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Lange Zeit dauerte es, ehe sich der Alte, der wie ein Kind weinte, wieder beruhigt hatte, und auch der junge Kanadier war tief erschüttert. Jetzt erst erkannte er voll und ganz das Walten des Schicksals, das ihn nach Mexiko geführt hatte, um ihn hier in dem einsamen Gebirge einen Mann finden zu lassen, der sich auf wunderbare Weise als der leibliche Onkel des verschollenen Freundes entpuppte.
Nobody hatte ihm wohl in einer vertraulichen Stunde von seinen heimatlichen Familienverhältnissen erzählt, aber niemals von einem fürstlichen Onkel, der für tot galt – und hielt man diesen wirklich für tot, so war dies ja auch kaum erwähnenswert – und jetzt war auch keine Zeit, hierüber Erklärungen zu geben. Scott war überhaupt über jede Neugierde erhaben, am deutlichsten wurde das gezeigt, als er damals mit Nobody zusammen in dem führerlosen Motorboote die Leiche des jungen Mädchens fand, und der Alte wandte jetzt sein ganzes Interesse dem wiedergefundenen und nun wieder verlorenen Neffen zu, den er einst als lallendes Kind auf seinen Knien gewiegt hatte, und man braucht nur an eine innige Liebe für die Schwester zu denken, um sich auch diese Liebe für ihr Kind zu erklären.
»Mein kleiner Alfred!! Ja, aber ... Detektiv ist er geworden – er, der bestimmt war, eine Fürstenkrone zu tragen?!«
Nochmals erzählte der in alles eingeweihte Scott, wie und weshalb dieser Fürstensohn allem entsagt hatte, und was der Alte da zu hören bekam, das erfüllte ihn mit einem stolzen Jubel, den man nur begriff, wenn man annahm, daß bei dem einstigen Herzog eine ähnliche Entsagung aus ähnlichem Grunde vorlag, als er der Welt den Rücken wandte.
»Ganz so wie ich – und das habe ich dem Jungen auch gleich angesehen – und es konnte ja auch gar nicht anders kommen, er war ja der Sohn meiner einzigen Schwester – und mehr noch als auf ihrem Schoß hat er ja auf meinen Knien gesessen – und es war mein Alfred!!«
So rief er ein übers andere Mal mit jubelndem Munde.
Dann aber kam das Bewußtsein zur Geltung, daß es sich um einen Verschollenen handelte – wenn nicht um einen Toten.
»Jetzt nimm meine Hand und befrage deinen Kristall – jetzt wirst du sehen, wo sich Alfred befindet, dem von jeher all meine Sehnsucht gegolten hat!«
Aber wiederum täuschte der Kristall, obgleich er sich diesmal ganz anders verhielt als bisher.
Zuvor, als der Alte nur an den Detektiv Nobody denken sollte, hatte Scott in dem Kristall überhaupt gar nichts gesehen, dieser war durchsichtig geblieben. Als dann der Alte, dessen Gedanken übertragen wurden, an seinen kleinen Liebling gedacht hatte, da hatte der Kristall Nobody gezeigt, also jenes Kind im Mannesalter, aber nicht handelnd hatte ihn der Kristall auftreten lassen, es war betont worden, daß es wie ein Porträt gewesen war – und jetzt, da der Alte seine Gedankenkraft auf den seinem Herzen nähergerückten Detektiv Nobody konzentrierte, erschien vor Scotts Augen in dem Kristall wieder der schwarze Schleier.
»Nur nicht verzagt,« tröstete Scott, als er des Alten an Verzweiflung grenzende Niedergeschlagenheit sah. »Einen Erfolg haben wir dennoch schon, und nicht umsonst hat mich das Schicksal seinen Onkel finden lassen. Es will nur nicht, daß wir wissen, was Nobody gegenwärtig treibt, oder aber, Nobody befindet sich eben in einem dunklen Raume. Woran habt Ihr immer gedacht?«
»An Alfred – an Nobody.«
»Auch jeden Gedanken muß man doch in Worte kleiden. Habt Ihr dabei im Geiste nicht immer eine Frage gestellt?«
»Ja. Wo ist Nobody? Ich will Nobody sehen.«
»Und er ist eben für uns nicht zu sehen. Auch das geistige Schauen hat ja seine Grenzen, sogar sehr enge. Eigentlich geht es gar nicht über das wirkliche Sehen mit den normalen Augen, wie Gott sie uns wirklich gegeben, hinaus. Vergebens würde ich den Kristall befragen, wie es etwa auf dem Monde aussieht. Und ist Nobody in einem finsteren Raume, so kann ich ihn nicht sehen, weil auch mein leibliches Auge die Finsternis nicht durchdringt. Insofern ist an dem Hellsehen gar nichts Wunderbares, nicht einmal die Phantasie spielt eine so große Rolle, wie man annehmen möchte. Nun stellt einmal die Frage: Wie werde ich Nobody finden?«
»Hast du selbst denn dies noch nicht probiert?«
»Gewiß doch, und das ist es ja eben! Dann habe ich stets Euch gesehen – Ihr seid eben dazu bestimmt, mich zu Nobody zu führen. Nun aber kommt Ihr an die Reihe, das Schicksal weiter zu befragen.«
Sie gaben sich wieder die Hände, Scott beugte sich über den Kristall.
Nicht lange währte es, so erkannte der Alte gleich am Gesichtsausdruck des Kanadiers, daß dieser jetzt im Kristall etwas sehen müsse.
»Siehst du etwas?«
»Ja – es zeigten sich schon Konturen, sie wurden schärfer, jetzt werden sie wieder schwächer – frage mich nicht, deine Gedanken schweifen ab, konzentriere sie wieder – so, so–ich sehe eine Stadt – Häuser – denke an diese Stadt, die ich sehe – das beeinflußt nicht etwa die Wirklichkeit – wahrhaftig! – an was für eine Stadt denkt Ihr?«
»Ich stelle mir eine Straße meiner Heimatstadt vor und denke dabei an den kleinen Alfred,« flüsterte der Alte.
»Aber das ist keine moderne Stadt – keine europäische – das sind – das sind – Ruinen! – grün umsponnen – sie machen mir einen altmexikanischen Eindruck, soweit ich das beurteilen kann...«
»Ist auch eine Pyramide vorhanden?« fragte der Alte hastig.
»Jawohl – ich sehe zwei – sie liegen dicht nebeneinander ...«
»Wie sehen sie aus?«
»°Die eine, die größere, gleicht den ägyptischen, indem sie terrassenförmig ansteigt ...«
»Und die andere?«
»Die ist vollständig grün umsponnen, so daß ich nichts unterscheiden kann, aber ich glaube, die Schlingpflanzen verhüllen nur schiefe Flächen, also keine Terrassen, ich sehe auch keine Treppen . .«
»Diese beiden Pyramiden kenne ich!« rief da der Alte. »Das sind die Ruinen von Tenochtitlatan!«
Da jetzt seine Gedanken abgelenkt wurden, verschwand auch für den anderen das Bild im Kristall, und es wollte auch nicht wiederkommen, gar nichts mehr. Was hieran schuld war, ob eine Zerstreutheit des Alten oder was sonst, konnte jetzt nicht konstatiert werden.
»Wo liegen diese Ruinen vor Tenochtitlatan?« fragte Scott.
»Zwei Tagemärsche von hier, in einem ganz versteckten Tale.«
»Dann hat uns der Kristall eben genug erzählt – dann auf nach diesen Ruinen, dort werden wir Nobody finden!!«
– – – – – – –
Zwei Tage später standen drei Männer, begleitet von einem gefleckten Jagdhund, am östlichen Abhange des Löwengebirges auf einem Plateau und blickten in ein Tal hinab, in welchem die Ruinen einer altmexikanischen Stadt lagen.
Während des Marsches war wiederholt die Kristallkugel befragt worden, aber wie nun auch die Frage gelautet haben mochte, die der Alte, Scotts Hand in der seinen, in Gedanken gestellt, stets hatte sie nur dasselbe Bild gezeigt, welches der junge Kanadier in diesem Augenblicke schaute, während, wenn er selbst etwas über Nobody wissen wollte, sich vor seinen geistigen Augen der Helle Kristall nach wie vor verdunkelt hatte, somit gewissermaßen die Auskunft gebend: Frage mich nicht, von mir erfährst du nichts; dein Gefährte aber wird dich dorthin führen, wo du deinen Freund finden wirst, und damit sei zufrieden!
Das Auffallendste waren die beiden der Größe und Gestalt nach so ungleichen Pyramiden, welche sich mitten in der Ruinenstadt erhoben. An diesen hatte Vater Rübezahl, wie auch wir ihn nennen wollen, aus der Beschreibung sofort erkannt, daß es sich nur um die Ruinen von Tenochtitlatan handeln könne, die noch innerhalb seines Jagdreviers lagen, obgleich er sie seit zwanzig Jahren nur ein einziges Mal betreten hatte.
»Ich fand nichts besonders Interessantes daran,« hatte er erklärt, »sie werden auch schon zur Genüge erforscht sein, und dann ist dort auch eine unheimliche Gegend – alles wimmelt von Schlangen, zwischen den Ruinen besonders von Klapperschlangen.«
Das war vor vielleicht vierzehn Jahren gewesen – genau konnte das der Alte gar nicht mehr angeben, wobei auch zu bedenken ist, daß die Gegend, welche er ›sein‹ Jagdgebiet nannte, über hundert deutsche Quadratmeilen umfaßte – und das war auch heute noch der Fall.
Schon am letzten Lagerfeuer waren durch die Wärme mehrere große Giftschlangen angelockt worden, die meistenteils von Bogenspanners Pfeil, den er von einem manneshohen Bogen absandte, am Boden festgenagelt wurden, wenn ihnen nicht sein mit derselben Todessicherheit geschleuderter Tomahawk den Kopf spaltete, und je mehr sie sich beim Abstieg den Ruinen näherten, desto mehr nahmen die in allen Farben schillernden Schlangen zu, wenn man auch nicht gerade bei jedem Schritte auf eine solche trat. Immerhin war es ein Glück, daß der Boden überall steinig und ohne Vegetation war, also keinen Versteck für die Reptilien bot. Aber besonders der kluge Hund schien die drohende Gefahr zu wittern, mit ängstlicher Scheu hielt er sich jetzt immer dicht an der Seite seines Herrn.
Die Ruinen waren erreicht. Es war eine Tempelstadt gewesen, d. H. eine ganze Stadt von Priesterwohnungen, die sich um das Allerheiligste und um die anderen Heiligtümer gruppierten, und wer sonst noch darin gewohnt, der hatte nur zur Ernährung und Bedienung der Priester als der Diener der Gottheiten arbeiten müssen. Was die alten Azteken in der Baukunst geleistet haben, das konnte man hier besonders an den Straßen sehen, an der Pflasterung, die so solid war, daß noch jetzt nach Jahrhunderten kein Grashalm in einer Fuge hatte Wurzeln schlagen können. Etwas anderes schien es mit der Mauerung der Gebäude zu sein, dort rankte sich hauptsächlich eine Art von Mauerpfeffer, der freilich überhaupt gar keine Wurzeln treibt, aber auch unbedingt klettern muß, in üppiger Fülle empor.
Im übrigen wollen wir uns jede Beschreibung dieser mexikanischen Ruinen ersparen, worüber es ja sachliche Werke gibt.
Die beiden Pyramiden im Auge, drangen die drei Männer vorwärts.
»Wir sind am Ziel,« sagte der Alte. »Wohin aber nun? Hier planlos umherirren? Sollten wir jetzt nicht noch einmal deinen Kristall zu Rate ...«
Ein zischender Laut unterbrach den Sprecher. Der Indianer hatte ihn ausgestoßen, mit vorgebeugtem Oberkörper, wie lauschend, stand er da.
»Hörtest du etwas?« fragte Vater Rübezahl nach einer Weile, als der Indianer noch immer in seiner lauschenden Stellung verharrte.
Auch jetzt gab Bogenspanner noch keine Antwort, und den beiden anderen ward etwas unheimlich zumute, weil sich auf des Indianers Antlitz, der sonst sicher nichts von Furcht wußte, ein immer ängstlicheres Staunen ausprägte.
»So sprich doch! Was hörst du?«
»Ich höre – einen Ton,« flüsterte Bogenspanner endlich.
»Was für einen Ton?« fragte der Alte ungläubig, nachdem er selbst einige Zeit angestrengt gelauscht hatte.
»Ein ... Singen ... in der Luft ...
ja, ich täusche mich nicht, es ist wie ein Singen oder wie ein Pfeifen.«
Der Alte warf sich zu Boden, drückte das Ohr gegen den Stein, und schon seinem Gesichtsausdrucke konnte Scott entnehmen, daß jetzt auch jener etwas Auffallendes hörte.
»Wahrhaftig,« flüsterte er, »ein langgedehnter Ton – wie ein klagendes Singen – nein – es erinnert mich an – an – an den Ton einer Violine!«
Auch Scott versuchte die Erde als Schalleiter zu benutzen. Allein er vernahm nichts, sein Ohr war eben nicht durch langjährige Einsamkeit in der Wildnis bis zum feinsten Grade geschärft worden, noch weniger besaß er das instinktartige Hörvermögen eines Indianers.
»Wirklich, es klingt gerade, als ob es aus der Luft käme,« setzte Vater Rübezahl noch hinzu.
Azurblau wölbte sich der Himmel über der Ruinenstadt, nur das Rascheln einer Schlange erscholl dann und wann, sonst herrschte eine Todesstille.
Es mußte etwas Rätselhaftes, etwas Unheimliches in dem Tone liegen, der für den jungen Kanadier gar nicht existierte, daß sich die beiden anderen mit fast verstörten Blicken ansahen.
»Wenn aber die Erde den Ton besser fortpflanzt als die Luft, so kann er auch nicht aus der Luft kommen,«sagte Scott.
Diese Bemerkung gab den beiden anderen ihre Ruhe wieder. Woher konnte der rätselhafte Ton kommen? Der Indianer lauschte stehenden Fußes, nur sein Ohr mit vorgelegter Hand nach verschiedenen Himmelsgegenden haltend, der alte Trapper legte sich noch mehrmals an den Boden, und dann stimmte das Urteil der beiden erfahrenen Jäger genau überein: nur von dort, wo sich die beiden Pyramiden erhoben, konnte der Ton kommen.
Sie schritten diesen zu, und jetzt, zwischen diesen ausgestorbenen Ruinen, die von Götzendienerei erzählten, wobei nicht nur Menschen geopfert, sondern auch gefressen wurden, und wie er seine beiden Begleiter so vorsichtig schleichen sah, da ward es auch dem sonst über jede seelische Aufregung erhabenen Kanadier ganz unheimlich zumute – und da plötzlich wurzelte sein Fuß am Boden – jetzt vernahm auch er ganz deutlich den rätselhaften Ton!
Vater Rübezahl hatte richtig geurteilt, es klang wie eine gestrichene Violinsaite, ziemlich tief, etwa wie die G-Saite, immer in derselben Lage, und es schien hoch oben aus den Lüften zu kommen.
»Habt Ihr das schon früher gehört, als Ihr hier wart?«
Vater Rübezahl verneinte.
Jetzt versuchte auch Scott das Experiment, den Ton dadurch noch stärker zu hören, daß er sein Ohr an den Boden legte, und da dies nun wirklich der Fall war, der Ton dadurch auch wirklich lauter zu hören war, so konnte er also nicht aus der Luft kommen. Dann aber kam nur eine der beiden hohen Pyramiden in Betracht.
Die erste, deren Fuß sie erreichten, war die kleinere, also zugleich diejenige, deren schiefen Wände vollständig glatt waren. Breitete man die Schlingpflanzen zur Seite, so erkannte man weiter, daß es sich hier um kein künstliches Mauerwerk handelte, sondern das war ein im Tale stehengebliebener Fels, dem man durch Bearbeitung mit dem Meißel nur eine pyramidenähnliche Form gegeben hatte – eine kolossale Arbeit, denn hundert Fuß betrug jede Seite der viereckigen Basis mindestens, und doppelt so hoch mochte die ganze Pyramide sein, die oben ein ziemlich umfangreiches Plateau hatte, so weit man das vorhin von der Höhe aus hatte beobachten können.
Ja, Scott hatte während der Wanderung zwischen den Ruinen schon wiederholt den Eindruck gewonnen, als ob auch noch andere Gebäude wie aus einem massiven Felsblock bestanden hätten, und wenn man annahm, daß dies bei sämtlichen der Fall war, dann war dies überhaupt gar kein natürliches, sondern ein künstliches Tal, viele hundert Fuß tief in das Bergplateau hineingemeißelt, und nur das, was man an Gebäuden brauchte, hatte man stehen lassen!
Aber wer sollte denn eine solch ungeheure Arbeit bewerkstelligen? Denn, um einen Vergleich herbeizuziehen, die Durchstechung des Isthmus von Suez, oder die letzte Riesenarbeit unserer heutigen Ingenieurkunst, die Abdämmung des Nils bei Assuan – das alles wäre ja eine Kinderspielerei gegen so etwas, hier so ein ganzes Tal aus dem Felsen herauszumeißeln!!!
Nun, die alten Azteken haben noch andere Baudenkmäler hinterlassen, welche beweisen, daß sie so etwas wohl fertig brachten. Was sind denn unsere Alpenstraßen gegen jene, welche die alten Mexikaner über ihre Gebirgskämme bauten! Man frage nur einmal einen Ingenieur, der hierin bewandert ist. Er wird ganz offen sagen: so etwas können wir heutzutage nicht mehr leisten. Wir haben wohl ganz andere technische Hilfsmittel, aber uns fehlt jenes gewaltige Menschenmaterial, die Sklavenarbeit, uns fehlt die Zeit, und vor allen Dingen: bei uns muß jedes angelegte Kapital Zinsen bringen, deshalb ist uns so etwas nicht mehr möglich. Deshalb sind wir auch nicht fähig, solche tiefe Bohrlöcher zu machen, wie sie die Chinesen in ihren Salinen haben, und selbst wenn wir anstatt Salz reines Gold herausbefördern würden. Die Chinesen bohren, nur mit dem primitivsten Frisallbohrer, an einem Schachte jahrhundertelang, das geht von Generation zu Generation, das ist Pflicht der Bevölkerung einer ganzen Landschaft, die denken, dieses Bohren ist überhaupt ihr Lebenszweck, das ist eine religiöse Handlung, mit jedem Zoll tiefer kommen sie dem Himmel etwas näher, und reißt einmal der Strick, so brauchen sie vielleicht fünfzig Jahre dazu, um das Bohrstück wieder herauszubringen – ja, du lieber Gott, welche europäische Aktiengesellschaft kann sich denn so etwas leisten?! Das können eben nur die konservativen Chinesen mit ihren traditionellen Zöpfen – und die alten Azteken und Konsorten haben es auch gekonnt!
Vor allen Dingen wurde Nobodys Freund, als er immer mehr zu der Erkenntnis kam, daß hier alles aus dem massiven Gestein herausgehöhlt worden war, von einem Gedanken beherrscht, und dieser lautete:
»Dann glaube ich auch, daß ich Nobody hier finden werde, tot oder lebendig; denn hier befindet er sich in seinem Element, dieser professionelle Felsenmaulwurf, wie er sich immer selber nennt!«
Doch nicht lange konnte Scott solchen Gedanken mit einem leisen humoristischen Anfluge nachhängen.
Immer lauter war der singende Geigenton in den Lüften geworden, und als sie die erste Pyramide umschritten hatten, befand er sich hinter ihnen, was sie mit Sicherheit konstatieren konnten – dann aber konnte der Ton auch nur von dieser ersten Pyramide kommen, und zwar jedenfalls nur oben vom Plateau.
Es war zwischen den drei Männern keine Verabredung nötig, daß man erst die Ursache dieses seltsamen Geräusches ergründen wolle. Allen war ganz selbstverständlich, daß dieser rätselhafte Ton aufs engste mit Nobodys Verschwinden zusammenhinge, es erst verursacht habe, und das lag ja auch ganz klar auf der Hand, daß Nobody, wenn auch er diesen Ton gehört, sofort seiner Spur nachgegangen war.
Wie aber dorthinaufgelangen? Ein Rundgang um die Pyramide bestätigte nur, daß jede eingehauene Treppe und dergleichen fehlte. Und dieses eigentümliche Schlinggewächs zeigte nur gar dünne Triebe, zarter als wilder Wein. Würde es einen Menschen tragen?
Wenn man aber als bestimmt annahm, daß auch der Vermißte dort oben gewesen war, sich vielleicht noch, tot oder lebendig, oben befand, wie anders war er hinaufgelangt? Freilich entdeckten die scharfen Augen der Jäger hiervon keine Spur wehr, was aber seinen Grund einfach darin hatte, daß unterdessen, nach Scotts oberflächlicher Angabe, seit wann er den Kristall benutzt, mindestens ein Vierteljahr vergangen war, und das hatte dem Schlingengewächs genügt, um sich von jeder Zerstörung zu erholen, also jede Spur wieder zu verwischen.
Während Vater Rübezahl bedächtig erst mit einigen abgeschnittenen Ranken einen Versuch machte, inwieweit ihrer Festigkeit zu trauen sei, hing Scott schon mit einem hohen Sprunge in dem grünen Gewebe, es trug ihn, und sofort begann er wie eine riesige Spinne weiterzuklettern.
Zweihundert Fuß, wie man die Höhe dieser Pyramide geschätzt hatte, sind sechzig Meter. Man setze zwei vierstöckige Häuser mit hohen Parterregeschossen und Giebeldächern übereinander, und man kann sich ungefähr ein Bild davon machen, was für ein Wagnis diese Klettertour bedeutete!
Doch sie gelang. Der junge Kanadier war ein ausgezeichneter Turner mit stählernen Muskeln, seine Triebfeder zu dem tollkühnen Unternehmen war treue Freundschaft, die noch zu anderen Leistungen fähig ist als jene Liebe, welche der Venus Vulgivaga geheiligt ist, und da dieses Schlingkraut seine Hauptnahrung aus der Luft zog, nicht aus dem Boden, in dem es ja kaum wurzelte, so wurden seine Ranken nach oben hin nicht schwächer, sondern immer stärker, so verminderte sich die Gefahr also auch immer mehr.
Hochausatmend stand der Kanadier oben auf dem Rande des kleinen Plateaus. Zuerst warf er einen schwindelfreien Blick zurück in die grausige Tiefe – er hatte gar nicht gewußt, daß ihm feine beiden Gefährten so dicht auf den Fersen gefolgt waren, auch sie arbeiteten wie die Spinnen, und die alten Knochen hatten noch nichts an Gelenkigkeit eingebüßt, und dann standen auch sie neben ihm.
Daß der Ton von hier oben kommen mußte, hatten sie schon während der Klettertour gemerkt.
Denn je höher sie gekommen, desto lauter erscholl der Ton, zugleich aber war es ihnen gewesen, als ob sich die Vibration dem ganzen Felsen mitteile, und dieser Eindruck verstärkte sich erst recht hier oben.
Das viereckige Plateau war etwa zwanzig Meter im Quadrat groß, nur der Rand mit einem dicken Wall von Schlingpflanzen bedeckt, die hier oben ihren eigentlichen Halt fanden, sonst war das Plateau völlig eben, von Regengüssen reingewaschen, und in der Mitte befand sich ein Loch von Spannenweite, und nur diesem konnte der tiefe, vibrierende Ton entquellen, der das ganze Plateau in Schwingungen versetzte, so daß es unter den Füßen erzitterte.
»Das ist ein Schacht, dem komprimierte Luft entströmt,« sagte Scott sofort.
Der Alte wollte gleich daraufzugehen, er wurde von dem Kanadier zurückgehalten.
»Vorsicht! Es braucht keine atmosphärische Luft zu sein, es kann auch eine andere Gasart, eine giftige sein.«
Der schwache Wind kam von Norden her. So gingen sie am Rande des Plateaus entlang und näherten sich von dieser Seite der rätselhaften Oeffnung.
Die drei Männer hielten sich dicht zusammen, und es war doch etwas dabei, daß sie nur zaghaft Fuß vor Fuß setzten. Und das sollte ihr Glück werden.
Was plötzlich geschehen war, wußte dann später keiner der drei anzugeben. Keine Explosion, kein lauter Knall – nur eine unsichtbare, ungeheure Kraft, welche die drei plötzlich zurückschleuderte, zugleich eine versengende Hitze und ein entsetzliches Geheul, so schrill, daß es förmlich die Trommelfelle durchschneiden wolle.
Irgend einen Gedanken muß der Mensch doch immer haben.
»Der Welt Untergang! Das ist das jüngste Gericht!«
Das war Scotts Gedanke gewesen, als er unter brennender Glut und unter schmetterndem Geheul zurückgeschleudert worden war. Da hatte er eben an eine Vorstellung gedacht, die er sich früher einmal, vielleicht nur als Kind, vom jüngsten Gericht gemacht hatte.
Als er sich erhob, wußte er zuerst, daß ihm Bart und Augenbrauen versengt waren, ohne daß er sonstige Brandwunden oder andere Verletzungen davongetragen hätte; seine zweite Erkenntnis war, daß sich auch noch seine beiden Gefährten auf dem Plateau befanden und allein aufstehen konnten – also vorläufig gerettet! – und dann erst kam ihm als drittes zum Bewußtsein, daß das markerschütternde, pfeifende Heulen, das mit jenem ersten singenden Ton gar keine Aehnlichkeit mehr hatte, in Wirklichkeit andauerte, und daß jetzt dort aus jenem Loche eine weißliche, zwei Meter hohe Flamme schlug!
Es läßt sich denken, daß der Indianer der erste war, welcher hier an das Wunder einer Gottheit glaubte; Vater Rübezahl betrachtete die Flamme schon mehr mit den Augen des wißbegierigen Forschers, und Scott nun wußte sofort eine Erklärung, und es gereichte dem Indianer zur hohen Ehre, daß er sich sofort belehren ließ, alle abergläubische Scheu überwand.
Man hatte es hier mit einer dem Boden entsteigenden Gasart zu tun, die sich an der Luft von selbst entzündete, wie solche Flammen gar nicht so selten an verschiedenen Stellen der Erde zu finden sind. Die bekanntesten sind die Feuer von Baku.
Merkwürdig war nur, daß sich das Gas fast in demselben Augenblicke entzündet hatte, da die drei Männer das Plateau betreten, sich jener Oeffnung genähert hatten.
Alle diese bekannten Feuererscheinungen versagen ja manchmal, sei es, daß zeitweise überhaupt die Gasquelle versagt, weil es eben nur eine periodische ist – sei es, daß auch heftige Regengüsse das Gas zum Verlöschen bringen.
Was aber war hier die Ursache der plötzlichen Entzündung gewesen? Von dem Vorhandensein irgendeines Mechanismus war auf dem nackten Plateau auch nicht die geringste Spur zu entdecken, und die Flamme blieb ja jetzt auch brennen, die drei Männer mochten sich entfernen, wie sie wollten.
Viel einfacher waren die Ursachen der verschiedenen Töne zu erklären. Das mit Heftigkeit ausströmende Gas hatte in dem Schachte, den man sich als eine ziemliche enge Röhre vorstellen mußte, nur gebrummt; erzeugte das Gas aber als Flamme eine große Hitze, so entstand in der Röhre dieser pfeifende Ton – ein Pfeifen, so markdurchdringend, wie es auf eine andere Weise gar nicht erzeugt werden kann. Es ist dies die Folge eines physikalischen Gesetzes, und jeder Schüler einer höheren Anstalt wird sich erinnern, wie im Physikalunterricht, wenn die Lehre von der Akkustik darankam, wenn die Gesetze und das Wesen der Schallwellen erläutert wurden, auch mit solch einer langen Röhre experimentiert wurde, in der eine durchschlagende Stichflamme infolge der Vibration einen pfeifenden Ton erzeugt, den man sein ganzes Leben nicht wieder aus den Ohren bekommt.
Dann war aber auch hier unbedingt nötig, daß sich das Gas nicht erst bei seinem Austritt entzündete, sondern daß die Flamme schon durch den ganzen Schacht...
Doch die beiden gebildeten Blaßgesichter sollten keine Zeit haben, sich in weiteren wissenschaftlichen Spekulationen zu ergehen.
»Hugh!« rief der am Rande des Plateaus stehende Bogenspanner und deutete mit ausgestreckter Hand nach unten. »Dein Hund ruft uns, wir sollen zu ihm kommen.«
Dem war auch so. Die Jäger hatten bei der Klettertour ihre Waffen mitgenommen, nur Scott hatte seinen Rucksack abgelegt. Proteus war als Wächter zurückgelassen worden. Er hatte sich sofort neben dem ihm anvertrauten Gut niedergelassen, den Männern, die sich in Spinnen verwandelten, mit traurigen Augen nachblickend.
Jetzt jagte Proteus mit am Boden gesenkter Nase zwischen dieser Pyramide und jener zweiten immer hin und her, stets bis an den Rucksack zurück, den er zu beschnobern schien, dann sprang er jedesmal an dem grünen Gewebe empor, als wolle auch er hinaufklettern, dann wieder zurück nach dem Fuße der zweiten Pyramide, diese etwas umkreisend – ja, man hörte trotz der großen Entfernung auch ganz deutlich sein lockendes Bellen.
Daß man dies hören konnte, obgleich dicht in der Nähe das entsetzliche Pfeifen erscholl, ist nicht zu verwundern, sowie man sich auch mit gedämpfter Stimme ganz leicht unterhalten konnte. Den schrillsten Pfiff der mächtigsten Dampfmaschine hätte man nicht gehört, wohl aber die menschliche Stimme wie das Bellen des weit entfernten Hundes. Das hängt eben damit zusammen, daß jeder Ton seine besonderen Schallwellen hat, und zwei ganz verschiedene Schallwellen können sich recht wohl durchkreuzen.
»Das sieht fast aus, als hätte der Hund eine fremde Spur gefunden,« meinte Vater Rübezahl nachdenklich.
Scott beobachtete das Gebaren noch einige Zeit, und eine immer größere Spannung, vermischt mit Staunen, spiegelte sich in seinen Zügen wider, aber er sagte nichts, er meinte nur, man wolle den Rückweg antreten, hier oben sei von Nobody ja doch keine Spur zu finden.
Der Abstieg nahm nicht den vierten Teil der Zeit in Anspruch, die das Emporklettern erfordert hatte. Es gab langherabhängende, zusammengedrehte Schlingpflanzen, an denen sie wie an Seilen hinabgleiten konnten.
Jubelnd sprang Proteus an seinem Herrn empor, fuhr mit der Nase noch einmal über den Rucksack, den Scott über den Rücken hing, und lief wieder in der Richtung der zweiten Pyramide davon, durch Bellen die Männer zum Mitgehen einladend.
Wohl hatte Scott etwas bemerkt, aber er hielt seine Vermutungen zurück, er mochte vielleicht selbst nicht daran glauben – er folgte einfach wie die anderen dem klugen Tiere, welches durch Zufall irgendeine Spur gefunden zu haben schien, wobei es freilich einmal seinen Wächterdienst vernachlässigt haben, in der Umgegend herumgeschweift sein mußte.
Die Basis der anderen Pyramide lag also dicht neben dieser, zwischen beiden war nur ein schmaler Durchweg. Sie war viel höher und umfangreicher und bestand aus acht Terrassen, aus denen kleine Gebäude standen, wahrscheinlich Priesterwohnungen und dergleichen.
Ohne Leiter war solch eine Terrasse nicht zu erklimmen, doch es mußte hier einen bequemen Aufstieg geben, und der Hund hatte ihn bereits gefunden.
Proteus führte die Männer durch den schmalen Weg auf die andere Seite und verschwand plötzlich bellend in dem grünen Geflecht, welches auch hier überall herabhing, aber nicht etwa in einer Oeffnung, sondern es war eine steinerne Treppe, welche außen nach der ersten Terrasse hinaufführte, nur unter den Schlingpflanzen so versteckt, daß ein Auge sie schwerlich noch entdecken konnte.
Teils unter, teils über den Schlingpflanzen hinweg ging es die Treppe hinauf bis zur ersten Terrasse, hier hörte diese Treppe auf, aber schon hatte Proteus eine andere gefunden, welche sie zur zweiten Terrasse emporführte. Hier lief der Hund ein gutes Stück hin, und dann, auf der östlichen Seite, der anderen Pyramide gerade gegenüber, öffnete sich plötzlich eine weite Halle, welche in den Felsen hineingehauen war.
Von außen wäre jetzt von dieser Halle nichts mehr zu sehen gewesen, die Oeffnung wurde gänzlich durch ein Gewebe von Schlingpflanzen verhüllt, aber der grüne Vorhang ließ doch noch genügend Licht hindurch, so daß das Auge in der Dämmerung noch alles hätte unterscheiden können.
Doch es erblickte nichts. In den Nischen an den Wänden mochten einst Götzenbilder gestanden haben – zählten die alten Mexikaner doch über zweihundert Haupt- und Nebengottheiten – sie waren alle entfernt worden.
Nur in der Mitte des Saales stand ein großer viereckiger Stein, ein Altar, auf diesen lief der Hund, immer die Nase dicht am Boden, direkt zu, und die folgenden Männer sahen hinter diesem Altar am Boden eine weite Oeffnung gähnen, in welche Stufen hinabführten, die sich in der Finsternis verloren.
»Der Stein kann um seine Achse gedreht werden!«
Doch sie bewunderten jetzt nicht den ebenso einfachen, wie sinnreichen Mechanismus, der den schweren Steinkoloß mit leichter Mühe von der Stelle rücken ließ, sie probierten es auch gar nicht, ihn zu bewegen, aus Furcht, die Oeffnung könne sich wieder schließen, ohne daß sie das Mittel dann fanden, sie wieder bloßzulegen – nur eine Frage drängte sich ihnen allen jetzt auf.
»Wer kann es sein, der hier hinabgestiegen ist?« murmelte Scott, wohl mehr zu sich selbst.
»Alfred – Nobody!« rief der Alte.
»Ja, aber wie kann der Hund diese Spur ...«
»Er freut sich eben, in diesem öden, ausgestorbenen Tale noch die Spur eines anderen lebenden Menschen gefunden zu haben, er zeigt sie uns.«
»Und das soll gerade die Spur von Nobody sein?«
»Zweifelst du daran?!«
»Und ich muß dich fragen: denkst du auch daran, daß mir der Kristall, der uns noch nie belogen hat, Nobodys Verschwinden schon vor drei, vor vier Monaten gemeldet hat? Und nach so langer Zeit sollte der Hund, und hätte er auch eine noch so feine Nase, den Geruch seines Fußes auf diesen Steinplatten wahrnehmen können?«
Allerdings – hierauf wußte der alte Jäger keine Antwort. Er dachte nur an den kleinen Knaben, den er einst auf seinen Knien gewiegt hatte, die einzige Sehnsucht, die noch sein Herz erfüllte.
»Vorwärts, dort unten werden wir die Lösung des Rätsels finden!!«
Scott war nicht so phlegmatisch wie der Indianer, aber er blieb der Besonnenste, er ermahnte zur Vorsicht.
»Wir müssen mit giftigen Gasen rechnen, denen auch Nobody zum Opfer gefallen sein könnte. Ich habe Wachslichter bei mir.«
Er entnahm ein solches seinem Rucksack, zündete es an, so stiegen sie die Treppe hinab, voran Scott, prüfend die Luft durch die Nase gehen lassend.
Doch die Luft war völlig atembar und sollte so bleiben, auch die Flamme des Lichtes verkleinerte sich nicht, woraus man sofort auf das Vorhandensein von zu viel Kohlensäure hätte schließen können, noch ehe dies das erschwerte Atmen bemerkbar machte.
Tief, tief ging es hinab, sicherlich noch unterhalb der Erdoberfläche. Dann kam ein senkrechter Gang, von riesigen Quadern hergestellt. Scotts Taschenkompaß zeigte an, daß der Weg direkt nach Westen führte, also nach jener Richtung, in welcher die andere Pyramide lag.
Nicht lange währte es, so teilte sich der Gang, dann zweigte sich ein schmälerer nach links ab, ein dritter nach rechts – hier unten schien ein wahres Labyrinth von Gängen zu sein.
Doch man brauchte nicht zu beraten, welchem man folgen sollte, Proteus war der sichere Führer, der die Nase immer am Boden hatte, jetzt aber nicht mehr fröhlich vorausspringend, sondern sich immer möglichst nahe seinem Herrn haltend, und die sichtliche Scheu des Tieres teilte sich auch ein wenig den Männern mit, wozu freilich aller Grund vorhanden war.
Seit dem Betreten jener großen Halle war das gellende Pfeifen immer schwächer geworden, hier unten hatte man gar nichts mehr davon gehört – jetzt aber ließ es sich wieder vernehmen, und je weiter man vordrang, desto lauter ward es, und hier unter der Erde in dem engen Gange nahm das heulende Pfeifen einen noch viel grausigeren Charakter an.
»Wir nähern uns der Quelle, aus der es kommt,« flüsterte Scott – und dann standen alle drei Männer betroffen da, und auch der Jagdhund wollte nicht weiter, sondern schmiegte sich winselnd und schutzsuchend an seinen Herrn.
Der Gang hatte eine Ecke gemacht, und wie sie herumbogen, erblickten sie plötzlich ein weißes Licht, das vor ihnen in der Luft zu schweben schien, wie ein weißer Stab, scheinbar in weiter Ferne und ihnen doch ganz nahe, nicht leuchtend und dennoch Helligkeit verbreitend, die gar keine Beschreibung zuläßt, und nur das war allen dreien sofort klar, daß dies die Quelle war, von der das schreckliche Heulen ausging.
Der erste, der eine Erklärung fand, war wiederum der junge Scott.
»Wir sind bereits unter der ersten Pyramide, und das ist die Flamme, welche durch einen Schacht nach oben ins Freie hinausschlägt.«
Das dies so war, das lüg ja jetzt klar auf der Hand, und doch gewährte diese ausgesprochene Erklärung eine große Beruhigung für die Nerven.
Die Männer setzten ihren Weg fort, die Flamme war doch noch ziemlich weit entfernt, und was sie nun auf diesem Weg zu sehen bekamen, das diente weniger zur Nervenberuhigung.
Wieder zeigten sich auf beiden Seiten in den Wänden Nischen, aber diese hier waren nicht leer, sondern in jeder saß ein vertrockneter Mensch, zum Teil in kostbare Gewänder gehüllt – Mumien, welche mit ihren behaarten Schädeln die Eindringlinge in ihr unterirdisches Reich höhnisch angrinsten, und kein Ende wollte dieser Gang nehmen zwischen den menschlichen Leichen hindurch, welche der Verwesung trotzten, und auch der Hund, ein phantasieloses Tier, unterlag dem grauenvollen Zauber dieser Leichenparade.
Doch der Gang war zu Ende. Wieder eröffnete sich vor ihnen eine weite Halle, und die Wachskerze wurde unnötig, die weiße Flamme spendete genug Licht, um ihnen mit schrecklicher Deutlichkeit alles zu zeigen.
In der Mitte des Raumes saß auf einem Postament eine riesenhafte Figur aus Erz, ein Götze. Aus seinem weitgeöffneten Munde quoll die weiße, armstarke Flamme hervor, oder wurde vielmehr mit Gewalt herausgestoßen, denn sie folgte zuerst nicht dem Gesetze jeder Flamme, ging nicht nach oben, sondern erst wenigstens einen Meter geradeaus, dann beschrieb sie einen Bogen und fuhr nach oben in einen Schlot, der sich in der Decke öffnete, und in diesem Schlote wurde durch Vibration der Lust das entsetzliche Pfeifen erzeugt.
Weiter beleuchtete die Flamme die Wände, überall waren Nischen angebracht, und in jeder kauerte in natürlicher Stellung solch eine Mumie...
Doch was kümmerten sich die drei jetzt um die Leichen der alten Mexikaner, die vor einigen Jahrhunderten gelebt hatten! Etwas anderes war es, was ihren entsetzten Blick fesselte.
Zu dem Postament der riesenhaften Figur führten Stufen hinauf, unten vor den Stufen stand ein steinernes Ruhebett, so sah es wenigstens aus, es glich ganz einem unserer Chaiselongues, nur daß es eben von Stein war, und auf diesem Ruhebett lag langausgestreckt die Gestalt eines Mannes, wie ein Trapper gekleidet, nur nicht so zerlumpt, wie ein Jäger.
Nur einen Moment wurde Scott so vom Entsetzen beherrscht, dann stürzte er auf das Steinbett zu, und ein Blick in die Züge des wie schlafend Daliegenden genügte, um ihm alles zu sagen, in diesem Zustande waren die sonst so beweglichen Züge keiner willkürlichen Veränderung fähig ...
»Nobody, um Gottes willen, was ist mit dir?!«
Vergebens, hier half kein Rütteln, die geschlossenen Augen wollten sich nicht öffnen.
Eine zitternde Hand schob sich unter das Jagdhemd und legte sich fest auf die Herzgegend.
»Tot!!!«
»Alfred, mein Alfred!!« erklang es jammernd aus dem Munde des alten Mannes. Wenn er die Züge nicht erkannt hatte, so sagte ihm sein Herz, daß er den Liebling seiner Jugend wiedergefunden hatte, hier im fernen Mexiko – um an seiner Leiche trauern zu dürfen.
Es waren Männer – Männer, welche dem Tode in den verschiedensten Gestalten ins Auge geschaut, Freunde und Verwandte auf dem Schlachtfelde und in anderer Weise hatten sterben sehen. Sie kannten an der Leiche dessen, den sie geliebt, keinen verzweiflungsvollen Jammer. Vor allen Dingen wollten diese Männer jetzt wissen, wie und wodurch jener seinen Tod gefunden hatte.
Die Untersuchung begann. Sie brachte nur ein Rätsel nach dem anderen.
Von einer Ermordung konnte keine Rede sein. Eine Beraubung lag, wie Scott sich sofort überzeugte, nicht vor. Auch die geheime Ledertasche kannte Scott, und sie war vorhanden.
Wo war die Benzinlaterne, welche Nobody stets bei sich führte? Sie lag neben dem Steinbett am Boden.
Aber nun die Leiche selbst! Das war das allergrößte Rätsel!
Er lag da, als ob er schliefe. Nichts von Todesstarre, noch weniger etwas von Verwesung.
Scheu sahen sich die beiden an. Im Augenblick hatten beide den gleichen Gedanken.
»Wann erfuhrst du zuerst seinen Tod?« flüsterte der Alte.
»Du meinst, wann ich zuerst den Kristall wegen Nobodys Verschwinden zu Rate zog?«
»Ja, und als sich der Kristall dann stets vor deinen geistigen Augen verdunkelte. Wann war das?«
»Genau ...« Scott rechnete im stillen nach, »genau vor siebzehn Wochen.«
»Und zweifelst du noch, daß dir dieses Verdunkeln des Kristalls deines Freundes Tod anzeigen wollte, und nicht, daß er sich nur gefangen in einem dunklen Raume befände?«
Tief ließ der Befragte das Haupt sinken.
»Nein, jetzt kann ich nicht mehr daran zweifeln,« flüsterte er tonlos.
»Also schon vier Monate läge er dann hier tot.«
»Es kann nicht anders sein.«
»Ja, aber ist das eine Leiche von vier Monaten?«
»Als wäre er soeben erst verschieden,« flüsterte Scott mit starren Augen, und mit ebensolchen Augen blickte sich auch der Alte in dem weiten Raume um, und beide gewahrten überall die Mumien.
»Hier wurden die Leichen von den Priestern präpariert.«
»Schon wer diesen Raum betrat, den verließ das Leben, um sich im Tode nicht mehr zu verändern, bis ihn die Zeit zur Mumie austrocknete.«
Es läßt sich wohl denken, wie lebhaft der junge Kanadier an all jene anderen präparierten Leichen dachte, die er schon geschaut, seitdem ihn das Schicksal mit Nobody zusammengeführt hatte.
»Nur die Priester wußten sich davor zu schützen.«
»Wovor?«
»Daß sie beim Betreten dieses Heiligtums nicht ebenfalls in den Todesschlaf fielen.«
»Was mag die Todesursache gewesen sein?«
»Giftige Gase.«
»Merkst du etwas davon?«
»Der Unglückliche hat jedenfalls diese Statue untersuchen wollen, ist die Stufen hinaufgestiegen, da mag sich irgendein Mechanismus auslösen und...«
»Was ist das dort?«
Das Auge hatte sich nach und nach an das Zwielicht gewöhnt. So gewahrten die beiden, welche sich mit solch starren, scheuen Blicken umsahen, um eine Lösung dieses Rätsels zu finden, jetzt erst den altarähnlichen Stein, der sich zu Häupten des Lagers befand.
Er glich ungefähr einem Taufbecken, darauf befand sich eine viereckige, geschliffene Tafel aus schwarzem Basalt, und auf dieser lagen eine Menge kleiner, schwarzer Würfel, von denen jeder auf der einen Seite in goldener Gravierung Linien zeigte, Schnörkel und Arabesken darstellend.
»Eine kabbalistische Tafel,« flüsterten die beiden gleichzeitig, und mit nur noch scheueren Augen betrachteten sie das neue Geheimnis.
Beide waren eben eingedrungen in das mystische Zauberwesen der alten, guten Zeit; der eine, weil er selbst ein lebendiger Beweis war, daß es Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt – der andere wohl nur als wissenschaftlicher Forscher; jedenfalls aber war auch ihm recht gut bekannt, was man unter einer kabbalistischen Tafel versteht; am einfachsten läßt es sich mit ›Zaubertafel‹ übersetzen, und die kabbalistische Zaubertafel der modernen Technik ist das Vexierschloß, bei welchem Buchstaben ein gewisses Wort bilden müssen, ehe man das Schloß öffnen kann.
»Nobody hat die Ordnung der Figuren gestört,« flüsterte Scott, »dadurch ist er in einen Schlaf gefallen, der etwa dem magnetischen oder dem hypnotischen ähnelt.«
»Meinst du, daß es so etwas wirklich gibt?« fragte der Alte zweifelnd.
Dann aber faßte er den Inhalt der Worte seines jungen Freundes von einer ganz anderen Seite auf.
»So meinst du, daß er gar nicht tot ist?« fuhr er hoffnungsfreudig empor.
»Habe ich dir nicht gesagt, daß ich niemals an Nobodys Tod glauben konnte? Ich habe zur Probe wiederholt von meinem Kristall verlangt, daß er mir eine tote Person zeigen soll, und stets erschien mir diese in einem Sarge, was auch der Fall war, wenn ich gar nicht wußte, daß die betreffende Person, an die ich dachte, schon tot war. Wollte ich aber Nobody sehen, so senkte sich vor meinen geistigen Augen stets der schwarze Vorhang herab, geradeso, als wenn sich eine Person, die ich sehen wollte, in einem finsteren Zimmer befand ...«
»Ich weiß, ich weiß, wir haben ja oft genug darüber gesprochen!« fiel der Alte ihm aufgeregt ins Wort. »Also er lebt! Mein Alfred lebt noch! So käme es nur darauf an, die Figuren der kabbalistischen Tafel wieder zu ordnen?«
»Das ist meine feste Ueberzeugung,« versicherte Scott allen Ernstes.
Sie gingen an eine nähere Untersuchung der kabbalistischen Tafel. Daß hier eine fremde, unkundige Hand eingegriffen hatte, das war Tatsache. Die kleinen Würfel, gleichfalls aus schwarzem Basalt hergestellt, lagen bunt durcheinander, übereinander, die goldene Gravierung nicht immer nach oben.
Scott zählte ihrer vierundsechzig, welche, nebeneinandergelegt, die Tafel gerade bedeckten. Wie viele Kombinationen lassen sich mit vierundsechzig Würfeln D. N. VIII. machen? Viele, viele Millionen! Und die Arabesken deuteten durch nichts an, daß sich irgendeine Figur herstellen ließe, etwa ein Tierbild oder sonst etwas.
Da war guter Rat teuer. Um die vielen Millionen Kombinationen durchzuprobieren, dazu hätten auch viele Menschenleben gehört, ganz abgesehen davon, daß man sich auch immer wiederholen konnte.
Ganz planlos ordnete Scott erst einmal die Würfel, so daß sie die ganze Tafel bedeckten und die goldene Gravierung immer nach oben zu liegen kam.
»Wir müssen einmal die Kristallkugel ...«
Vater Rübezahl hatte es geflüstert, gerade als Scott den letzten Würfel einschalt. Er wurde durch einen Ruf des Indianers unterbrochen.
»Er lebt! Er atmet!«
Daß man jetzt die kabbalistische Tafel eine Tafel sein ließ, ist selbstverständlich.
Bogenspanner hatte sich überhaupt nicht mit der Zaubertafel beschäftigt, sondern nur mit dem Regungslosen, hatte noch einmal den Herzschlag geprüft, ohne von einem solchen etwas zu merken, hatte das Jagdhemd völlig geöffnet und das Ohr auf die Brust gelegt, schließlich hatte er auch von seinem Kopfe ein langes Haar gerissen und es über den halbgeöffneten Mund des regungslos Daliegenden gehalten.
»Er lebt! Er atmet!«
Wirklich, das Haar vor den Lippen bewegte sich in regelmäßigen Zwischenpausen auf und nieder, gerade als wenn es durch ein Atmen in Bewegung gesetzt würde.
Scott hatte einen Taschenspiegel bei sich, er hielt ihn dicht vor die blassen Lippen, nur drei Sekunden – der Spiegel hatte sich beschlagen!
Der schlaffe, kalte Körper wurde in Behandlung genommen. Scott war der einzige, der etwas von künstlicher Atmung wußte, und er tat sein möglichstes. Vater Rübezahl knetete den Körper, während der Indianer es für das beste Mittel, jemanden vom Tode wieder zum Leben zu bringen, hielt, daß er ihm die Nase kitzelte, was er mit einer einem Pfeile entnommenen Feder gründlich tat.
»Die Brust beginnt sich wieder von allein zu heben und zu senken!« konstatierte Scott.
»Seine Haut wird wieder warm!« jauchzte Vater Rübezahl.
»Ha – ha – hazzzziehhhh!!!«
Aber nicht der Indianer, sondern der Tote hatte geniest; Nobody hatte die Augen aufgeschlagen – ein starrer Blick traf den ihn kitzelnden Indianer, im nächsten Augenblick flog dieser, von einem eisernen Griff gepackt, zur Seite – und da stand Nobody aufrecht neben dem Lager, schon den Revolver aus der Tasche gerissen, bereit, den Kampf mit den vermeintlichen Feinden aufzunehmen, und er kam diesen auch gleich zuvor.
»Die Hände hoch!!!« donnerte es. »Eins – zwei...«
»Nobody! – Alfred!«
Der erhobene Revolver sank herab, desto starrer wurden die Augen, die im ganzen Raume herumwanderten, um wieder nach den drei Männern zurückzukehren.
»Ja – träume – oder wache ich denn? – Das ist doch – Edward Scott – wie kommt der denn hierher? – – Und das – das ist – doch – – Onkel Franz? Nur ohne Bart – und so alt, wie er jetzt sein könnte, wenn er noch lebte. So ein kurioser Traum!«
»Nein, Alfred, du träumst nicht, ich bin es wirklich, dein Onkel Franz!!«
Der Alte hatte es gerufen, und weinend und schluchzend lag er an Nobodys Brust.
Scott fühlte, daß er bei der Erklärung, die jetzt folgen mußte, überflüssig war, er entfernte sich, ging tiefer in die Halle hinein.
Untersuchungen stellte er dabei nicht an, seine Gedanken waren damit beschäftigt, daß er durch Zufall gleich beim ersten Male die richtige Figur gebildet hatte, die den Scheintoten aus seinem viermonatlichen Schlafe hatte wieder erwachen lassen. Denn daß dem so war, darüber existierte bei Scott nicht der geringste Zweifel.
Er hatte nicht lange Zeit, über dieses Wunder nachzugrübeln, oder die Zeit war ihm dabei außerordentlich schnell vergangen.
»Edward, komm her, du mußt dabeisein, wenn das Rätsel erklärt wird,« erklang Nobodys Stimme.
Scott kehrte zurück. Wenn er aber geglaubt, doch noch Zeuge einer rührenden Familienszene zu werden, so hatte er sich gründlich geirrt. Vater Rübezahl war wieder der alte Trapper, wie er ihn während des zweitägigen Marsches zur Genüge kennengelernt hatte, und Nobody war eben Nobody. Keine Spur davon, daß der Neffe hier den für tot gehaltenen Onkel wiedergefunden hatte und umgekehrt. Die beiden hatten zu dem freudigen Wiedersehen und zu einer Auseinandersetzung überraschend kurze Zeit gebraucht.
»Das hier ist ein Onkel von mir. Er nennt sich ja wohl Vater Rübezahl – bleibe du bei diesem Namen. Ja, nun habe ich aber auch schon etwas anderes gehört, was mir sehr merkwürdig vorkommt. Bitte, Edward, erzähle mir doch einmal ausführlich, wie das mit meinem Verschwinden gewesen ist.«
Scott erzählte. Wir haben alles schon gehört, als er sich dem Alten erklärte. Es kam kaum noch etwas Neues hinzu.
»Hm, sehr merkwürdig!« brummte Nobody, der den Erzähler mit keinem Worte unterbrochen hatte. »Nun, Edward, deine prophetische Veranlagung kenne ich ja, und ich zweifle nicht im geringsten daran. Nur in einem bist du vollkommen im Irrtum. Was für ein Datum haben wir heute?«
»Den 19. August.«
»Stimmt! Und welche Zeit ist es? Ah, meine Uhr ist stehen geblieben. Das ist auch nicht zu verwundern, ich habe vorhin einen sehr schweren Sturz getan...«
»Vorhin?!« stieß Scott ganz unwirsch hervor.
»Jawohl, vorhin. Nun, welche Zeit ist es?«
»Zwanzig Minuten nach ein Uhr.«
»Dann habe ich hier nur zwölf Minuten bewußtlos gelegen. Ich bin im Befragen der Uhr sehr pedantisch, das muß ein Detektiv auch sein, und so vergewisserte ich mich, daß es, als ich diesen Götzen hier entdeckte, sechs Minuten nach eins war. Zwei Minuten will ich dazurechnen, dann fiel ich dort die Treppe herab – also bin ich zwölf Minuten bewußtlos gewesen.«
»Es – ist – nicht – möglich!!«
»Na, Edward, denkst du wirklich, daß ich vier ganze Monate hier als Toter gelegen habe?! Ich bin vorhin erst hier hereingekommen, mich wundert nur, daß wir uns nicht zwischen den Ruinen begegnet sind. Und mit der kabbalistischen Tafel habe ich gar nichts zu tun gehabt, die Würfel lagen vorhin ganz unordentlich durcheinander, ich habe sie gar nicht angerührt.«
Es läßt sich denken, wie bei dieser Erklärung der Geisterseher aus allen seinen Himmeln gestürzt war.
Da legte ihm Nobody die Hand auf die Schulter, und es war ein tiefernstes Gesicht, in welches Scott blickte, und ebenso feierlich erklang es:
»Nein, Edward, fasse meine Worte nicht etwa als spottende auf. Im Gegenteil, deine prophetische Sehergabe hat sich wieder einmal auf wunderbare Weise bestätigt. Nur du selbst hast dich in einem Irrtume befunden. Nicht Gegenwärtiges, sondern Zukünftiges hast du im Geist und im Kristall geschaut. Bis vor einer Viertelstunde befand ich mich frisch und munter, und seit ich Buenos Aires verließ, hat mich keine nennenswerte Gefahr bedroht. Vor einer Viertelstunde trat ich hier ein, sah diesen Götzen, aus seinem Munde mußte der eigentümliche Ton kommen, ich wollte es ergründen, stieg die Stufen hinauf – da traf mich ein starker, kalter Hauch, augenblicklich schwanden mir die Sinne, ich stürzte die Stufe hinab, konnte mich nur noch einmal aufraffen, um mich hier auf diese Steinbank zu legen – dann fühlte ich deutlich, wie mich die Kälte des Todes ergriff ...«
»Und du wärst auch in den ewigen Todesschlaf hinübergeschlummert, hätte uns Gott nicht noch rechtzeitig zu dir geführt, um dich aus dem Anfänge des Todesschlafes wieder aufzurütteln«, ergänzte Vater Rübezahl erschüttert.
»So ist es. Ich zweifle nicht mehr daran. Ohne euch wäre mein Tod beschlossen gewesen. Aber in Gottes unerforschlichem Ratschlüsse war es bestimmt; schon vor vier Monaten mußtest du, Edward, deine Vorbereitungen dazu treffen, um mich heute zur bestimmten Minute hier zu finden. O, es ist wunderbar!!«
Nobody hatte nicht minder erschüttert gesprochen als vorhin sein Onkel.
Hiermit aber war das Geheimnisvolle, so weit man es sich nicht erklären kann, für diese Männer auch erledigt. Nur Einzelheiten waren noch zu besprechen.
»Der Hund führte uns direkt hierher«, sagte Vater Rübezahl, »er verfolgte deine Spur. Welches Interesse konnte er an dir haben?«
»Das kann nach dem Hunde ich am besten erklären,« entgegnete Scott. »Kennst du diesen Rucksack, Alfred?«
»Jawohl, das ist einer aus meiner heimatlichen Rüstkammer.«
»Ich wählte ihn, als ich Vorbereitungen zu meiner Reise nach Mexiko traf. Von Proteus' wunderbar feiner Spürnase habe ich schon Beweise genug bekommen, er hatte den Geruch des Rucksackes nun schon in der Nase, und als er hier deine Spur witterte, wußte er sofort, daß du zu uns gehörtest.
»Aber, Alfred, wie kommt es, daß du so lange nichts von dir hast hören lassen?«
Das war nicht Nobodys Schuld. Von Buenos Aires aus hatte er das versprochene Telegramm abgesandt, welches seiner Frau meldete, daß er sich zunächst nach der Stadt Mexiko begebe. Diese Depesche hatte eben ihr Ziel nicht erreicht, das erstemal, daß ein von Nobody aufgegebenes Telegramm verlorengegangen war. Viel leichter begreiflich bei der Liederlichkeit und Unsicherheit der mexikanischen Postverhältnisse war es, daß seine Frau auch nicht den eingeschriebenen Brief erhalten hatte, den er ihr von Mexiko aus geschickt hatte, worin er ihr sein nächstes Vorhaben ausführlich schilderte.
»Was ist nun dieses dein Vorhaben? Wie kommst du hierher? Was für eine Bewandtnis hat es mit diesem Götzen?«
Nobody erzählte mit kurzen Worten, vielleicht kürzer, als wir es hier wiedergeben könnten, auch ohne dessen Erwähnung zu tun, wie er in den Besitz der Knotenschrift gekommen war, noch weniger, wie und wo er diese entziffert hatte.
Er hatte eben durch einen Zufall erfahren, daß sich unter dem Altar des Gottes Vitzliputzli im alten Tenochtitlatan etwas befinden sollte, was des Aufhebens wert sei.
Wo das alte Tenochtitlatan gelegen, das hatte er, als er sich einmal selbst in Mexiko befand, bald herausgebracht. Nur dürfe er, hatten ihm verschiedene Sachverständige gesagt, an die er sich gewandt, nicht erwarten, dort irgend noch etwas zu finden, was man mitnehmen könne. Höchstens zum Andenken einen Baustein, aber sonst auch nichts weiter. Einmal hätten die Azteken, ehe sie von den beutelustigen Spaniern besiegt wurden, nach altem Muster alle Schätze und Heiligtümer spurlos verschwinden lassen, und dann seien die Ruinen von Tenochtitlatan im Laufe von Jahrhunderten von zahllosen Forschern durchsucht worden, da gab es nichts mehr zu entdecken, und wenn es dort einen Stein gegeben, auf den eine Hieroglyphe oder sonst etwas eingegraben gewesen war, den hatte in neuester Zeit sich ein reisender Engländer als Andenken mitgenommen.
Nun, Nobody dachte anders. Die Hauptsache war für ihn, zu erfahren, daß in Tenochtitlatan wirklich Vitzliputzlis Haupttempel gestanden habe, wo ihm seinerzeit auch Menschen geschlachtet wurden, in manchem Jahre erwiesenermaßen deren 20 000, und nicht nur Kriegsgefangene; sein Tempel sei die große Pyramide mit den Terrassen gewesen, die eigentliche Tempelhalle läge auf der zweiten Terrasse auf der östlichen Seite, auch das Postament sei noch vorhanden, auf dem die Figur des schrecklichen Gottes gestanden, denn dieses letzte Überbleibsel konnte man nicht entfernen, einfach aus dem Grunde, weil das Postament mit dem Felsen verwachsen war.
Nobody machte sich auf den Weg, allein, überschritt das Löwengebirge. Bemerkt sei noch, daß er auch vor den vielen Schlangen gewarnt worden war, welche sich seit einigen Jahren dort bemerkbar machten, und daß man ihm sagte, die Ruinen würden in letzter Zeit auch gar nicht mehr besucht.
Erst vor einer Stunde hatte Nobody dieses Tal betreten. Aber er hörte nichts von einem singenden Tone. So kam für ihn die erste, kleinere Pyramide gar nicht in Betracht, er wandte seine Aufmerksamkeit sofort der zweiten zu, hatte schnell die verdeckte Treppe gefunden, ebenso die Halle mit dem Postament.
Dieses war also mit dem Boden aus ein und demselben Felsen? Ja, so sah es auch gerade aus. Nicht die geringste Fuge war zu entdecken. Aber nach dem Inhalt der Knotenschrift sollte sich ›das, was dem Nahatluak gehört‹, unterhalb dieses Postamentes befinden, und Nobody konnte nicht glauben, daß dazu nötig sei, erst Sprengungen auszuführen, denn die Azteken hatten das Pulver noch nicht erfunden.
Nein, hier mußte wohl ein Mechanismus vorhanden sein. Wir können hier nicht beschreiben, wie Nobody diesen, der sich an dem Steine selbst befand, entdeckte, es gehörten eben dieses Detektivs Fähigkeiten dazu, um dies in so kurzer Zeit, in nur wenigen Minuten fertig zu bringen, und er wunderte sich dabei ebenso sehr darüber, wie sinnreich dieser Mechanismus angebracht worden war, wie auch, daß die Knotenschrift gar nichts von dem Mechanismus gesagt hatte. Setzte das nicht fast voraus, daß davon noch anderen Menschen bekannt war? Oder das konnte auch so viel heißen als: nur der ist würdig, das Geheimnis zu finden, welcher scharfsinnig genug ist, auch diesen Mechanismus zu entdecken, der den Weg zu dem Geheimnis freigibt.
Kurz und gut, ein Druck auf eine vorstehende Ecke genügte, und der Stein von etwa hundert Zentnern Gewicht konnte mit kinderleichter Mühe gedreht werden, er gab eine Öffnung frei.
In diesem Augenblicke, da sich der Stein drehte, erscholl jener singende Ton, der von einer riesigen G-Saite zu kommen schien, und zwar war es, als ob er aus dem Loche herauskäme – und der Leser sei darauf aufmerksam gemacht, daß dies der Zeitpunkt war, da sich die drei Jäger dem Tale näherten, und Bogenspanner war der erste, welcher ebenfalls den Ton vernahm. Hätten sie eine Viertelstunde später das Tal betreten, so hätten sie ganz plötzlich diesen Ton über sich gehört, doch ebenfalls von der ersten Pyramide kommend.
Was für ein seltsamer Ton war das, der ihm da aus der Öffnung entgegendrang? Offenbar hatte ihn erst das Auslösen des Mechanismus erzeugt, aber das gab noch keine Erklärung.
Nobody ging äußerst vorsichtig zu Werke. Zunächst ließ er seine brennende Benzinlaterne hinab, dann drang er Schritt für Schritt vor, hielt sich bei jeder Mumie auf, dann verfehlte er den rechten Gang, untersuchte auch mit Absicht die anderen Gänge – und so kam es, daß die drei Männer unterdessen die erste Pyramide erklettern konnten, während Nobody hier unten vordrang.
Schließlich erreichte er auch diesen Saal, in dem der eherne Götze stand. Hier beging Nobody eine große Unvorsichtigkeit, die jeder Mensch einmal begehen kann, und Nobody war doch auch nur ein Mensch.
Der singende Ton kam offenbar aus dem Munde des Gottes. Das mußte Nobody ergründen. Er stieg also die Stufen hinauf, erklomm die Knie des nach aztekischer Art kauernden Götzen, mußte an Vorsprüngen der Erzfigur noch etwas höher klimmen, dabei hatte er die brennende Benzinlampe mitgenommen, jetzt war er so weit, er reckte sich, hielt die Lampe in Kopfhöhe, um in den Mund hineinzusehen und zugleich hineinzuleuchten – mehr wußte er eigentlich nicht, höchstens noch, daß ihn ein starker Luftstrom getroffen hatte.
Dieser raubte ihm augenblicklich die Besinnung. Er stürzte von der Figur herab, schlug heftig mit dem Kopfe auf; nur dadurch kam er noch einmal zu sich, hatte noch so viel Kraft, sich auf die Steinbank zu werfen, wo er abermals das Bewußtsein verlor, um erst unter den Händen seiner Freunde wieder zu erwachen.
Während dieses Vorgangs hatte er wohl ein schreckliches Pfeifen gehört, aber daß er mit der Laterne das ausströmende Gas in Brand gesetzt hatte, daß jetzt dem Munde des Götzen eine lange Flamme entfuhr, das wußte er gar nicht, das hatte er gar nicht bemerkt. – –
Wie gesagt, Nobody hatte zu dieser Erzählung weniger Worte gebraucht, als wir benötigten.
»Das ist ein giftiges Gas, und schon einfaches Wasserstoffgas genügte, um einem augenblicklich die Besinnung zu rauben. Mir kam es vor, als stände mein Herz plötzlich still. Wärt ihr nicht gekommen, hättet ihr meinem Blute durch künstliche Atmung nicht schnell frischen Sauerstoff zugeführt, ich wäre auf jeden Fall verloren gewesen, wäre so ganz sanft in den Tod hinübergeschlummert.«
Woher kam das Gas? Was für einen Zweck hatte das alles?
»Eins nach dem andern,« sagte Nobody, und seine durchdringenden Blicke hatten schon seit längerer Zeit auf dem Indianer geruht, dessen Arme so verschieden entwickelt und aus dessen Brust und Gesicht die Tätowierungen wieder ausgestochen oder durch andere Linien entstellt worden waren.
»Ist das dein Begleiter, Edward?«
»Nein, der meine,« entgegnete der Alte statt Scotts. »Bogenspanner ist mein treuer Freund.«
»So?« meinte Nobody mit einiger Verwunderung. »Ich dachte, weil doch auch Scott ein Kanadier ist, er hätte ihn mitgebracht. Wie kommt denn der hierher? Das ist doch ein Schwarzfuß.«
Die Schwarzfuß-Indianer bewohnen den höchsten Norden Kanadas, ein Volk von Pelzjägern. Scott, ein leidenschaftlicher Jäger, hatte selbst lange Zeit unter ihnen zugebracht – aber auch nicht die leiseste Ahnung war in ihm aufgestiegen, daß er einen roten Landsmann vor sich haben könne, am wenigsten hatte ihn die Tätowierung, die er sonst sehr wohl kannte, darauf gebracht.
Das Auge dieses Detektivs dagegen hatte sofort den Schwarzfuß-Indianer erkannt, und wie Bogenspanner nun dieses Wort hörte, da prallte er, was Scott auch nicht für möglich gehalten hätte, mit einem entsetzten ›Wah!!‹ zurück, durch welchen Ausruf er sich nun allerdings als einen Indianer der höheren Region Amerikas verriet. Aber auch zum allerersten Male war er hierdurch aus seiner Rolle gefallen.
»Was hat die Rothaut? Warum verleugnet sie so ängstlich ihre Nationalität?«
»Bogenspanner hat allerdings einen Grund, nicht erkannt werden zu wollen,« sagte Vater Rübezahl hastig. »Aber er ist seit vier Jahren mein Freund, Alfred, der treueste Mensch, ich garantiere für ihn, ich erzähle dir seine Geschichte ein andermal, er wird von einem Unglück verfolgt, dringe jetzt nicht weiter in den Bedauernswerten, Alfred.«
Fast flehend hatte es zuletzt aus dem Munde des Alten geklungen, und da trat Nobody vor den Indianer hin, der vor Schreck förmlich an allen Gliedern zitterte, und legte ihm in seiner Weise die Hand auf die Schulter.
»Wenn dich mein Onkel seinen Freund nennt, so genügt mir das, und wenn du ein Geheimnis hast, so bin ich der letzte, der sich darum kümmert. Es soll nur jemand oben an dem Ausgange Wache halten, denn wenn etwa durch das Pfeifen dieses Gottes ein Mensch herbeigelockt würde, der Interesse daran hat, das Postament wieder über das Loch zu rücken, so könnten wir in einer Mausefalle sitzen, und als diesen Wächter hatte ich dich ausersehen. Wem gehört der Hund?«
»Mir,« sagte Scott.
»Gehorcht er auch diesem Indianer?«
»Er hat sich während der zwei Tage schon sehr an ihn gewöhnt.«
»Wenn Bogenspanner ihn mitnimmt, und er heißt ihn zurück zu seinem Herrn zu laufen – wird er gehorchen?«
»Ganz sicher wird Proteus zu mir zurückrennen.«
»So komm! Ich werde dich begleiten und dir deinen Platz anweisen. Warte auf mich, ich bleibe nicht lange.«
Nobody faßte den Hund am Halsband, der Indianer, dessen Schreck schnell nachgelassen hatte, folgte ihm durch die Gänge.
Tief atmete Nobody auf, als ihn wieder das Tageslicht begrüßte. Der Indianer, dessen Falkenblick Nobody gleich am glänzenden Auge erkannte, sollte sich hinter den grünen Pflanzenvorhang stellen und von hier aus die Umgegend beobachten, und sobald ein Mensch auftauchte oder sich sonst irgend etwas Verdächtiges bemerkbar machte, den Hund mit entsprechenden Worten freigeben, daß dieser als meldender Bote alsbald zurücklief.
Nobody begab sich zu seinen Gefährten zurück. Gleich beim Betreten des Tunnels stutzte er. Klang das Pfeifen jetzt nicht viel schwächer als vorhin? Und je weiter er ging, desto mehr kam er zu der Überzeugung, daß dem wirklich so war, die Stärke des Tons nahm nicht zu, wie es doch hätte sein müssen, sondern immer mehr ab, und als er jenen Saal wieder betrat, war das Pfeifen kaum noch hörbar, und aus dem Munde des Götzen kam nur noch eine ganz kleine Flamme, welche sofort nach oben in den Schacht ging, bis sie ganz verlöschte.
Die Zurückgebliebenen hatten daran nichts verschuldet. Die Erklärung hierfür war eine ganz natürliche, nach der man nicht lange zu suchen brauchte.
Auch diese Pyramide bestand aus massivem Felsen, war also aus dem Urgestein herausgemeißelt worden. Vulkanischen Ursprungs, ohne noch vulkanisch tätig zu sein, strömte irgendwo im Gebirge ein Gas aus, wahrscheinlich Wasserstoff, wie es solcher Gasquellen ja genug gibt, es gelangte durch eine natürliche oder künstliche Leitung hierher, wahrscheinlich war es hierherum von jeher ausgetreten, die alten Mexikaner hatten verstanden, es durch den Mund dieses ehernen Götzen zu leiten – jedenfalls eine technische Kunstleistung allerersten Ranges! Schädlich konnte das an sich giftige Gas den unten im Raume befindlichen Menschen nicht werden, es war so leicht, daß es sofort zur Decke emporstieg, wo ihm der natürliche oder künstlich angelegte Schacht einen willkommenen Ausweg bot, und wenn es brannte, schlug die Flamme erst recht ganz harmlos in den Schacht, der also oben in der kleineren Pyramide ausmündete, unterhalb welcher man sich hier überhaupt wohl schon befand.
Nun entfloß der vielleicht sehr weit entfernten Quelle aber nicht genug Gas, um ständig eine Flamme unterhalten zu können. Das Gas sammelte sich offenbar in einer unterirdischen Höhlung erst im Laufe der Zeit an – wie lange es bedurfte, um für eine Viertelstunde eine Flamme zu unterhalten, das hätte man erst ausprobieren müssen, da konnte man aber unter Umständen viele Jahre warten – und Nobody fand denn auch richtig im Ohre des Götzen einen Schieber, welcher offenbar ein Ventil öffnete und schloß, und dieser Schieber stand durch einen Mechanismus auch schon mit jenem Postamente in der Tempelhalle der ersten, größeren Pyramide in Verbindung.
Es läßt sich denken, was für einen Hokuspokus die Priester der alten Mexikaner mit solchen mechanischen Spielereien treiben konnten und sicher getrieben hatten, dieser Effekt, wenn der Gott brummend zu singen begann, wenn ihm dann gar unter schrecklichem Geheul die meterlange Flamme aus dem Munde fuhr, und auch die draußen harrende Menge, die keinen Zutritt zum Allerheiligsten bekommen hatte, konnte ihren Wunderglauben sättigen, auch sie hörte ja das markerschütternde Pfeifen und sah doch wenigstens die hohe Flamme aus der Pyramide schlagen, was besonders bei Nacht einen schauerlichen Eindruck machen mußte.
Nun aber eine andere Frage: Konnte dieses Pfeifen nicht ein Signal gewesen sein, welches die gläubigen Mexikaner zum Altar rief, auf dem einst Menschen geschlachtet wurden, und konnte dieses Signal nicht noch jetzt wirksam sein, etwa auf eine geheime Verabredung, die unter den noch heute existierenden Azteken zirkulierte? Konnte da nicht irgendeine alte Sage in Betracht kommen?
Trotz seines zwanzigjährigen Aufenthaltes in Mexiko konnte der Onkel ihm nichts über die Nachkommen der alten Azteken berichten, da wußte Nobody viel mehr; denn während der langen Reise hatte er sich wie gewöhnlich über alles orientiert, was er in dem Lande, welches er betrat, finden würde, aus Büchern, aus Gesprächen, er hatte in der Stadt Mexiko Gelehrte und andere sachverständige Personen aufgesucht, hatte echte Azteken ausgehorcht, einige auch in der Hypnose.
Nein, diese Nachkömmlinge des alten Herrschergeschlechtes von Mexiko waren die friedfertigsten Menschen, das lag in ihrer Natur, die gingen mit keinen Plänen mehr um, das Aztekenreich in ihrer alten Herrlichkeit wieder auferstehen zu lassen, sie waren sämtlich die aufrichtigsten Christen geworden, die von ihren ehemaligen Göttern nichts mehr wissen wollten, nicht einmal mehr deren Namen kannten, von Vitzliputzli ungefähr so sprachen, wie wir von Thor und Odin, und auch von einem Geheimnis des alten Tempels von Tenochtitlatan war keinem einzigen etwas bekannt gewesen.
Trotzdem, Nobody war vorsichtig, er hatte am Eingänge zu diesen Katakomben eine Wache ausgestellt, falls das Singen und Pfeifen dennoch Leute herbeirufen sollte, welche an Vitzliputzlis Macht noch glaubten, nur auf seinen Ruf gewartet hatten.
Die Untersuchung der unterirdischen Tempel-Hallen und der Katakomben ward fortgesetzt. Mumien in Menge und eine steinerne Kiste mit jenen verknoteten Riemen – nichts weiter. Doch war das etwa nicht genug? Nobody sah schon im Geiste die mexikanischen Mumien und den vierköpfigen und achtarmigen Gott im britischen Museum stehen, darunter seinen Namen als den des Entdeckers und Schenkers, und sein Herz schwoll vor seligem Stolz. Was bedeuten alle Schätze der Erde gegen so etwas – das heißt, für den, der etwas davon versteht! Mancher Forschungsreisende hätte schon für eine einzige dieser Mumien die Hälfte seines Lebens dahingegeben! Nun aber erst die Knotenschrift!! Gleich bei einer oberflächlichen Entzifferung der ersten Schnur, wie er es nun gelernt hatte, fand Nobody, daß hier über die Religionsgebräuche der alten Mexikaner berichtet wurde, wovon man bisher so gut wie gar nichts gewußt hatte, und hier wurden die geheimsten Zeremonien beschrieben. Fürwahr, das war ein Fund von unermeßlichem Wert oder doch von unermeßlicher Wichtigkeit.
Inzwischen hatte Nobody auch Zeit, sich mit Scott zu unterhalten. Wie war es diesem in Ägypten ergangen? Was hatte er ausgerichtet?
Niedergeschlagen konnte der junge Kanadier nur von einem negativen Resultate berichten. Die Hauptsache war, daß er jenes wahnsinnige Weib nicht mehr vorgefunden hatte. Sie war einige Tage vor seiner Ankunft aus dem Lager der Beni Schammar verschwunden, mußte sich in der Wüste oder im Gebirge verirrt haben, die Beduinen hatten während dieser Tage vergebens nach ihr gesucht.
»Ich selbst fand eine Spur, welche nach Kairo führte...«
»Nun sage mir erst einmal offen, Edward,« unterbrach Nobody den Erzähler, »hast du denn noch wirkliche Neigung zu deiner...«
Auch Nobody wurde unterbrochen. Die beiden befanden sich ziemlich weit entfernt von dem Tempelraume in einem Gange und leuchteten mit der Lampe die zahllosen Mumien ab, Vater Rübezahl befand sich in einiger Entfernung hinter ihnen, als plötzlich Proteus an seinem Herrn emporsprang.
Nobody hatte die Sprünge des Tieres trotz deren Lautlosigkeit bereits gehört.
»Hallo, Bogenspanner schickt seinen Boten mit der Meldung, daß die Luft nicht rein ist! Vorwärts, schnell nach dem Ausgange, wir alle zusammen!«
Sie eilten durch die Gänge, in fünf Minuten waren sie oben neben dem Indianer, der mit ausgestreckter Hand durch das grüne Gewebe der Schlingpflanzen deutete.
Der Richtung folgend, erblickten sie von Osten her, wo wieder Berge das Tal begrenzten, vier Gestalten kommen. Noch hatten sie die eigentlichen Ruinen nicht erreicht, aber schon war zu erkennen, daß sie graue Gewänder trugen, die sie vom Kopf bis zu den Füßen einhüllten. Mehr war mit bloßen Augen vorläufig nicht zu unterscheiden, höchstens noch, daß sie einen sehr schnellen Gang angeschlagen hatten, eine kleine Figur, die mit den größeren nicht gleichen Schritt halten konnte, mußte traben.
»Sie haben Kapuzen über den Köpfen, das sind offenbar Nonnen!« sagte Scott, der schon sein Taschenfernrohr vorm Auge hatte.
»Nein, dann können es höchstens Mönche sein, Männer sind es bestimmt!« korrigierte Nobody seinen Freund, noch ehe er das Fernrohr benutzte.
Sie kamen näher. Jetzt unterschied das Fernrohr, daß es tatsächlich bartlose Männergesichter waren. Nobody hatte es gleich am Gang, an den ganzen Bewegungen erkannt.
»Ja, das ist eine gleichartige Klostertracht. Weißt du, Franz, ob sich hier in der Nähe ein Kloster befindet?«
Nein, darüber konnte der Alte keine Auskunft geben, hätte es vielleicht nicht tun können, wenn sich ein Kloster innerhalb seines Jagdreviers befunden; dieses war zu groß, und wo kein Wild anzutreffen war, da kam der Jäger auch gar nicht hin.
»Von Kopf bis zu Füßen alles grau – um die Hüften einen Strick – natürlich – statt Sandalen feste, hohe Stiefel – wegen der Schlangen auch sehr nötig – jeder hat in der Hand einen langen Stock, der oben in eine Gabel ausläuft, das ist das auffallende Abzeichen. Was für mexikanische Mönche sind das? Welchem Orden mögen sie angehören?«
Niemand wußte, so wenig wie Nobody, eine Antwort.
»Nun, wir werden ja sehen. Die sind auf keiner Wanderung begriffen, ich vermute stark, daß diese guten Mönchlein in der Nähe hausen und durch das Pfeifen hierhergelockt worden sind, ihre Eile muß auch etwas Besonderes bedeuten, und ich bin entschlossen, ihnen unten entgegenzutreten. Für alle Fälle aber wollen wir erst hier oben wieder Ordnung schaffen.«
Das ›Ordnungschaffen‹ bestand darin, daß Nobody den Mechanismus spielen ließ, welcher das Postament wieder über die Öffnung setzte.
»So. Jetzt begebe ich mich hinunter. Wirklich, die marschieren direkt auf diese Pyramide zu. Ich werde es so einrichten, daß die Begegnung im Bereiche eurer Schußwaffen stattfindet.«
Jetzt verschwanden die vier Mönche zwischen den ersten Häusern. Nobody, ganz wie ein Trapper gekleidet, untersuchte sein Gewehr, daß er auf dem Steinbett noch am Lederriemen über der Schulter hängen gehabt, und stieg die Treppe hinab.
Er brauchte nur einige Schritte zu gehen, so befand er sich hinter einem Hause, von welchem aus er sowohl die nach der Pyramide führenden Straßen überblicken konnte, wie man ihn auch von oben sah.
Richtig, da kamen sie schon, immer noch im Eilschritt!
Ihr Äußeres ist schon beschrieben worden. Hinzuzufügen ist nur noch, daß der eine, der älteste, welcher voranging, trotz seines tiefbraunen Gesichtes offenbar ein Germane war, zwei andere, bedeutend jünger, wahrscheinlich Spanier, der vierte unverkennbar ein Indier. Von klösterlicher Enthaltsamkeit war allen vieren nichts anzumerken, sie machten vielmehr einen recht wohlgenährten Eindruck, wenn dieser auch weit von Fettsucht war. Kräftige Gestalten, die wohl auch mit Hacke und Axt arbeiteten und mit dem Gewehr vielleicht ebensogut umzugehen wußten wie mit dem Rosenkranz, wenn man auch keine Waffen bei ihnen sah.
»Hallo! Endlich einmal andere lebende Wesen als nur Schlangen!«
Der Schreck war groß, als sie plötzlich den hinter seiner Mauer hervortretenden Trapper erblickten, ihre Füße wurzelten am Boden, und dann fiel es Nobody sofort auf, daß sie unter sich fragende, scheue Blicke wechselten.
Am schnellsten hatte sich wieder der Älteste gefaßt, und wieder war es etwas eigentümlich, daß er gleich mit ausgestreckter Hand auf den Fremden zuging. Doch das mochte ja bei diesem Mönchsorden üblich sein, jeden Menschen, dem sie begegneten, mit einem Handschlag zu begrüßen, nur durften sie dann in keine Stadt kommen.
»Friede sei mit dir, mein Bruder,« erklang es auf spanisch.
»Und mit euch allen,« entgegnete Nobody, die dargebotene, arbeitsharte Hand ergreifend.
Seit Nobody von dem sich in Todesqualen windenden Weibe in die geheimen Erkennungszeichen der ›Udlindschis‹ eingeweiht worden war, hatte er sich angewöhnt, an jeder Hand, die er in die seine bekam, den Versuch zu machen.
So legte er auch jetzt seinen Mittelfinger auf den Puls des anderen Handgelenks und drückte etwas, ganz gewohnheitsmäßig. Ebenso aber beobachtete er auch ganz gewohnheitsmäßig aufs schärfste die Züge des fremden Mannes, der ihm zum ersten Male begegnete.
Da – was war das? Weshalb zuckte der Mönch so zusammen? Warum nahmen seine Züge solch einen Ausdruck ungeheurer Spannung an? Und da kroch auch sein Finger an Nobodys Handgelenk herauf und drückte den Puls!
Nobody beherrschte jeden aufsteigenden Jubelgedanken, sein Entschluß war kurz gefaßt. Nicht umsonst hafteten jetzt die Augen so forschend und ängstlich auf ihm.
Er krümmte den Mittelfinger und schob ihn unter des anderen Handfläche – und da zog der Mönch schnell seine Hand zurück, aber nur, um die Arme über der Brust zu kreuzen und eine tiefe Verbeugung zu machen.
»Herr, du Abgesandter unseres Meisters, welcher der Herr der Erde ist – deine Diener sind hier, um deine Befehle bedingungslos auszuführen.«
So erklang es aufs ehrerbietigste, und auch die anderen drei verneigten sich mit sklavischer Unterwürfigkeit in derselben Weise.
Also Anhänger jener Sekte – Udlindschis, wie wir sie vorläufig mit dem abessinischen Ausdruck noch immer nennen wollen! Und Nobody war durch sein geheimes Erkennungszeichen in ihren Augen der Abgesandte ihres ›Meisters‹ geworden, den sie als ihren Gott anbeteten!
Wie aber sollte sich Nobody diesen ›Udlindschis‹ gegenüber nun verhalten, wobei es das allerwenigste war, daß er noch nicht einmal den Namen der gesamten Sekte kannte?
Wir wollen ein Beispiel heranziehen, um zu zeigen, in welcher Lage sich Nobody befand, wie er sich nämlich sofort zu helfen wußte.
Gesetzt den Fall, ein deutscher Offizier, etwa ein Marineoffizier, der zum ersten Male nach Afrika kommt, wird bei einem Jagdausfluge von seinen Begleitern abgeschnitten, er verirrt sich, gelangt zu einer Abteilung der Schutztruppe, die sich in einem Lager gegen Feinde verschanzt hat. Sie wurde von einem, von mehreren Offizieren geführt, diese sind sämtlich weggeschossen worden, jetzt hat ein Sergeant das Kommando.
Sobald der Marineoffizier dorthinkommt, wird und muß er das Kommando ergreifen. Zwar kennt er gar nichts von den afrikanischen Verhältnissen, kann sich nicht mit dem Feinde, nicht einmal mit seinen eigenen eingeborenen Soldaten verständigen, alles und jedes ist ihm fremd – aber immerhin, es ist ganz undenkbar, daß sich der Offizier etwa unter das Kommando des Sergeanten stellt. Wenn er diesem auch alles überläßt, der Unteroffizier ist und bleibt sein Untergebener. Und dürfte solch ein Sergeant seinen kenntnislosen Vorgesetzten etwa fragen: ›Na, hören Sie, wissen Sie denn das nicht, daß Sie egal so dumm fragen?‹
Nein, so etwas gibt es nicht, und Nobody war sich bewußt, sich hier in einer ebensolchen Lage zu befinden, nämlich in einer für ihn ganz ungefährlichen, er konnte sich überhaupt gar nicht verraten, und hier herrschte noch viel mehr als nur militärische Disziplin, der ›Herr der Erde‹ hatte sich seine Sklaven noch ganz anders dressiert!
Wolle sich der geneigte Leser, wenn Nobody auffallende Fragen stellt und immer willige Antworten ohne jedes Mißtrauen erhält, nur an jenes Beispiel mit dem in einen ihm fremden Weltteil versprengten Offizier erinnern, und er wird alles begreiflich finden.
»Wie heißt du?«
»Genannt werde ich Pater Hilarion, doch mein eigentlicher Name ist Christian Swalund.«
»Was für ein Landsmann bist du?«
»Ein geborener Däne, Herr.«
»Und die anderen?«
»Das sind die Brüder Joseph, Anselmus und Tobias.«
»Ist das dort nicht ein Indier?«
»Jawohl, Herr, Bruder Tobias ist ein Indier, der Meister hat ihn bekehrt und mir untergeordnet.«
Daß jener Mephistopheles auch ›bekehrt‹ hatte, war für Nobody wiederum etwas ganz Neues. Freilich fragte es sich, zu welchem Glauben bekehrt.
»Seit wie lange stehst du in den Diensten des Meisters?«
»Seit vierzehn Jahren.«
»Du bist der Vorsteher eines Klosters?«
»Nur der Pater einer Ansiedlung von Eremiten.«
»Wo ist diese Ansiedlung?«
»Am Saltillo.«
»Was ist das?«
»Ein kleiner Salzsee.«
»Wie weit von hier?«
»Wir haben nur eine Stunde bis hierher gebraucht.«
»So hörtet ihr bis dorthin das Pfeifen?«
Diese Frage war gar nicht allzusehr gewagt, und Nobody hatte denn auch das Richtige getroffen.
»Gewiß, Herr, wir hörten es, und ich eilte mit den anwesenden Eremiten sofort herbei. Nur Bruder Laurentius blieb zurück.«
Jetzt mußte Nobody erst als der neue Offizier auftreten, welcher seine Leute prüft, ob sie ihre Instruktionen auch ordentlich kennen.
»Was solltet ihr tun, wenn ihr das heulende Pfeifen hörtet?«
»Sofort hierhereilen.«
»Zu welchem Zweck?«
»Das wissen wir nicht, Herr.«
Auch mit dieser Antwort mußte sich der Instrukteur als mit einer richtigen begnügen. Aber er konnte die Fragen auch noch anders stellen.
»Wohin solltet ihr sofort eilen?«
»Hierher nach den Ruinen von Tenochtitlatan, bis an den Fuß der Terrassenpyramide.«
»Solltet ihr hier jemanden erwarten?«
»Nicht erwarten, sondern wir sollten hier schon einen Mann vorfinden.«
»Wen?«
»Einen Peroxin.«
Ja, wenn Nobody nur erst die Geheimsprache dieser Sekte gelernt hätte! Doch er konnte als gewissenhafter Instrukteur ja immer fragen, ob seine Leute ihre Lektionen auch richtig gelernt hatten.
»Was ist das, ein Peroxin?«
Nicht das geringste Mißtrauen ob solcher Fragen!
»Ein bevollmächtigter Abgesandter des Meisters.«
»Richtig, und das bin ich!« sagte Nobody mit aller Seelenruhe.
»Wißt ihr,« fuhr er dann im Examen fort, »woher das Pfeifen stammt?«
»Nein.«
»Du hast gar keine Vermutung?«
»Nein, gar keine.«
Das war sehr wichtig für Nobody.
»Bist du schon ins Innere der Pyramide gekommen?«
»Noch nie, Herr. Es ist uns direkt verboten worden, die Grenzen dieses Tales zu überschreiten.«
»Wer hat das verboten?«
»Ein Talaxin.«
»Was ist das?«
»Ebenfalls ein Abgesandter des Meisters.«
»Noch über dem Peroxin stehend?«
Der Pater machte wohl ein etwas überraschtes Gesicht, aber durchaus kein mißtrauisches.
»Antworte!« sagte da Nobody auch noch scharf. »Wie verhält sich ein Talaxin zu einem Peroxin?«
»Nun, ein Talaxin hat als Abgesandter doch nur eine ganz beschränkte Macht, während der Peroxin der direkte Abgesandte des Meisters ist, er vertritt den Meister in eigener Person.«
»Richtig,« bestätigte der Examinierende gnädig. »Und wodurch legitimiert sich ein Peroxin als solcher?«
»Durch den Ring des Meisters.«
Aha! Jetzt kam etwas ganz Neues! Bisher hatte der Pater nur auf guten Glauben hin, weil er den geheimen Händedruck erhalten hatte und weil er eben erwartete, hier einen ›Peroxin‹ zu finden, den Trapper auch für einen solchen gehalten – der Sergeant hatte von dem fremden Offizier weiter keine Legitimationspapiere gefordert, der Händedruck war gewissermaßen eine Uniform.
»Wie sieht dieser Ring aus?«
»Er ist ganz aus einem roten Rubin geschnitten und trägt den Stein der Erde.«
Nobody hatte bereits die Hand in der Tasche gehabt, zog sie hervor, und kaum blitzte von dem blutigen Streifen, der sich um seinen Finger schlang, das wundersame Farbenspiel, hier in der Sonne jeder Beschreibung spottend, als sich alle vier Mönche auf die Knie warfen und mit der Stirn den Boden berührten.
»Steht auf!« befahl Nobody ebenso herrisch wie hastig; denn solch eine Anbeterei war ihm ein Greuel, niemals hätte er die Rolle eines Gottes spielen können.
Die Mönche erhoben sich wieder. Was für eine kolossale Wirkung der Anblick des Ringes auf sie erzeugt hatte, war noch in ihren Gesichtern zu lesen.
»Seit wann haust du am Saltillo?«
»Seit zwei Jahren.«
»Und diese anderen?«
»Ebenso lange.«
»Wo bist du früher gewesen?«
»Ich war auf Island stationiert.«
Aha, wiederum Island! Nobody hatte also nicht umsonst Isländisch studiert.
»Auf wessen Befehl bist du hierhergegangen?«
»Jener Talaxin selbst hat mich herbegleitet.«
»Wie hieß dieser Talaxin?«
»Er hat die Nummer sechzehn.«
Daß in dieser Sekte die Mitglieder alle Nummern besaßen, hatte Nobody schon früher bemerkt. Namen führten sie nur außerhalb ihrer Sekte, der Welt gegenüber, und den eigentlichen Namen jenes Mannes zu erfahren, das hatte gar keinen Zweck, das war doch nur ein angenommener.
»Und wann sind die anderen Mönche hier angekommen?«
»Fast gleichzeitig mit mir, sie wurden von einem anderen Talaxin begleitet.«
»Und was solltet ihr dort tun?«
»Unsere Hauptaufgabe war, darauf zu warten, bis wir ein heulendes Pfeifen vernehmen würden.«
»Und in diesem Falle?«
»Sollten wir sofort hierhereilen, nach dieser Pyramide, die uns zuvor gezeigt worden war.«
»Habt ihr dieses Pfeifen schon einmal vernommen?«
»Zwei Jahre haben wir gewartet, heute erklang es das erstemal, und wir brachen augenblicklich auf.«
»Und was dann, wenn ihr hier eintraft?«
»Wir würden hier einen Mann finden, der sich uns als Peroxin zu erkennen gibt, dem sollen wir uns zur weiteren Verfügung stellen, seine Befehle befolgen.«
»Was für Befehle wird er euch geben?«
»Das wissen wir nicht, Herr. Wir haben dir nur zu gehorchen,« war die demütige Antwort.
Nobody hatte den Kreis der Fragen geschlossen, war auf demselben Punkte wieder angelangt. Mehr wußte der Mann einfach nicht anzugeben.
Nobodys Entschluß war gefaßt.
»Wartet hier auf mich. Ich will erst meine Begleiter holen, wir kommen mit nach eurer Einsiedelei.«
Er begab sich hinauf zu seinen Gefährten. Seinem Onkel brauchte er nur einige Worte zu sagen, so zog sich dieser zurück, und Nobody konnte dem jungen Kanadier in Kürze Mitteilung von allem machen. Vater Rübezahl hätte ja doch von alledem gar nichts verstanden, so brauchte er auch nicht erst etwas zu erfahren.
»Was aber hatte der sogenannte Meister denn hier vor?« fragte Scott.
»Das weiß ich vorläufig noch nicht, und ich bezweifle auch, daß ich es zu wissen bekomme. Vielleicht ist die Sache einfacher, als wir denken. Vielleicht hat Monsieur Sinclaire die Pyramide bei Gelegenheit ausräumen wollen, um die Mumien seiner Galerie von Leichnamen einzuverleiben, die Männer sollten ihn dabei als Handlanger dienen, nur wußte er den Zeitpunkt noch nicht, und um die Arbeiter immer bei der Hand zu haben, hat er sie einstweilen hier als Einsiedler etabliert.«
»Weshalb aber ist die eine Mumie mit der Knotenschrift, die hierauf Bezug hat, in dem See des Koloradotales versenkt worden, weshalb suchten sich Mitglieder der Sekte erst in den Besitz dieses Sees zu bringen?« fragte Scott, der während der Durchforschung der Katakomben von Nobody näher eingeweiht worden war.
Nobody gab gar keine Antwort, er zuckte nur die Achseln und wandte sich an seinen Onkel mit der Frage, ob auch er ihn nach der Ansiedlung der Mönche begleiten wolle, wozu der Alte sofort bereit war, der sich doch überhaupt nicht so schnell abermals von seinen wiedergefundenen Neffen trennen wollte.
Die wartenden Mönche zeigten nicht die geringste Verwunderung, daß der ›Peroxin‹ auch Begleiter bei sich hatte. Natürlich waren es Mitglieder der Sekte, sie wurden ebenso ehrerbietig begrüßt, nur nicht mehr mit einem klösterlichen »Friede sei mit euch«, wie diese Leute überhaupt nur die Kleidung von Mönchen trugen, sonst nichts weiter mit solchen gemein hatten, sich jedenfalls keinen Bet- und Bußübungen hingaben, wohl aber, wenn es sein mußte, sich für fromme Einsiedler ausgaben. Das alles mußte Nobody erst nach und nach herausbringen.
Nur eine Viertelstunde, dann hatten sie die Ruinen hinter sich, das Gebirge stieg wieder jäh empor, zeigte aber gerade an dieser Stelle einen tiefeingeschnittenen Paß.
Da sah Nobody seitlich am Wege, den schon die alten Mexikaner benutzt hatten, zwei umfangreiche Körbe liegen.
»Herr, seht Euch vor,« sagte in diesem Augenblick Pater Hilarion, »wir haben vorhin erst eine Menge Schlangen ausgesetzt!«
Da schwirrte auch schon des Indianers Pfeil vom Bogen in ein Gebüsch hinein, aus diesem kam zur Hälfte der Leib einer Schlange zum Vorschein, die sich in Todeskämpfen wälzte oder doch angenagelt worden war.
Diesmal machten die Mönche doch sehr betroffene Gesichter.
»Warum tötet dein Begleiter die Schlange, die wir erst fangen und hierherbringen müssen?«
Der Fehler war nicht mehr gutzumachen, Nobody mußte weiter den fremden Offizier spielen, der erst in alles eingeweiht sein wollte.
Er erfuhr etwas ganz Neues: jenseits des schmalen Gebirgszuges begannen die Llanos, die Steppen, in der es ebenfalls genug Schlangen gab, und die ›Mönche‹ waren hier eigentlich nur dazu angestellt, um das Land in meilenweitem Umkreise von Schlangen zu säubern.
Das ist an sich ja eine sehr lobenswerte Beschäftigung, nur schade, daß das giftige Gewürm nicht getötet wurde, sondern die Mönche brachten die Schlangen ihrer Instruktion gemäß in dieses Ruinental und setzten sie hier aus.
Was für einen Zweck hatte das? Nun, einfach den, um eben andere Menschen wie Forschungsreisende und dergleichen Neugierige abzuhalten, die Ruinen zu besuchen, und das Tal war seit einigen Jahren ja auch schon genügend in Verruf gekommen, von Giftschlangen verseucht zu sein.
Daher auch die gabelförmigen Stöcke, mit denen die Schlangen gefangen wurden. Der Lehrmeister darin war Bruder Tobias, ein Indier, der alle Kniffe und Griffe in seiner Heimat gelernt hatte. Ja, sogar eine künstliche Schlangenzucht wurde unterhalten!
Nach einer Schätzung des Paters hatten die frommen Mönche in den zwei Jahren mindestens tausend Giftschlangen in das Tal importiert, die zwischen den Ruinen ganz vorzüglich gediehen.
Nobody konnte ob solch einer Raffiniertheit, um von einer Gegend, über die man sonst nicht gebietet, andere Menschen fernzuhalten, bei denen kein künstlicher Geisterspuk anschlagen will, nur staunen.
Der Indier besaß auch ein Mittel gegen den Biß giftiger Schlangen, kleine, flache, blutrote Steinchen, die man an die gebissene Stelle legt, wo sie sich augenblicklich festsaugen – ein Geheimmittel der indischen Priester. Nobody bekam auch einige in die Hand, doch es war für ihn nichts Neues mehr, er selbst hatte immer einige bei sich. Er konnte solche sogar selbst herstellen. Übrigens erreicht man dasselbe, wenn man die Wunde erst tüchtig aussaugt und dann doppeltchlorsaures Kali hineinreibt. Doppeltchlorsaures Kali ist das wirksamste Neutralisationsmittel des Schlangengiftes – auch wieder so etwas, was unsere Gelehrten erst in neuester Zeit entdeckt haben, und die Indier haben es schon seit Jahrtausenden gewußt. Der Stein selbst, den sie mit doppeltchlorsaurem Kali tränken, das sie ebenfalls schon seit Ur-Alterszeiten her auf die primitivste Weise herzustellen wissen, ist eine Art von Meerschaum. Roher Meerschaum saugt nun allerdings sowieso unter lebhaftem Zischen begierig Wasser ein, unbekannt ist nur noch, wie die Brahmanen ihn so außerordentlich porös zu machen wissen, daß er sich gleich an der Wunde festsaugt – oder es ist eben eine besondere Art von Meerschaum, der vielleicht nur in Indien vorkommt, sein Gewinnungsort wird geheimgehalten.
»Aber merkwürdig ist es,« setzte der Pater seiner Erklärung hinzu, »daß in den zwei Jahren noch kein einziger von uns sechs von einer Giftschlange gebissen worden ist.«
»Sechs seid ihr? Du sprachst vorhin doch nur von fünf.«
»Ja, der kleine Wolf gehört noch zu uns.«
»Wer ist das, der kleine Wolf?«
Nobody erfuhr es. Die fünf ›Mönche‹ waren noch nicht lange hier angesiedelt worden, als ein Mann, ein Mexikaner, zu ihnen gekommen war, der sich als höhergestelltes Mitglied der Sekte zu erkennen gegeben hatte. Vor sich im Sattel, mehr auf dem Arme, hatte er ein etwa zweijähriges Kind gehabt, einen Jungen. Der Mann wollte ihn gefunden haben. Mitnehmen könne er ihn jetzt nicht, die Schlangenfänger sollten sich des Kindes annehmen, bis es wieder abgeholt würde. Das war aber bis heute noch nicht geschehen.
Das war ja wieder eine ganz seltsame Geschichte, die Nobody da zu hören bekam!
»Gefunden hatte er ihn?«
»Er hat ihn einem Wolfe abgejagt, der den Knaben schon im Rachen hatte, und deshalb nannten wir ihn Wolf. Ein wunderhübscher Junge!«
»Wann war das?«
»Am Tage zuvor war es gewesen, mehr sagte der Talaxin nicht, und fragen dürfen wir doch nicht. Er hatte es auch sehr eilig, ritt gleich wieder fort.«
»Und hat sich unterdessen niemand wieder wegen des Knaben erkundigt?«
»Nein. In diesen zwei Jahren hat sich überhaupt noch niemand wieder um uns gekümmert, kein Talaxin hat uns wieder ausgesucht.«
Hierfür wußte Nobody eine Erklärung, die er natürlich für sich behielt. Die Leitung des Meisters fehlte! Um so bewundernswerter war es, daß die Schlangenfänger die ganzen zwei Jahre hier geduldig ausgeharrt hatten, immer nur auf das heulende Pfeifen wartend. Doch das waren ja gar keine Menschen mehr, das waren ja nur noch willenlose Maschinen, in der Hand ihres Hypnotiseurs.
»Er ist unser Liebling, der kleine Wolf,« fuhr der Pater fort, mit einer Rührung in der Stimme, welche zeigte, daß sein Herz doch noch einer selbstverständlichen Regung fähig war, »es würde mir schwerfallen, mich wieder von ihm zu trennen. Es wäre auch gar nicht nötig, er verwildert nicht etwa bei uns. Ich kann ihn, wenn er so weit ist, Lesen und Schreiben lehren und noch manches andere, ich mache ihm auch seine Kleidchen und Stieselchen ... doch wir sind am Ziele.«
Der Engpaß mündete aus den zurücktretenden Bergen, Nobody sah den Spiegel eines langgestreckten Sees vor sich schimmern, und die Frage, woher die Einsiedler denn das Zeug zu den Kleidern nahmen, konnte Nobody vorläufig unterdrücken.
So ganz einsam schien diese Gegend gar nicht zu sein. Zunächst erblickte er auf dem See zwei Segel, und auf dem anderen Ufer erkannte sein scharfes Auge die weißen Häuser und Wirtschaftsgebäude einer umfangreichen Plantage, auf der Prärie weideten große Rinderherden.
Außerdem wurde seine Aufmerksamkeit durch etwas anderes gefesselt.
Die Bergwände senkten sich jäh nach dem See hinab, die Wanderer schritten auf einem schmalen Grat an dem Abhang entlang; ein Plateau zeigte durch sein Aussehen, daß sich hier Menschen aufhielten und häusliche Arbeiten verrichteten, und da tauchte auch schon, jedenfalls aus einer Höhle kommend, ein kleiner Knabe auf.
Er hatte die Schritte vernommen, wollte den Heimkehrenden entgegeneilen, beim Anblick der Fremden stutzte er, fürchtete sich etwas, beherrschte sich trotzig, setzte seinen Weg fort, umschlang jubelnd des Paters Knie und blickte von diesem Schutze aus nun neugierig auf die fremden Männer.
Es war ein bildhübscher Knabe, auffallend war das fast blütenweiße Gesicht, dem keine Sonne etwas anhaben zu können schien, geschmückt mit den Rosen der Gesundheit – eben ein Gesicht wie Milch und Blut, umrahmt von lockigem, sehr hellblondem Haar, und im Gegensatz zu diesem hellen Haar wiederum waren die großen schwarzen Augen.
Und Nobody stand wie vom Donner gerührt da!
– – – – – –
Hiermit wollen wir das Kapitel schließen. Wir können auch nicht schildern, was für Anstrengungen, was für Reisen Nobody dieses Kindes wegen getan hat. Das Resultat und die Erklärung werden in einem anderen Kapitel gegeben werden. Vorläufig nämlich wäre es dem Leser noch ganz unverständlich.
In diesem Moment aber, da Nobody den blondlockigen Knaben erblickte, erkannte er einmal voll und ganz das Walten des unbegreiflichen Schicksals, welches gewollt hatte, daß er in jenem See des Koloradotales die eiserne Kiste mit der Mumie und der Knotenschrift fand, da erkannte er, weswegen er hier seinem Onkel und dem aus seinem Stamme gestoßenen Schwarzfuß-Indianer begegnen mußte, weshalb das heulende Pfeifen die vier Einsiedler herbeirief. Da erkannte er, daß in der endlosen Kette des Schicksals kein einziges Glied fehlen darf!
Und kein anderer als Nobody hätte hierher kommen dürfen, denn kein anderer als dieser Detektiv wäre fähig gewesen, das hier vorliegende Rätsel überhaupt zu erkennen, und deshalb eben hatte ihn das Schicksal hierhergeführt!