem Hotel?«

»Ich schließe einfach die Haustür zu. Den Schlüssel gebe ich im Vorbeigehen dem Agenten, der es wieder zu verklatschen sucht.«

– – – – – –

Die als Kutter getakelte Feluke, die den klassischen Namen ›Argo‹ führte, war ein wurmstichiger Kasten, der auch beim besten Winde wie eine Schnecke kroch. Der maltesische Kapitän, ein tüchtiger Seemann, aber sonst ein beschränkter, abergläubischer Mensch, der nur deshalb das tollkühne Wagnis unternahm, das elende Fahrzeug um das stürmische Kap Horn zu bringen, weil ihm eine kluge Frau geweissagt hatte, daß er nicht ertrinken, sondern gehangen werden würde, außerdem hatte ihn der Geizteufel durch die hohe Heuer und eine Prämie verlockt. Dasselbe galt von den fünf italienischen Matrosen – zur Bedienung der paar Segel wären nur drei notwendig gewesen – bei denen noch hinzukam, daß sie überhaupt noch gar nichts von Kap Horn gehört hatten, dessen Schrecken also nicht kannten.

Nichtsdestoweniger fühlte sich Nobody an Bord bald ganz behaglich. Nobody verstand, wenn es sein mußte, mit Appetit an einer alten Stiefelsohle seinen Hunger zu stillen. Aber lieber waren ihm doch zum Frühstück hartgekochte Eier mit fingerdick Kaviar darauf, das Pfund zu dreißig Mark, und solche Delikatessen hatte die Feluke als Ballast mitgenommen, denn deren einzige Fracht bestand ja sonst nur aus dem Käsefaß, und wenn man einmal wußte, daß es Käse war, sogar dreijähriger, und wenn man sich erst etwas daran gewöhnt hatte, dann fühlten sich die Geruchsnerven gar nicht mehr so beleidigt.

Was die Gefahr betraf, auf solch einem Troge, dessen Planken kaum noch zusammenhielten, um Kap Horn zu segeln, so war Mr. Cerberus Mojan viel zu sehr ›Nevermindman‹, um dabei etwas Besonderes zu finden, und Nobody war erstens gar keine so sehr ängstliche Natur, zweitens war er schon immer überzeugt gewesen, daß über jedes Menschen Leben und Tod eine unerbittliche Bestimmung schwebt, welcher Glaube sich bei ihm in letzter Zeit zur Gewißheit verstärkt hatte.

Kolumbus hat, als er den Seeweg nach Ostindien suchte und dabei Amerika entdeckte, auch kein besseres Schiff gehabt. Mojan verwandelte den Namen ›Argo‹ in Arche, sprach immer gleich von der Arche Noah. Nobody hingegen fand den Namen ›Argo‹ ganz passend, es war wirklich eine Argonautenfahrt – eine abenteuerliche Fahrt ins Ungewisse.

Auch Langeweile kannten die beiden nicht. Nobody erlernte, wie schon während der Fahrt von New-York nach Lissabon, die isländische Sprache, wozu er sich in New-York mit Lehrbüchern versehen, und er hatte einen ganz besonderen Grund, diese sonst so wenig gesprochene Sprache zu erlernen. Außerdem studierte er ein Werk, welches die altmexikanische Knotenschrift behandelte.

Und Cerberus Mojan? Der dichtete, und sein fünfbändiger Roman war schon ganz bedeutend über das ›Unterdessen hm hm hm‹ hinausgekommen. Am sechsten Tage nach der Abfahrt, als die ›Argo‹ den Aequator passierte, konnte er seinem Stenographen folgendes diktieren:

»Erstes Kapitel Punkt. Die Katastrophe Punkt. Unterdessen war es Mitternacht geworden Punkt. Gleichzeitig hoben sämtliche Kirchtürme der Stadt zum Schlage aus Punkt Absatz – – aber den Absatz dürfen Sie nicht etwa mitstenographieren.«

»O nein, ich verstehe schon. Jetzt beginnt eine neue Zeile.«

»Ganz richtig. Also weiter. Aufgepaßt! Eins, zwei, drei – los! Da, was erschütterte plötzlich die Luft, daß sämtliche Fensterscheiben wie Glas sprangen Fragezeichen Ausrufungszeichen, zwei Ausrufungszeichen, noch eins – machen Sie immer noch ein Ausrufungszeichen – es kommt gar nicht darauf an, ich kann es mir ja leisten.«

Nobody malte Ausrufungszeichen die schwere Menge, und der Romancier fuhr fort:

»Rrrrrrrrrr – – pst pst pst – – bscht bscht bscht – – pst pst pft – – bum bruch kladderadatsch datsch datsch – – pst pst pst ...«

Und so pste und bschte und kladderadatschte Cerberus Mojan noch eine gute Zeit weiter, bis sich Nobody endlich einer Frage nicht mehr enthalten konnte.

»Aber erlauben Sie mal – was soll denn das eigentlich bedeuten?«

»Das wissen Sie nicht? Das erkennt doch gleich jedes Kind! Das ist eben die Katastrophe, die jetzt über die Stadt hereinbricht.«

»Was für eine Katastrophe?«

»Die Stadt liegt an einem Vulkan, und der bricht jetzt los.«

»Hm. Haben Sie schon einmal dem Ausbruche eines Vulkans beigewohnt?«

»Gewiß doch. Ich habe gesehen, wie ein Vulkan eine ganze Stadt unter seiner Asche begraben hat.«

»Was Sie nicht sagen?!« rief Nobody überrascht. »Wo denn?«

»Im New-Yorker Walhalla-Theater.«

»Ach so, es war nur ein Theaterstück!« lachte Nobody.

»Aber was für eins! Großartig! Die letzten Tage von Rienzi, hieß das Ding.«

»Sollten Sie nicht vielleicht Pompeji meinen?«

»Auch möglich. Mir ganz egal. Jedenfalls war's großartig, wie der Vulkan Feuer spie und die Kulissen den Weibern auf die Köpfe fielen, die im Hemd herumliefen, und dahinter standen die Feuerwehrleute mit der Spritze, falls was passierte. Und dieser Spektakel! Den will ich hier eben wiedergeben.«

»Ja, aber pst pst pst und bscht bscht bscht hat es wohl nicht gemacht.«

Cerberus Mojan ließ den Kopf mit der Narrenkappe und der Pfauenfeder sinken, ohne die er keine dichterischen Gedanken hatte.

»Das ist es eben,« gestand er kleinlaut, »ich kann den Höllenspektakel nicht recht in Worten ausdrücken. Aber es wird mir schon noch einfallen,« setzte er hoffnungsfreudig hinzu.

– – – – – –

Vierzig Tage vergingen, und Mr. Mojans fünfbändiger Roman war immer noch nicht über das ›pst pst bscht bruch kladderadatsch‹ hinaus gediehen. Die ›Argo‹ hingegen war unterdessen in die Nähe des Kaps Horn gekommen, oder doch in die Nähe der Falklandsinseln, die sich der Südspitze von Amerika westlich vorlagern. Zwischen diesen und dem Festlande – wenn man das Feuerland noch hierzu rechnen will – mußte die Feluke hindurch.

Hiermit war ein Zufall verbunden, nämlich, daß die italienische Feluke, deren Erbauer sicher nicht daran gedacht hatte, daß das kleine Fahrzeug noch einmal zur Fahrt um Kap Horn bestimmt war, den Namen ›Argo‹ führte.

Die Falklandsinseln, zum Teil trotz ihrer Unwirtlichkeit bewohnt, bestehen aus einer ganzen Masse von Inselgruppen, und eine derselben haben die Engländer die Argonauten getauft, den einzelnen Felseninseln wieder die Namen der Helden des Argonautenzuges gebend, also Jason, Herkules, Castor, Pollux, Laertes, Orpheus usw.

Wie gesagt, das war ein merkwürdiges Zusammentreffen, woran auch Nobody nicht gedacht hatte, als er die ›Argo‹ zur Fahrt um Kap Horn betreten hatte.

Die Nähe des gefürchteten Kaps Horn machte sich schon seit einigen Tagen bemerkbar. Ständig herrschte nicht gerade ein furchtbares, aber doch ein böses Unwetter. Nobody kam fast gar nicht mehr vom Deck herunter, also auch nicht aus dem Wasser heraus, während Cerberus unbekümmert in der behaglichen Kajüte saß und ... dichtete.

So auch wieder eines Nachts, als das Schiffchen wie ein wildes Böcklein hüpfte. Aber wie Mojan auf dem kleinen Sofa saß und seine kurzen Beinchen gegen die andere Wand stemmte, um nicht herunterzurutschen, sah er recht trübselig drein, hatte auch nicht die Dichterfeder auf der Narrenkappe, sonst aber wohl sein Dichterkostüm an.

Da ward die Schiebetür geöffnet, Nobody trat ein, im Gehrock mit Südwester und wie aus dem Wasser gezogen.

»Mojan, ich muß Ihnen etwas mitteilen ...« Im Augenblick klärte sich das trübselige Gesicht zu eitel Seligkeit auf.

»Ich Ihnen auch,« unterbrach er den anderen. »Wissen Sie, ich lasse den fünfbändigen Roman einstweilen, ich habe eine andere, prachtvolle Idee bekommen ...«

»Ach, lassen Sie doch Ihren Unsinn.«

»Was, Unsinn?!« fuhr der Dichter beleidigt auf, ohne Nobodys tiefernstes Gesicht zu bemerken.

»Ja, jetzt ist das alles Unsinn. Hören Sie, Mojan, wir sind in einer ganz schwierigen Lage. Machen Sie sich auf alles gefaßt. Kein Stern am Himmel, nach dem wir uns orientieren können, aber wir hören vor uns das Donnern einer Brandung, auf die uns der Nordsturm unaufhaltsam zutreibt, jeden Augenblick kann es zu einer Katastrophe

kommen ...«

»Um Gottes willen, meine Käsetonne!!« kreischte

Mojan auf, wollte aufspringen ...

Er kam gar nicht so weit – ein Krach, ein Bersten und Splittern – und auch in der Kajüte befanden sich die beiden im Wasser, ohne noch Boden unter den Füßen zu haben.

– – – – – –

Freundlich lächelte die Morgensonne auf das Eiland herab, von Riffen umgeben, zwischen denen das Meer fürchterlich schäumte.

Vor kurzem mußte der Wogenschlag noch höher gegangen sein; denn wie wäre sonst der mit einem Oelrock bekleidete Mann dort oben hinaufgekommen, wo er jetzt regungslos zwischen den Klippen festgekeilt lag? Nun aber benetzten die Wellen nicht einmal mehr seine Füße.

Da war auch etwas Lebendiges – ein zweiter Mann kletterte vorsichtig über die Riffe, bekleidet mit einem blau und weiß gestreiften Gehrock, der freilich arg gelitten hatte, und auf dem Kopfe eine ebenso gestreifte Narrenkappe.

Jetzt stieß er einen Jubelruf aus. Er hatte den Gefährten erblickt. Bald war er bei ihm.

»Nobody – Nobody, sind Sie tot oder leben Sie noch? Na, da antworten Sie doch!«

Der an der Schulter Gerüttelte schlug die Augen auf, und Nobody sagte nicht erst ein verstörtes »Wo bin ich?«, sondern gleich war er auf den Füßen und konstatierte zunächst, daß seine Glieder wohl schmerzten, daß er aber keins davon gebrochen habe. Er war wie Mojan mit einigen leichten Hautabschürfungen davongekommen.

»Sind noch andere gerettet worden?« war Nobodys erste Frage.

Mit einem verzweifelten Gesicht breitete Mojan beide Arme gegen das brandende Meer aus.

.

»Mein Käsefaß, ach, mein Käsefaß!! Alles, alles ist fort, weg, futsch!!« jammerte er laut. »Ach, mein schöner Scheidamer!«

»Mensch, freveln Sie nicht!!« herrschte Nobody den Unverbesserlichen zürnend an. »Ich frage Sie, ob Sie noch einen geretteten Schiffbrüchigen gesehen haben!«

Nein. Und Mojan hatte viel weiter dort oben gelegen, wohl eine Viertelstunde war er an der Küste entlang über die Riffe geklettert, ohne einen Menschen gesehen zu haben, weder lebendig noch tot.

»Was wissen Sie von dem Schiffbruch? Können Sie sich auf irgend etwas besinnen?«

»Auf gar nichts. Ich lag plötzlich im Wasser, ich bekam wohl auch einen Schlag auf den Kopf, und dann dachte ich, ich wäre tot. Aber einen Traum habe ich während meiner Bewußtlosigkeit gehabt – einen Traum, sage ich Ihnen, Nobody – das gibt einen zweibändigen Roman! Ich habe auch schon einen Titel dafür gefunden. Mit und ohne Liebe. Klingt das nicht nach etwas? Mit und ohne aaauuuuuu!« heulte Mojan plötzlich auf und griff an seine Wade, wo sich ein großer Hummer festgekniffen hatte.

Es war nur eine Gefälligkeit von dem Ungetüm, daß es seine Scheren wieder öffnete, und dann lachte der kleine, dicke Kerl gleich wieder übers ganze Gesicht.

»Nobody, jetzt schnell ein Feuer angemacht, dann können wir das Ding kochen und essen!«

Eigentlich mußte Nobody diesen Amerikaner bewundern. Ein Nevermindman vom Scheitel bis zur Sohle! Kaum vom Tode errettet, denkt er nur an sein Käsefaß, macht noch im Todestraume Romane, wenn ihn ein Hummer in die Waden kneift, denkt er gleich ans Essen – ein glücklicher, ein beneidenswerter Charakter!

Aber sein ›Feuer anmachen‹ brachte jetzt Nobody auf andere Gedanken. Er hielt weitere Umschau, und immer mehr erkannte er, wie böse es hier aussah.

Es war ein Felseneiland, aus dem auch nicht ein Grashalm gedieh. Selbst wenn irgendwo Humus entstand, so hätte der Gischt des Salzwassers, welcher ständig die ganze Atmosphäre erfüllte, auch nicht die Spur einer Vegetation aufkommen lassen.

In der Mitte stieg die Insel an, bildete einen Felsenberg, so zerrissen und zerklüftet, wie die ganze Küste, und die ganze Insel war.

Mit Mühe erklomm Nobody die Spitze des Felsens, von wo er das ganze Eiland überblicken konnte. Er schätzte es etwa auf einen Quadratkilometer. In der Ferne waren noch andere Inselchen zu sehen, wenigstens konnte das erfahrene Auge von Nebelstreifen auf solche schließen – also so weit entfernt, daß sie für die Schiffbrüchigen gar nicht zu existieren brauchten. Nobody wollte sich lieber eingehender mit dem Boden beschäftigen, der ihrem Fuß Sicherheit bot.

Es sah trostlos hier aus! Die Küste überall so schrecklich zerrissen, und nichts, was an den letzten oder an einen früheren Schiffbruch erinnert hätte!

Nobody zog sein Taschenfernrohr, ein ausgezeichnetes Instrument, welches unbeschädigt geblieben, und musterte lange Zeit alle Stellen an der Küste.

Seltsam, daß er so gar keine Planke, gar nichts erspähen konnte, was von einem früheren Schiffbruch erzählt hätte. Es gibt doch eigentlich gar kein Inselchen im Weltmeer, an das nicht immer Schiffstrümmer angetrieben würden. Oder aber, es ist von einer ständigen Strömung umgeben, die immer wieder alles fortspült. Das konnte ja auch hier der Fall sein, es kam Nobody sogar so vor, als herrsche eine starke Strömung nach Norden. Ja, aber wie waren denn dann die beiden hierhergetrieben und an Land geschleudert worden? Es war eben Gottes Hand gewesen, die sie gerettet.

Er stieg wieder herab, umging die ganze Insel, immer von Klippe zu Klippe kletternd und springend. Er bekam nicht einen einzigen Holzspan zu sehen. Es könnte ja sein, daß er in dem Labyrinth von Blöcken, zwischen denen das Wasser kochte, etwas übersehen hatte, aber ... er kam immer mehr zu der festen Ueberzeugung, daß überhaupt auf keiner Seite dieser Insel irgend etwas angetrieben werden konnte, Strömungen trugen alles von ihr weg.

Dann durchstrich er noch die Insel nach verschiedenen Richtungen, untersuchte einzelne Spalten des Felsenberges, und das Negative, was er dabei zu sehen bekam, trug nicht dazu bei, seine Hoffnungen zu vermehren.

Als er zu seinem Gefährten zurückkam, patschte dieser mit seinen gelben Schnürstiefeln in einer Lache Wasser herum, welche die Flut zurückgelassen hatte, fischte Muscheln auf, öffnete sie mit seinem starken Taschenmesser und schlürfte sie aus.

»Austern, die feinsten Austern!!« jauchzte er dem Ankommenden entgegen. »Hundert Stück habe ich wenigstens schon gegessen, und sie werden gar nicht alle. Wenn ich jetzt nur noch ein Flasche Portwein dazu hätte!«

»Wir könnten schon mit einer Flasche Wasser zufrieden sein,« entgegnete Nobody ernst.

»Da haben Sie recht. Ich habe nämlich Durst. Ist hier kein Bach oder so etwas Aehnliches?«

»Keine Quelle, aus keiner Spalte tropft auch nur trinkbares Wasser.«

Sofort wußte Mojan, was das zu bedeuten hatte, er stockte mitten in der Bewegung.

»Au! Dann freilich sähe es auf dieser sonst so gesegneten Austernbank für uns faul aus! Haben Sie schon ordentlich nach Wasser gesucht?«

»Wenigstens eins Viertelstunde lang, und die Gegend sieht gar nicht danach aus, als ob hier frisches Wasser zu finden wäre.«

»Aber Wasser müssen wir finden, sonst geht's uns ... suchen wir!!«

Und mit einem Male zeigte sich das spleenige Kerlchen von einer ganz anderen Seite, die zielbewußte Tatkraft des Yankees war in ihm erwacht! Uebrigens hatte er hiervon schon früher manchen Beweis abgegeben.

Er schloß sich beim Absuchen der Insel nach Trinkwasser seinem Gefährten nicht an, er suchte auf eigene Faust, und das gar gewissenhaft. Das Hauptaugenmerk mußte dem Felsenberg und seinen Spalten gelten. So sah Nobody ihn einmal eine ziemlich steile Wand hinaufklettern, ein ganz gefährliches Wagestück. Oben angelangt, verlor Mojan den Halt, auf Händen und Knien rutschte das kleine, dicke Kerlchen die ganze Fläche wieder herab, und hätte sein Bauch dabei nicht als Bremse gewirkt, so wäre es ihm gar übel ergangen. Aber nichtsdestoweniger begann er die Klettertour gleich von neuem, dann, als er sich überzeugt hatte, daß dort oben nichts zu trinken war, dieselbe Rutschpartie noch einmal freiwillig machend.

Erst nach gut zwei Stunden trafen die beiden wieder zusammen.

»Haben Sie etwas gefunden?«

»Dann würde ich Ihnen wohl anders entgegenkommen.«

»Wo mögen wir sein?«

»Sicher auf einer der Argonauteninseln.«

»Kommen hier öfters Schiffe vorbei?«

»Damit ist gar nicht zu rechnen. Die Argonauteninseln, die keinen Leuchtturm haben, werden von jedem Schiffer wie die Pest gemieden, auch kein Walfischfänger kommt hierher, um etwa Tran auszukochen, hier gibt es ja keinen Anlegeplatz, und wir können auch kein Flaggensignal errichten, kein Feuer anzünden.«

So sprach Nobody, und Mr. Cerberus Mojan griff zwischen Hosenbund und Bauch, zog aus dem Hosenbein ein langes Lederfutteral, entnahm diesem die aus dem Schiffbruch gerettete Pfauenfeder und befestigte sie an seiner Mütze.

»Was machen Sie denn da?«

»Jetzt werde ich meinen Schwanengesang dichten.«

Es kam gar nicht komisch heraus. Nobody sah ihn aufmerksam an und entdeckte, daß sein alter Freund plötzlich recht eingefallen aussah, er bemerkte auch etwas Besonderes in seinem Auge, was ihm gar nicht recht gefiel.

Offenbar wurde Mojan schon sehr von Durst gequält. Er hatte gestern abend reichlich Grog genossen, dann Salzwasser geschluckt, vorhin in unmäßiger Menge salzige Austern gegessen, das Meerwasser immer als pikante Brühe mit hineingeschlürft – und Mojan war kein allzu widerstandsfähiger Jüngling mehr, dabei so außerordentlich dick – bei so einem geht so etwas schnell!

»Na, alter Junge, so weit ist es noch nicht, daß Sie schon an Ihr Sterbelied denken müssen. Mut, nur Mut!«

»Lassen Sie mich allein. Ich will meinen Schwanengesang dichten. Heidiedeldiediedeldiedieldie – so ungefähr soll er anfangen, das summt mir schon im Ohr. Lassen Sie mich allein!«

Und Nobody ließ ihn allein, ihn, der immer derselbe blieb, auch wenn er sein Sterbelied dichtete.

Aber Nobody war es durchaus nicht lächerlich zumute. Auch er sah ihren unvermeidbaren Verschmachtungstod vor Augen.

Und doch nicht!!! Es gab etwas, was ihn mit einer wunderbaren, felsenfesten Zuversicht erfüllte, daß sie doch noch gerettet werden würden!

Weshalb hatte ihn sein prophetischer Freund nach Freetown zitiert? Weshalb hatte er ihn dort Cerberus Mojan finden, diesen auf dem Käsekasten um Kap Horn begleiten lassen?

Etwa deshalb, damit der Käsetrog hier scheitern und er, Nobody, auf diesem Felseneiland einen jämmerlichen Verschmachtungstod finden sollte?

Nein, nein, und abermals nein!!! Nobodys Glauben an Edward Scotts Sehergabe war nicht mehr zu erschüttern!

Entweder war dies hier auf der Fahrt nach dem geheimnisvollen Etwas nur einmal eine Zwischenstation, die sie schon wieder verlassen würden, wenn das Schicksal es bestimmte, oder aber ...

Doch Nobody wollte sich jetzt gar nicht auf solche Kalkulationen einlassen!

Noch einige Stunden lang durchforschte er allein die Insel, es war mehr ein planloses Umherirren, denn hier gab es nichts mehr zu entdecken.

Und jetzt begann sich auch bei Nobody der Durst einzustellen. Auch er hatte Austern und andere Muscheln gegessen, um einen auftauchenden Hunger zu stillen. Ob aber rohe Muscheln überhaupt den Hunger stillen? Man erzählt es ja immer von Schiffbrüchigen. Ob es aber auch wahr ist? Rabiate Austernesser versichern das Gegenteil. Je mehr sie Austern essen, desto mehr Appetit bekommen sie. Gebackene und gekochte Austern sind allerdings sehr nahrhaft, aber sehr die Frage ist es, ob von rohen Muscheln überhaupt auch nur eine Spur verdaut wird. Aber Durst bekommt man von dem Salzgeschmack, das stimmt, und das war jetzt auch bei Nobody der Fall.

Und kein Tropfen Wasser! Wie lange würde man das aushalten können? Nicht bis morgen abend!

Auf der nördlichen Hälfte der Erdkugel brach jetzt der Winter an, hier der Sommer. Das war ein Glück für die Schiffbrüchigen. Sonst hätten sie andere Leiden ausgestanden, denen erst der Erstarrungstod ein Ende bereitet.

Andererseits brannte auch hier, jetzt zur Mittagszeit, die Sonne auf das schwarze Felsgestein ganz empfindlich herab, was den Durst nur vermehrte, und ebenso hinwiederum hätten sie im strengen Winter Aussicht gehabt, Eisschollen zu finden, welche zwar dein Meerwasser entstammten, aber doch genießbar waren, indem bekanntlich das Wasser beim Gefrieren alle fremden Bestandteile ausscheidet, also auch das Salz.

Bis morgen abend! Doch nein, der Glaube, diesmal sogar der Wunderglaube, um nicht zu sagen Aberglaube, war bei Nobody stärker als die erwägende Vernunft!

Hätte er nur seinem Freunde Mojan etwas davon erzählen können oder dürfen, um auch ihm solch eine hoffnungsvolle Zuversicht einzuprägen! Ja, Hoffnung, Hoffnung! Wenn sie auch manchmal, trotz des Sprichwortes, zuschanden werden läßt – eine unerschütterliche Hoffnungsfreudigkeit vermag doch im Menschen eine ganz eigenartige Spannkraft zu wecken!

Wo war Mojan? Der arme Kerl kauerte jetzt gewiß irgendwo, nickte mit der Pfauenfeder und dichtete an seinem Sterbe ...

Nein, da kam er! Die Pfauenfeder nickte allerdings auf der Kappe, aber sein Gesicht, so sehr es auch plötzlich eingefallen, sah recht vergnügt aus, gar nicht nach Sterben.

»Nun, wie weit ist Ihr Schwanengesang gediehen?«

»Ja, Nobody, wissen Sie, hören Sie – jetzt vor allen Dingen kommt mir die Romanidee nicht wieder aus dem Kopfe, die ich vorhin geträumt habe. Sie wissen – mit und ohne Liebe. Aber ich will ihn doch lieber nicht gar zu lang machen, es gibt immer zu viel zu schreiben – nur zwei Bände, jeder Band bloß 600 Seiten, die Seite bloß mit 35 Zeilen, die Zeile soll bloß 16 Silben haben. Was meinen Sie dazu? Kommen Sie, wir wollen der Sonne und dem Winde aus dem Wege gehen. Dort in der Höhle schildere ich Ihnen in großen Zügen den ganzen Roman.«

O, du glückliche Natur!! Ueber solch einen Menschen verliert der Tod seine Macht, und wenn er ihn auch schon beim Kragen hat!

Sie lagerten sich in einer der Höhlen, von denen es in dem zerklüfteten Felsenberge genug gab.

»Eigentlich,« begann Mojan mit heiserer Stimme, »sollte der Roman heißen: Ohne und mit Liebe. Das erste Buch nämlich ist betitelt ›Ohne Liebe‹, das zweite ›Mit Liebe‹. Dem Ganzen liegt ein furchtbarer, origineller Gedanke zugrunde. Heutzutage muß doch jeder Roman mit Liebe gespickt sein, sonst wird er nicht gelesen. Liebe! Larifari! Ich will einen Roman schreiben, in dem kein Fünkchen von Liebe vorkommt, und dennoch will ich das Herz jeder jüngeren und älteren Jungfrau zum Schmelzen bringen. Passen Sie auf, wie ich das mache.«

»Ich höre.«

Mojan räusperte sich – oder er wollte es doch tun. Es klang mehr wie ein Röcheln.

»Die Heldin heißt – heißt – Hulda soll sie heißen – Hulda Strohbach sagen wir – Komteß Hulda von Strohbach. Ihr Vater ist nämlich ein Graf, die Mutter eine Gräfin, reich, furchtbar reich, gesund, glücklich – und dabei reich, sehr reich sogar – und – und – die Eltern sind überhaupt die bravsten Menschen, ehrlich, tun keinem Tierchen etwas zuleide – und reich, außerordentlich reich ...«

»Hören Sie, daß die Strohbachs reich sind, das haben Sie nun schon dreimal gesagt.«

»Habe ich? Dann bitte ich um Entschuldigung. Und da Hulda die einzige Tochter ist, so ungefähr zwanzig Jahre alt, ist sie natürlich ebenso reich. Und was sie nun sonst für ein Mädchen ist – hören Sie, Nobody, Sie machen sich gar keinen Begriff! So hold, so unschuldig, so lieblich, so reizend, so liebreizend – und nun noch schön dazu – schön, sage ich Ihnen – Sie machen sich wirklich gar keinen Begriff davon!«

Der Erzähler wurde ganz begeistert.

»Das muß allerdings eine ganz bevorzugte Vertreterin ihres Geschlechtes sein,« sagte Nobody, nur um etwas zu sagen.

»Na ja, deshalb eben habe ich sie ja Hulda genannt. Eines schönen Tages, wie das Glück zwischen den dreien gerade am allergrößten ist, begeht der Graf einen Raubmord, wird dabei ertappt, eingespundt ...«

»Der Vater der Hulda begeht einen Raubmord?! Ja, aber wozu denn in aller Welt? Der reiche Graf hat es doch gar nicht nötig?!«

»I, wie schlau Sie sind!« sagte der Romancier mit überlegener Miene. »Geheimnis, lieber Freund, Geheimnis! Muß es denn immer Geld sein, was man maust? Könnte es sich nicht vielleicht auch um die Wiederherbeischaffung von wichtigen Familienpapieren handeln?«

»Das ist allerdings etwas anderes, aber ...«

»Sehen Sie!« triumphierte Mojan. »Unterbrechen Sie meinen Gedankengang nicht. Also der alte Graf hat einen Raubmord begangen und ...«

»Und doch müssen Sie mir erlauben. Sie sagten doch, der alte Graf wäre ein Ehrenmann und ein solcher ...«

»Halten Sie's Maul, und hören Sie mir zu,« wurde Mojan jetzt grob. »Er hat einfach den Raubmord begangen, wird dabei ertappt, eingespundt, wird der Tat überführt, zum Tode verurteilt, zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Wie finden Sie das?«

»Schrecklich! Die arme Hulda!«

»Nicht wahr? Nun kommt die Mutter dran. Die geht eines schönen Tages in ein Modemagazin und wird dabei ertappt, wie sie etwas in ihre Tasche verschwinden läßt, gleichzeitig hat sie ihre Hand auch noch in einer fremden Tasche. Natürlich Arretierung – Haussuchung – da findet man, daß sie Kisten und Kästen und Boden und Keller voll lauter gestohlener Sachen hat. Was sagen Sie dazu?«

»Kleptomanie.«

»Sssssst, nicht so voreilig! Das ist noch Geheimnis. Aber was sagen Sie zu Hulda, die hiervon noch keine Ahnung hat?«

»Das arme Kind!«

»Nicht wahr? Also die Mutter wird ebenfalls mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft ...«

»Aber hören Sie mal, wegen Diebstahls gibt's doch überhaupt gar kein Zuchthaus!«

»Zu der Zeit aber, wo mein Roman spielt, gab's für so etwas gleich lebenslängliches Zuchthaus, und damit basta. Und mausen Sie mal ein Kriegsschiff oder so was Aehnliches, ob Sie da nicht auch Zuchthaus kriegen. Also so ist's der armen Hulda ergangen! Natürlich aus allen Himmeln gestürzt. Nun bleibt ihr außer ihrer Schönheit und ihrer Unschuld nur noch ihr Reichtum. Da macht ihr Bankhaus bankrott – schrumm, jetzt hat sie keinen roten Cent mehr. Aber zu betteln braucht sie deshalb noch nicht. Sie hat ja noch ihre Schönheit. Mit Liebe soll ja eigentlich dieser erste Teil meines Romanes nichts zu tun haben, und es ist auch wirklich keine Liebe dabei, wenn sich ihr ein Freier naht, ein steinreicher Kerl, so reich wie – wie – wie ...«

»Wie Krösus,« kam Nobody dem Stockenden zu Hilfe.

»Nee, so reich wie ich. Auch hierin gleicht dieser Kerl ganz mir, daß es ihm ganz egal ist, daß die beiden Eltern der Auserwählten lebenslänglich im Zuchthaus sitzen. Schon naht der Morgen des Hochzeitstages, da, als Hulda gerade in den Hochzeitswagen steigen will, fällt oben aus einem Fenster ein Glasballon mit Schwefelsäure herunter, gerade über Huldas Kopf – total verbrannt, futsch ist die Schönheit. Was sagen Sie dazu?«

»Gräßlich! Oder vielmehr furchtbar schauerlich schön! Woher nehmen Sie das nur alles?«

»Daher eben der Name Romancier und Novellist. Lernen läßt sich so etwas nie. Der eine kann's gleich, der andere lernt's nie und dann noch mangelhaft. Natürlich läßt der Freier die entstellte Hulda nun sitzen. Denn er ist ein Schuft, worin ich ihm nun wieder nicht gleiche. Was soll Hulda machen? Zu betteln braucht sie noch nicht. Sie will arbeiten. Als sie sich als Spinnerin das erste Stück Brot verdient hat, als sie sich hinsetzt, um es zu verspeisen, macht sie eine ungeschickte Bewegung, sticht sich mit der zweizinkigen Gabel beide Augen aus. Was sagen Sie nun dazu?«

»Ich kann nur Ihre Phantasie bewundern.

»Warten Sie nur, das Unglück ist noch lange nicht voll. Stellen Sie sich Hulda vor, wie ich sie Ihnen zuerst geschildert habe, das reinste Sonntagskind. Und jetzt beide Eltern im Zuchthaus, sogar lebenslänglich, sie selbst jetzt bettelarm, durch Schwefelsäure, auch Vitriol genannt, bis zur entsetzlichen Unkenntlichkeit entstellt, nun auch blind – ja, zum Himmeldonnerwetter noch einmal, kann es denn ein noch größeres Unglück geben? Jawohl, es kann ein noch größeres geben. Wie die Blinde ihren ersten Ausgang macht, stürzt sie, bricht ein Bein, es muß ein Stück herausgesägt werden. Jetzt hinkt sie auch noch, und zwar lebenslänglich. Und immer noch nicht genug! Als sie zum ersten Male über die Straße hinkt, geht neben ihr eine Kanone los, ihre beiden Trommelfelle platzen – schrumm, jetzt ist Hulda auch noch taub!«

»Hahahahaha!!«

»Na, was gibt's denn da zu lachen?« fragte Mojan mit gerechter Entrüstung.

Wie er vorgetragen hatte, es war wirklich zum Lachen gewesen, aber ... Nobody hatte gar nicht gelacht.

In der Höhle konnte es nicht ausgestoßen worden sein, diese war mit Tageslicht gefüllt, und ein Versteck gab es darin nicht. So sprang Nobody schnell hinaus, das Herz zum Springen mit Erwartung erfüllt. Um nach dem Lacher zu spähen.

In diesem Augenblicke sah er dicht vor der Höhle eine jener Möwen vorüberstreichen, welche die Seeleute direkt Lachmöwen nennen, weil sie ein ganz menschenähnliches Lachen auszustoßen vermögen.

Es hatte zwar geklungen, als ob das Lachen in der Höhle selbst erschollen wäre, aber das konnte nur der Widerhall der Felswände gewesen sein, und genau so heiser und etwas krächzend wie das einer Möwe hatte es auch geklungen.

Mit dieser Erklärung kehrte Nobody in die Höhle zurück.

»So?« meinte Mojan phlegmatisch. »Ich hätte eher geglaubt, es wäre hier aus der Felswand gekommen. Na ja, das Echo. – Also nun weiter! Hiermit will ich den ersten Band übrigens schließen. Ich könnte ja dem armen Mädel noch mehr Unglück zufügen, aber da müßte ich in das Buch wohl noch mehr Seiten hineinquetschen oder jeder Seite noch mehr Zeilen oder jeder Zeile noch mehr Silben hinzufügen. Das Schlußkapitel erzählt nun bloß noch, wie Hulda Gift nimmt und stirbt. Können Sie das dem Mädchen übelnehmen, wenn es Gift nimmt und stirbt?«

»Nicht im geringsten! Bei so vielem Unglück!«

»Nicht wahr? Und finden Sie, daß in diesem Buche etwas von Liebe vorkommt?«

»Keine Spur.«

»Das zweite Buch aber heißt nun: Mit Liebe. Da wimmelt es drin von Liebe. Da will ich mich einmal als Meisterschaftsjongleur der Liebesgefühle und Liebesworte erweisen. Dieses zweite Buch fängt damit an, wie Hulda begraben wird. Natürlich ohne Sang und Klang. Kein Hund folgt ihrem Sarge. Denn beide Eltern im Zuchthaus, und das lebenslänglich, Hulda selbst im Gesicht total verbrannt, lahm, taub, blind, und nun auch noch bettelarm dazu – i, wer soll denn bei so einer zum Leichenbegängnis gehen?! – Der Totengräber schaufelt das Grab zu. Dieser Totengräber ist der Held. Er heißt Eugen, so ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt, ein sehr gebildeter junger Mann, der Jura und Medizin stud ... halt, das darf ich noch nicht verraten. Aber das darf ich verraten, daß er Hulda schon vorher gekannt und geliebt hat, als sie noch reich und unbescholten war und noch beide Augen und beide Trommelfelle und zwei ganze Beine gehabt hat. Wie sie jetzt aussieht, weiß er nicht, das ist ihm auch ganz egal. – Wenn das zweite Kapitel anfängt, ist es Mitternacht. Neben Huldas Grabe kniet Eugen und schreit in herzzerreißendem Jammer: ›Hulda, meine Hulda, wenn ich dich mit diesen meinen wohlgepflegten Fingernägeln wieder herauskratzen könnte, ich tät's!‹ – Und er läßt es nicht nur bei diesen Worten bewenden, sondern er wirft sich über das Grab hin und fängt an zu kratzen – und er kratzt und kratzt und hört nicht eher wieder auf zu kratzen, als bis er die ganze Erde von dem Sarge heruntergekratzt hat, und noch immer nicht genug, er kratzt immer weiter, bis er den Holzsarg aufgekratzt hat, nur mit seinen Fingernägeln – und da – und da – na, was meinen Sie wohl, was nun kommt?«

»Da liegt die Hulda gar nicht drin?!«

»Na und ob sie drin liegt! Sogar die Hände hat sie auf dem Leichenhemd gefaltet. Da aber – da aber ...«

Mojan zog erst einmal das große rote Taschentuch hervor, das er aus dem Schiffbruch gerettet hatte, schneuzte sich die Nase und fuhr sich auch einmal über die Augen.

»Da schlägt die Tote die lieblichen Augen auf, und lächelte ihn freundlich an – jawohl, das tut sie!«

Jetzt hätte nicht viel gefehlt, so wäre Nobody laut herausgeplatzt. Besonders im Ton hatte das Humorvolle gelegen.«

»Ich denke aber, sie war blind?

»Ist sie auch noch. Aber daß sie lächeln kann, das kommt natürlich daher, daß sie nur scheintot war. Im übrigen will ich mich kurz fassen. Eugen ist eigentlich kein Totengräber, sondern ein Prinz oder so was Aehnliches. Hat als Totengräber nur ein Gelübde zu erfüllen. Hat, wie ich leider schon verriet, Jura und Medizin studiert. Er besitzt ein Mittel, um aus Huldas Gesicht die Schwefelsäureflecke wieder zu entfernen, setzt ihr statt des herausgesägten Knochens eine Stange Elfenbein ein, setzt ihr neue Trommelfelle ein, sticht ihr den Star ...«

»Pardon, sie hat sich doch mit einer zweizinkigen Gabel die Augen ausgestochen?«

»Habe ich das gesagt? Nein, es war ein Star, der sie gestochen hat, und Eugen sticht nun wieder den Star. Nachdem er nun die Geliebte völlig wieder renoviert hat, macht er sich an die Eltern. Der Jurist beweist in großartigen Gerichtsverhandlungen, daß der Vater gar nicht den Raubmord begangen hat, daß die Mutter gar nicht gemaust hat, alles nur Verleumdungen und Intrigen – fertig ist wieder die glückliche Familie, das glückliche Brautpaar und die ganze Geschichte. Natürlich geht das alles nicht so fix, wie ich es Ihnen hier erzähle, sondern das wird in zwei Bänden, jeder zu 600 Seiten à 35 Zeilen à 16 Silben mit allen tragischen Finessen ausführlich geschildert. Na, was meinen Sie, ist das kein Stoff, was, wie, he?«

»Hören Sie, Mojan, da kann man wirklich einmal das Wort anwenden: wenn dieser Roman herauskommt, da kann kein Auge trocken bleiben.«

»Nicht wahr nicht? Und wissen Sie, wenn der Roman jetzt schon fix und fertig wäre, ich legte ihn einem Verleger vor, ich sollte ein Honorar verlangen – wissen Sie, was ich da jetzt verlangte? Wissen Sie es?«

Er hatte dabei die Hand auf Nobodys Schulter gelegt, blickte ihn an, so eigentümlich, und Nobody sah ihm in die Augen, die so feucht glänzten, und er las etwas Besonderes darin, und plötzlich stieg es Nobody so siedendheiß zum Herzen empor.

Armer Kerl! Nobody wußte, was jener meinte, was er aber gar nicht aussprechen wollte.

Für einen Trunk Wasser hätte er jetzt diese ganze grandiose Idee dahingegeben!

Doch Cerberus Mojan war ein Mann! Er jammerte nicht.

Wenn der nordamerikanische Indianer etwas Schmerzliches erfährt, etwa den Tod eines Freundes, so verhüllt er sein Haupt, um sein Gesicht, vielleicht auch seine Tränen nicht sehen zu lassen. Es ist merkwürdig, daß auch der alte Römer sich bei solchen Gelegenheiten ebenso benommen haben soll. Auch er verhüllte schweigend sein Haupt mit der Toga.

Und Cerberus Mojan war ja nicht nur professioneller Novellist und gescheiterter Käsefabrikant, sondern er war auch aktiver Indianerhäuptling. Er zog seine Narrenkappe übers Gesicht, wälzte sich herum auf den Bauch, und so blieb er liegen, ohne einen Laut von sich zu geben.

Es duldete Nobody nicht mehr in der engen Höhle. Doch was sollte er draußen? Nur das stürmische Meer in seiner ganzen Hoffnungslosigkeit beobachten? Es lag etwas von Wahnwitz darin, daß er immer wieder jede Felsspalte durchforschte, ob er nicht eine Pfütze Regenwasser fände. Oder wenn doch wenigstens eine Möwe diese Felseninsel zur Brutstätte erkoren hätte, damit man den Durst an ihren Eiern löschen könnte. Aber nichts, gar nichts!

Also bis morgen abend! Es wurde bei Nobody förmlich zur fixen Idee, daß es nicht länger dauern könne! Und dennoch oder ebenso wollte die feste Zuversicht nicht von ihm weichen, daß bis dahin irgend etwas geschehen würde, was ihnen Rettung brachte.

Als er nach einigen Stunden in die Höhle zurückkehrte, schlief Mojan, aber schon mit starkem Fieber. Er träumte, jammerte über seine verlorene Käsetonne, dazwischen schrie er nach Wasser, schien sich im Traume an einer Quelle zu befinden, aber das köstliche Naß wich immer vor ihm zurück.

Nobody kannte diesen Zustand. Das richtige Delirium, welches dem Verschmachtungstode regelmäßig vorausgeht, war das noch lange nicht – aber die Einleitung war es dazu!

Er konnte nur eins für den Freund tun, etwas, woran so mancher nicht gedacht hätte. Nobody untersuchte Mojans Taschen nach schneidenden Instrumenten, fand nur ein Messer, das er zu sich nahm, dann band er ihm die Füße mit Lederriemen, die der Detektiv stets bei sich führte, nicht fest, nicht schmerzend, aber einen Knoten schürzend, den kein anderer Mensch nur mit den Fingern lösen konnte.

War es wirklich ein Werk der Barmherzigkeit, wenn er verhüten wollte, daß sein Freund, wenn er im Delirium erwachte, sich in das Meer stürzte?

Ja, es war ein solches. Denn Nobody hoffte!

Der Nachmittag verging, die Nacht brach an. Jetzt lag Mojan im Delirium. Was er nun schwatzte, das war nicht mehr der Inhalt eines Traumes, sondern das war schon Wahnsinn, und wie ein Wahnsinniger wälzte er sich am Boden, ohne dabei zu erwachen.

Und doch war dies nur das erste Stadium, eine genügende Wassermenge, dem Blute zugeführt, hätte ihn sofort wieder davon befreit. Morgen früh würde noch etwas ganz anderes eintreten, und dann war es vielleicht schon zu spät.

Hat man schon davon gehört, daß Halbverschmachteten das Wasser nur nach und nach in ganz minimalen Portionen zugeführt werden darf? Ein kleines Glas Wasser würde ihren Tod unter entsetzlichen Schmerzen herbeiführen, schon jedes Schlückchen brennt ihnen wie Feuer im Magen, und etwas behalten solche Gerettete für ihr ganzes Leben lang.

So weit war es bei Mojan ja noch nicht, aber ... es würde noch kommen, so oder so.

Nobody verbrachte eine furchtbare Nacht. Selten war ihm etwas so ans Herz gegangen, als wie er das kleine, dicke Kerlchen, seinen alten Freund, hier so leiden sah.

Warum er sich nicht eine Ader öffnete und ihm sein Blut zu trinken gab? Wäre das nicht heroisch gewesen?

Nun, vielleicht wäre Nobody dazu fähig gewesen, vielleicht dachte er auch schon daran – aber so weit war es denn doch noch lange nicht. Da kommen erst noch andere Zwischenstufen, ehe sich das Blut aus Wassermangel zu zersetzen beginnt.

Da – war das dort am Horizont nicht ein Feuer, das Toplicht eines Dampfers?!

Nobody stürzte zur Höhle hinaus, um nach dem Strande zu eilen.

»Wasser – Wasser!« stöhnte es mit heiserer Stimme ihm nach.

Es war eine mondlose Nacht, aber mit klarem Sternenhimmel. Selbst für den erfahrenen Seemann ist es in der Nacht außerordentlich schwer, einen besonders hellen Fixstern, der gerade über dem Horizonte der Wasserfläche steht, die, nebenbei bemerkt, selbst bei der stürmischsten See immer eine völlig ebene Linie zu bilden scheint, von dem Toplicht eines Dampfers zu unterscheiden. (Der Segler führt am Mast kein weißes Licht, sondern nur an den Seiten je ein grünes und ein rotes).

Auch der erfahrenste Seemann braucht nur etwas aufgeregt zu sein, braucht sich nur einzubilden, wirklich eine Toplaterne vor sich zu haben, so sieht er den Stern auch ab und zu unter dem Horizonte verschwinden, und die Astronomen haben noch lange nicht herausgebracht, ob hier tatsächlich nur eine optische Täuschung vorliegt.

Kurz und gut, so ging es auch Nobody, und erst nach einer halben Stunde unverwandten Hinsehens und Beobachtens wußte er bestimmt, daß es nur ein Stern war. Und was hätte es genützt, wenn es das Licht eines Dampfers gewesen, das dort in einer Entfernung von gegen zwanzig Meilen leuchtete? Er hätte sich ja doch nicht bemerkbar machen können.

Nobody kehrte in die Höhle zurück. Seine Enttäuschung war gering gewesen – aber groß war seine Verwunderung, Mojan ganz ruhig schlafend zu finden. Er lag auf dem Rücken, die Hände über dem Bäuchlein gefaltet und ... jetzt fing der Kerl auch noch an zu schnarchen!

War denn das bei seinem krankhaften Zustande ordnungsgemäß? Nein, das ging einfach gegen alle Naturgesetze – besonders das Schnarchen.

Nun, Nobody zerbrach sich nicht weiter darüber den Kopf, auch er bedurfte der Ruhe, er legte sich schlafen. Schlafen? Nobody war eine ganz andere Natur, aber ein Mensch war er doch auch, und besonders im Traume spielte es ihm bös mit.

Wasser, Wasser, Wasser – Wasser in Hülle und Fülle – und er konnte es nicht erreichen – oder wenn er trank, so wurde er dadurch nur noch durstiger.

Wie der Wasserspiegel, den schon seine Lippen berührten, wieder einmal ein hohles Loch bekam, wurde er an der Schulter gerüttelt.

»Sie, Nobody, schlafen Sie noch? Nein? Warum haben Sie denn meine Füße zusammengebunden?«

Vorbei war der schreckliche Traum, mit klaren Augen sah Nobody auf und blickte in ein leidlich frisches Gesicht.

Hier war ein Wunder geschehen – das war der erste Gedanke, von dem Nobody beherrscht wurde.

»Ja, Mojan, sind Sie denn nicht ... haben Sie denn kein Fieber?«

»Fieber? Nee. Warum denn? Aber Durst habe ich.«

»Das glaube ich wohl, aber ... Mensch, was ist denn mit Ihnen nur vorgegangen?! Sie müßten doch jetzt eigentlich im Delirium rasen!«

»Machen Sie keine Faxen. Ihre Vorsicht um mich war unnötig, jetzt schnüren Sie nur meine Füße wieder auf.«

Nobody tat es, wirklich ganz kopfscheu. Für ihn, der selbst schon so manchen Verschmachtungszustand durchgemacht, noch mehr Menschen dabei beobachtet, daran hatte sterben sehen, lag hier eben ein Rätsel vor.

»Und einen Traum habe ich wieder gehabt,« fuhr Mojan fort, während sich jener an den Fesseln zu schaffen machte, »Nobody, ich sage Ihnen – da könnte ich gleich einen dreibändigen Roman drüber schreiben.«

»Was für einen Traum?«

»Einen ganz kuriosen. Ich liege an einer Quelle, will immer trinken, aber komme nicht dazu, das Wasser ist wie verhext. Schrecklich, sage ich Ihnen. Da mit einem Male, wie ich mich so entsetzlich abquäle, steht plötzlich ein Löwe vor mir, mit einer ungeheuren gelben Mähne, hat einen Tonkrug zwischen seinen Tatzen, führt den Krug an meine Lippen, und da endlich bekomme ich wirklich Wasser in den Mund, und ich trinke und trinke – ach, schmeckte das köstlich! Mit einem Male sehe ich, daß das gar keine Löwentatzen sind, die den großen Tonkrug halten, sondern menschliche Hände, freilich Tatzen von Händen, und mit lauter gelben Haaren besetzt. Wie ich noch darüber staune, bemerke ich weiter, daß der Löwe auch unten keine Klauen hat, sondern Schnallenschuhe, – und Strümpfe – und blaue Pumphosen – das ist auch ein Menschengesicht – und doch kein Mensch, sondern ein Löwe – die gelbe, furchtbare Löwenmähne bleibt nämlich – ein Kerl, wie ich ihn in meinem Leben noch nicht gesehen habe – und das alles so deutlich, wie Sie jetzt vor mir stehen – ich glaube, ich habe im Traume laut aufgelacht.«

»Und er gab Ihnen zu trinken? Sie haben getrunken?«

»Immer! Aber so groß mein Durst auch war, und so viel ich auch trank, immer und immer wieder ansetzte – ganz leer machen konnte ich den Krug nicht. Es war ein gewaltiges Ding. Dann hörte der Traum plötzlich auf.«

»Fühlen Sie denn jetzt gar keinen Durst mehr?«

»Na, Gott – Durst schon – eine Buttel Selters wäre mir jetzt recht angenehm – eine Flasche Champagner noch lieber. Ja, was nicht so ein gesunder Schlaf tut – besonders, wenn man sich erst den Magen voll Austern geschlagen hat!«

Und Mojan stand auf, reckte die lahmgelegenen Glieder und ging hinaus.

Nobody war fassungslos vor Staunen. War es möglich, daß die Einbildungskraft so weit ging? Man trinkt im Traume und wird davon satt? An so etwas zweifelte Nobody. Für ihn gab es hier nur eine Erklärung. Um aber die zu verstehen, dazu mußte man diesen Cerberus Mojan näher kennen, dieses quecksilberne Kerlchen, dessen Einfälle und Verrücktheiten ganz unberechenbar waren, und diese Verrücktheit war bei ihm schon in Fleisch und Blut übergegangen. Näher läßt sich das gar nicht weiter beschreiben, was Nobody hier für vorliegend erachtete.

Es war eben nur einmal ein Umschlag in der fortschreitenden Entwicklung der Verschmachtung, in den Folgen des Wassermangels. Mojan war ein Opfer seiner Einbildungskraft, vorläufig ihm zum Heile. Aber dann würde wiederum ein Umschlag kommen, und das würde dann um so verderblicher für ihn werden. Dann sackte er sofort zusammen.

»Nobody, kommen Sie mal schnell her, was liegt denn dort?!« erklang es draußen.

Im Nu war Nobody an des Rufenden Seite, auch er sah es gleich, sie eilten hin.

Ueber Nacht hatte das sturmaufgewühlte Meer, das sich hier wohl auch nie beruhigte, die Schiffbrüchigen reich beschenkt, ihr Leben war gesichert, wenigstens für eine lange Zeit hinaus.

Gar nicht weit von der Höhle entfernt lag auf dem Strande, noch außerhalb des Bereiches der Riffformation, ein Trümmerhaufen von Planken, unverkennbar einem Boote angehörend, und zwar einem sehr großen, wohl einer Pinasse, und dazwischen und daneben und auch weiter abseits gerollt oder geschleudert Fässer und Kisten und Blechdosen in ziemlicher Anzahl.

»Das ist Corned beef!!« jauchzte Mojan und hob mit seinen Armen, mit deren Muskelkraft schon mancher Widersacher unangenehme Bekanntschaft gemacht hatte, einen zentnerschweren Blechkasten in die Höhe. »Das ist Corned beef, das fühle ich, das rieche ich, das schmecke ich mit den Fingerspitzen!!«

Nobody hob einen Stein auf, schlug den Deckel eines großen Fasses ein, es spritzte ihm entgegen, er kostete, trank gleich mit langen, langen Zügen – frisches Wasser!

»Und hier ein ganzes Faß mit Hartbrot – nee, das ist feiner Zwieback!«

»Und hier noch ein großes Faß mit Wasser, das allein schon reicht für vier Wochen.«

»Und hier noch zwei Dosen mit Corned beef!!«

Mojan untersuchte und zählte weiter auf – Nobody aber schaute sich plötzlich mit mißtrauischen Augen um.

»Wie kommt das Boot hierher?«

»Na, das ist eben gescheitert!«

»Wo sind die Menschen?«

»Na die sind eben ersoffen!«

»Warum liegen ihre Leichen nicht zwischen den Riffen?«

»Na, weil sie eben wo anders liegen!«

»Ja, wie aber ist denn das Boot über die Riffe hinweggekommen?«

»Na, Nobody, wenn Sie so fragen, dann können Sie mir leid tun. Da haben Sie noch nicht viel vom Meer gesehen, was das alles fertig bringt.«

Da hatte er allerdings recht, das mußte sich Nobody von ihm sagen lassen. Das Wasser steht wohl unter physikalischen Naturgesetzen, aber die Kraft des Meeres läßt sich mit keinen mathematischen Formeln berechnen.

Und doch! Es wollte verschiedenes nicht in Nobodys Kopf. Warum zum Beispiel gerade ...

Doch da solche Grübeleien keinen Zweck hatten, ließ er es sich gar nicht erst in den Kopf kommen. Er stellte sachliche Untersuchungen an.

Es war eine vierzehnriemige Pinasse gewesen, also eines der größten Seeboote, welches ein Schiff besitzt, von vierzehn Mann zu rudern. Man mußte annehmen, daß eine mächtige Woge es über die Riffe hinweg, bis hierherauf geschleudert hatte, wo es vollkommen zerschmettert worden war. Keine einzige Planke war mehr auf der anderen. Selbst diese waren zum Teil noch zersplittert. Auch kein einziges der mächtigen Ruder war mehr vorhanden. Jedes Seeboot ist auch zum Segeln eingerichtet. Doch hier war nichts davon zu bemerken. Keine Segelleine war zu entdecken. Ebensowenig wurde etwas von nautischen Instrumenten gefunden.

An Proviant waren vorhanden: drei große Fässer mit Trinkwasser, zwei Fässer mit bestem braunen Schiffszwieback und fünf Zentnerdosen Corned beef. Diese letzteren waren sehr verbeult, und dann waren noch die Trümmer eines Fasses da, welches jedenfalls auch Wasser enthalten hatte.

Alle Fässer und Dosen, wie auch eine hintere Planke, trugen in schwarzer Schrift den Namen ›Ecclesia‹, und beim Anblick dieser Buchstaben wurde Nobody wieder tiefsinnig. Er kratzte lange mit dem Fingernagel an der Farbe herum, roch daran, konnte sich gar nicht wieder davon trennen. Aber er sagte nichts. Sein Gefährte schien ja über jedes Mißtrauen erhaben zu sein, oder er wußte für alles eine Erklärung.

Mojan suchte sein Taschenmesser, Nobody gab es ihm zurück, beide öffneten mit vereinten Kräften die Blechdose. Das präservierte Fleisch war in vorzüglichem Zustande. Mojan machte seinen Rachen auf, stopfte immer hinein und schluckte den Klos wie eine Pille hinter; Nobody stillte zwar ebenfalls seinen respektablen Hunger, aber sein Essen war doch mehr ein Kosten.

»So ein Glück,« nahm Mojan endlich das Wort, »muß das Boot gerade hier stranden und auch noch gerade, wenn wir es am allernotwendigsten brauchen!«

Jetzt hielt Nobody es für angebracht, jenen noch einmal auf verschiedenes aufmerksam zu machen.

»Fällt Ihnen nicht auf, daß die Schrift noch recht frisch aussieht?«

»Jawohl, daran habe ich auch gleich gedacht. Die haben den Namen noch vor gar nicht langer Zeit draufgeschrieben. Ach, Nobody, wenn wir jetzt doch Streichhölzer hätten!« setzte er seufzend hinzu.

»Streichhölzer habe ich nicht, wohl aber ein Feuerzeug mit Stahl und Stein und Schwamm, und das leidet nicht unter der Nässe.«

»Was, Sie können Feuer machen?!« jauchzte Mojan auf. »Dann schnell los! Holz haben wir ja, wir machen die eine Blechdose leer, fangen Hummer, die werden gekocht!«

Ein anderes Anliegen, das nicht die Magenfrage betraf, hatte Mojan also doch nicht. Er ging gleich an die Arbeit. Nobody aber schlich noch lange mißtrauisch um den Trümmerhaufen herum wie ein Bär um die Honigfalle, jeden Gegenstand und den Boden der weiteren Umgebung prüfend.

Es hatte keinen Zweck. Er bekam nichts anderes zu sehen, als was er vor Augen hatte. So half er mit, Späne schnitzen, blies aus dem glimmenden Zündschwamm sie in Brand, was Mojan doch niemals fertig gebracht hätte, und während die Hummer kochten, wurden die Vorräte nach der Höhle gebracht.

– – – – – –

Vier Tage verstrichen. Wenn auf der Insel unterdessen eine Veränderung vor sich ging, so war es eigentlich nur die, daß der Proviant abnahm. Das heißt, auf sechs Wochen hatten die beiden noch zu leben. Es soll hiermit nur gesagt werden, daß sich sonst absolut nichts änderte, so wenig wie auch während einer Windstille die Brandung an der Küste einmal an Heftigkeit abnahm.

Eben deswegen gestattete Nobody auch, daß Mojan für seine lukullischen Hummer- und Austernmahlzeiten nach und nach alle die Holzplanken aufbrannte. Das zertrümmerte Boot in seiner ursprünglichen Gestalt wieder zusammenzuflicken, daran war gar nicht zu denken; mit den Fetzen ihrer Kleidungsstücke aus den kurzen Planken ein Floß zusammenzubinden, hätte ebenfalls seine Schwierigkeiten gehabt. Und wie sollte man mit solch einem gebrechlichen Floß von hier fortkommen? Gar nicht daran zu denken!

Ja, aber was sollte denn schließlich aus ihnen werden? Keiner warf diese Frage auf. Mojan dachte auch wahrscheinlich gar nicht daran. Vorläufig war ja noch genug vorhanden, und damit basta.

Wieder brach eine Nacht an. Die beiden schliefen immer noch in derselben Höhle, in der sie nun schon auf dem Steinboden die weichsten Stellen herausgefunden hatten.

Wir haben schon bei früheren Gelegenheiten bemerkt, was für einen leichten Schlaf unser Held besaß, der durch zielbewußtes Training diese Gabe, auch im tiefsten Schlafe alles wahrzunehmen, immer weiter ausgebildet hatte.

So lag auch in dieser Nacht irgend etwas in der Luft, was ihn sofort die Augen aufschlagen ließ.

Da gähnte neben ihm Mojan.

»Sie, Nobody, schlafen Sie?« fing er wie gewöhnlich an.

»Was gibt's?«

»Hören Sie, aber ich habe einen merkwürdigen Traum gehabt – einen Traum, sage ich Ihnen – ich könnte gleich einen vierbändigen Roman darüber schreiben – nee, einen fünfbändigen, einen sechsbändigen sogar!«

»Na was denn?« fragte Nobody ungeduldig, denn seine Gedanken waren mit etwas ganz anderem beschäftigt.

»Ich träumte, ich säße in London bei Frascati und äße ein Beefsteak mit gebratenen Zwiebeln und – und – und – na ja, ich aß eben ein Beefsteak mit gebratenen Zwiebeln, weiter nischt.«

Also über dieses Beefsteak mit gebratenen Zwiebeln wollte er gleich einen sechsbändigen Roman schreiben!

Nobody aber erhob sich jäh von seinem Lager.

»Riechen auch Sie etwas?«

»Ich? Hm hm hm – nee, ich rieche nichts. Was denn?«

Nobody wunderte sich nicht besonders darüber, daß Mojan wohl im Traume oder im Schlafe den Geruch von gebratenen Zwiebeln wahrgenommen hatte, nicht aber im Wachen. Im schlafenden Zustande ist das Nervensystem dem Menschen bekanntlich für gewisse Eindrücke viel empfindsamer.

Da aber kam es doch noch!

»Donnerwetter ja! Nobody, wo haben Sie denn die gebratenen Zwiebeln her?!«

Der Detektiv war schon draußen. Der Regen goß in Strömen vom Himmel herab. Doch den Geruch nach gebratenen Zwiebeln konnte er nicht löschen. Nobody umschritt die ganze Insel, und dann hatte er konstatiert, daß der Geruch nur von der Mitte der Insel, also von dem Felsenberg kommen konnte. Denn es herrschte Nordwind, ausnahmsweise schwach, und der Geruch war nur auf der Südseite, nicht nördlich von dem Felsen wahrzunehmen.

In dieser stockfinsteren Regennacht war nichts zu machen. Er kehrte nach der Höhle zurück, wo er seinen Gefährten schon wieder schlafend fand.

Nobody wachte die ganze Nacht hindurch. Und was für Gedanken waren es, die ihn beschäftigten?

»Edward Scott, du hast mich nicht umsonst auf dieser Argonauteninsel Schiffbruch erleiden lassen!«

Das war der Kernpunkt, um den sich all seine Gedanken drehten.

Gegen Morgen ließ der Regen nach, der neue Tag brachte hellen Sonnenschein.

Nobody war nicht sonderlich davon erbaut, daß Mojan noch rechtzeitig erwachte, um sich seinem Gefährten anzuschließen. Doch er hielt es nur für den gewöhnlichen Morgenspaziergang, dazu bestimmt, sich zum Frühstück Appetit zu machen.

»Was war das heute nacht eigentlich mit den gebratenen Zwiebeln?« fing er gleich wieder an.

»Ach, Sie haben mir wieder einen Ihrer verfressenen Träume erzählt.«

»So? Traum? Ich dachte, es wäre Wirklichkeit gewesen.«

Zum Glück ließ er es hierbei bewenden.

So kamen sie auf die andere Seite der Insel, auf die westliche, hatten jetzt den ziemlich hohen Felsenberg zwischen sich und der aufgehenden Sonne.

Von einem Zwiebelgeruch konnte auch die feine Nase des Detektivs jetzt nichts mehr wahrnehmen. Da aber blieb er stehen und deutete nach dem Felsen.

»Mojan, sehen Sie dort oben etwas?«

»Ich? Nee,« lautete nach langem Beobachten der Bescheid.

»In der Tal,« fing er dann aber gleich wieder an. »Dort oben zittert etwas herum!«

Es war merkwürdig ausgedrückt, und dennoch ganz richtig.

Dort oben über einer gewissen Stelle des Felsens stand eine zitternde Luftsäule, von der umgebenden Atmosphäre ganz scharf abgegrenzt. Nobody hatte es schon seit längerer Zeit beobachtet, hier gegen die Sonne war es am allerdeutlichsten.

»Was kann das sein?«

»Das ist ein heißer Luftstrom, welcher aus dem Felsen emporsteigt.«

»Wir sitzen hier doch nicht etwa gar auf einem Vulkan?! Ich habe als Junge die Gänse gehütet, meiner Mutter ist prophezeit worden, daß ihr einziger Sohn noch einmal in die Höhe kommt, ich bin's ja auch – aber nun noch höher – gleich mit einem Vulkan – – nee!!«

»Wir wollen die Sache untersuchen.«

Sie kletterten hinauf, wobei Nobody bemüht war, die zitternde Säule nicht aus den Augen zu lassen.

Es gab hier manchen tiefen Spalt, auf dessen Grund man nicht blicken konnte, und aus einem solchen mußte der Luftstrom kommen.

»Nobody – Nobody – hier riecht's aber gut nach gebratenen Zwiebeln!« keuchte der schweißtriefende Mojan. »Sie, Nobody – es riecht immer besser nach gebratenen Zwiebeln.«

Noch eine halsbrecherische Klettertour, und Nobody stand auf einem kleinen Plateau vor einem trichterförmigen Spalt, oben etwa einen Meter breit. Das Zittern der Luft war hier in der Nähe nicht mehr zu bemerken, aber Nobody brauchte nicht erst die Hand darüber zu halten, um die Wärme zu fühlen, die diesem Trichter entströmte, und ... ganz richtig, dieser Luftstrom roch akkurat nach gebratenen Zwiebeln! Der Regen hatte die Luft herabgedrückt, jetzt stieg die Wärme ungehindert empor.

»Verflucht, ein noch tätiger Vulkan!« brummte Mojan. »Er schlummert zwar noch, raucht bloß; aber der Teufel traue solchen Vulkanen. Na, ich glaube nicht, daß er schon einmal losgegangen ist, danach sieht die Umgegend gar nicht aus, und so lange wir uns hier noch aufzuhalten geruhen, wird er wohl auch anständig sein. Nee, was der nach Zwiebeln riecht!«

Natürlich war Nobody äußerst überrascht. Dachte sich dieser Mensch denn nur gar nichts dabei? Er stellte diese Frage laut.

»Waren Sie schon einmal auf Hawai?« fragte Mojan entgegen.

Nein, auf dieser Insel war Nobody noch nicht gewesen.

»Da ist der noch tätige Vulkan Matuwa, der riecht geradeso nach Zwiebeln.«

Da bekam Nobody etwas zu hören, was auch er noch nicht gewußt hatte. Und es ist wirklich so. Uebrigens gar nicht so seltsam. Schließlich ist das, was wir Zwiebelgeruch nennen, doch auch nur eine chemische Verbindung von Gasen, allerdings von organischen, aber das hat in der anorganischen Chemie alles sein Gegenstück, das bekannteste Beispiel ist vielleicht der Veilchenstein, der eben genau wie Veilchen riecht, und da die Vulkane doch die verschiedenartigsten Dünste aushauchen, warum soll nicht einmal einer nach gebratenen Zwiebeln duften?

Aber in Nobodys Kalkulationen, die er bereits gemacht, paßte diese Belehrung durchaus nicht, er war sogar enttäuscht. Doch da fügte Mojan gleich noch etwas hinzu, was ihn in der Richtigkeit seines ersten Urteils wieder bestärkte.

»Das heißt, so gut riecht's am Mutawa nun freilich nicht! Da stinkt es vielmehr ganz gräßlich, so etwa, wenn Zwiebeln in übergelaufenem Fett verbrennen. Aber hier – ei, das riecht ja gerade, als ob da unten spanische Zwiebeln in der feinsten Butter gebraten würden! Ich werde gleich dazu mein Frühstück verzehren.«

Jawohl, so war's! Nobody hatte seinen ersten Glauben wiederbekommen. Solche deliziöse Düfte haucht kein Vulkan aus – – dort unten wurden

ganz einfach Zwiebeln in Butter gebraten!!

Aber recht so, mochte Mojan bei seiner Ansicht verharren! Der hatte sich neben den Trichter auf den Bauch gelegt, steckte die Nase hinein, zog aus der Tasche einen Schiffszwieback und ein Stück Corned beef, so verzehrte er sein Frühstück, dazu die gebratenen Zwiebeln wenigstens mit der Nase genießend.

Auch Nobody hatte sich hingelegt und blickte hinab. Wer war es, der sich hier im Innern dieser weltverlassenen Felseninsel der prosaischen Beschäftigung des Zwiebelbratens hingab?

Nobody hatte eine Ahnung. Aber was nützt eine Ahnung? Gewißheit wollte er sich verschaffen!

Zunächst suchte er in seinen Taschen, fand ein Stück altes Zeitungspapier, es war trocken, er setzte es mittels des Zunders in Brand und ließ es hinabfallen.

Zwanzig Meter tief war der Trichter mindestens, und unten konnte die Oeffnung kaum faustgroß sein. Hier verlosch die Flamme, die Asche des Papiers wurde durch die warme Strömung wieder heraufgetrieben.

Also hier war nur ein Schornstein, und auch dieser wäre nicht als Eingang zu benutzen gewesen.

Wo war der Eingang? Zwei Tage lang suchte Nobody danach und klopfte gar viel hier und da gegen die Felswände, aber in einer vorsichtigen Weise, daß auch kein heimlicher Beobachter eine Ahnung bekommen hätte, worauf der Spaziergänger es abgesehen, von Mojan ganz zu schweigen.

So vergingen abermals drei Tage, ohne daß sich irgend etwas geändert hätte.

Es war am zehnten Tage, seitdem sich die Schiffbrüchigen auf dem Eiland befanden, als Mojan seinen Gefährten, da sie morgens aus der Höhle traten, erschrocken anblickte.

»Mensch, wie sehen Sie denn aus?!«

Ja, Nobody sah recht leidend aus, ganz eingefallen, und seine Augen glühten.

»Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, und das nicht etwa mit Absicht. Das mag mich etwas angegriffen haben.«

»Etwas? Mensch, besehen Sie sich nur mal im Spiegel!«

»Haben Sie einen?« lachte Nobody, und dabei begann er plötzlich mit den Zähnen zu klappern.

Jetzt mußte er selbst merken, wie es mit ihm stand. Er befühlte seinen Puls.

»Wahrhaftig, ich habe Fieber. Eine nette Geschichte, wenn das jetzt bei mir ausbräche! Und ich habe kein Chinin bei mir.«

»Sie brauchen ständig Chinin?«

»Immer, sobald ich etwas merke. Aber wer denkt denn in diesen Breitengraden an Fieber. Als wir Schiffbruch erlitten, hatte ich die Pulver nicht einstecken.«

Der ebenfalls weitgereiste Mojan brauchte weiter keine Erklärung, schon seine Fragen hatten gezeigt, daß er wußte, was ein Chininesser ist, und er machte ein sehr besorgtes, sogar ängstliches Gesicht.

Wer einmal ein tropisches Fieber gehabt hat, irgendeins, der bekommt es immer wieder, in jeder Gegend, wo sonst auch eigentlich gar kein Fieber herrscht. Das heißt, die kleinste Erkältung äußert sich bei ihm in Fieber, jede andere Krankheit ist von Fieber begleitet. Das klingt vielleicht viel gefährlicher, als es in Wirklichkeit ist. Jedenfalls aber ist es sehr unangenehm, man muß auch sehr vorsichtig sein. Gegen Fieber hilft Chinin. Hat man aber solches einmal gegen Fieber genommen, wie in den Tropen regelmäßig in größeren Dosen, dann kann man auch nicht mehr von dem Chinin lassen, man ist ein Sklave dieses Gegengiftes – allerdings immer noch ganz harmlos, nicht etwa zu vergleichen mit Morphium oder Opium und dergleichen, aber immerhin, man hat seine Gesundheit doch ganz von dem Extrakte der Chinarinde abhängig gemacht.

Mag diese Andeutung genügen.

»Legen Sie sich hin,« riet Mojan, der immer ängstlicher wurde, eben weil er dies alles kannte; »decken Sie sich warm zu, Sie müssen erst einmal schwitzen, ich will Ihnen meine ...«

»Hinlegen will ich mich wohl, aber zudecken darf ich mich nicht, da kenne ich meine Natur besser, ich muß gerade immer kühl liegen.«

Also Nobody kroch wieder in die Höhle und bettete sich auf seinen Oelrock. Eine weichere Unterlage gab es nicht. Mojan ging, um zu versuchen, aus dem Corned beef noch etwas Fleischbrühe zu gewinnen, was nun freilich schwer zu machen ist. Dagegen mußten Austern eine vorzügliche Kraftbrühe geben. Feste Nahrungsmittel dürfen Fieberkranke ja nicht genießen.

Es dauerte schon lange genug, ehe er Feuer angemacht hatte, und als er mit dem Suppenkessel ankam, lag Nobody schon im schönsten Fieber. Er phantasierte, schwatzte ungereimtes Zeug zusammen.

»Nun wird der auch noch krank!« jammerte Mojan. »Und kein Chinin! Meinen kleinen Finger, alle zehn Finger, meine sämtlichen Finger würde ich für eine Schachtel voll Chinin hingeben!«

Gefüttert konnte der Kranke in diesem Zustande nicht werden. Doch das ging auch wieder vorbei. Nach der Kälte kommt die Hitze, dann der scheinbar so wohltuende Zustand der Erschöpfung, wobei man nur leider nicht schlafen kann.

»Wie geht's?«

»Ach, Mojan, ich will Ihnen keine große Hoffnung machen – wenn man einmal an Chinin gewöhnt ist,« lächelte Nobody trübe.

»O, dieses verfluchte Chinin, wenn ich's nur hätte!« winselte Mojan wieder.

So wechselte das den ganzen Tag hin und her zwischen Zähneklappern vor Kälte, Toben vor Hitze und immer mehr zunehmender Erschöpfung im Wachen, und Nobody war schon so weit, daß er nicht mehr die Kraft besaß, die mit Bouillon gefüllte Austernschale selbst zum Munde zu führen.

Mojan war aber auch ein rührender Krankenpfleger. Als Nobody wieder einmal erwachte, es war gegen Abend, saß der kleine, dicke Kerl splitterfasernackt neben dem Krankenlager, in der ganzen tätowierten Glorie seiner Häuptlingswürde prangend. Mit allen seinen Kleidungsstücken hatte er den Kranken zugedeckt, sogar seine durchlöcherten Strümpfe und feine Stiefel hatte er auf Nobody gelegt.

»Mojan, machen Sie doch keinen Unsinn. Sie sind imstande und sitzen so die ganze Nacht, und wenn ich wieder gesund werde, dann haben Sie sich inzwischen den Tod geholt. Ich habe Ihnen doch auch gesagt, daß ich unbedingt kühl liegen muß ... und im übrigen sind Sie ein guter Kerl.«

Weinend zog der dicke Novellist und Indianerhäuptling seine durchlöcherten Strümpfe und alles andere wieder an – er weinte wirklich dabei.

»A–a–a–ha–a–aber bi–bi–bi–bi–bi– binden will ich Sie,« schluchzte er, »wenigstens die Bei–bei–bei–bei– bei–Beine.«

»Ja, das tun Sie zur Vorsicht, damit Sie dann ruhig schlafen können.«

Nobodys Füße wurden gebunden. So brach die Nacht an. Aber Mojan dachte nicht an Schlafen, und er hatte auch Grund zur Besorgnis, jetzt in der Nacht fingen die Fieberphantasien erst richtig an.

So ging es stundenlang fort, und jetzt gab es kein Erwachen mit Erschöpfung mehr, und aus dem Schwatzen wurde ein unausgesetztes Röcheln und Stöhnen.

Da begann es in der stockfinsteren Höhle mit weinerlicher Stimme inbrünstig zu beten.

»Mein liebes, gutes Gottchen, ich weiß ja, ich bin immer ein recht gottloser Schuft gewesen, ich habe ja überhaupt gar nicht an dich geglaubt, aber mache meinen Freund nur dieses eine Mal wieder gesund, oder schenke mir wenigstens eine große Dose mit Chinin, aber recht bald, und ich will auch recht fromm und artig werden, ich will auch jeden Sonntag in die Kirche gehen ...«

Der Beter wurde dadurch unterbrochen, daß des Kranken Stöhnen jetzt einen besonders heiseren Klang annahm. Dann fuhr er fort:

»... oder ich will dir auch eine Kirche bauen lassen und selber gleich jeden Tag hineingehen ...«

Das Röcheln wurde stärker.

»... zweimal jeden Tag ...«

Jetzt klang das Aechzen wie ein Niesen.

»... drei Kirchen will ich dir bauen ... fünf ... zehne ...

Der Kranke röchelte entsetzlich.

»... ich will auch nicht mehr fluchen ... nicht mehr saufen ...

»Ooooohhhhh.«

»... ich will auch nicht mehr ... nicht mehr ... ich will auch nicht mehr ... nicht mehr ...«

Der Beter schien einen sogenannten moralischen Anlauf zu nehmen.

»... ich will auch nicht mehr lügen ...«

Bum!!!

Und als ob der Kanonenschuß hier drinnen gefallen, als ob die Höhle selbst das Kanonenrohr und Cerberus Mojan die Kanonenkugel gewesen wäre, so schoß der große Novellist und Käsefabrikant zum Loche hinaus.

Denn es war wirklich ein Kanonenschuß gewesen! Ein Schiff in Seenot!!

Dieses Schiff hatte in seiner Apotheke natürlich auch Chinin, dann mußte dieses Schiff auch hier scheitern, sonst sollte es doch gleich der Deiwel ...

Doch nein, Mojan wollte ja nicht mehr fluchen, wollte doch überhaupt fromm werden, und das wäre gerade kein frommer Wunsch gewesen.

Draußen herrschte dieselbe Stockfinsternis wie in der Höhle. Auch von Schiffslichtern war nichts zu sehen. Dann vielleicht auf der anderen ...

Mojan rannte in vollem Galopp gegen einen Felsen, raffte sich wieder auf und rannte um den Felsen herum.

Hier war aber ebenfalls nichts zu entdecken. Ja aber, wenn ein Schiff Hilfe haben will, so ist es doch seine verd ... nein, seine fromme Pflicht und Schuldigkeit, wenigstens eine Fackel oder sonst ein Licht zu schwingen.

»He, hallo, he, hallo, hierher, hier sind wir, Schiff ahoi, Schiff ahooooiiii, bssssst, holladrihohohooohhh, jujuuuuhhhh!!!«

Dann steckte er die Finger in den Mund und pfiff, erst ein Signal und dann ›Heil dir im Siegerkranz‹, dann blies er ein winziges Stückchen Zündschwamm an, und dann fing er wieder an zu jodeln.

Plötzlich verstummte er, lauschte.

Alle Wetter, das war Nobodys Stimme, die bis hierherdrang!

»Keinen Widerstand mehr! Mojan hierher!!«

Mojan flog wie ein Pfeil zurück. Wenn sich der Fieberkranke von seinen Banden nicht befreit hatte, so hüpfte er jetzt wie auf einem Beine herum, und natürlich dem Meere zu, um dort Kühlung für seine Glut zu suchen – und den Tod.

Mojan war um den Felsenberg herumgekommen. Es war ja nichts zu sehen, aber ... stampften dort nicht Füße den Boden wie im Ringkampf?!

Und da eine fremde Stimme!

»Sacre du bleau – du oder ich!«

»Dann du!«

Ein dumpfer Fall folgte.

»Oho,« keuchte es, »die Hände sollst du mir nicht ... verflucht!«

»Ja, das verstehen wir. Hierher, Mojan, mache Licht!! Ich glaube, ich habe deinen Löwen gefangen, der dich im Traume getränkt hat!«

Mojan konnte ebenso energisch wie manchmal dämlich sein. Schon hatte er in den Zunder Funken geschlagen, eine andere Hand nahm ihn, ein Blasen, ein langer Span brannte, er beleuchtete Nobody und ...

»Da–da–da–da–das ist ja der mit der Mä–Mä–Mä–Määäähne?!« stotterte Mojan.

»Ich habe es ja gleich gesagt – und ich habe es mir auch sehr bald gedacht, daß Sie den menschlichen Löwen nicht nur geträumt haben.«

Auf dem Boden lag, an Händen und Füßen mit Riemen gebunden, ein großer, starker Mann, ein Riese zu nennen, und auch dem Aeußeren nach machte er ganz den Eindruck eines kinderfressenden Riesen aus dem Märchenbuche.

Schnallenschuhe, blaue Pumphosen, auch so eine altertümliche Jacke mit Puffärmeln – das war die Kleidung. Und nun der mächtige Kopf mit einem noch mächtigeren Haarwuchs wie von gelbem Flachse geschmückt, eine richtige Löwenmähne, der Bart weniger üppig, der Schnurrbart sogar spärlich und der Vollbart kurz und spitz – aber gerade dadurch kam so ein richtiges Löwengesicht heraus.

Im übrigen aber war dieses Löwengesicht gar nicht so grimmig, viel eher gutmütig, besonders die blauen Augen, zu denen schon eine große Faust gehörte, wenn sie, wie man sagt, darauf passen sollte. Jetzt freilich blickten sie sehr verstört, wozu ja auch aller Grund vorhanden war.

Nobody beleuchtete ihn.

»Das ist ein Holländer vom alten Schlage.«

»A–a–a–a–ach neee!« brachte Mojan in seiner Weise hervor. »Sind Sie da vielleicht aus Scheidam?«

Das Wort ›Holländer‹ hatte dem Geschäftsmanne gleich die Erinnerung an seinen Schiedamer Käse zurückgebracht. Doch ebenso erfaßte sein Verstand, daß hier ja noch ein zweites Wunder vorlag. und hastig wandte er sich an Nobody.

»Ja, was machen Sie kranker Starmatz denn eigentlich hier draußen?! Wollen Sie gleich marsch wieder ins Bette kriechen? Und wie – wie ...«

»Ach, machen Sie doch keinen Unsinn! Verstehen Sie denn nicht? Mein ganzes Fieber war doch bloß Verstellung!«

»Verstellung?«

»Na, ich wollte doch bloß den geheimnisvollen Geist dieser Insel hervorlocken, um ihn packen zu können! Ja ja, Mojan, der Löwe, der Ihnen zu trinken gab, war nicht nur ein Traumgebilde, und ich heuchelte Fieber, mit der festen Ueberzeugung, daß wiederum der dienstbare Geist erscheinen würde, um mir Chinin einzuflößen – und richtig. Sie wurden durch einen fingierten Kanonenschuß von mir fortgelockt, dann erschien er prompt, schon fühlte ich den bitteren Stoff an meinen Lippen – da packte ich zu, ein kurzer Ringkampf, und da liegt er nun!«

Mojan blickte den Freund an – verschwunden war das eingefallene Gesicht, keine Spur mehr von Fieber.

»Na da,« sagte der Nevermindman, weiter nichts.

»Undank ist der Welt Lohn,« ließ sich jetzt der am Boden Liegende vernehmen, und es war ein recht bitterer Ton.

»O nein,« entgegnete aber Nobody schnell, »mag Undank auch der Lohn der großen Welt dort draußen sein, aus welchem Grunde Sie sich vielleicht hier auf diese einsame Insel zurückgezogen haben – in mir werden Sie einen dankbaren Menschen kennen lernen. Aber ich mußte eine Kriegslist gebrauchen, um des unsichtbaren Geistes habhaft zu werden. Oder hätten Sie sich uns sonst jemals gezeigt?«

Es erfolgte keine Antwort.«

»Nicht wahr. Sie hätten schon noch eine Gelegenheit gefunden, uns Schiffbrüchige wieder von hier fortzubringen, nur so lange wollten Sie uns am Leben erhalten?«

Keine Antwort.

»Sie wollen mir nicht antworten?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich nicht will,« erklang es trotzig zurück.

Nobody verbeugte sich und blickte ihm im Fackelschein in die Augen. Was für unschuldige Kinderaugen dieser blondhaarige Hüne hatte! Und der unvergleichliche Menschenkenner verstand noch anderes darin zu lesen.

Er zog sein Messer und durchschnitt die Riemen an Händen und Füßen.

»Stehen Sie auf, Sie sind frei. Als freier Mann werden Sie mir eher antworten.«

Der vollendete Schauspieler wußte genau, was er sprach und tat – weshalb er die Banden nicht umständlich aufknüpfte, sondern mit einem Zuge durchschnitt – auch der Tonfall in seiner Stimme war genau berechnet gewesen.

Schwerfällig erhob sich der Riese, und als er endlich dastand, hilflos wie ein Kind, da quollen aus den großen, blauen Augen zwei dicke Tränen hervor.

»Wer sind Sie?«

»Ich bin – bin – ein – ein Mensch.«

Nobody mußte ein Lächeln unterdrücken. Es war gar zu kläglich hervorgekommen. Und nun diese Hünengestalt!

»Daß mir diese Antwort nicht genügt, können Sie sich wohl denken. Wer sind Sie?«

»Ich darf es ja nicht sagen,« erklang es ebenso kläglich, und vielleicht noch kläglicher, kindlich bittend setzte er noch hinzu: »Ach, lassen Sie mich doch wieder laufen, bitte, mein lieber Herr!«

Nobody mußte dem Riesen bei dem Ringkampfe übel mitgespielt haben, daß jener so gar nicht mehr an seine gewaltige Körperkraft dachte.

»Wer hat Ihnen das Sprechen verboten?«

»Meine Herrin, die ...«

Erschrocken brach er ab.

»Führen Sie mich zu Ihrer Herrin.«

»Ich – ich – ich – es ist ja gar nicht wahr, ich bin ganz allein hier, ich bin – bin – ein Schiffbrüchiger wie Sie.«

»Papperlapapp. Führe mich zu deiner Herrin!« Der Riese suchte sich aus seiner demütigen Stellung aufzurichten, gerade jetzt, da Nobody ihn in einem anderen Tone anredete, als Diener.

.

»Wohin denken Sie?«

»Melde mich deiner Herrin!«

»Niemals.«

»Ich befehle es dir!«

»Sie haben mir gar nichts zu befehlen.«

»Und ich sage dir,« fuhr Nobody mit erhobener Stimme fort, »deine Herrin wird sich freuen, mich zu sehen, denn ich kenne sie bereits!!«

Schreck und ungläubiges Staunen mischten sich auf dem bärtigen Antlitz.

»Sie – Sie – kennten meine Herrin bereits? Das ist nicht wahr!«

Nobody hatte die Hand in der Tasche gehabt, er zog sie hervor, und in dem blutigroten Fackelscheine blitzte ein wundersames Farbenspiel, gegen welches das eines Diamanten ein Nichts war, von einem Punkte ging es wie ein regenbogenfarbenes Feuermeer aus.

»Allmächtiger Gott, der Ring der Herrin!!!«

Mit diesen Worten war der Riese zurückgeprallt, dann lag er wie anbetend auf den Knien.

Nobody ließ ihm einige Zeit, sich zu erholen.

»Melde mich deiner Herrin!« befahl er dann nochmals.

Der Riese erhob sich, verbeugte sich mit auf der Brust verschränkten Armen, und verschwand in der Finsternis.


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