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Wir wollen in der Erzählung der neuen Abenteuer Nobodys dem Berichte eines uns bisher noch nicht bekannten Mannes folgen, müssen aber, ehe wir ihn selbst in seiner schlichten Weise erzählen lassen, einen schnellen Blick auf seine Jugendjahre werfen, denn dieser Werdegang eines Menschen dürfte nicht nur ganz besonders für Eltern, sondern auch von allgemeinem Interesse sein.
In Papenburg, der kleinen, aber alten und soliden Hafenstadt, die unserm Vaterlande schon manchen tüchtigen Seemann, unsrer Kriegsmarine schon manchen hervorragenden Offizier geschenkt hat, lebte ein vermögender Schiffsmakler namens Max Hammer. Er war für dieses Geschäft, welches eine bedeutende Erfahrung verlangt, noch ziemlich jung, dafür aber in der Praxis seines Vaters aufgewachsen und hatte treue Berater zur Seite.
Einmal ließ er sich von dem alten Grohmann, Kapitän und Eigentümer der ›Katharine‹, zu einer gewagten Spekulation überreden. Es wurde gemacht. Peter Grohmann war doch schon Freund und Berater von Hammers Vater gewesen – und als das Geschäft mißglückte, war der Schiffsmakler ruiniert, total bankrott. Aber ein Bettler wollte und konnte der ehemals begüterte Mann nicht werden. Er ertrug den Schlag nicht, legte sich hin, und einige Tage später war er tot.
Der alte Kapitän der ›Katharine‹ wurde von seinem eignen Gewissen freigesprochen. Der Mißerfolg war nicht vorauszusehen gewesen, und für solch ein Unglück kann niemand etwas. Er selbst war an dem Geschäft beteiligt gewesen und hatte schwere Verluste gehabt, nur daß er dadurch nicht gänzlich ruiniert wurde.
Er war ein Ehrenmann. Dem Toten war nicht mehr zu helfen. Aber er hatte eine Frau und unmündige Kinder hinterlassen, und dieser nahm sich der alte Kapitän jetzt und fernerhin an, als wenn es seine eignen wären.
Für uns nun kommt ein Knabe in Betracht, August Hammer.
August hatte damals gerade sein zehntes Jahr vollendet. Es war Ostern, er sollte die Bürgerschule verlassen und das Gymnasium besuchen. So war es die Absicht der Eltern gewesen.
Wäre es allein nach der ehrlichen Überzeugung des Kapitäns gegangen, so wäre hieraus nichts geworden. Der kleine, dicke Stöpsel war ein seelensguter Junge und das Muster eines wohlerzogenen Sohnes, hatte auf jeder Zensur auch regelmäßig fünf Einsen, nämlich in der Ordnungsliebe, in Fleiß und sittlichem Betragen, ferner im Turnen und Singen – aber in allen andern Fächern kam er niemals über die Drei bis Vier hinaus; zu Ostern wurde er jedesmal nur so mit Ach und Krach versetzt.
Wir wollen nicht sagen, daß August direkt schwachsinnig war. Durchaus nicht! Aber beschränkt war er. Wie soll denn auch so ein dicker Stöpsel mit solchem Vollmondgesicht, mit solchen semmelblonden Haaren und mit solchen wasserblauen Augen ein Genie sein! Und selig sind die Beschränkten, denn ihrer ist das Himmelreich. Und das sah man ›Augusten‹ gleichfalls an.
August ist eigentlich ein schöner Name; so haben gar große und berühmte Männer geheißen. Aber es gibt auch noch einen andern August, und unsrer hier wurde es; an seinen Namen heftete sich der Fluch der Lächerlichkeit: er war und blieb unter seinen Schul- und Spielkameraden der dumme August.
Nun hatten die Eltern durchaus gewollt, daß ihr Goldjunge das Gymnasium und später die Universität besuchen, ein ›Gelehrter‹ werden sollte, vielleicht gar Professor! Kann man solch eine Kurzsichtigkeit begreifen?
Du lieber Gott! Es mag wohl noch einige andre zehntausend Eltern geben, die an demselben Fehler leiden.
Der alte Kapitän Grohmann als Vormund litt nicht daran. Aber der noch lebenden Mutter Wunsch war es immer, ihren August dereinst als Professor zu sehen, war er doch so überaus fleißig, und der Kapitän setzte diesem Wunsche alle eignen Bedenken hintan.
Auf dem Gymnasium war es ganz genau dasselbe. In Ordnungsliebe, Fleiß, sittlichem Betragen, Turnen und Singen immer die Eins, sonst auf der Zensur überall ein ›kaum genügend‹. Er war der dumme August.
So würgte er sich mühsam bis zur Quarta durch. Hier blieb er sitzen, und von jetzt an schien er ganz und gar von Gott verlassen zu sein. Als Kapitän Grohmann einmal zu Ostern nach Hause kam, erfuhr er, daß August in der Quarta zum zweiten Male sitzen geblieben sei, trotzdem er wie ein Ochse gebüffelt hatte.
Wer zweimal in einer Klasse sitzen bleibt, muß die betreffende Schule verlassen.
Die Mutter war unterdessen gestorben; der Kapitän sprach mit dem Gymnasialoberlehrer, und es war so merkwürdig, wie dieser dem Knaben das brillanteste Zeugnis ausstellte und dem Vormund dennoch riet, ihn nicht erst wieder auf eine Schule zu bringen, wo er das Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis noch erlangen könnte.
»Der bekommt es doch nie. Lassen Sie den Jungen Handwerker werden oder Beamter oder Kaufmann. Der kann ergreifen, was er will, er wird es stets weit im Leben bringen, wenn er sich auch nie vor andern auszeichnen wird. Solch ein Fleiß und solch eine Ordnungsliebe und Pflichttreue stehen einzig da. Lassen Sie ihn in einem großen, soliden Geschäftshause als Lehrling beginnen, er wird sich emporarbeiten bis zum ersten Kassierer. Nur zum Disponenten eignet er sich nicht.«
Kapitän Grohmann nahm den vierzehnjährigen Knaben vor.
»Was willst du werden, August?«
August schaute den Frager mit treuherzigen Augen an und antwortete gehorsam: »Was du willst, Onkel!«
»Willst du Kaufmann werden?«
Im Augenblick sah August vor sich Fässer mit Mandeln und Rosinen.
»Ei ja, Onkel!« sagte er freudig.
»Oder willst du Handwerker werden? Handwerk hat goldnen Boden.«
Von einem goldnen Boden sah August nichts, wohl aber sich selbst schon als muntern Handwerksburschen auf der Walze, in der Nacht bei Mutter Grün kampierend und am Tage die Haustüren abfechtend, und solch ein Leben fand er nicht übel.
»Ei ja, Onkel!« erklang es also abermals.
»Was für ein Handwerk willst du da ergreifen?«
»Was du willst, Onkel,« lautete abermals die Antwort des Musterknaben.
»Vielleicht Fleischer?«
Jetzt wurde Augusts Geist von Leber- und andern Würsten umgaukelt.
»Ei ja, Onkel!«
Der alte Seemann dachte daran, was ihm Augusts Oberlehrer gesagt hatte, und etwas andres fiel ihm ein, etwas eigentlich sehr Naheliegendes.
Welche Nation liefert die besten Matrosen? Der Engländer ist ein ausgezeichneter Matrose, noch besser ist der Skandinavier, besonders der Norweger; aber der gesuchteste Matrose ist der Deutsche.
Wenn irgendwo in der Welt ein englischer Kapitän einen Matrosen braucht, und es melden sich Dutzende, lauter Engländer und Norweger, nur ein einziger Deutscher ist darunter, und dieser hat nur einigermaßen gute Papiere, so nimmt der englische Kapitän ganz sicher diesen Deutschen an Bord seines Schiffes.
Weswegen? Mut und Kraft wird als ganz selbstverständlich von jedem Matrosen verlangt. Die Pflichttreue ist es, die freiwillige Disziplin, die Verläßlichkeit, worin der deutsche Matrose unerreichbar ist, und das macht ihn am wertvollsten.
Dasselbe gilt natürlich von allen Gliedern der Besatzung bis hinauf zum Kapitän, und wenn es so ist, dann war unser August, der auch noch ein gar gewandter Turner war, zum Seemann wie geschaffen. Um aber das Kapitänsexamen bestehen zu können, dazu braucht man kein mathematisches Genie zu sein.
Jetzt sah der gefragte Junge vor seinen geistigen Augen bunte Papageien sich auf Palmen schaukeln und possierliche Affen und schwarze Männer mit Goldringen in der Nase, und seine stereotype Antwort lautete: »Ei ja, Onkel!«
Gut! August kam also als Schiffsjunge auf die ›Katharine‹, aber von jetzt an war sein Vormund nicht mehr der ›Onkel‹, sondern eben sein unnahbarer Kapitän, der den Knaben tüchtig unter die Fuchtel nahm.
Die ›Katharine‹, ein stattliches Vollschiff mit neunzehn Mann Besatzung, trat eine sogenannte wilde Reise an. Darunter versteht der Seemann eine Reise, bei welcher er nicht zugleich für die Rückfahrt nach dem Heimatshafen angemustert wird, weil das Schiff Ladung einnimmt, wo es eine solche bekommt.
Hierbei ist nämlich ein großer Unterschied. Der Matrose, welcher an Bord eines Schiffes mustert, geht laut der internationalen Seegesetze stillschweigend einen Kontrakt ein, auch wieder die Rückreise nach dem Heimatshafen als Matrose mitzumachen, er darf also das Schiff in keinem andern Hafen verlassen. Andrerseits ist die Reederei verpflichtet, falls die Reise aus irgend einem Grunde unterbrochen werden muß, den Matrosen wieder nach dem Hafen, in welchem er gemustert hat, frei zurückzubeordern.
Bei einer wilden Reise schreiben die Seegesetze andre Bedingungen vor. Hier wird ein Kontrakt auf Zeit gemacht. Der Matrose muß für eine gewisse Frist an Bord des Schiffes aushalten und wird nach Ablauf derselben im nächsten Hafen abgemustert, welchen dann das Schiff anläuft.
Die ›Katharine‹ musterte die Mannschaft auf vier Jahre an. Erst segelte sie mit Stückgut nach Baltimore, von hier ging es mit Weizen nach Valparaiso, in Iquique wurde Salpeter nach London mitgenommen, von London ging es mit Geweben um die Südspitze von Afrika nach Hongkong, und als die ›Katharine‹ hier eintraf, waren von dem Kontrakt erst drei Jahre vergangen.
Von unserm August ist während dieser ganzen Fahrt, bei welcher er viermal die Linie passierte, gar nichts weiter zu erwähnen, als daß er nach Beendigung des zweiten Jahres zum Leichtmatrosen befördert wurde. Das war nur recht und billig gewesen. Er tat gewissenhaft seine Pflicht, war auch ein ganz fixer Junge, zeichnete sich aber in keiner Weise aus. Daß er in dieser Zeit Englisch lernte, kam einfach daher, daß an Bord einige englische Matrosen waren, und deshalb im Mannschaftslogis viel Englisch gesprochen wurde.
Einmal, als sein Kapitän an Land einen alten Freund getroffen hatte, der auch den Vater Augusts gekannt, mußte dieser zufällig über sich ein Urteil hören, das für ihn zwar sehr ehrend war, aber doch einen recht bittern Beigeschmack hatte.
»Das wird einmal ein tüchtiger Kapitän, aber auch kein andrer, als wie es bereits Tausende gibt. Der muß bei einer Reederei immer ein und dieselbe Linie fahren. Selbständig darf er nie werden. Vor allen Dingen fehlt ihm jeder Unternehmungsgeist.«
Ja, so sah er auch aus. Noch immer war August ein kleiner, dicker Stöpsel, brennende Sonnenglut und eisiger Schneesturm hatten ihm nichts von seiner semmelblonden Bescheidenheit nehmen können, ein stiller, nüchterner Jüngling, mit dem man gar nicht in Streit kommen konnte, weil er niemandem widersprach – ein Mensch, der zum Gehorchen geboren war.
Lassen wir ihn nun selbst erzählen. Bemerkt aber sei zuvor, daß er das Nachfolgende zwanzig Jahre später niederschrieb, als er es erlebte, und zwar nur zu dem Zwecke, um zu schildern, auf welch seltsame Weise er die Bekanntschaft jenes Mannes, unseres Nobody, machte, der dann so mächtig in sein Leben eingreifen sollte.
Seit zwei Tagen lagen wir in Hongkong und luden mit Hilfe von Kulis die Ballen aus. Am Abend dieses zweiten Tages war ich von der Freiwache und ging mit einigen Kameraden, nachdem wir uns vom Kapitän etwas Vorschuß hatten geben lassen, an Land.
Wir bummelten durch die Chinesenstadt, besuchten ein paar Wirtschaften und Kaffeehäuser, ohne des Guten zu viel zu tun. Um zehn mußten wir an Bord zurück sein, und Kapitän Grohmann konnte manchmal sehr streng werden. Mit dem Vorschuß war er auch niemals freigebig. Zeitig traten wir den Rückweg an, der uns erst durch eine kleine, schmutzige Vorstadt führte.
»Das ist eine chinesische Spielhölle, da müssen wir erst noch einmal hinein,« sagte ein Matrose, der schon einigemal in chinesischen Häfen und auch in Hongkong gewesen war.
Es war eine Holzhütte, von den andern nur dadurch unterschieden, daß die scheibenlosen Fenster mit blauen Gardinen verhangen und erleuchtet waren.
Man hörte drin ein Summen von Stimmen, aber keinen Lärm. Eben gingen zwei englische Matrosen hinein; ein paar Chinesen kamen ganz ruhig heraus – warum sollten wir da nicht auch einmal eintreten? Zu verlieren hatten wir ja nicht viel, und so etwas muß man doch auch einmal kennen lernen.
Wir gingen also hinein. Um einen großen Tisch, der fast den ganzen Raum einnahm, standen die Spieler, meist bezopfte Chinesen. Es ging höchst ruhig und anständig zu, und daß ab und zu ein Spieler ein winziges Täßchen heißen Arrak trank, welches ihm eine dicke, wackelnde Chinesin brachte, änderte hieran auch nichts.
Später wird das gewöhnlich anders. Der Chinese ist ein wahnsinnig leidenschaftlicher Spieler; aber vorläufig war davon noch nichts zu bemerken, denn das Spiel hatte eben erst begonnen.
Ueber dieses selbst will ich nur das eine sagen: In der Mitte des Tisches steht ein Topf, der eine Menge Blechmarken enthält, die mit verschiedenen Figuren bemalt sind. Vor dem Bankhalter liegt ein Bogen Papier, auf das in verschiedener Unordnung dieselben Figuren gemalt sind, meist Tierbilder. Ueber den Topf wird ein großer Hut gedeckt – die Spieler losen unter sich, wer daruntergreifen soll; er zieht eine Marke, und nach dem betreffenden Bilde werden die Einsätze, welche auf den einzelnen Figuren stehen, ausgezahlt. Die Berechnung dieser Auszahlung ist jedoch sehr schwierig.
Ich setzte nur ein einziges Mal einen Penny und erhielt dafür vom Bankhalter einen Schilling, also das Zwölffache, während meine Freunde immer nur das Doppelte gewannen – und verloren, bis sie nichts mehr zu verlieren hatten. Viel war es freilich nicht gewesen. Ich aber hatte sofort zu spielen aufgehört und hatte meinen Schilling fest in der Tasche.
Doch das nur nebenbei! Meine Aufmerksamkeit wurde bald durch etwas andres gefesselt, oder vielmehr ich selbst fesselte die Aufmerksamkeit eines andern, was mich sehr unangenehm berührte.
Mir gegenüber am Tisch stand ein alter Chinese mit runzligem Gesicht und lang herabhängendem Schnurrbart. Gleich bei meinem Eintritt hatte er mich mit seinen Schlitzaugen scharf angesehen – sie alle wendeten ja die Köpfe und blickten uns an, aber dieser alte Chinese hatte einen so eigentümlichen Blick, daß ich ihn förmlich bis in die innerste Seele verspürte.
Wir standen vielleicht eine Viertelstunde an dem Tische, und die Augen dieses alten Zopfträgers ließen mich nicht wieder los. Der Kerl hatte es offenbar auf mich abgesehen. Sobald ich ihn fest anblickte, was ich oft genug tat, sah er schnell weg, aber kaum wandte ich mein Auge von ihm, so fühlte ich wieder seinen durchdringenden Blick auf mir ruhen. In diesem ›Fühlen‹ lag nämlich das Eigentümliche! Sonst kann ich es gar nicht beschreiben. Hätte ich damals schon etwas von Hypnose gewußt, so wäre ich wahrscheinlich auf den Gedanken gekommen: dieser alte Chinese will dich mit seinen Schlitzaugen hypnotisieren!
Kurz und gut, mir ward immer unbehaglicher zumute. Was wollte der Kerl eigentlich von mir? Gehörte er mit zu der Bank und ärgerte es ihn, daß ich den gewonnenen Schilling nicht wieder einsetzte, um ihn schließlich doch zu verlieren? Wollte er mich durch seinen Blick, bei dem ich lebhaft an den eines Raubtierbändigers dachte, zum Gehorsam zwingen? Da gab es bei mir ja nun nichts! Und dennoch, immer deutlicher und immer deutlicher fühlte ich, wie dieser unbeschreibliche Blick sich bis in das Innerste meiner Seele einbrannte.
Wie eine Wohltat empfand ich es, als ich durch etwas andres von diesem Zauberbanne abgelenkt wurde. Wir entdeckten in einem Winkel der Hütte ein kleines Harmonium mit Orgelpfeifen und machten uns darüber lustig, wie ein solches seinen Weg in diese chinesische Spelunke gefunden hatte. Wunderbar war das ja eigentlich nicht. England versah schon damals alle Welt mit solchen billigen Instrumenten auf Abzahlung.
Während wir uns noch so über das Ding amüsierten, weil sich die Orgel in der schmierigen Spielhölle doch gar zu kurios ausnahm, näherte sich uns ein dicker Chinese, grinste, sprach auf uns ein, wovon wir aber kein Wort verstanden, und deutete dabei auf das Harmonium.
Was er verlangte, war ja ganz klar. Ob nicht Einer von uns spielen könnte!
»August, du kannst doch Klavier, spiel mal eins auf!« ermunterte mich mein Maat.
Ich hatte zu Hause Klavierspielen gelernt, sehr mittelmäßig, habe nie Begabung dazu gehabt, doch in Valparaiso hatte ich einmal in einer Wirtsstube meinen Kameraden und einer Bande Weiber zum Tanze aufgespielt, dazu langte es wohl. Nun reizte es mich ebenso, einmal auf einem Harmonium mit Blasebälgen zu spielen, was ich bisher noch nie probiert hatte, wie ich freudig die Gelegenheit erfaßte, um jenem faszinierenden Blicke des alten Chinesen zu entgehn.
Also ich schritt hin, setzte mich auf einen wackligen Stuhl, trat den Blasebalg und griff in die Tasten. Es ging famos, erst ›Ein feste Burg ist unser Gott‹ und dann ›Wir sitzen so friedlich beisammen‹. Das paßte zu der chinesischen Spielergesellschaft wie die Faust ins Auge. Dabei spielte ich wie ein Bär. Ich hatte ja auch von der dreijährigen schweren Schiffsarbeit wahre Bärentatzen bekommen und griff immer fest daneben. Aber mit meinem Erfolge konnte ich zufrieden sein. Die langbezopften Söhne des himmlischen Reiches vergaßen das Spielen und staunten nicht schlecht. Dem Virtuosen Beifall zu zollen, verbot ihnen wohl nur der chinesische Anstand.
Ich dehnte den Kunstgenuß nicht allzulange aus. Bald stand ich auf und entfernte mich mit meinen Kameraden. Den alten Chinesen mit dem sonderbaren Blick hatte ich schon wieder vergessen. Ohne irgend ein Abenteuer erlebt zu haben, kamen wir an Bord zurück und gingen zur Koje.
Dennoch sollte mein Eintritt in die chinesische Spelunke einen Wendepunkt für mein ganzes Leben bedeuten.
Am andern Tage drehten wir wieder die Winde. Der Kapitän hatte viel zu tun, er wurde in seiner Kajüte fortwährend von weißen und gelben Geschäftsleuten besucht. Nachdem wir uns in den ersten Tagen nach langer, langer Seereise an dem Anblick fremder Menschen in moderner und fremdländischer Kleidung ergötzt hatten, achteten wir ihrer jetzt nicht mehr.
Da kommt der Steward aus der Kajüte an uns vorüber.
»Du, August,« fängt er zu mir gewendet an, »beim Käpten ist ein Herr, der will dich als Organist engagieren.«
»Nanu,« lache ich, und weil ich lache, lachen die andern mit, obgleich sie wahrscheinlich gar nicht wissen, was ein Organist ist.
»Ja,« fährt der Steward ganz ernst fort, »der Käpten hat auch gelacht, aber es ist wahrhaftig wahr; der Herr sagt, du wärst ein geborner Organist und gar nicht mit Gold zu bezahlen. Er wollte dich durchaus als Organisten haben, er wollte dich gleich mitnehmen.«
Der Steward hatte es eilig und mußte wieder fort.
»Ein Organist ist ein Kantor, der in der Kirche die Orgel spielen muß,« erklärte ein gelehrter Matrose, und ich selbst hätte auch keine andre Erklärung geben können.
Na, nun war es ja allen meinen Kameraden ganz klar. Jener Herr hatte mich, gestern abend Harmonium spielen hören oder nur vernommen, daß ich es könnte, es wurde hier für eine Missionsanstalt oder für so etwas Aehnliches ein Orgelspieler gesucht – da war ich gerade der rechte Mann dazu.
Nur mir selbst war das nicht ganz klar. Ich hatte doch nicht umsonst vier Jahre lang die Bänke des Gymnasiums gedrückt. Etwas andre Ansichten bekommt man da doch über die Zivilisation als solch ein Matrose, der Sohn von Fischern oder Arbeitern, so gut er auch sonst in der Welt Bescheid wissen mag.
Nein, so einfach war das denn doch nicht. Hier mußte ein Irrtum vorliegen. Jener Herr selbst konnte mich unmöglich haben spielen hören. Ich wußte gut genug, wie jämmerlich es mit meiner Kunst stand. Und wenn hier eine christliche Kolonie einen Orgelspieler brauchte, da war nicht erst nötig, an den chinesischen Spelunken zu lauschen und einen Matrosen von Bord zu holen. Einen Organisten kann man sich schnell genug verschreiben, in jeder Hafenstadt laufen genug stellenlose Kommis und sogar Schullehrer herum, die in so etwas perfekt sind.
»Du, August, da kannst du dein Glück machen,« hieß es, »wenn dich der Käpten nur gleich gehen läßt.«
»Ach, laßt mich zufrieden, das ist ja alles Unsinn!« entgegnete ich ärgerlich und drehte meine Winde weiter.
Nach einiger Zeit, während welcher zu meinem heimlichen Verdruß immer weiter von dem Kantor und Organisten geschwatzt wurde, kam wiederum der Steward vorüber.
»Ist denn der Herr noch da?« wurde er gefragt, aber nicht von mir.
»Nee, der ist schon lange fort. Der Käpten wollte ja Augusten nicht fortlassen, ein Jahr hätte er noch Kontrakt, und, damit basta.«
»Siehst du, August! Sprich nur gleich mit dem Käpten.«
»Ach, laßt mich in Ruhe!«
»Wahrhaftig!« beteuerte der Steward. »Wenigstens eine halbe Stunde hat der Herr mit dem Käpten über dich gesprochen, er wollte dich gleich mitnehmen, du wärst ein geborner Organist, der Käpten mußte alles haarklein über dich erzählen, und als er sagte, daß du in der Schule so dumm gewesen wärst, da – da ...« – jetzt fing der Steward plötzlich zu lachen an – »... da meinte der Herr, das schadete nichts, dann wärst du eben ein zweiter Alexander Humbug.«
Und lachend machte der Steward, der nichts weiter als Dummheiten im Kopf hatte, daß er fortkam, um die Bekanntschaft mit meinen Fäusten zu vermeiden.
Jetzt war die Sache fertig. Jetzt wußten auch die andern, daß der Steward nur einen Witz gemacht hatte, einen plumpen Matrosenwitz, dessen Entstehung man nur begreift, wenn man an Bord gelebt hat.
So geht's in der Welt! Ich selbst hatte mich dagegen gesträubt, und nun hatte ich den Schaden noch obendrein. Jetzt war ich wieder einmal der dumme August, über den sich alles amüsiert, und für die nächste Zeit würde ich wohl der Organist bleiben.
Aber es sollte ganz anders kommen.
Am andern Abend war ich wieder von der Freiwache. Verbissen schlich ich mich allein an Land, nur um dem Gespötte meiner Kameraden aus dem Wege zu gehen, die sich über den Kantor und Organisten immer noch nicht beruhigt hatten. Das bunte Treiben um mich her im Scheine der farbigen Papierlaternen hatte mich wieder etwas erheitert, als quer über die Straße ein Mann auf mich zugesteuert kam – ein feiner, patenter Herr mit langem, schwarzem Vollbart, aber noch jung.
»Habe ich das Vergnügen, Herrn August Hammer zu sprechen?« redete er mich auf deutsch an, dabei sogar den Hut ziehend.
Ich gestehe, daß ich ob solcher Ehre errötete. »Jawohl, der bin ich.«
»Dürfte ich Sie bitten, mir eine kurze Unterredung zu gewähren? Vielleicht hier im nächsten Kaffeehaus?«
Das ist der, der mich als Organisten anmustern will! schoß es mir durch den Kopf – und dann verwarf ich solch einen dummen Gedanken gleich wieder.
»O ja, warum denn nicht?« entgegnete ich, aber ich ungeschliffener Bengel sprach damals noch alles das aus, was ich dachte.
»Wozu denn? Was wollen Sie denn von mir? Ich kenne Sie ja gar nicht!« mußte ich also noch hinzusetzen.
»Makart ist mein Name. Es dürfte sich vielleicht um Ihr Lebensglück handeln. Wollen Sie mich begleiten?«
Gut, ich ging mit in das Hotel, vor dessen Tor wir gerade standen. Der Salon war ganz leer. Der Herr suchte sich trotzdem die entlegenste Ecke aus. Gefragt, was ich zu trinken wünsche, bestellte ich Kaffee, der Herr desgleichen. Das Gewünschte war sofort da; der Kellner wollte sich noch an unserm Tische herumdrücken.
»Lassen Sie uns allein!!« erklang es gebieterisch, und der befrackte Geist verduftete.
»Sie sind Leichtmatrose auf dem Papenburger Vollschiff ›Katharine‹, nicht wahr, Herr Hammer?« begann der Fremde das Gespräch.
»Das bin ich, und Sie sind der Herr, welcher gestern mit meinem Kapitän über mich gesprochen hat, nicht wahr?« fragte ich dagegen.
Es war gerade kein Stutzen, mit welchem mich der Mann anblickte, aber ich merkte doch gleich, daß ich das Richtige getroffen hatte.
»Woher wissen Sie das?«
»Das ist meine Sache. Wollen Sie mir nicht meine Frage beantworten?«
Ja, wer mich für schüchtern hielt, weil ich für gewöhnlich sehr bescheiden und still und wortkarg war, der irrte sich grimmig in mir. Ich konnte auch ganz energisch auftreten, es mußte nur einmal eine Gelegenheit kommen.
»Nein, ich selbst war es nicht, der mit Herrn Kapitän Grohmann über Sie sprach, es war ein andrer, aber er handelte in meinem Auftrage. Doch nun bitte ich Sie dringend, mir zu sagen, woher Sie von jener Unterredung Kenntnis bekommen haben. Der Kapitän hat nämlich sein Ehrenwort gegeben, Ihnen von dieser Unterredung nichts zu sagen.«
Ah, dann allerdings mußte ich Farbe bekennen.
»Der Steward hat diese Unterredung belauscht.«
Der Fremde verzog keine Miene.
»Und was wollte der Steward erlauscht haben?«
»Es wäre ein Herr da, der mich als Organisten engagieren wollte.«
»Als ... Organisten?«
Er hatte zwischen den beiden Worten eine lange Pause gemacht, dabei nur eine überlegende Miene ziehend.
»Das dürfte wohl ein andres Gespräch gewesen sein, welches der indiskrete Steward belauscht hat,« sagte er dann.
»Jener Herr hätte zum Kapitän gemeint, ich wäre ein geborner Organist, der nicht mit Gold aufzuwiegen sei. Es ist möglich, daß mich vorgestern abend jemand in einer chinesischen Spelunke hat Harmonium spielen hören, aber wie da jemand, auf die Idee kommen kann, ich sei ein Organist, das ist mir selbst ...«
Ich kam mit dem Satze nicht zu Ende. Plötzlich brach der Herr, der trotz all seiner Höflichkeit bisher eine unerschütterliche Ruhe bewahrt hatte, in ein schallendes Gelächter aus.
Doch schnell hatte er sich wieder gefaßt.
»Ich bitte um Verzeihung! Hier waltet ein Irrtum ob. In der Tat, jener Herr, der mich vertreten hat, unterhielt sich mit Kapitän Grohmann auch über Organisten, es handelte sich um eine Lieferung von Harmoniums, die von geübten Klavierspielern begleitet werden soll ... zzziyyy never mind!zzz/iyyy Nein, als Organisten will ich Sie nicht engagieren.«
Ich atmete erleichtert auf. Diesen infamen Organisten war ich wenigstens los.
»Als was sonst?«
»Als Matrosen für meine Jacht.«
»Sie haben eine Jacht?«
»Ja, eine eigne Jacht, nur zu meinem Vergnügen! Hätten Sie Lust, daraufzugehen?«
Vor allen Dingen begann ich immer mehr ein Geheimnis zu wittern. Eigentlich lag auch ganz klar auf der Hand, daß ein solches hier vorhanden war. Warum hatte sich dieser oder ein andrer Herr so lange mit meinem Vormund über mich unterhalten? Warum hatte der Kapitän sein Ehrenwort gegeben, über diese Unterredung nichts gegen mich verlauten zu lassen? Was schlängelte dieser mir gänzlich unbekannte Herr sich so an mich heran?
Und nun noch etwas andres! Ich sagte: gänzlich unbekannte Herr. Dabei aber ging es mir fort und fort durch den Kopf: Gott, wo hast du diesen Mann nur schon einmal gesehen?! Erst neulich?! Und – ich weiß gar nicht, wie ich auf die verrückte Idee kam – dabei mußte ich fortwährend an jenen alten Chinesen mit dem merkwürdigen Blicke denken!
Jetzt aber galt es erst zu antworten und auf eigne Faust zu forschen.
»O ja, zu einer Jacht hätte ich schon Lust. Was für Heuer geben Sie?«
»Was bekommen Sie jetzt?«
»Vierzig Mark im Monat.«
»Als Leichtmatrose?«
»Als Leichtmatrose.«
»Und was bekommen Sie später als Vollmatrose?«
»Da ist die Heuer auf deutschen Segelschiffen sechzig Mark.«
»Ich würde Sie sofort als Vollmatrosen annehmen und Ihnen monatlich achtzig Mark geben.«
Jetzt aber mußte auch er endlich einmal Farbe bekennen oder ich spielte nicht mehr mit!
»Herr Makart, wie kommen Sie eigentlich dazu, mir solch ein Angebot zu machen, wo Sie mich doch gar nicht kennen?«
»Ja, das ist es eben! Ich sehe mir meine Leute an, ehe ich sie auf meine Jacht nehme, und Sie gefallen mir. Ich weiß, daß Sie der tüchtigste Seemann sind, und ich habe mir auch schon von Ihrem Vormund und Kapitän Auskunft über Sie geholt.«
Wenn man die Sache recht besieht, so war das doch gar keine Antwort auf meine Frage. Das Rätsel blieb bestehn, wie und wo mich der Fremde zuerst kennen gelernt hatte. Doch jetzt begann er zu fragen, und nun geschah etwas Wunderbares, was ich aber, damals gar nicht als solches erkannte, sondern erst lange Zeit später, als ich mich dieser Stunde wieder erinnerte.
Das Wunderbare lag nämlich darin, wie dieser Mann mich auszufragen verstand. Von meiner frühesten Jugend an mußte ich ihm alles erzählen ... nein, nicht erzählen, sondern er fragte, und ich mußte antworten ... nein, er fragte auch nicht, sondern er holte mich aus, er krempelte förmlich das Innerste meines Leibes und meiner Seele nach außen ... und das Merkwürdige dabei war, daß ich gar nicht merkte, wie er dies in Wirklichkeit tat.
Ich weiß nicht, ob man versteht, was ich hiermit sagen will. Mit andern Worten ausgedrückt: dieser Mann war ein Virtuose im Interviewen; denn das ist eine Kunst, welche gar nicht gelernt werden, eine Gabe, welche man nur weiter ausbilden kann. Das ist es, weshalb die zum Interviewen geeigneten Journalisten von den großen Zeitungen fürstliche Gehälter bekommen. Ein solcher Mann läßt sich mit einem Diplomaten in eine leichte, harmlose Unterhaltung ein, und ohne daß letzterer es nur ahnt, werden ihm durch scheinbar ganz unverfängliche Fragen die tiefsten Geheimnisse entlockt.
Ich war kein Diplomat, und ich hatte auch keine Geheimnisse zu bewahren – und dennoch, hier lag ein noch viel schwierigerer Fall vor! Dieser Mann wußte jedes Fältchen meines Herzens aufzudecken, ohne daß ich eine Ahnung davon hatte, daß er es tat. Das ist mir, wie gesagt, alles erst viel später zum Bewußtsein gekommen, und als ich diesen Mann näher kennen lernte, da war mein Staunen darüber, was der mit mir gemacht hatte, grenzenlos!
Kurz und gut, der Herr verstand zu plaudern, daß mir die Stunden wie im Fluge verstrichen. Er hatte mich in einen Zauberbann geschlagen, dessen ich aber gar nicht bewußt wurde. Seltsam war nur, wie ich mich dabei immer, anstatt hier in dem eleganten Hotelsalon, in der schmutzigen Chinesenspelunke wähnte und den hypnotischen Blick aus den Schlitzaugen des alten Chinesen auf mir ruhen fühlte.
Das zehnmalige Schlagen der Wanduhr ließ mich emporschrecken.
»Ich muß an Bord zurück!«
Der Herr rief den Kellner und bezahlte.
»Ja, wie ist es aber nun mit Ihrer Jacht? War das wirklich Ihr Ernst?«
»Gewiß, wenn Sie damit einverstanden sind, so steht dem nichts im Wege.«
Da fiel mir ein, daß ich ja gebunden war.
»Ach, ich habe ja noch ein Jahr Kontrakt!«
»Ich weiß es,« lächelte jener. »Aber das macht nichts. Ich habe schon mit Ihrem Kapitän und Vormund gesprochen. Gehn Sie jetzt an Bord; morgen früh komme ich auf die ›Katharine‹, da werden alle Förmlichkeiten erledigt.«
Was wir sonst noch sprachen, ist nicht von Bedeutung. Es waren nur Abschiedsworte. Herr Makart begleitete mich ein Stückchen und erst als wir die Hafenlichter schimmern sahen, verließ er mich mit einem Händedruck und einem ›Auf morgen!‹
Ich sollte nicht lange Zeit haben, über das Erlebte nachzudenken. Obgleich ich schon die ganze Welt umsegelt und viermal die Linie passiert hatte, war mein Leben bisher ohne jedes Abenteuer ruhig wie ein träger Strom dahingeflossen. Hier in Hongkong sollte er sich in einen wildschäumenden Katarakt verwandeln. Der Zauberblick eines Hexenmeisters hatte mein Schicksal beschworen.
Nur noch eine dunkle Gasse trennte mich von dem Quai, an welchem mein Schiff lag. Da plötzlich lösten sich aus dem Häuserschatten schwarze Gestalten ab und sprangen auf mich ein. Mit Blitzesschnelle ward mir ein Sack über den Kopf geworfen, und ehe ich noch einen Schrei hatte ausstoßen können, erhielt ich einen Schlag vor die Stirn, der mir sofort die Besinnung raubte.
»Das war ein Gummischlauch!« war mein letzter Gedanke gewesen.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem engen Schiffsraume und bereits in voller Fahrt, wie ich deutlich genug an den Bewegungen der Planken verspürte; schäumte doch auch an den runden Fensterchen das Meer.
Ich war nicht der einzige, ich hatte noch zwei Leidensgefährten, von denen der eine noch bewußtlos war. Beide hatten gestern nacht den Sack und den Hieb mit dem Gummischlauch über den Kopf bekommen.
Einer von ihnen war ein alter Matrose, welcher mir gleich erklären konnte, was mit uns geschehen war. Ich wußte es überhaupt selbst, ich erkannte es gleich aus dem hier herrschenden Trangeruch. Wir waren auf einen englischen oder amerikanischen Walfischfahrer gepreßt worden.
Wenn ein Schiff noch Matrosen braucht, und es sind für Geld und gute Worte keine zu bekommen, dann werden solche nächtlicherweile in den Straßen der Hafenstadt mit Gewalt ›gepreßt‹. Es ist gar nicht nötig, daß die eigne Besatzung des Schiffes auf Menschenraub ausgeht, dafür gibt es besondere Preßkompanien. Zumal die Engländer haben darin Großes geleistet.
Das heißt, das war früher so. Heute ist das nicht mehr möglich. Da würde der Kapitän bald beim Schlafittchen genommen und wegen Menschenraubs, mindestens wegen Freiheitsberaubung streng bestraft werden.
Nur bei einer Kategorie von Schiffen wird das Pressen noch heute betrieben: bei den Walfischjägern.
Ueber diese Walfischfahrer wird besonders in Jugendschriften viel gefabelt. Vor allen Dingen ist ganz wenig bekannt, daß es für jeden Seemann eine Schande ist, auf einem ›Trankocher‹ zu fahren. Jeder Walfischfänger hat nur seinen kleinen Stamm von Matrosen, die rohesten Gesellen, welche von der Geldgier dazu getrieben werden, sich jahrelang in dem entsetzlichsten Schmutze herumzusielen, bis sie sich endlich darin wohlfühlen. Bei dem Kapitän, den Steuerleuten und dem Harpunier ist das einfach Geschäftssache. Die übrige Mannschaft jedoch muß geworben werden, aber das brauchen gar keine Matrosen zu sein, es sind Arbeiter zum Tranauskochen – das Rudern bringt man ihnen schon bei – und so werden durch hohe Geldversprechungen Schuster, Schneider und Handschuhmacher angemustert.
Was kümmert sich die Aktiengesellschaft darum, ob diese armen Kerls schon in der ersten Woche über Bord springen oder nach und nach draufgehen? Um nun zu verhüten, daß jemand die Flucht ergreift, läuft das Schiff nicht eher wieder einen Hafen an, als bis es genug Wale erbeutet hat, um seinen Bauch mit Tran füllen zu können. Das dauert mindestens zwei Jahre, es können aber auch sechs Jahre daraus werden. Muß das Schiff inzwischen einmal Proviant einnehmen, so haben die Walfischjäger hierfür ihre besondern Stationen auf ganz einsamen Inseln, wo es kein Entweichen gibt. In jedem andern Hafen würde sofort die ganze Bande durchbrennen.
Verringert sich aber nun der Stamm der wirklichen Matrosen, und man bekommt auf gute Weise keine andern, welche zur Seetüchtigkeit des Schiffes unbedingt erforderlich sind, dann wird einfach gepreßt. Das Opfer, von dem man weiß, daß es ein wirklicher Matrose ist, der seinen Mann stellt, wird ausgesucht, und bei passender Gelegenheit bekommt er den Gummischlauch.
Was soll er tun? Wenn er nicht arbeiten will, wird er totgeprügelt, und Tote sind stumm. Ueber Bord springen und nach einem andern Schiffe schwimmen, das gerade vorübersegelt, das geht auch besser in gewissen Jugendschriften als in Wirklichkeit. Er arbeitet also. Dann nach Beendigung der erfolgreichen Jagdzeit erhält er seine hohe Heuer und seinen Anteil am Gewinn vorgezählt, und dabei ist nämlich wirklich etwas zu verdienen! Da hat schon mancher Matrose nach drei Jahren bare zehntausend Mark auf ein Brett bezahlt bekommen. Na, und wo ist denn der Matrose, der da nicht zugreift? Die Leidenszeit ist doch auch vorüber – und nach Annahme seines Lohnes hat er das Recht verloren, sich vor Gericht zu beklagen. –
Wir drei kamen vor den Kapitän, einen Novascotiaman, den rohesten der rohen Seeleute.
Jungens, seid vernünftig – Not kennt kein Gebot – friß, Vogel, oder stirb!
Das war der kurze Inhalt seiner Rede.
Ich fraß. Das heißt, ich fügte mich und arbeitete. Anstatt auf eine Jacht zu gehen, ging ich mit einem amerikanischen Trankocher, der in Hongkong seine Ladung verkauft und neuen Proviant eingenommen hatte, nach dem Südpol, um Potwale zu jagen.
Was ich sonst dachte, dabei will ich mich nicht aufhalten, und das um so weniger, weil ich noch nicht einmal ganze vier Tage professioneller Walfischjäger war.
Am vierten Tage – wir befanden uns noch in der Fukianstraße, welche vom chinesischen Festland und der Insel Formosa gebildet wird – schlug ich mit einem Eimer außenbords Wasser auf, es herrschte eine starke Strömung – der Eimer riß mich mit hinab.
Es geschah wahrhaftig nicht mit Absicht. Hier, wo es von Haifischen wimmelt, springt niemand so leicht über Bord. Ich schrie vielmehr aus vollem Halse um Hilfe. Mein Sturz war an Deck nicht bemerkt worden, ich wurde nicht gehört, das Schiff segelte weiter.
Die Haifische ließen nicht lange auf sich warten. Am besten schützt man sich gegen diese Bestien durch Strampeln, und ich strampelte mit Armen und Beinen, wie nie wieder in meinem Leben.
Nach zwei Stunden näherte sich mir eine chinesische Dschonke, die mich auffischte. Trotzdem das Dutzend Zopfträger rechte Gaunergesichter hatte, was jedem ehrlichen Menschen gleich auffallen mußte, waren es brave Leute. Sie speisten mich und tränkten mich und kauderwelschten auf mich ein, wovon ich leider nichts verstand, bis sich endlich einer, der nur noch ein Auge, ein Ohr und im Munde nur noch einen Zahn hatte, erinnerte, daß er einige Brocken Englisch verstände. Ich antwortete, was die braven Leute wissen wollten – aber wohin sie mit ihrer Dschonke wollten, das erfuhr ich nicht.
Uebrigens mußten sie sich beeilen, mit ihrem gebrechlichen Fahrzeug, für welches das Wort ›Schiff‹ wie ein Hohn wirkt, einen sichern Hafen anzulaufen, denn am Horizonte stieg es unheimlich schwarz auf.
Es war nicht schwer, hier irgendwo einen Zufluchtsort zu finden, denn wir befanden uns mitten in der Gruppe der Pescadoresinseln, welche die Fukianstraße ganz ausfüllen, und solch eine flach gebaute Dschonke kann überall zwischen den Klippen hindurch, welche die Passage sonst für größere Fahrzeuge unmöglich machen.
Nach einer Stunde steuerten wir denn auch mit geschwelltem Bastsegel auf eine Felseninsel zu, kamen aber nicht weiter als eine halbe Meile heran, denn da trat plötzlich völlige Windstille ein – die Windstille vor dem Sturme.
Ich brauchte nicht lange darüber nachzudenken, was die zerbrechliche Dschonke hier zwischen den Klippen bei einem ausbrechenden Sturme beginnen würde – mit einem Male tauchten hinter den Felsen zwei, drei, vier Prauen auf und ruderten mit Hast auf uns zu.
Erst dachte ich, es wären chinesische Piraten, die nur in solchen Ruderbooten angreifen; aber ich hatte mich geirrt. Die vier Prauen spannten sich ganz friedlich vor die Dschonke und schleppten sie in eine sichere Bucht.
Hier lagen nicht nur noch andre Dschonken und eine Menge Prauen, sondern auf dem felsigen Strande entwickelte sich auch ein recht hübsches Lagerleben mit Frauen und Kindern und Katzen und Hunden, und aus dem zerklüfteten Innern des Eilandes kamen immer mehr Familien hervorspaziert, um die neue Dschonke willkommen zu heißen. Auch ich wurde ein Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, meinetwegen entspann sich eine heftige Debatte.
Was ich nicht vom Gespräch verstand, das konnte ich mir aus Gesten deuten. Es handelte sich darum, ob ich als Gast auf der Insel bliebe oder ob man mich lieber vom Leben zum Tode befördern sollte. Der eine Chinese setzte schon mehrmals an, mir mit seinem krummen Sensenschwerte den Kopf zu spalten. Er wurde daran verhindert; aber ich wurde an Händen und Füßen gebunden, und weil ich mir das nicht gleich gefallen lassen wollte, bekam ich einen Faustschlag ins Gesicht, daß mir das Blut gleich aus Mund und Nase floß.
Nun ist wohl niemand mehr darüber im unklaren, wohin ich geraten war. Vom Regen in die Traufe! In die Gesellschaft von chinesischen Piraten, die hier auf dieser unzugänglichen Felseninsel ihren Schlupfwinkel hatten, und meine braven Lebensretter gehörten mit zu ihnen! Sie waren mit reicher Beute heimgekehrt.
Zunächst freilich war ich wirklich froh, auf der Pirateninsel eine Zuflucht gefunden zu haben, wenn man mich auch schmerzhaft gebunden in eine Höhle auf den nackten Boden warf; denn bald brach ein Taifun los, gegen den mehrere Orkane im Atlantischen Ozean und zwei Hurrikans in den Westindischen Gewässern, die ich bereits erlebt hatte, alle zusammengenommen eine Kleinigkeit gewesen waren. Und dabei befand ich mich auf festem Lande, noch dazu auf einer ziemlich flachen Felseninsel, wo der Sturm gar keinen Widerstand fand! Was mochte da erst ein Schiff auf offner See auszustehn haben!!
Doch ich muß noch erwähnen, was die Chinesen mit ihren Dschonken begannen, um sie vor dem drohenden Taifun zu schützen. Es kommt mir nämlich dabei für einen spätern Zweck hauptsächlich darauf an, die Bauart dieser chinesischen Fahrzeuge zu schildern.
Die Prauen wurden an Land gezogen und zwischen Felsen geborgen. Das war sehr einfach. Die Dschonken aber wurden auseinandergeschlagen und die einzelnen Balken und Bretter ebenfalls in Sicherheit gebracht. Später, als der Taifun vorüber war, holte man die Balken und Bretter wieder hervor, nagelte sie zusammen oder befestigte sie auch nur durch Klammern miteinander, sogar nur mit Stricken, stopfte ein bißchen Werg in die Fugen und schmierte Pech nach – und es dauerte kaum eine Stunde, so war solch ein Seefahrzeug schon wieder fix und fertig!
Das charakterisiert nämlich die chinesische Handelsschiffahrt. Der Bau dieser Dschonken geschieht nach gesetzlicher Vorschrift. Ein festeres Gefüge dürfen sie nicht haben!
Weswegen nicht? Das hängt eng mit der chinesischen Mauer zusammen. China will und wollte sich seit alters von aller Welt abschließen, und da gestattete das konservative Gesetz auch nur den Bau solcher Dschonken, auf denen es unmöglich ist, größere Reisen über die hohe See zu machen. Die Söhne des himmlischen Reiches sollen im Lande bleiben und sich redlich von Reis und Fischen nähren, sie mögen Küstenschiffahrt treiben und von Insel zu Insel fahren, aber sie sollen mit ihren Schiffen nicht hinaus in die Welt gehn.
Das ist der Grund, warum die Dschonken heute noch geradeso aussehen, wie vielleicht vor Tausenden von Jahren. Solch eine Dschonke gleicht von außen einem halbfertigen Dachgerippe; überall sehen die Balken hervor, und man hat immer Angst, daß es jeden Augenblick aus dem Leime gehn kann. –
Ich will nicht des längern bei dem verweilen, was ich auf der Pirateninsel beobachtete und erlebte. Ich erwähne nur die Hauptsachen.
Als sich ein Mensch wieder im Freien aufrecht halten konnte, wurden meine Fesseln gelöst, aber nur, um einen starken Eisenring um mein rechtes Fußgelenk zu schmieden, was ein Chinese äußerst geschickt machte, ohne mich im geringsten zu verletzen. Dann wurde noch eine Kette darangeschmiedet, und so wurde ich wie ein Hund vor eine Höhle gelegt, die mir als Wohnung diente.
Hier lag ich einige Tage, ohne sonst über etwas zu klagen zu haben. Die Kette war nicht schwer, gestattete mir wenigstens zehn Schritte im Freien auf und ab zu gehen und hinderte mich nicht beim Liegen. Die Höhle war an sich trocken und der Boden mit Binsenmatten belegt. Als Kost erhielt ich reichlich Reis und Fische. Als mich im Anfang Frauen und Kinder sehr mit ihrer Neugier belästigten, wurden sie von ihren bezopften Männern mit Stockhieben davongetrieben.
Was hatte man mit mir vor? Ich sollte es bald erfahren.
Am dritten Tage nach jener Sturmnacht, als die See schon ziemlich wieder geglättet war, kamen zwei Chinesen eiligst angelaufen, banden mich los, aber ohne mich von der Kette selbst zu befreien, und trieben mich nach der Hafenbucht, welche ich von meiner Hundehütte aus ebensowenig sehen konnte wie das eigentliche Lager der Piraten.
An und auf der Bucht herrschte aufgeregtes Leben. Die meisten Prauen waren im Wasser und mit bezopften Ruderern bemannt, welche Dolche und vorsündflutliche Pistolen im Gürtel hatten, ich sah auch alte Luntenflinten, Schwerter und Aexte, ferner standen in jedem Boote Körbe mit tönernen Gefäßen.
Man bedeutete mir, in das größte Boot zu steigen, kettete mich an meinem Sitze fest, drückte mir ein Ruder in die Hand, und fort ging es; unser größtes Boot voran, fünf Prauen folgten, im Ganzen mit vielleicht 60 Chinesen bemannt.
Ich ruderte aus Leibeskräften. Was sollte ich auch anders tun? Nur der Probe halber stellte ich einmal das Rudern ein – und gleich hielt mir der Bootssteurer, dem ich gegenübersaß, mit drohender Gebärde seinen Dolch unter die Nase.
Rufe wurden laut, die Ruderer wendeten die Köpfe, ich tat's auch, und da sah ich sie – eine unglückliche Dschonke, die trotz des kräftigen Windes mit ihrem Bastsegel wie eine Schnecke dahinkroch.
Ich kann nicht viel von dem Kampfe erzählen. Dennoch war es gräßlich – eben weil es gar nicht zum Kampfe kam.
Die wenigen Chinesen der Dschonke rannten an Deck hin und her. Ich hörte sie schnattern. Dann wurde es ganz still, und wie ich mich wieder einmal umdrehte, sah ich sie alle auf den Knien liegen, die Hände auf dem Rücken, den Kopf vorgebeugt, als erwarteten sie schon den Todesstreich, der ihnen den Kopf vom Rumpfe trennte.
Und so kam es denn auch sehr bald. Das hatten sie beim Anblick der sechs Prauen gewußt, und da fügten sie sich ohne weiteres in ihr Schicksal. Ländlich, sittlich!
Der Steuerer meines Bootes war offenbar der Anführer der Bande. Er kletterte an Bord. Einige Piraten folgten, und gleich darauf flogen erst acht Köpfe und dann acht Rümpfe ins Wasser.
Die Dschonke wurde von den Piraten ins Schlepptau genommen und nach der Bucht bugsiert. Sie enthielt nur Steinkohlen, vielleicht 100 Tonnen, also etwa 2000 Mark an Wert, aber die Piraten schienen doch recht vergnügt über ihre Beute zu sein. Vielleicht hatten sie auch noch Geld gefunden.
Während, soweit ich beurteilen konnte, sämtliche Männer der Insel heranmußten, um die Dschonke sofort auszuladen, und unter der Last der Kohlensäcke nicht schlecht schwitzten, wurde ich wieder vor meiner Höhle angekettet, erhielt reichlich zu essen, konnte mich auf meinem Lager ausstrecken und zusehen, wie die Arbeiter an mir vorüberkeuchten.
Warum wurde ich so geschont oder doch nur zum Rudern verwandt? Was hatte man mit mir vor?
Ich hatte zwei Tage Zeit, um über dieses Rätsel und meine Zukunft nachzugrübeln, als abermals das Piratenlager in Aufregung kam, weil der Wachtposten von seinem erhöhten Standpunkte aus einen neuen Raub erspäht hatte.
Wieder wurde ich losgelöst und zum Rudern an einen Sitz des führenden Bootes angekettet. Diesmal war es eine bedeutend größere Dschonke, und es war auch eine ganz andre Besatzung darauf, freilich ebenfalls Chinesen, von deren Mut ich niemals eine große Meinung gehabt habe.
Sie wehrten sich und schossen ihre Luntenflinten ab. Manchem Piraten entfiel das Ruder, aber die Prauen kamen heran, sie wollten die Dschonke entern.
Anstatt jedoch nun zu Säbel und Pistole zu greifen, bewaffnete sich die Mannschaft der Dschonke mit langen Bambusstangen, und das hatte seinen guten Grund.
Ich habe schon die Binsenkörbe erwähnt, die die Piraten auch diesmal mitgenommen hatten. Aus diesen kamen kopfgroße, irdene Kugeln zum Vorschein, die man wie Handgranaten an Bord der Dschonke zu schleudern versuchte.
Diese schon in den Händen der Werfenden zu zerschlagen, war der Zweck der langen Bambusstangen; denn die Urnen waren nichts andres als die übelberüchtigten Stinktöpfe.
Auf einer Prau neben mir wurde solch ein Stinktopf glücklich zerbrochen, wir hatten den Wind vor uns und bekamen daher nur ein gelindes Düftchen zu riechen, aber es genügte, um mir den Atem dermaßen zu versetzen, daß ich zu ersticken drohte, ganz abgesehen von der nachfolgenden Uebelkeit. Die in der betreffenden Prau sitzenden Piraten schlugen sofort die Hände vors Gesicht und stürzten sich kopfüber ins Meer.
Der Inhalt dieser Stinktöpfe ist ein streng bewahrtes Geheimnis der chinesischen Piraten – der Piraten, nicht etwa aller Chinesen – und hieraus ersieht man auch, wie diese chinesischen Seeräuber eine besondre Kaste bilden müssen. Unsre heutige Chemie weiß, daß der wirksame Bestandteil dieses Stinktopfes Kakodyl ist, übrigens auch ein sehr giftiges Gas, aber unaufgeklärt ist noch, wie diese barbarischen Menschen scheinbar ohne alle Hilfsmittel diese chemische Verbindung in beliebiger Menge erzeugen, und zwar erst innerhalb der schon geschlossenen Tonkugeln.
Ein wohlgezielter Stinktopf zerplatzte endlich an Deck der Dschonke, und da war der merkwürdige Kampf beendet. Nur wenigen gelang es noch, die Bordwand zu erreichen und sich ins Meer zu stürzen. Sie wollten lieber eine Beute der Haifische werden, als diesen gräßlichen Gestank einatmen müssen – die meisten kamen gar nicht so weit, sie stürzten hin und blieben betäubt liegen.
Die Piraten warteten einige Zeit, dann erkletterten sie das Deck, und wieder wanderten Köpfe und Rümpfe über Bord, wie man auch den schon ins Wasser Gesprungnen den Garaus gemacht hatte.
Die große Dschonke war voll mit Opium beladen, und dieses ist ein gar kostbarer Artikel. Anstatt aber nun hierüber Freude zu zeigen, schienen die Piraten über diese Art Beute äußerst ärgerlich zu sein, sie machten ihrem Unmut noch einmal an den Leichen in schändlicher Weise Luft, indem sie nach ihnen stachen und schlugen.
Wie kam das? Konnten sie denn das kostbare Opium nicht wieder verkaufen? Sie mußten doch eine Absatzquelle für ihre Beute haben! Merkwürdig war es schon, daß diese Chinesen, doch sicher der Abschaum ihrer Heimat, gar nicht dem Opiumgenuß frönten. Ueberhaupt, es herrschte eine Manneszucht unter ihnen, die ich nimmermehr zwischen solchen Seeräubern erwartet hätte. Ich hatte schon genug Erzählungen gelesen, welche von chinesischen Piraten handelten, und zwar nicht nur Phantasien, sondern sachliche Berichte, so z. B. den des Engländers Oliver Harrow, der neun Jahre von chinesischen Seeräubern gefangen gehalten wurde, und bei denen war es ganz anders zugegangen, das war eben ein rohes, wüstes Gesindel gewesen, vor allen Dingen auch dem Opiumgenusse ergeben.
Ich wurde wieder vor meiner Hundehütte angekettet. Die Piraten luden die schweren Opiumkisten aus und bargen sie in einer geräumigen Höhle, die dicht neben der meinen lag. So sah ich, wie jede Kiste plombiert war und wie ein Chinese gewissenhaft jede einzelne notierte.
Wieder einige Tage später – die Zeitrechnung hatte ich schon verloren – wurde das Piratenlager abermals sehr aufgeregt, ich blickte ebenfalls auf das Meer hinaus, wohin sie alle schauten, und sah erst eine Rauchwolke aufsteigen und dann ein Fahrzeug auftauchen, das ich beim Näherkommen als einen jener kleinen, aus starken Eisenplatten gebauten Dampfer erkannte, die man ›Norweger‹ nennt. Denn die Norweger haben von allen seefahrenden Nationen die kleinsten Ueberseedampfer, weshalb diese außerordentlich stark gebaut sein müssen, um jeden Seegang bestehen zu können. Es ist dies durchaus nicht zweckmäßig, denn je kleiner die Schiffsverhältnisse, desto kostspieliger – aber die Norweger bevorzugen nun einmal solche kleine Dampfer.
Das Fahrzeug hielt auf die Insel zu. Schon dachte ich, es könnte ein chinesisches Kriegsschiff sein, das auf Piraten jagte; aber als ich das Betragen der letzteren beobachtete, und als der Dampfer nun gar Flaggensignale zeigte, welche auf der Insel jedenfalls erwidert wurden, konnte ich nicht mehr im unklaren sein, und ich wunderte mich nur, wie geregelt die Geschäftsverbindungen dieser chinesischen Seeräuber waren.
Das war einfach ein Handelsdampfer, der jetzt von Insel zu Insel fuhr und den Piraten ihre Beute abkaufte, und es hätte mich gar nicht gewundert, wenn auf dem Handelsdampfer, mochte er unter irgend einer Flagge segeln, englische Besatzung und ein englischer Kaufmann gewesen wären.
Ich sollte mich aber doch sehr getäuscht haben. Meine schon sehr merkwürdigen Vermutungen wurden noch weit übertroffen.
Die Piraten machten offenbar alles zu einem feierlichen Empfange bereit, und der Dampfer, dessen Rauch bei der völligen Windstille kerzengerade in die Luft stieg, verschwand hinter jenem Felsen, hinter welchem die Bucht lag, und dorthin strömten auch die Inselbewohner, aber nur Männer.
Bald kamen sie zurück. Meine ›Freunde‹ kannte ich nun schon so ziemlich alle, jetzt waren Fremde bei ihnen, und zwar meist Japaner, wie ich sofort feststellte.
Das allgemeine Interesse galt zuerst meiner Person, und ich fand bald heraus, daß ich hier nicht bloße Handelsleute vor mir haben konnte, welche den Piraten die Beute abkaufen wollten.
Ein untersetzter Japaner, welcher sich von den andern zwar nicht durch seine Kleidung unterschied, wohl aber durch sein ganzes Auftreten und nicht zum mindesten durch seine intelligenten, sogar Geist verratenden Züge – ich will ihn den Kapitän nennen, und er war auch der von dem kleinen Dampfer – ließ sich von einem alten Chinesen, den ich schon gewissermaßen als Geschäftsführer der Insel kennen gelernt hatte, Bericht über mich erstatten.
Aufmerksam hörte der Kapitän zu, die klugen Augen immer forschend auf mich geheftet.
Dann sprach er zu dem Chinesen, hierauf wandte er sich an mich. Nachdem er mich in seiner Sprache angeredet hatte, worauf ich nur ein Kopfschütteln hatte, fragte er mich in reinstem Englisch: »Was für ein Landsmann bist du?«
»Ein Deutscher.«
»Wie bist du hierher auf diese Insel gekommen?« begann da der Japaner plötzlich im geläufigsten Deutsch.
Ich war nicht wenig überrascht; doch ich dachte daran, daß sich jetzt mein Schicksal entscheiden würde, denn dieser Japaner hatte hier offenbar zu befehlen, man hatte nur seine Ankunft erwartet, um über mich zu Gericht zu sitzen. Bis dahin hatte man mich gut gepflegt und nur zum Rudern verwandt, aber mein Leben schonte man nicht; denn konnte ich nicht bereits von einer feindlichen Kugel getroffen worden sein?
Ich sagte kurz, daß ich über Bord gestürzt sei und von einer Dschonke aufgenommen wurde.
»Bist du hier gut behandelt worden?«
»Ja.«
»Hast du immer reichlich zu essen bekommen?«
»Ja.«
»Du hast rudern müssen. Hast du dich sonst über etwas zu beklagen?«
»Nein.«
»Dieser Mann hat dich doch mit dem Tode bedroht.«
Er deutete dabei auf jenen Chinesen, welcher Lust gezeigt hatte, mir mit seinem Schwerte den Kopf zu spalten.
Der Betreffende stand jetzt wie ein armer Sünder da; überhaupt herrschte unter den Piraten eine rechte Niedergeschlagenheit.
Ich bejahte die Frage.
»Dann bist du gebunden worden.«
»Ja.«
»Aber sonst ist dir nichts weiter widerfahren?«
»Man hat mich geschlagen.«
»Geschlagen? Wer?«
Ich kannte den Mann noch recht gut. »Der dort!«
Der Japaner wandte sich an den Bezeichneten, und stellte ihn jedenfalls zur Rede. Der Mann verteidigte sich, mochte sagen, es sei nicht wahr, andre ergriffen jedoch das Wort, und der Betreffende wurde überführt.
»Dieser Mann hat dich so geschlagen, daß dir das Blut aus Mund und Nase sprang?« wandte sich der Japaner auf deutsch wieder an mich.
»Ja.«
»Gut. Weißt du, wo du hier bist?«
»Auf einer Pirateninsel.«
»Hast du schon vom gelben Drachen gehört?«
»Nein.«
»Wir sind keine Seeräuber, sondern gehören zum Bunde des gelben Drachen, welcher gegen das jetzige China Krieg führt, und du sollst Zeuge werden, wie der gelbe Drache seine Gesetze handhabt. Der Mann, welcher dein Leben bedrohte, und der Mann, welcher dich schlug – sie sind beide des Todes!«
Mit diesen Worten zog er aus seinem Gürtel einen sehr langen, zweischneidigen Dolch und reichte ihn jenem zuerst genannten Chinesen, aber ohne zu ihm sonst noch etwas zu sagen.
Ich wurde nun Zeuge einer ebenso gräßlichen wie merkwürdigen Szene, ja, es lag sogar etwas furchtbar Gewaltiges darin.
Nur zögernd nahm der Chinese den gereichten Dolch; sein gelbes Gesicht wurde fahl wie Wachs, er begann zu zittern.
»Sieh den Feigling, wie er zittert!« sagte der Kapitän mit grenzenloser Verachtung, und zwar auf deutsch, also für mich bestimmt. »Er braucht erst ein Beispiel, um zu sehen, wie gehorsam ein Sohn des gelben Drachen stirbt.«
Er nahm jenem den Dolch wieder ab und winkte mit dem Finger nach rückwärts.
»Kanimo, Harakiri!«
Ein blutjunger, zierlicher, bildhübscher Japaner trat vor, legte seine rechte Hand auf den Kopf, was ich bei Chinesen und Japanern schon wiederholt als Zeichen des Gehorsams gesehen hatte, nahm aus des Kapitäns Hand den langen Dolch, ein funkelnder Blitz ... und er hatte sich den zweischneidigen Stahl in den Unterleib gestoßen. Ich sah ganz deutlich, wie er mit Absicht das jedenfalls haarscharfe Messer auch noch so weit als möglich nach oben zog, bis er sich den Leib ganz geöffnet hatte.
Einen Augenblick stand er so da – die zerschnittenen Eingeweide quollen ihm aus der fürchterlichen Wunde – dann stürzte er steif, wie er gestanden, rücklings zu Boden und blieb so liegen. Er war sofort tot.
Die Chinesen werden von uns verlacht, weil sie behaupten, der Mensch habe sein Herz im Unterleib, aber sie sagen überhaupt gar nicht ›Herz‹, sondern ›Seele‹ und damit meinen sie das Leben. Ja, vielleicht haben sie gar nicht so unrecht. Erst unsre neueren Anatomen haben entdeckt, daß der Unterleib der Sitz eines Zentralsystems von den feinsten Nerven ist, und davon kann jeder erzählen, der schon einmal einen Stoß in den Magen bekommen hat. Solch ein Stoß an die richtige Stelle des Unterleibs lähmt sofort alle Herz- und Lungentätigkeit, was durchaus nicht der Fall ist, wenn ein weit stärkerer Stoß den Kopf, oder die Herzgegend trifft.
Daher ist es auch erklärlich, wie den vornehmen Japaner das Harakiri, das Bauchaufschlitzen, gelehrt werden kann, falls er zur Wiederherstellung seiner Ehre diese Manipulation einmal ausführen muß. In Praxis kann ihm das wohl schwerlich beigebracht werden. Nein, es wird ihm nur anatomisch erläutert, wo er den Sitz des Lebens hat, und wie er das Messer führen muß, um jene Nervenzentrale zu durchschneiden.
Geschieht dies, so tritt der Tod jedenfalls augenblicklich ein.
Mir aber ging die furchtbare Gewißheit auf, daß ich soeben Zeuge eines Gehorsams geworden war, von dem wir Europäer gar keine Ahnung haben. Der japanische Jüngling war sicher ganz unschuldig gewesen, hatte nichts durch seinen Tod zu sühnen gehabt – sein Kapitän brauchte nur ein Beispiel, um zu zeigen, wie ein mutiger Mann stirbt, und er winkte dem ersten besten aus seinem Gefolge – ›Kanimo, Harakiri!‹ – und der gerufene Kanimo trat vor und schlitzte sich den Leib auf, ohne ein Wort verloren zu haben!
Ich war entsetzt. Weniger durch das blutige Schauspiel als durch jenen Gedanken, wie ein Mensch für nichts und wieder nichts so gehorsam in den Tod gehen kann! Das, was dann folgte, berührte mich gar nicht mehr.
Mit einem gellenden Schrei sprang der Chinese, der mich unrechtmäßig hatte köpfen wollen, auf den Toten zu, riß ihm das Harakiri-Messer aus den rauchenden Eingeweiden und stieß es sich in die eignen.
Weiter kam er nicht. Brüllend wälzte er sich in seinem Blute am Boden. Der japanische Kapitän erwies ihm den Liebesdienst, bückte sich kaltblütig, packte den aus dem Leibe hervorstehenden Griff des Messers und vollendete das Geschäft des Bauchaufschlitzens. Sofort lag der Mann mit entglasten Augen regungslos da.
»Nun du!«
Etwas andres mochte der Japaner wohl nicht zu dem Chinesen gesagt haben, der mich ins Gesicht geschlagen hatte, als er jetzt diesem das Messer gab, und der hatte den Kunstgriff besser abgesehen, er brauchte keine fremde Hilfe – drei Menschen lagen mit aufgeschlitzten Leibern da.
Eben wollte sich der Kapitän wieder an mich wenden, als ein Signal ertönte, welches ich nun bereits zweimal gehört hatte: eine Beute war in Sicht. Das war hier die Hauptsache, und soviel ich noch sehen konnte, trieb der japanische Kapitän die chinesischen Piraten zur Eile an und erklomm dann einen Hügel.
Seine Anwesenheit und alles das, was ich soeben erlebt hatte, schien an meiner Bestimmung nichts zu ändern. Ich wurde losgekettet und nach dem Hafen getrieben, wo man die Prauen ins Wasser schob. Wie immer mußte ich in das größte und führende Boot steigen – aber diesmal nicht um zu rudern, sondern der Bootssteurer und zugleich der Piratenführer forderte mich durch eine Handbewegung auf, mich neben ihn zu setzen, und schloß mich an diesem Sitze an.
Etwas hatte das Kommen des japanischen Dampfers an meinem Schicksale also doch geändert: ich brauchte nicht mehr zu rudern.
Aber wozu nur mußte ich überhaupt in einem der zum Kampfe ausrückenden Boote mitkommen? Mir ging schon eine Ahnung auf, daß es sich hier um einen Aberglauben handelte, ich mußte so etwa die Rolle eines Schutzpatrons spielen.
Wieder steuerten die sechs Prauen auf eine unglückliche Dschonke zu. Es war soeben Windstille eingetreten; die langbezopften Matrosen, die ich schon erkennen konnte, waren gerade dabei, das zerrissene Bastsegel herabzulassen, um es auszubessern, als sie die sechs Prauen angerudert kommen sahen.
Sofort ließen sie von ihrer Arbeit ab, liefen schnatternd wie eine aufgescheuchte Herde Gänse an Deck durcheinander, und nun wußte ich schon, wie alles kommen würde: Das war wieder solch eine Dschonke, deren Besatzung sich gar nicht erst auf einen Verteidigungskampf einließ. Die Piraten sehen und sich in ihr Schicksal ergeben, das war bei denen eins.
Richtig, unser erstes Boot war wohl noch hundert Meter von der Dschonke entfernt, als dort drüben alle Köpfe hinter der hohen Bordwand verschwanden. Jetzt also knieten die Feiglinge schon nieder und hielten, die Hände auf dem Rücken, den Kopf hin, um ihn sich abschlagen zu lassen.
Wir näherten uns wie immer der Beute, ein Boot dicht hinter dem andern, so eine langgestreckte Reihe bildend.
Da plötzlich flammte es an der Bordwand der Dschonke auf! Ein scharfer Knall folgte. Ich hatte gerade nach der hintersten Prau geblickt, und diese mußte von dem Geschoß getroffen worden sein. Die Ruderer sprangen auf und griffen nach den Schöpfeimern. Es mußte also eine größere Kugel gewesen sein, welche die dünnen Planken des Bootes unter der Wasserlinie durchlocht hatte ... aber ich hatte nur einen einzigen Augenblick Zeit, solche Betrachtungen anzustellen, denn fort und fort zuckten aus der Bordwand der Dschonke die Feuerstrahlen hervor, jeder von einem schmetternden Krachen begleitet, das aber eher an den scharfen Knall eines Revolvers erinnerte, als an das rollende Dröhnen eines Kanonenschusses, und jedesmal hörte ich über meinem Kopfe das Heulen eines Geschosses. Ich sah die Prauen hinter mir versinken. Und da war auch unser Boot getroffen worden! Wie ein Fontäne schoß das Wasser vorn und seitlich herein, und ein Pirat stürzte vom Sitz, sein Schenkel mußte schrecklich zerrissen sein, denn das Blut floß in Strömen.
Von lähmendem Entsetzen gepackt, ließen die Chinesen die Ruder sinken. Das alles hatte sich ja in viel kürzerer Zeit abgespielt, als sich hier erzählen läßt. Sie dachten gar nicht mehr daran, das Boot leerzuschöpfen.
Nur unser Steuermann behielt seine Besinnung. Ich sah, wie seine Augen starr auf mich gerichtet waren, und ich wußte schon alles, was er beabsichtigte, was er dachte, noch ehe er mit einem wilden Schrei aufsprang und seinen Dolch aus dem Gürtel riß – hier lag Zauberei vor, und an dieser mußte ich, der weiße Teufel, wie die Chinesen jeden Europäer nennen, schuld sein! – aber ich hatte keine Lust, mich abschlachten zu lassen, und ich war schneller als er. Plötzlich hatte ich eine Ruderstange in beiden Händen und ließ sie jenem auf den Schädel niederschmettern, daß es klang, als wenn ein irdener Topf berste.
Dann umspülte mich das Wasser – erst den Unterleib, dann die Brust, dann verlor ich den Boden unter den Füßen, ich mußte schwimmen. Die Prau war gesunken.
Es ist seltsam – aber gerade in dergleichen Augenblicken, wenn es sich um Leben und Tod handelt, hat man solche Gedanken – ich wunderte mich, daß mich das sinkende Boot nicht mit herabzog, denn ich war doch durch eine Kette mit ihm verbunden.
Dem war eben nicht so! Ohne es zu wissen, war ich, um den Schlag zu führen, mit Vehemenz aufgesprungen und hatte dabei den hölzernen Sitz losgerissen, an dem meine Kette befestigt war.
Diese selbst war nicht schwer genug, um mich hinabzuziehen, und sie wurde ja auch am andern Ende von dem Holzbrette getragen. Jedenfalls konnte ich mich über Wasser halten. In solchen Situationen fehlt die Zeitberechnung. Wie lange ich schwamm, weiß ich nicht, auch nicht, was mir plötzlich die Besinnung raubte. Ich glaube, daß ich einen Schlag gegen die Schläfe bekommen habe, vielleicht vom Fuße eines schwimmenden Chinesen.
Lange kann ich im Wasser nicht bewußtlos gewesen sein, sonst wäre ich ertrunken, und während dieser kurzen Zeit bin ich von rettenden Händen aufgefischt und an Bord der Dschonke gehievt worden.
»He jüh, das ist ja ein ganz gewöhnlicher Europäer!!«
Das waren die ersten Worte, welche ich vernahm, auf deutsch gerufen, und man darf wohl glauben, daß sie mir wie Engelsmusik in die Ohren klangen, und als ich die Augen aufschlug, da sah ich, daß dieser deutschsprechende Engel wie ein Chinese gekleidet war und im Gesicht eine ungeheure Nase hatte – ein Monstrum von einer Nase, wie ich einer solchen noch niemals begegnet war – ich hatte überhaupt für gar nichts weiter Interesse, ich staunte nur immer diese ungeheuerliche Nase an, und dann bewunderte ich auch die kleinen, vergnügt blinzelnden Schweinsaugen und nicht minder die gewaltigen Elefantenohren, welche bei jedem Worte jenem phänomenalen Riechorgane Kühlung zufächelten.
»Das ist doch der ... der ... der Organist!?« hörte ich da eine andre Stimme gleichfalls auf deutsch im höchsten Staunen rufen. »Wahrhaftig, der Organist!!«
Was soll man nun dazu sagen? Man versetze sich nur in meine Lage. Hier auf der chinesischen Dschonke, die ich als Gefangener von chinesischen Piraten mit angreifen muß, werde ich gleich wieder der Organist genannt!
Der diese Worte gerufen hatte, war ein echter Chinese, was ich von dem größten Teile der übrigen Mannschaft nicht behaupten konnte. Warum soll es unter den Chinesen nicht auch schöne Männer geben? Dieser hier war ein solcher. Wohl waren es die wachsgelben Züge eines schlitzäugigen Mongolen mit hervorstehenden Backenknochen, aber dabei edel, alles wie von der Hand eines Bildhauers modelliert; diese Schlitzaugen, die jetzt so erstaunt auf mich gerichtet waren, feurig und kühn, und der lang herabhängende Schnurrbart verlieh dem noch jungen Mann erst recht einen Ausdruck von wilder Verwegenheit.
Er wandte sich an einen andern Chinesen, in dem ich aber trotz der chinesischen Kleidung, und obgleich sogar unter seiner Filzkappe ein langer Zopf hervorbaumelte, den Europäer erkannte, wenn nicht einen Deutschen, und er wurde ja auch auf deutsch angeredet.
»Hier, das ist der junge Mann, August Hammer, der uns in Hongkong abhanden kam. Zweifelt Ihr nun noch, Steuermann, daß es eine Fügung gibt? Meinetwegen nennt es Zufall, meinetwegen Schicksal – ich glaube an eine Bestimmung, der kein Mensch entrinnen kann.«
Was hatte ich da zu hören bekommen? Dieser Chinese kannte auch meinen richtigen Namen, und ich sollte ihm in Hongkong abhanden gekommen sein? Ich wußte gar nicht mehr, was ich von alledem denken sollte.
Ich will mich nicht zu sehr auf Einzelheiten einlassen, sonst dürfte der Leser ein falsches Bild von der Situation bekommen. Es ging alles Schlag auf Schlag, jetzt war keine Zeit zu Fragen und Erklärungen; die Dschonke hatte es immer noch mit den Piraten zu tun, wenn diese jetzt auch sämtlich im Wasser schwammen. Es galt, sie aufzufischen und an Bord zu nehmen.
Der junge Chinese, welcher offenbar der Kapitän war, hatte mich gesehen, hatte jenen erstaunten Ausruf getan, schnell jene Worte an den Steuermann gerichtet, und dann war er, Kommandos gebend, wieder davongesprungen, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.
Aber ich sollte an Bord der chinesischen Dschonke noch mehr Ueberraschungen erleben. Zunächst tauchte aus einer Luke ein Mann auf, der sich von der übrigen Besatzung dadurch unterschied, daß er kein chinesisches Kostüm, sondern einen blauen Monteuranzug trug, der zu seinem gutmütigen Germanengesicht auch viel besser paßte. Der Mann hatte mehrere Feilen in den Händen und machte einen so schmierig-öligen Eindruck, war auch schwarz genug, daß er viel eher aus dem Heizraum eines Dampfers, als aus dem Innern einer chinesischen Dschonke kommen konnte. Jedenfalls starrte ich ihn wie eine überirdische Erscheinung an.
»Wo ist der Mann, dem ich eine Kette durchfeilen soll?« fragte er einen Chinesen, und ich hörte denselben Dialekt, den ein Matrose der ›Katharine‹ gesprochen hatte, und dessen Heimat Köln am Rhein gewesen.
»Dort sitzt er,« lautete die Antwort des Chinesen.
Also, wohlverstanden, seitdem man mich aus dem Wasser gezogen hatte, oder doch seitdem ich wieder zu mir gekommen, war höchstens eine halbe Minute vergangen, ich saß mit triefenden Kleidern noch immer auf der Taurolle, auf welche man mich gelegt hatte.
Der Schlosser kam auf mich zu und sah mich wohl erstaunt an, doch er sagte nichts, sondern ging gleich daran, den eisernen Ring zu prüfen, den man um meinen Fuß geschmiedet hatte, dann setzte er eine Feile an.
»Wo bin ich denn hier nur?« murmelte ich, noch ganz traumverloren.
»Was? Du bist auch ein Deutscher?« fragte der Schlosser, bei seiner Arbeit einmal aufblickend. »Wie kommst du denn unter die Räuberbande?«
»Ich war ihr Gefangener! Aber so sage doch nur, was für eine merkwürdige Dschonke ist denn das?«
»Das ist ... das ist ... das darf ich nicht sagen, weil ich nicht weiß, ob's der Master haben will.«
»Der Master, wer ist das?«
»Das ist dort der Chinese mit dem langen Hängebarte. Eigentlich ist er gar kein Chinese, aber ... frage nichts mehr, ich antworte nicht.«
Der Mann begann mit Eifer zu feilen und sprach wirklich nichts mehr; ich hatte also nur erfahren, daß jener Chinese, der mich gleich beim Spitznamen genannt hatte, ›Master‹ genannt wurde und eigentlich gar kein Chinese war, und so verließ ich mich auf meine eignen Augen.
Ich zählte an Deck einundzwanzig Mann, für eine Dschonke eine sehr starke Besatzung, und im Innern schienen noch mehr zu sein. Wohl sah ich darunter auch Chinesen, an deren Echtheit kein Zweifel aufkommen konnte, auch glaubte ich zwei Japaner unterscheiden zu können, aber die meisten hatten doch unverfälscht germanische Gesichtszüge. Außerdem wurde auch entweder Englisch gesprochen oder Deutsch.
Jetzt waren sie damit beschäftigt, die schwimmenden Piraten aufzufischen. Sie warfen ihnen Taue zu und reichten Stangen, zogen die sich Daranklammernden hoch, und sobald einer an Deck war, wurde er mit einer fabelhaften Geschwindigkeit an Händen und Füßen gebunden und wie ein Mehlsack durch eine Luke ins Innere der Dschonke befördert.
Wirklich, diese echten und verkappten Chinesen arbeiteten mit einer fabelhaften Geschwindigkeit, die mußten schon Uebung in so etwas haben!
Aber nicht alle im Wasser treibenden Piraten waren geneigt, die Rettungsleine oder die dargebotene Stange zu ergreifen. Sie mochten ahnen, was ihrer wartete, es waren eben Piraten, die diesmal das Spiel verloren hatten. Sehr viele zogen vor, nach ihrer Insel zurückzuschwimmen, auf die Gefahr hin, unterwegs die Beute eines Haifisches zu werden. Die Haie lieben solch ein Getümmel in ihrem Reiche nicht; jetzt zwar sah man keinen, aber dem einzelnen Schwimmer würden sie schon zu Leibe gehen. Trotzdem also wurde die Tour riskiert.
Da hatte nun die Besatzung der Dschonke ein originelles Mittel, um diejenigen, welche der Einladung keine Folge leisten wollten, dennoch an Bord zu bekommen. Ein Mann, welcher trotz seiner chinesischen Kleidung eher wie ein deutscher Steinetreiber aussah, produzierte sich als unübertrefflicher Lassowerfer. Er rollte ein ziemlich starkes Hanfseil zusammen, wirbelte die Schlinge um den Kopf und schleuderte sie nach einem der sich entfernenden Schwimmer. Die Schlinge legte sich kreisförmig um denselben, sie schien beschwert zu sein, sank sehr schnell unter, und nun konnte der Lassowerfer ganz genau den Zeitpunkt berechnen. Sobald er zuzog, hatte er jedesmal den Schwimmer mit unfehlbarer Sicherheit unter den Armen gefangen.
Während der Mann schon wieder nach einer zweiten Wurfleine griff, deren er eine ganze Menge handbereit liegen hatte, zogen die Matrosen den Gefangenen schnell heran und herauf an Bord – und in demselben Augenblick band ihm der eine die Hände auf den Rücken, ein andrer die Füße, dann hatten ihn schon zwei andre angepackt und transportierten ihn nach der offnen Luke, aus der sich vier Hände emporstreckten, um den Kerl in Empfang zu nehmen – es ging alles wie's Brezelbacken, und da wurde schon wieder ein mit dem Lasso Geangelter herangeschleppt.
Dabei wurde fröhlich gescherzt, was mir freilich ganz unverständlich blieb.
»Wieder tausend Taler,« hörte ich unten in der Luke sagen, als ein neuer Mann hinabbefördert wurde.
»Nee, nee, für den gebe ich bloß fünfhundert,« wurde dagegen protestiert. »Dem fehlen ja zwei Finger an der Hand!«
»Aber der hier, das ist ein Prachtkerl, der schafft für zwei.«
»Ja, für den gebe ich drei Taler mehr.«
Was sollte das? Das ging ja gerade wie auf dem Sklavenmarkte zu.
Nun hatten aber dennoch sehr viele Schwimmer das Weite gewonnen, ehe sie von der Wurfschlinge erreicht wurden. Da wußte sich die Besatzung der Dschonke, der es so viel darauf anzukommen schien, die Piraten gefangenzunehmen, in andrer Weise zu helfen.
An Deck lagen lange Ruder, sie wurden durch Löcher in der Bordwand gesteckt, je zwei Matrosen bewegten stehend ein Ruder, und so hatte sich die Dschonke in eine Galeere verwandelt.
Eigentlich liegt es überhaupt sehr nahe, daß man solche kleine Fahrzeuge, wie die Dschonken doch nur sind, wenigstens im Verhältnis zu andern Seeschiffen, mit Rudern ausrüstet. Die Dschonken haben in diesen Gewässern viel von Windstillen zu leiden. Sie sind manchmal schon dicht am sichern Hafen, da plötzlich hört der Wind auf, und sie können nicht weiter, sie werden unrettbar ein Opfer des der Windstille folgenden Sturmes.
Warum werden da nicht große Ruder angeschafft, welche doch Aussicht gewähren, noch den sichern Hafen erreichen zu können? Ja, das ist bei den Chinesen eben immer die alte Geschichte. Vor tausend Jahren hat es in China keine Dschonken gegeben, welche gerudert wurden, und da werden eben auch heute noch keine Ruder geführt. Man kennt es nicht. Vielleicht verbietet es sogar ein Gesetz. Hier war es anders. Es waren verkappte Chinesen, die sich einer Dschonke nur bedienten, um die Seeräuber anzulocken.
Mir hatte das Seebad nichts geschadet, und als ich von meiner Hundekette befreit war, sprang ich an eine Ruderstange, an der nur ein einziger Mann arbeitete, und legte mich mit Macht ins Zeug.
»Na, na,« lachte da der deutsche Matrose, »brich nur nicht das Ruder ab! Das geht hier bei uns doch alles allein! 'S ist bloß, daß wir rudern müssen, falls uns einer zuguckt.«
Ich verstand durchaus nicht, was der Mann meinte. Wir wollten doch die Schwimmer einholen, und solch eine plumpe Dschonke von 100 und mehr Tonnen ist kein leichtes Ruderboot, das von wenigen Menschen fortbewegt werden kann.
Da aber machte ich eigentümliche Wahrnehmungen. Wir kamen sehr schnell von der Stelle, waren gleich wieder mitten zwischen den Schwimmenden, von denen einer nach dem andern mit dem Lasso heraufbefördert wurde. Und mein schweres Ruder ging so merkwürdig leicht! Es schien im Wasser gar keinen Widerstand zu finden. Es war, als ob die Dschonke von ganz allein führe. Ich blickte nach den andern Matrosen – auch diese strengten sich gar nicht an, spielten nur so, ruderten womöglich nur mit einer Hand.
Die Vermutung lag also nahe, daß die Dschonke von einer starken Strömung getrieben wurde. Dann aber mußten doch auch die Schwimmer ...
Ich hatte nicht lange Zeit, über das Rätsel nachzugrübeln.
»Ein Dampfer – ein Norweger!« erscholl ein Ruf.
Ich sah ihn hinter der Insel hervorkommen; ich hörte den Kapitän, den sie hier den Master nannten, zu dem Steuermann seine Verwunderung darüber äußern, wie ein solcher Dampfer hierher käme, und da schien es mir an der Zeit, als ehemaliger Gefangener der Piraten handelnd aufzutreten.
»Der gehört mit zu den Seeräubern!« rief ich. »Er ist erst heute im Hafen der Insel angekommen; es sind auch viele Japaner an Bord, und die chinesischen Inselbewohner scheinen unter ihrem Befehle zu stehen.«
Meine Erklärung brachte bei der Mannschaft offenbar eine große Erregung hervor, bei dem Kapitän freilich am allerwenigsten. Er warf mir einen Blick zu, nickte, zog dann gelassen aus einem Futteral an seinem seidenen Gürtel ein Fernrohr, schraubte es lang und richtete es auf den Dampfer.
»Stimmt! Kapitän, Offiziere und viele der Matrosen sind Japaner. Aber ich kenne keinen. Haben Sie den Namen des Kapitäns gehört?«
Die Frage war offenbar an mich gerichtet.
»Den Namen des Kapitäns nicht, aber einen andern. Er befand sich mit im Gefolge des erstern und schien kein gewöhnlicher Mann zu sein. Kanimo wurde er gerufen, fast noch ein Knabe; es wurde ihm befohlen, sich freiwillig den Leib aufzuschlitzen, und er tat es sofort.«
»Kanimo! Den kenne ich, wenigstens dem Namen nach. Dann ist das der ›Drachenkopf‹, welcher die Inseln revidiert. Das können wir ja überhaupt gleich erfahren.«
Bisher war noch keiner der aufgefischten Piraten verhört worden, doch dem Chinesen, der jetzt befragt wurde, brauchte nicht erst die Pistole auf die Brust gesetzt zu werden, er beantwortete alle Fragen.
Es war nur ein sehr kurzes Verhör, und auch ich brauchte keine nähern Erklärungen abzugeben, es war jetzt keine Zeit dazu.
Länger währte die Beratung, welche zwischen dem Kapitän, einem andern Chinesen, dem Steuermanne und einem Japaner stattfand, wobei immer durch Fernrohre nach dem näherkommenden Dampfer gespäht wurde.
Die Unterredung wurde in chinesischer oder japanischer Sprache geführt, deshalb verstand ich nichts davon. Da streifte mich des Kapitäns Blick, er machte eine Handbewegung, und die andern verstummten sofort.
»Hätte ich doch die Hauptsache bald vergessen!« rief er. »Bitte, Herr Organist, wollen Sie sich hierher bemühen und an unsrer Beratung teilnehmen?«
Diese Anrede kam mir natürlich sehr spanisch vor, aber ich mußte der Aufforderung wohl Folge leisten.
»Haben Sie schon von dem gelben Drachen gehört?« begann der schwarzbärtige Kapitän, der ein so gutes Deutsch sprach und ja auch gar kein Chinese sein sollte, obgleich er genau wie ein solcher aussah. Im übrigen kann ich nur sagen, daß er mir ganz gewaltig imponierte, wenn ich auch gar nicht wußte, weswegen. Es lag eben in seinem ganzen Auftreten.
»Ich habe diesen Namen zum ersten Male von dem Japaner gehört, welcher der Kapitän jenes Dampfers ist,« entgegnete ich. »Auch er fragte mich, ob ich schon den gelben Drachen kenne. Als ich verneinte, erklärte er mir, die Piraten gehörten zum Bunde des gelben Drachen, welcher gegen China Krieg führe ...«
»Genug!« fiel mir der Chinese ins Wort, aber durchaus nicht unhöflich, wie er überhaupt von vollendeter Liebenswürdigkeit war. »Der gelbe Drache ist eben eine geheime Vereinigung, welche gegen die chinesische Regierung agitiert. Sie haben auch Seeräuber in ihren Diensten, welche Dschonken plündern müssen. Das ist ihre unerschöpfliche Geldquelle. An ihrer Spitze stehen meistens Japaner, auch solche in hoher Staatsstellung. Auf jenem Dampfer nun befinden sich solche japanische Führer des Bundes, deren wir gern habhaft werden möchten, weil wir vielleicht wichtige Geheimnisse von ihnen erfahren können. Wie machen wir nun das?«
Was sollte diese Frage bei mir, dem unerfahrnen, in Lumpen gehüllten Jüngling? Gut, ich wollte ihnen eine Antwort geben.
»Wenn Sie ihrer habhaft werden wollen, dann müssen Sie sie einfach fangen.«
»Bravo, das war die einzig richtige Antwort!« lachte der Kapitän. »Nun ist die Sache aber die, daß sich die Japaner nicht lebendig werden fangen lassen. Wir können den Dampfer entern, wir werden siegen, wir werden Chinesen und Japaner zu Gefangenen machen – aber die Männer, auf welche es uns gerade ankommt, weil sie uns etwas zu verraten haben, werden wir nicht lebendig bekommen, die werden noch im letzten Augenblicke Harakiri machen – Sie wissen, kchchch.« Er machte die Bewegung des Bauchaufschlitzens, während er mich mit seinen blitzenden Augen anlachte.
Ich war um die Antwort nicht verlegen.
»Dann muß ihnen die Möglichkeit genommen werden, sich vorher zu töten.«
»Ja, das ist leicht gesagt, aber das Wie! Wie ihrer erst habhaft werden!«
»Der Dampfer muß in den Grund gebohrt werben, daß er auf der Stelle sinkt. Sie müssen plötzlich im Wasser liegen und so mit dem Lasso herausgefischt werden wie diese Piraten hier,« entgegnete ich aufs Geratewohl, nur um nicht die Antwort schuldig zu bleiben.
Lebhaft wandte sich der chinesische Kapitän den andern wieder zu.
»Sehen Sie, mein junger Freund hier ist ganz derselben Ansicht wie ich,« rief er triumphierend, »und das soll den Ausschlag geben! Der Dampfer ist überhaupt sowieso für uns verloren. Sehen die Japaner, daß wir ihn kapern, sprengen sie ihn doch in die Luft und sich selbst mit. So aber verlieren wir nur das Schiff. Was tut's? So eins ist überall zu kaufen. Und was die wertvolle Fracht betrifft ... Steuermann, was für Meerestiefen sind hier?«
»Alles seichtes Gewässer, habe mich schon orientiert, nirgends tiefer als fünfzehn Meter,« entgegnete der Gefragte.
»Na also! Dann schicken wir Taucher hinab, und wenn wir nur die Papiere bekommen, so genügt das schon. Laßt die letzten Piraten an Land schwimmen, sie entkommen uns doch nicht. – Ruder ein!!! Klar zum Ramm!!!«
Was für ein Kommando war das? Klar zum Ramm? Diese elende, hölzerne Dschonke wollte den aus starken Eisenplatten zusammengefügten Dampfer rammen, um ihn in den Grund zu bohren?
Ich blickte mich um. Wohl sah ich an Deck und an der Bordwand Einrichtungen, welche man sonst nicht auf chinesischen Dschonken findet – übrigens war von keinen Apparaten und dergleichen die Rede, höchstens, daß in die Deckplanken feste Eisenboller und Eisenstäbe eingelassen waren – aber sonst war das Ganze doch auch nur so ein gebrechliches Balkengerippe, zusammengenagelt und mit Klammern zusammengehalten; ich prüfte die Ballen und Bretter mit meiner Hand – wurmstichiges Holz, nichts weiter.
Und diese Dschonke wollte dort den eisernen Dampfer in den Grund rammen? Ja, woher wollte sie denn überhaupt die dazu nötige Geschwindigkeit nehmen? Vielleicht daraufzurudern?
Ich hatte wiederum nicht viel Zeit zum Grübeln.
»Klar zum Ramm!!!« wiederholten die Matrosen, zogen die langen Ruder ein und befestigten sie sowie alles, was nicht niet- und nagelfest war, mit fieberhafter Eile an Deck. Dann legten sie sich alle platt hin, stemmten sich mit den Füßen fest und klammerten sich an die im Deck eingelassenen Eisenstangen, welche zu diesem Zwecke wie geschaffen waren.
Auf einen Wink des Kapitäns sprang der großnasige Matrose, übrigens ein sehr kleiner Wicht, der auch über ein Paar wunderbar krummer Beine verfügte, zu mir hin und leitete mich an, die gleichen Vorbereitungen zu treffen, um einen Stoß aushalten zu können.
Auch der chinesische Kapitän legte sich so hin, weit vorn im Schiff, entfernte vor sich ein Brett, und ich bemerkte, daß dort in das Deck ein kleines horizontales Steuerrad eingelassen war, dessen Speichen er erfaßte, während sonst die Dschonke nur eins der primitiven Hebelsteuer besaß.
Außerdem ragte aus dem Deck noch ein kurzes Rohr hervor, an welches der Kapitän seinen Mund brachte, während er durch eins der Löcher unten an der Bordwand die Meeresfläche vor sich überblicken konnte.
Durch ein solches Loch konnte auch ich den Dampfer beobachten. Er hatte sich uns schon so weit genähert, daß jeder Mann an Deck und die Offiziere auf der Kommandobrücke zu unterscheiden waren.
Sie hatten von der Insel ausgesehen, wie die Prauen von der Dschonke in den Grund geschossen worden waren, wie die Schwimmenden aufgefischt wurden, wie die Dschonke mit langen Riemen gerudert wurde – sie kamen nun, sich diese merkwürdige Dschonke näher anzusehen. Sie betrachteten sie natürlich als Feind, und wenn sie auch nicht wußten, wie das elende Holzding dem eisernen Dampfer etwas anhaben konnte, ließen sie doch keine Vorsicht außer acht.
An Deck waren zwei Geschütze postiert worden, welche zuvor sicher noch nicht dort gestanden hatten. Wohl die Hälfte der Matrosen war mit Gewehren bewaffnet, und ich konnte deutlich unterscheiden, daß es moderne Hinterlader waren. Jetzt wurden an sämtliche Leute auch noch schwere Entersäbel verteilt.
Als der Dampfer höchstens noch hundert Meter von uns entfernt war, griff der japanische Kapitän zum Sprachrohr und donnerte zu uns herüber. Bei uns aber kam kein Kopf über der Bordwand zum Vorschein.
»Oho, sie wollen ihr Revolvergeschütz an uns probieren!« meinte der Nasenkönig neben mir. »Na, gnade ihnen Gott, das dürfte ihnen schlecht bekommen, wir sind von Eisenholz gebaut.«
»Klar zum Ramm!!« kommandierte der Kapitän nochmals aber mit leiser Stimme und mehr in fragendem Tone.
»Klar zum Ramm!« bestätigten die Matrosen unisono.
Jetzt legte der Kapitän den Mund an das hinabführende Sprachrohr. »Volle Kraft voraus!!!«
Da ging ein Zittern durch die Planken, immer mehr und mehr, das Wasser schäumte durch die Ausgußlöcher, und ... ich kann es nicht beschreiben, mir schnürte etwas Entsetzliches, die Ahnung des Rätselhaften, das Herz zusammen.
Plötzlich sah ich einen Koloß vor mir – »Festgehalten!!!« erscholl der donnernde Ruf – dann ein furchtbarer Ruck, ein gellender Schrei, ein Krachen und Bersten und Gurgeln – und alles war wieder still, auch das Zittern der Planken hatte aufgehört.
Ich sprang wie die andern auf. Ruhig schaukelte sich unsre Dschonke auf der nur leicht bewegten, aber stark schäumenden See, in der es von schwimmenden Menschen wimmelte. Aber der eiserne Dampfer war verschwunden.
Die hölzerne Dschonke hatte ihn glatt durchschnitten und war selbst vollkommen unbeschädigt geblieben!
Ich schildere zuerst, was ich zu sehen bekam.
Die Schwimmenden, von denen nur einige Verletzungen davongetragen hatten, obgleich es auch einige Tote gegeben haben sollte, die aber vorläufig von den Wellen verschlungen worden waren, wurden aufgefischt und an Bord gezogen, wieder arbeitete der Lasso fleißig, und bei dieser Art von Rettung hatte man es ganz besonders auf die kurzgeschorenen Kopfe von Japanern abgesehen.
Wieder hatte ein solcher die Wurfleine unter den Armen zugezogen bekommen, da machte er eine eigentümliche Bewegung, und als man ihn heraufzog, hatte er seinen Dolch im Herzen.
So sah ich noch mehrere Selbstmord begehen; selbst im Wasser schlitzten sie sich die Leiber auf, nicht nur Japaner, auch Chinesen. Es war die greulichste Szene, die ich je gesehen habe, und war mir damals ganz unverständlich, weshalb sich diese Männer auf solche Weise selbst abschlachteten.
Es kamen jedoch noch genug lebendig an Bord. Sie wurden gebunden und hinabbefördert. Unter ihnen erkannte ich auch den japanischen Kapitän, den man bewußtlos aufgefischt hatte.
Unterdessen hatte die Dschonke zwei Anker ausgeworfen, welche Grund fanden, eine Handpumpe wurde an Deck gebracht, und ein Mann zog schon den Taucheranzug an. Zugleich wurden auf der andern Seite gebogene Planken von Eisenblech zusammengeschraubt, und im Nu entstand unter den Händen der Matrosen ein seetüchtiges Boot.
Auch hierbei ging alles wieder mit einer geradezu fabelhaften Geschwindigkeit vor sich. Eine Disziplin herrschte an Bord dieser Dschonke, wie ich sie noch auf keinem Kriegsschiff beobachtet hatte, und dabei war kaum ein Kommando nötig, jeder Matrose schien ein Muster von Intelligenz zu sein, wußte genau, was er zu tun hatte, und arbeitete dem andern in die Hand.
Ich hatte an Bord dieser merkwürdigen Dschonke nun schon so viel Seltsames erlebt, daß es mich gar nicht mehr wunderte, daß in dem Taucherhelm ein kleines Telephon angebracht und durch grünumsponnene Drähte mit einem an Deck befindlichen Sprechapparate verbunden war, und daß in dem Blechboote, ehe man es in das Wasser hinabließ, ein kleines Revolvergeschütz montiert wurde.
»Herr Hammer, Sie möchten mir zum Kapitän folgen.«
So wurde ich von einem deutschen Matrosen in chinesischer Kleidung angeredet. Ich folgte ihm die steile Treppe hinab, mit der Ahnung, daß jetzt die Lösung aller Rätsel kommen würde, und infolgedessen schaute ich meine Umgebung unter Deck nicht besonders an, wunderte mich auch nicht sehr, als ich in eine zwar winzig kleine, aber höchst komfortable Kajüte eintrat, welche man in einer Dschonke nimmermehr vermutet hätte.
Erstaunter schon betrachtete ich den Mann, der mich hier stehend empfing. Auch er trug chinesische Kleidung, aber an Deck hatte ich ihn noch nicht gesehen; denn der blonde Lockenkopf mit den schönen, edlen, aristokratischen Zügen wäre jedem sofort aufgefallen.
Lächelnd blickte er mich an, als er auf das kleine Sofa deutete, welches neben dem Miniaturschreibtisch stand.
»Bitte, Herr Organist, wollen Sie Platz nehmen!«
Ich tat es, er ließ sich vor dem Schreibtisch nieder, noch immer mich lächelnd anblickend, und ich wiederum konnte mich nicht sattsehen an diesem Urbild eines jugendkräftigen Germanen in voller Mannesschönheit, wobei ich seine chinesische Kleidung ganz vergaß.
»Nun, Herr Organist, wie geht es Ihnen?« begann er das Gespräch.
»Ich kann nur staunen.«
»Sie kennen mich nicht?«
»Nicht im geringsten.«
»Ich bin der Kapitän dieser Dschonke.«
»Ich glaubte, der Kapitän wäre der Chinese mit dem langen Barte, der von den Matrosen der Master genannt wird.«
»Dieser Chinese und Master bin ich selbst.«
Er griff in ein Schubfach des Schreibtisches, brachte ein Bündel Haare zum Vorschein, wendete das Gesicht zur Seite, machte sich an seinem Kopfe zu schaffen, nur wenige Augenblicke – und als er sich mir wieder zuwandte, sah ich wieder den langbezopften Kapitän mit dem herabhängenden Schnurrbart und den hervorstehenden Backenknochen.
Ohne ein Wort zu verlieren, nahm er die Perücke und den falschen Bart wieder ab und legte beides gleichgültig in das Schubfach zurück, und dabei sah ich, wie sich sein Gesicht plötzlich total veränderte, vor mir saß wieder der, den ich beim Eintritt hier gefunden hatte.
Ich hatte ihm selbst gesagt, daß ich nur staunen konnte.
»Das genügte wohl, um die Wahrheit meiner Behauptung zu beweisen. Haben Sie schon von einem gewissen Nobody gehört, Privatdetektiv und Berichterstatter von ›Worlds Magazine
Ich verneinte.
»Wenn Sie drei Jahre lang auf See gewesen sind, so ist das begreiflich. Sie haben doch in Hongkong mit einem schwarzbärtigen Herrn gesprochen, welcher Sie als Matrose für seine Jacht engagieren wollte.«
»Jawohl, Herr Makart hieß er.«
»Dieser Herr war ich.«
»Sie sehen ihm zwar nicht ähnlich, aber nach dem, was Sie mir soeben als Verwandlungskünstler vorgemacht haben, zweifle ich nicht daran, daß Sie es wirklich gewesen sind.«
»Dieses Vertrauen zu mir freut mich, das wird unser Gespräch sehr abkürzen. Können Sie sich ferner des alten Chinesen erinnern, der Sie in jener Spielhölle, die Sie mit einigen Kameraden betraten, immer so scharf anblickte?«
»Und ob ich mich seiner noch erinnern kann!«
»Das war ebenfalls ich.«
»Daran zweifle ich jetzt auch nicht mehr.«
»Ferner war ich auch derjenige, welcher mit Ihrem Vormund und Kapitän über Sie gesprochen hat. Zwar sagte Ihnen jener Makart, also ich selbst, er habe nur seinen Stellvertreter zu Ihrem Kapitän geschickt, aber dem war nicht so, ich selbst war es, jedoch wiederum in einer andern Maske, und ich sagte Ihnen diese kleine Unwahrheit nur, um Weitschweifigkeiten zu vermeiden. Jetzt wiederhole ich also meine Frage: wollen Sie in meine Dienste treten?«
»In was für Dienste? Was betreiben Sie?«
»Diese Frage gefällt mir von Ihnen. Sie beweist mir, daß Sie nicht in die Dienste eines jeden Menschen zu treten gewillt sind.«
»Allerdings nicht. Sie gaben sich für einen Mann aus, der sich zu seinem Vergnügen eine Jacht hält. Für diese wollten Sie mich anmustern.«
»Ich will Ihnen eine Erklärung geben, soweit eine solche jetzt in aller Kürze möglich ist. Ich habe mit der chinesischen Regierung einen Kontrakt abgeschlossen, wonach ich diese Gewässer von Seeräubern säubern soll und ... ja, mehr brauche ich eigentlich gar nicht zu sagen. Oder fragen Sie, wenn Sie noch etwas wissen wollen.«
Allerdings hatte ich da noch sehr viel zu fragen, und diese Gelegenheit dazu ließ ich mir nicht entgehen.
»Sie bedienen sich einer Dschonke und maskieren Ihre Mannschaft als Chinesen, um die Piraten auf sich zu locken und diesen dann selbst den Garaus zu machen. Ist es nicht so?«
»Ganz richtig. Davon sind Sie doch selbst Zeuge geworden.«
»Hat denn diese Dschonke eine Dampfmaschine?«
»Nein, aber einen sehr starken Petroleummotor, der ihr eine Geschwindigkeit bis zu 18 Knoten in der Stunde verleiht!«
»Einen Petroleummotor?« fragte ich, der ich noch nie so etwas gehört hatte.
»Sie sollen die Maschine dann zu sehen bekommen. Die Petroleummotore sind eine neue Errungenschaft der Technik. Ich sah eine große Jacht, welche statt mit einer Dampfmaschine mit solch einem Petroleummotor ausgestattet war, und ließ mir nach diesem Muster ein kleineres Fahrzeug auf einer Londoner Privatwerft bauen, unter der Garantie der Geheimhaltung, denn ich beabsichtigte eben, den chinesischen Piraten zu Leibe zu gehen, deshalb gab ich diesem Fahrzeug das Aussehen einer chinesischen Dschonke, scheinbar nur aus Balken und Brettern zusammengenagelt, während es in Wirklichkeit ein mit schweren Stahlplatten gepanzertes Schiff ist, vorn auch mit einem scharfen Rammer versehen. Nun begreifen Sie wohl auch, wie ich den eisernen Norweger so glatt durchschneiden konnte.«
Ja, das begriff ich, obgleich mein Staunen dadurch nicht geringer wurde.
»Immer fragen Sie nur, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung,« ermunterte mich der Kapitän, der überhaupt von vollendeter Liebenswürdigkeit war.
Meine Fragen waren nicht geregelt, und die nächstfolgende diktierte mir nur die Neugier. »Darf ich fragen, was Ihnen die chinesische Regierung dafür zahlt, daß Sie gegen die Piraten auf eigne Faust Krieg führen?«
»Sie dürfen nicht nur fragen, sondern Sie sollen sogar fragen!« rief der Kapitän lebhaft. »Ich habe mir ausbedungen, daß ich die von mir gefangenen Piraten als meine Sklaven behalten kann.«
»Als Sklaven?!«
»Sagen Sie, wenn Ihnen dieses Wort nicht gefällt, als meine Arbeiter. O, die haben bei mir über nichts zu klagen. Bedenken Sie nur, daß Piraterie eigentlich bedingungslos durch den Tod am Galgen bestraft wird. Ich schenke ihnen mit Genehmigung der Regierung das Leben. Dafür müssen sie arbeiten. Lohn bekommen sie allerdings nicht, aber, wie schon gesagt, sie leiden keine Not. Jedenfalls stehen sich die Piraten bei mir zehnmal besser als in den Diensten des gelben Drachen, von dem sie unter der Maske eines patriotischen Zweckes doch nur ausgenützt werden.«
»Wo beschäftigen Sie die gefangenen Piraten?«
»Auf einer Insel, die mir die chinesische Regierung als Operationsbasis überlassen hat. Sie ist unser nächstes Ziel, und Sie werden selbst sehen, was wir dort treiben. Da ich aber meine Gefangenen verwenden kann wo und wie ich will, bediene ich mich ihrer auch noch zu einem andern Zwecke. Sie werden nach und nach in alles eingeweiht werden, denn ich denke doch, Sie bleiben von jetzt an bei mir. Nicht wahr, mein junger Freund?«
Mir wollte etwas durchaus nicht in den Kopf. Welchen Anlaß hatte dieser Mann, daß er mich so äußerst liebenswürdig behandelte? Wenn er mich gern als Matrose haben wollte, wie kam er dazu, daß er mich in alles einweihte, mich immer aufforderte, alles zu fragen, was ich wissen wollte? Das ist vor allen Dingen der Stellung eines Kapitäns nicht entsprechend.
»Sie wollen mich für diese Dschonke als Matrose anmustern?«
»Als meine Ordonnanz.«
Darunter verstand ich damals den Diener eines Offiziers, einen Stiefelputzer. Dieses Bild eines stiefelputzenden Soldaten im Drillichanzug hatte ich eben nun einmal in meinem Kopfe, und das gefiel mir gar nicht.
»Als Ihren Diener?« fragte ich und mag dabei ein sehr mißtrauisches Gesicht gemacht haben.
Der schöne Mann lächelte, als er sich in seinem amerikanischen Schaukelstuhle zurücklehnte.
»Einen Augenblick! Haben Sie schon von Utopia gehört?«
Als ehemaliger Gymnasiast kannte ich die Bedeutung dieses Wortes.
»Unter Utopia versteht man ein Land, welches gar nicht existiert, etwa das Phantasiegebilde eines Dichters, einen Zukunftsstaat – es ist das Land Nirgendwo.«
»Das Land Nirgendwo,« wiederholte der Kapitän langsam, und es klang sogar feierlich. »Ich bin Nobody, ein Niemand, ich habe dieses Reich Nirgendwo gegründet und herrsche darüber als König Niemand. Verstehen Sie?«
Nein, ganz und gar nicht! Ich sagte das nicht, aber er mochte es mir ansehn.
»Es freut mich, wenn Sie noch nichts von diesem Reiche Nirgendwo gehört haben,« sagte er, und dann plötzlich fuhr er mit einem schwärmerischen Enthusiasmus fort, dessen ich diesen Mann gar nicht fähig gehalten hätte:
»Es ist ein Land, welches nicht sichtbar auf dieser Erde existiert – es ist ein Reich, welches nicht gesehen, sondern nur verstanden werden kann – es ist ein Symbol für alle Geister, die es begreifen – es ist eine Verbrüderung von freien, starken und kühnen Männern – und der freieste, stärkste und kühnste Mann ist der König!«
Seltsam! Gerade diese dunklen Worte verstand ich! Ich fühlte, was jener meinte, und solch ein Fühlen kann man nicht mit Worten erklären.
»Und dieser König sind Sie?«
»Sie sagen es. Ich bin der König Niemand vom Reiche Nirgendwo.«
Die Feierlichkeit verließ ihn, er begann wieder zu lächeln.
»Haben Sie schon gehört, daß ein König eine Ordonnanz hat, die ihm die Stiefel putzen muß?« fragte er dann plötzlich.
Es war wiederum ganz seltsam, wie dieser Mann meine Gedanken erraten hatte!
»Nein. Das ist auch etwas ganz andres. Die Ordonnanz eines Königs ist ein hoher Offizier.«
»Nun, als solcher sollen Sie in meine Dienste treten – die Ordonnanz eines Königs – meine rechte Hand, mein Stellvertreter, der in meinem Namen spricht und handelt.«
Da dachte ich daran, daß ich August, der Leichtmatrose war, der auch noch Schiffsjunge hätte sein können – ich dachte an andres – und ich stand auf.
»Herr, was habe ich Ihnen getan, daß Sie mich so verhöhnen?«
Es war eine merkwürdige Frage, er aber verstand mich.
»Sie glauben es nicht? Oder zweifeln Sie an meiner Zurechnungsfähigkeit? Herr, lernen Sie mich erst kennen!! Ich sagte Ihnen damals, ich wollte Sie als Matrosen engagieren. Wieviel bot ich Ihnen den Monat?«
»Achtzig Mark.«
»Das war nur ein Scherz von mir. Ich mußte so sprechen, weil Sie mich sonst nicht verstanden hätten. Achttausend Mark im Monat, so muß es heißen! Wollen Sie in meine Dienste treten? Wenn Sie mich erst kennen gelernt haben, dann werden Sie nicht mehr so große Augen machen!« –
Hiermit will ich unser Gespräch abbrechen, obgleich es noch sehr lange währte.
Doch zunächst etwas andres! Ich habe eine bewundernde und dennoch ganz unparteiische Biographie über den bekannten Cecil Rhodes gelesen. In dieser wurde er unter anderm genannt: ein Hypnotiseur auf politischem Gebiet, der phantastischste Privatmann und der nüchternste Staatsmann, der rücksichtsloseste Patron und der edelste Mensch; Cecil Rhodes ist das größte menschliche Rätsel unsers Jahrhunderts.
Ich habe mit Cecil Rhodes persönlich verkehrt und kann alles dies bestätigen. Aber ich habe einen Mann kennen gelernt, bei welchem alles dies in noch viel höherem Maße zutrifft, welcher ein noch viel größeres und noch heute unergründliches Rätsel war – dieser Mann hieß Nobody.
Ich bin nie wieder einem Menschen begegnet, der so aus lauter Widersprüchen zusammengesetzt war wie dieser Mann. Beständig ist sein Kopf von phantastischen Ideen erfüllt, die manchmal schon mehr an Wahnwitz grenzen, und dabei ist er der praktischste und nüchternste Mensch. Seine Hartherzigkeit grenzt oft genug an Grausamkeit, und dann wieder kann er beim Anblick eines leidenden Tieres weinen. Er glaubt an nichts, nichts ist ihm heilig, er fürchtet sich weder vor Gott noch vorm Teufel – und er zittert vor fremden Gewalten. Er scharrt Schätze wie ein Geizhals zusammen – und dem ersten besten Menschen, der ihm sein Leid klagt, wirft er sie in den Schoß. Nobody läßt sich durch nichts täuschen, sein Blick dringt in jedes Herz und schaut dort die innersten Gedanken; er ist allumfassend, er sieht voraus, woran noch kein Mensch denkt – und dann wieder ist dieser selbe Mann naiv und vertrauensselig wie ein kleines Kind. Und nun bloß noch eins: dieser Nobody, welcher so aus Widersprüchen zusammengesetzt ist, dessen Charakter man gar nicht ergründen kann, ist die Beständigkeit selbst!
Wie soll man solch einen Charakter definieren? Also genug hiermit!
Ich bleibe bei mir selbst, hierdurch ein Beispiel gebend.
Nobody streift, auf der Spur des gelben Drachen, als alter Chinese verkleidet in Hongkong herum. Da sieht er mich in jener Spielhöhle, sieht mich zum ersten Male. Ich mache einen großen Eindruck auf ihn – aber wodurch, das kann man eben nicht sagen, da fehlen die Worte. Nobody ist beständig auf der Jagd nach Menschen, die er für seine Zwecke geeignet hält, und welche er an sich zu fesseln sucht. Dabei aber kommt, wie er selbst sagt, eine gewisse Ahnung mit ins Spiel. Kurz und gut, sofort, als Nobody mich sieht, sagt er sich: Das ist gerade der Mann, den ich suche, den kaufe ich mir!
Jawohl, kaufen, das ist der richtige Ausdruck!
Er sieht, wie ich den Schilling gewinne, ihn einstecke und nicht weiterspiele, und nun ist sein Entschluß gefaßt. Diesen jungen Mann kaufe ich mir.
Er geht an Bord der ›Katharine‹, horcht den Kapitän auf eine ganz raffinierte Weise über mich aus und sagt endlich mit der größten Naivität: Sie verkennen diesen Jungen total, der ist durchaus nicht so dumm, wie Sie denken, das ist vielmehr ein geborener Organisator, der gar nicht mit Gold zu bezahlen ist.«
Diese Worte hatte also der Steward aufgeschnappt und aus dem ›Organisator‹ einen ›Organisten‹ gemacht.
Mein Vormund, der nüchterne Mann, lacht den Besucher als einen Narren aus. Was, ich, der dumme August, der unselbständige Mensch, ein geborener Organisator?
Der sonst unerschütterliche Nobody befindet sich wieder einmal in einer Laune, in der er sich gekränkt fühlt! Er verteidigt seine Behauptung. Er habe in mir auf den ersten Blick ein Genie entdeckt, das nur geweckt werden müsse, und als Beispiel führte er unter andern Männern auch Linné und Alexander von Humboldt an.
Der berühmte Botaniker Linné war bekanntlich in seiner Jugend so dumm, daß er aus der Schule genommen, und einem Schuster in die Lehre gegeben wurde, und der große Alexander von Humboldt, als Knabe der Schrecken aller Lehrer, seinen Mitschülern als Muster von Dummheit und Faulheit hingestellt, erzählt von sich selbst, daß es ihm eines Tages gewesen sei, als ob ihm ein Brett vom Kopfe weggenommen worden wäre. Der Steward hatte aus diesem Alexander von Humboldt einen Alexander Humbug gemacht.
Nun, Nobody legitimierte sich als Jachtbesitzer, wenn er sonst auch den Kapitän durchaus in nichts einweihte, und wußte diesen doch noch zu überreden, daß er mich von meinem Kontrakt entband und ihm überließ.
Hiermit aber ist wiederum ein Geheimnis verbunden, wie überhaupt Nobody gar nicht so viel auf seine ›Ahnung‹ gibt, wie er immer tut. Da kommt noch etwas ganz andres in Betracht.
Es liegt im Blick dieses genialen Mannes. Alle Welt hatte mich stets für einen etwas beschränkten Menschen gehalten – Nobody erkannte beim ersten Sehen, daß in mir unscheinbarem Menschen etwas Besonderes stecke, und er vollzog sofort die Probe.
Ich habe hundertfache Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie dieser Mann zu hypnotisieren versteht. Er besitzt eine wunderbare Macht über die Menschen und auch über die Tiere. Ich habe noch keinen gesehen, der seinem Blick zu widerstehn vermochte.
Da traf er mich, es fiel ihm etwas an mir auf – was, das wußte er selbst nicht mit Bestimmtheit zu sagen, es lag in meinem Auge. – »Ich glaube, das ist einer, den ich nicht hypnotisieren kann« – so sagte er sich, er probierte es, fixierte mich mit seinem faszinierenden Blicke. Ich hielt ihm stand, erwiderte ihn sogar – »Wahrhaftig, das ist selbst ein Hypnotiseur, wenn er vielleicht auch noch keine Ahnung davon hat, der nimmt es sogar mit mir auf, den fessele ich an mich, dessen Energie kaufe ich mir.«
Nun, Nobody war mein Lehrmeister, er hat mich zu einem Hypnotiseur gemacht, der von sich sagen darf, daß ihm in seinem Leben nur vier Personen begegnet sind, die seiner magnetischen Kraft widerstanden haben. Auch ich habe Hunderte von Menschen auf den ersten Blick hypnotisiert.
Das darf man aber nicht mißverstehn. Ich habe die Leute nicht hingesetzt und angestiert und mit ihnen Manipulationen gemacht, bis sie in einen willenlosen Zustand kamen. Ja, wohl habe ich dies auch manchmal getan, wenn es sein mußte, aber das waren doch nur Ausnahmen. Ich meine eigentlich etwas ganz andres, ich spreche hier von einer Willensbeeinflussung, man mag es meinetwegen auch Überredungskunst nennen, obgleich man dabei ein ganz wortkarger Geselle sein kann, so wie ich einer bin.
»Wenn sich irgend zwei Menschen begegnen,« sagte Nobody später einmal zu mir, »so kann man sich zwischen ihnen eine Wage denken, die sich augenblicklich in Bewegung setzt. Einer von ihnen ist der Willensstärkere, dessen Wagschale sinkt, die des andern wird hinaufgehoben. Der eine ist der Hammer, der andre der Amboß. Der eine mag noch so viel und noch so gewandt sprechen, während der andre stumm zuhört – dieser leitet dennoch das Gespräch, ohne daß jener davon etwas weiß. Dasselbe gilt für jede Gesellschaft, auch für die größte. Der eine herrscht kraft seines überlegenen Willens, dem alle andern gehorchen. Aber um befehlen zu können, muß man erst gehorchen gelernt haben. Das ist bei Ihnen der Fall, und Sie sind zum Hammer geboren, wie auch schon Ihr Name sagt.«
Mögen diese Andeutungen genügen!
Ich schreibe dies zwanzig Jahre nach dem Erlebnis selbst nieder. Damals, als ich mit dem rätselhaften Manne in der kleinen Kajüte jener Dschonke saß, ließ er sich nicht auf solche Erklärungen ein. Ich hätte ihn ja doch nicht verstanden, ich hatte ja noch nicht einmal etwas von Hypnotik gehört.
Dieser Mann ging stets seine eignen Wege, und eine Eigentümlichkeit von ihm war es, wie er sich selbst ausdrückte, alles von hinten anzufangen. Auch bei mir verfuhr er so.
Sein Entschluß hatte bei ihm von Vornherein festgestanden, mich zu seinem Stellvertreter zu machen. Daß ich in jener Nacht auf den Walfischfahrer gepreßt worden, über Bord gefallen war und nun hier als Gefangener der chinesischen Piraten, die seine Dschonke angriffen, wieder sozusagen in seine Hände lief, das machte nun gar einen kolossalen Eindruck auf ihn, das bestärkte ihn erst recht in seiner Ansicht: diesen jungen Mann mußt du um jeden Preis an dich fesseln, den hat das Schicksal für dich bestimmt.
Ein andrer, der Großes in mir vermutet, hätte mich doch von klein anfangen lassen und mich, wenn ich die Prüfungen bestanden, nach und nach zu immer höheren Stellen befördert. Nobody aber stellte mich, den unerfahrnen Knaben von siebzehn Jahren, sofort an seine Seite, erkannte mich als Gleichberechtigten an, gab mir über seine Leute und über alles, worüber er selbst verfügte, unumschränkte Vollmacht.
Freilich sagte er mir dies nicht direkt, aber er tat es. Wie dies gemeint ist, wird gleich gezeigt werden. – – –
Unsre Unterhaltung wurde durch zwei Matrosen unterbrochen, welche einen kleinen Panzerschrank in die Kajüte trugen.
Nachdem der eine Bericht erstattet hatte, daß nach Ansicht des wieder hochgekommenen Tauchers, welcher auch diesen Stahlschrank unten abgelöst hatte, der Dampfer wirklich hoffnungslos wrack sei, und daß er nur wenig Reis und sonst Ballast enthalte, entfernten sich die Männer wieder.
»Sehen Sie, das ist ein Vexierschloß, welches auf ein bestimmtes Wort eingestellt werden muß, dann kann man den Schrank öffnen,« sagte Nobody, sich mit der runden Scheibe beschäftigend, welche an der Panzertür angebracht war und viele verstellbare chinesische Buchstaben zeigte.
Er erklärte mir, wie ein solches Vexierschloß funktioniert, und von jetzt an erklärte er fort und fort mit unermüdlicher Geduld, und wenn ich einmal nicht mehr fragte, weil ich glaubte, sie müsse doch endlich erschöpft sein, so forderte er mich gleich wieder auf, über alles, was mir unklar sei, Aufschluß von ihm zu verlangen.
»Wissen Sie, woher mir das Vexierschloß bekannt ist?«
Nein, woher sollte ich das wissen?
»Haben Sie schon von der Hypnose gehört?«
So kurz wie möglich, aber auch vollkommen deutlich, erläuterte er mir das Wesen dieses rätselhaften Zustandes, und was ich nicht in Jahren aus dicken Büchern hätte lernen können, wußte mir dieser Mann in drei Minuten beizubringen.
»Ich habe,« fuhr er dann fort, »einen der gefangenen Japaner hypnotisiert, den ich ganz richtig für einen in die Geheimnisse des gelben Drachen Eingeweihten hielt, und er hat mir denn auch im hypnotischen Zustande die wichtigsten Geständnisse gemacht. Die Hauptsache war, daß ich erfuhr, wo sich in dem gesunkenen Dampfer dieser Panzerschrank befand, welcher Papiere und Instruktionen des gelben Drachen enthält. An diesem Panzerschrank waren nicht nur Selbstschüsse und andre Vorrichtungen angebracht, um ihn gegen fremde Hände zu schützen, sondern es war auch eine Dynamitpatrone vorhanden, und ein leichter Schlag hätte genügt, um den stählernen Schrank samt Inhalt in Atome zu zerschmettern. Das war für den Fall, daß der Dampfer einmal in feindliche Hände geraten sollte. Sie sehen, wie vorsichtig die Mitglieder dieses Geheimbundes sind, und daß der, welcher den Schlag hätte führen müssen, selbst mit in die Luft geflogen wäre, das hat für einen Japaner gar nichts zu sagen. Dadurch, daß ich den Dampfer in den Grund rammte, ist dies alles vereitelt worden und sind mir diese geheimen Instruktionen in die Hände gefallen.«
Der Schrank war geöffnet. Mich blendete vor allen Dingen das viele Gold, welches eine Kassette enthielt; ferner zählte Nobody gegen 60.000 Mark in englischem und amerikanischem Papiergeld, am wichtigsten aber waren für ihn die vorgefundenen Briefe und Dokumente, und er ließ sich nicht verdrießen, mir alles zu übersetzen.
So wurde ich nach und nach in alles eingeweiht, was diesen Geheimbund des gelben Drachen betraf, und nebenbei begann ich spielend, ohne daß ich es eigentlich merkte, die chinesische Sprache zu lernen.
Dieser Mann besaß eine wunderbare Gabe, einem so etwas beizubringen.
Dann begaben wir uns an Deck. Das Boot war schon nach der Insel abgefahren. Jetzt lichtete die Dschonke die Anker und fuhr selbst nach dem Hafen.
Unterwegs erkundigte sich Nobody nach meinen Erlebnissen bei den Piraten, doch viel konnte ich ja nicht erzählen.
Nobody wußte, warum ich verhältnismäßig ganz gut behandelt worden war und immer im ersten Boote hatte sitzen müssen; er gab eine Erklärung dafür. Ich selbst hatte es ja geahnt und habe es auch schon angedeutet.
Hierbei kam ein Aberglaube in Betracht, der unter den chinesischen Piraten herrscht. Alles, was in und auf dem Meere schwimmt, ist nach ihren Begriffen ihr Eigentum, und der Schiffbrüchige, den sie lebendig aus dem Wasser fischen, soll ihnen nach alten Ueberlieferungen großes Glück bringen. So galt ich als ein Talisman, den man, da er nicht gut um den Hals gehangen werden konnte, einstweilen, wenn man ihn nicht brauchte, vor einer Höhle an die Kette legte. Dann mußte ich jedesmal mit in das erste Boot der eine Dschonke angreifenden Piraten. Der heilige Schiffbrüchige sicherte ihnen den Sieg.
Jener Chinese, der mich mit dem Tode bedroht hatte, war schon etwas aufgeklärter gewesen als seine Genossen und hatte von solchem Aberglauben nichts wissen wollen.
Da brachte der Dampfer die inspizierenden Japaner, welche in dem Geheimbunde des gelben Drachen eine führende Rolle spielten. Obgleich nun diese jedenfalls gebildeten Männer am allerwenigsten an die Zauberkraft solch eines lebendigen Talismans glaubten, ist doch gerade der gelbe Drache darauf bedacht, die alten Überlieferungen der Chinesen in voller Reinheit zu bewahren, und sei es auch der gröbste Aberglaube.
Jener Chinese, der an dem uralten Glauben seiner Vorfahren gezweifelt hatte, war des Todes – desgleichen der, der mich geschlagen hatte. Zugleich sollte ein sensationelles Beispiel des unbedingten Gehorsams statuiert werden – jener junge Japaner schlitzte sich freiwillig den Leib auf.
»Ja, das sind die Japaner!« sagte Nobody. »Es gibt übrigens noch ein andres Volk, aber auch nur noch ein einziges, bei dem man denselben fanatischen Gehorsam findet. Das sind die Russen. Rußland ist freilich groß. Ich denke nur an die sogenannten Stockrussen, vor allen Dingen an die Kosaken. Die opfern sich auch in blindem Gehorsam auf einen Wink ihres Gebieters.«
Er erzählte als Beispiel eine Anekdote, die aber, wie ich später erfuhr, auf Tatsache beruhen soll. Ich gebe sie hier wieder, sie ist es wert.
Peter der Große besucht in Berlin den preußischen König Friedrich den Ersten. Im Gefolge des Zaren befindet sich eine Leibgarde von Kosaken. Eines Tages stehn die beiden auf dem Söller eines Kirchturmes, der König zeigt seinem fürstlichen Gast Berlin aus der Vogelperspektive. Da gerät das Gespräch auf die Disziplin unter dem Militär, welche Friedrich noch mehr durchführen will, als schon sein Vater getan.
Peter der Große hört schweigend zu, plötzlich winkt er einem seiner Kosaken, deutet in die Tiefe und sagt: ›Spring!‹
Der Kosak sieht seinen Kaiser an, salutiert und ... springt hinab in die Tiefe.
»Hat mein königlicher Bruder auch solche gehorsame Soldaten in seinem Lande?« wendet sich Peter der Große an Friedrich.
Der König blickt lange hinab, wo der Kosak mit den zerschmetterten Knochen liegt, dann schüttelt er langsam den Kopf und entgegnet: »Nee, Gott sei Dank, solche dumme Kerls gibt's in meinem Preußen nicht!« –
Nobody blickte nach Norden, dorthin, wo das asiatische Festland lag, und es klang feierlich, was er sprach:
»Es wird eine Zeit kommen – sie muß kommen – da Rußland mit Japan um die Herrschaft in Asien ringen wird, und es wird der fürchterlichste Ringkampf werden, den die Weltgeschichte jemals gesehen hat. Und man wird sich irren. Nicht das kleine Japan ist es, welches gegen Rußland kämpft, sondern ein gelber Drache geht gegen einen Bären los. Und dann – ich sehe noch weiter in die Ferne – wird eine Zeit kommen, da es nur drei große Reiche auf der Erde gibt, und diese drei Reiche werden heißen: Germania, Slavia, Mongolia – und sie werden miteinander um die Herrschaft über die Erde ringen.« –
Wir waren im Hafen der Felseninsel angelangt, wo auch schon das Eisenboot der Dschonke lag. Ich vermißte kein einziges Fahrzeug der Piraten; sie hatten also nicht die Gelegenheit benutzt, um die Flucht zu ergreifen.
Die Zurückgebliebenen hatten beobachtet, wie die sechs Prauen in den Grund geschossen worden waren, wie sich die hölzerne Dschonke wie ein Widder auf den eisernen Dampfer geworfen und ihn mitten durchgeschnitten hatte, und da waren sie alle von einem lähmenden Entsetzen gepackt worden.
Nobody hatte das zwar vorausgesehen, war aber doch hocherfreut, daß es auch wirklich so gekommen war. So blieb das Geheimnis seiner mysteriösen Dschonke bewahrt, wie er es bisher zu wahren gewußt hatte.
Die Bootsbesatzung hatte die sämtlichen Piraten, welche sich mit Frauen und Kindern zumeist in Höhlen versteckt hatten, bereits aufgespürt – es gab auch genug Verräter unter ihnen – sie wurden zusammengetrieben und gezählt. Es waren 38 Männer, lauter Chinesen, 53 Weiber und nicht weniger als 165 Kinder.
Nobody, wieder als Chinese maskiert, hielt eine Ansprache, welche eine freudige Erregung hervorzurufen schien. Er hatte ihnen, wie er mir dann erklärte, versichert, daß ihr Leben geschont würde; vorläufig blieben sie hier auf der Insel, bis sie abgeholt würden, um dann mit einer leichten Arbeit beschäftigt zu werden, und bis dahin sollten sie den Wachtposten gehorsam sein, die er bei ihnen zurücklassen würde. Jeder Ungehorsam freilich würde sofort mit dem Tode bestraft.
Diesen letzten Satz wußte Noboby durch einen zu mildern, worauf die gefangenen Chinesen, wie auch die Frauen und Mädchen in ein schallendes Gelächter ausbrachen. Wiedergeben kann ich diesen Witz nicht; er hing damit zusammen, daß die Gefangenen, auch wenn sie von der Insel fortmußten, nicht von ihren Ehehälften getrennt würden.
Jedenfalls bewies Nobody hiermit, daß er mit solchem Gesindel und überhaupt mit Chinesen umzuspringen wußte. Verzweifelte oder stumpfsinnige Menschen, welche den Tod erwarteten, hatte ich vorgefunden – und als wir gingen, hörte ich noch lange ihr kreischendes Gelächter.
»Was wäre sonst das Los der Frauen und Kinder?« fragte ich.
»Der Tod,« lautete die ernste Antwort. »Auch die Angehörigen der Inselpiraten werden gehenkt, weil sie um das Treiben der Männer gewußt haben, so aber sind auch sie laut Kontrakt mit der Regierung meine Sklaven, auch sie nehme ich mit mir und beschäftige sie, ohne sie von den Männern zu trennen. Es ist ein gutes Werk, was ich tue.«
Wir besichtigten die auf der Insel aufgespeicherte, ganz beträchtliche Beute, wobei ich nicht von Nobodys Seite weichen durfte und er unermüdlich im Erklären war.
Das eiserne Boot ward wieder auseinandergeschraubt und an Bord der gepanzerten Dschonke genommen, welche den schönen Namen ›Fatschul‹ führte, das ist nämlich auf deutsch ›Popanz‹. Als Wachtposten blieben zwölf Mann zurück, welche sich in den chinesischen Dschonken, nachdem diese gereinigt worden, was sehr nötig war, häuslich einrichteten, stark bewaffnet und außerdem mit zwei Revolvergeschützen versehen. Sie sollten die Piraten und deren Familien bewachen, bis ein größeres Fahrzeug käme, um alle abzuholen.
Der ›Popanz‹ hatte von den Prauen 37 Mann gefangen genommen, dann von dem Dampfer noch 15 Chinesen und 7 Japaner ausgefischt; diese blieben als Gefangene an Bord, als die Dschonke am Abend die Anker lichtete und unter Motorkraft davonfuhr.
So sehr Nobody auch darauf bedacht war, mich in alles einzuweihen, so erklärte er mir doch nur stets das, was meine Augen eben sahen. Ich erfuhr nicht einmal das Ziel unsrer nächtlichen Fährt, während der keine Lichter ausgesteckt wurden. Ich hörte nur, daß der ›Popanz‹ sich bloß in der Nacht seiner Motorkraft bediente und dann stets ohne Lichter fuhr, während er am Tage immer nur das Bastsegel oder höchstens, aber auch schon als seltene Ausnahme, die Ruder zum Vorwärtskommen benutzte. Wurde dabei dennoch die Motorkraft gebraucht, so durfte das doch von keinem Beobachter bemerkt werden.
Um was es sich hierbei handelte, liegt wohl klar auf der Hand. Es war ein genialer Einfall gewesen, den Nobody gehabt, als er sich zum Kampfe gegen die chinesischen Piraten ein gepanzertes Fahrzeug bauen ließ, welches äußerlich ganz einer Dschonke glich, und es auch noch mit einem Motor ausstattete. Alle die, welche durch die Räubereien der chinesischen Piraten zu leiden haben – und das sind nicht zum mindesten europäische Kaufleute – hätten eigentlich selbst auf diese Idee kommen können. Aber das ist eben die alte Geschichte vom Ei des Kolumbus.
Solch ein Fahrzeug mußte in Wirklichkeit bald zum Popanz aller Piraten werden. Keine Prau durfte ja noch wagen, irgend eine harmlose Dschonke anzugreifen, aus Furcht, sie könne sich als der schreckliche, feuerspeiende Popanz entpuppen, der die stärksten Eisenplatten wie Butter durchschnitt, und die Furcht vor jeder Dschonke mußte um so größer sein, weil dieses Fahrzeug, wie ich selbst später häufig genug sah, oftmals sein Aussehen veränderte. Somit also wäre der chinesischen Seeräuberei in diesen Gewässern überhaupt gleich ein Ende bereitet gewesen.
Hieran aber war Nobody durchaus nichts gelegen. Ganz im Gegenteil! Mehr noch als um die Beute, welche er den Piraten wieder abnahm, war es ihm um die Gefangenen selbst zu tun – zu einem Zwecke, den wir bald kennen lernen werden – Nobody betrachtete eben diesen ihm von der Regierung konzessionierten Kriegszug gegen die chinesischen Piraten, ganz einer Kaperei entsprechend, als eine unerschöpfliche Quelle von Kapital und billiger Arbeitskraft – so lange unerschöpflich, wie er das Geheimnis seiner Dschonke zu wahren wußte, und bisher war ihm das auch gelungen.
Eine weitere Erklärung ist wohl nicht nötig. –
Als ich am andern Morgen nach einigen Stunden Schlafes in einer komfortablen Koje wieder an Deck kam, gewahrte ich hinter mir in weiter Ferne einen Gebirgszug, während sich die Dschonke in einem Labyrinth von kleinen Felseninseln befand.
Nobody leitete immer noch als chinesischer Kapitän selbst die schwierige Passage durch die schmalen Wasserstraßen, wobei beständig gepeilt werden mußte. Als er meiner ansichtig wurde, winkte er mir sofort, an seine Seite zu kommen.
»Sehen Sie dort hinten den Gebirgszug? Er gehört zur Insel Formosa, welche wir heute nacht umfahren haben. Formosa ist der Schlüssel zu China. Wer sich einst in den Besitz von Formosa setzt, wird der Herr über China sein. Und die Japaner werden es sein. Darüber aber kann noch lange Zeit vergehen, vielleicht ein paar hundert Jahre. Vorläufig ist so gut wie ganz Formosa, einige befestigte Hafenplätze abgerechnet, in der Gewalt von chinesischen Riffpiraten, denen unter den jetzigen Verhältnissen, da sich die chinesische Regierung noch keine Vorschriften zu machen braucht, gar nichts anzuhaben ist. Diese Felseneilande hier gehören noch zu der Gruppe der Pescadoresinseln, ebenfalls alles unbestrittenes Eigentum der Piraten, wenn sie deswegen auch nicht im Grundbuche eingetragen sind. Eine der größten dieser Felseninseln nun habe ich mir, wie ich Ihnen schon sagte, als Operationsbasis für meine Züge gegen die Piraten abtreten lassen. Aber das war nur zzziyyy pro formazzz/iyyy, für mich hat diese Insel, die Sie bald zu sehen bekommen werden, noch eine ganz andre Bedeutung.«
Nobody begann nun, mir von einem Gaukler namens Tsin Hei zu erzählen, wie dieser an jener Insel Perlmuscheln ausgesät hatte, wie Nobody mit ihm in Verbindung kam, und wie die beiden acht Jahre lang Gefangene des Taotai von Hangtscheu gewesen waren.
Dem Leser ist dies alles schon ausführlich bekannt, und nun füge ich noch hinzu, was ich mit eignen Augen zu sehen bekam und im Laufe der Zeit erfuhr.
Nicht Nobody selbst, sondern sein Kompagnon, bekannt unter dem Namen Kapitän Flederwisch, hatte als moderner Abenteurer bei der chinesischen Regierung um die Erlaubnis gebeten, unter den genannten Vergünstigungen auf eigne Faust einen Vernichtungskampf gegen die Piraten führen zu dürfen.
Es liegt hier überhaupt ein eigentümliches Verhältnis vor. Wenn Nobody allerdings auch der Mann war, von dem alles ausging, der die Pläne entwarf und zuerst alles arrangierte, so war Kapitän Flederwisch doch eigentlich der Hauptmacher. Nobody war der Kopf, Flederwisch war sein Arm. Sobald Nobody wußte, daß – wie er sich selbst ausdrückte – sein Schlitten lief, überließ er die Leitung einem andern und kümmerte sich nicht mehr darum, steckte nur noch seine Prozente ein. So hat Nobody stets gehandelt, tat es also auch jetzt. Selbst daß er jetzt als Kapitän der Motordschonke einen Beutezug gegen die südlichen Piraten gemacht hatte, das war eigentlich nur ein Privatvergnügen für ihn gewesen.
Vorläufig aber war er doch noch an Ort und Stelle seines neuen Unternehmens, das er, wie immer, einfach als ein gewinnbringendes Geschäft betrachtete, und auch noch, da er gerade nichts andres vorhatte, selbst mit in diesem Geschäfte tätig war.
Nach längern Verhandlungen hatte Kapitän Flederwisch die gewünschte Erlaubnis erhalten. Damals aber verfügten die beiden Kompagnons nur über die nach Art eines Torpedojägers gebaute ›Wetterhexe‹, und als sie nun die Gegend genauer sondierten, welche demnächst ihr Operationsfeld sein würde, und sich alles noch einmal reiflich überlegten, kamen sie zu der Ueberzeugung, daß sie da noch ganz andre Vorbereitungen treffen müßten, wenn sie zu ihrem Ziele kommen wollten. Ein großes Hindernis war schon, daß die ziemlich große ›Wetterhexe‹ nicht in die seichten, von Riffen starrenden Wasserstraßen eindringen konnte. Es kamen aber auch noch ganz andre Verhältnisse in Betracht. Es war zu bedenken, daß sich in China auch unter den höchsten Verwaltungsbeamten Personen befinden, welche selbst mit zum Geheimbunds des gelben Drachen gehören. Verhindern konnten sie freilich nicht, daß dem Kapitän Flederwisch die Erlaubnis gegeben wurde, gegen die Piraten vorzugehen, aber sie würden im geheimen schon ihre Gegenminen legen; dessen durfte man sicher sein, denn sie waren doch eben mit den Piraten im Bunde.
So hielt man es für das Beste, alles, was man zur Ausführung des Unternehmens brauchte, so entfernt wie möglich von hier anzuschaffen, und daher dampfte die ›Wetterhexe‹ erst noch einmal nach England zurück.
Während Nobody und Flederwisch in London einkauften, machten sie die Bekanntschaft des Lords Hannibal Roger. Hier sahen sie auch dessen Petroleum-Motorjacht, Nobody faßte den Plan, sich nach dem Muster derselben eine chinesische Dschonke mit innrer Panzerung bauen zu lassen. Zuerst hatte er nur an kleine, flachgehende Dampfer gedacht, die er sich allerdings auch noch verschaffte, aber doch nur zu Hilfszwecken.
In dieser Zeit der Vorbereitungen, als sie selbst zur Untätigkeit verurteilt waren, machte die ganze Gesellschaft einen Abstecher nach der Riviera, wobei sich Kapitän Flederwisch als der maskierte Prinz von Monte Carlo die ›Heliotrop‹ verdiente – aber doch immer nur durch die Vermittlung Nobodys. Uebrigens trat jetzt auch Lord Hannibal Roger, der ja auf dieser schönen Welt ebenfalls nichts weiter zu tun hatte, als Abenteuern nachzugehn, als tätiger und kapitalkräftiger Teilhaber mit in die Firma Nobody und Kompanie ein.
Jetzt ging es mit der ›Wetterhexe‹ und der ›Heliotrop‹ wieder zurück nach China, an Bord die auseinandergenommene Dschonke, eine Menge Geschütze jedes Kalibers, Munition und sonst alles, was man zu gebrauchen gedachte.
Ohne weitere Umstände wurde Besitz ergriffen von der Felseninsel, welche den unternehmungslustigen Abenteurern von der chinesischen Regierung zugesprochen worden war. Daß diese nicht wußte, wie in der Umgebung der betreffenden Insel durch die Aussaat jenes alten Gauklers im Laufe der Zeit unterseeische Felder von Perlmuscheln entstanden waren, braucht wohl nicht erst erklärt zu werden.
Wie schon gesagt: der sonst so nüchterne Nobody glaubt an eine Fügung, an eine Bestimmung, an ein Schicksal, oder wie man es sonst nennen mag, dem kein Mensch entrinnen kann. Es ist dies eine Eigentümlichkeit, die er mit der ganzen Nation der Yankees teilt, wie Nobody überhaupt viel Yankeehaftes an sich hat – im besten Sinne gemeint.
Und er hat auch ganz recht, wenn er sich scherzhaft einen konzessionierten Felsenmaulwurf nennt. Es ist wirklich ganz seltsam.
Um sich aus der Meeresfeste von Hangtscheu zu befreien, meißelte Nobody innerhalb von 8 Jahren einen 40 Meter langen Tunnel. Zu dieser Arbeit hatte er sich ganz unbewußt schon vorgebildet, denn Nobody hat, wie er selbst erzählt, von klein auf eine merkwürdige Vorliebe für Felsenhöhlen und Tunnels gehabt. Das ›Robinson-Spielen‹ genügte ihm nicht, er hat sich als Kind mit Hammer und Meißel immer in die Felsen einbohren müssen, wozu er in seiner Heimat die beste Gelegenheit hatte. Das war ihm sein liebstes Vergnügen gewesen, so, wie Kapitän Flederwisch erzählt, daß sich jeder Tisch, auf den er sich setzte, in seiner Phantasie in ein Schiff verwandelte, auf dem er nach unentdeckten Erdteilen ausfuhr.
Während Nobody sein Abenteuer in Aegypten am Birket el Kerun besteht, wird er als Blinder von jenem Mädchen in eine Wohnung von Kammern geführt, welche in die Felsen hineingehauen sind.
Dann kommt Nobody nach Monte Carlo – da läßt ihn das Schicksal in Gestalt der Prinzeß Turandot ein ganzes System von unterirdischen Tunnels finden, welche der ›konzessionierte Felsenmaulwurf‹ schleunigst erweitern muß.
Ja, auch jenes englische Schloß, Red Castle, dessen Keller in den Felsen gehauen waren, kann hierzu gerechnet werden, und man braucht wirklich nicht abergläubisch zu sein, um in diesem Zusammentreffen etwas wie eine Fügung zu erkennen.
Nobody nun denkt hierüber noch anders. Er widerstrebt diesem Schicksal nicht, sondern kommt ihm auch noch mit seinem gewöhnlichen Humor entgegen. Er hat es seitdem auf solche Wohnungen geradezu abgesehen.
»Ein jedes Tierchen hat sein Pläsierchen, und die meisten Menschen haben ihr Steckenpferd,« äußerte er sich einmal bei Gelegenheit. »Der eine sammelt Schmetterlinge, der andre sammelt Briefmarken, der dritte sammelt alte Stiefeleisen. zzziyyy Wellzzz/iyyy, ich sammle originelle Menschen und Felsenlöcher.«
Auch auf jenem quadratkilometergroßen Felseneiland, welches von den chinesischen Schiffern San-Le genannt wird, sollte sich wiederum sein Schicksal erfüllen. Nobody fand darauf ebenfalls ein ganzes System von Felsenkammern, nicht in die Wände gehauen, sondern kellerartig in den Boden hinein.
Zu verwundern war das in diesem Falle allerdings nicht. Nobody wußte bereits, daß diese Felseninsel ein Heiligtum des gelben Drachen war, wo die führenden Mitglieder ihre geheimen Versammlungen abhielten, wo nach dem Glauben des Volkes der gelbe Drache wirklich als feuerspeiendes Ungetüm hausen sollte, bis er dereinst alle ›weißen Teufel‹ auffressen und die bezopften Söhne des himmlischen Reiches zur alten Herrlichkeit zurückführen würde – und die Japaner setzten noch hinzu: als Herren der ganzen Erde.
Die unterirdischen Gänge und Kammern waren vollkommen leer und nackt. Nobodys scharfer Blick aber erkannte, daß es noch vor kurzem hier anders ausgesehen hatte. Vor allen Dingen hatten hier Postamente gestanden, auf denen jedenfalls Götzen ruhten. Ein Geruch nach getrockneten Fischen verriet, daß hier auch Proviant aufgespeichert gewesen war, und dann zeigten auch die mitgebrachten Hunde ein ganz eigentümliches, ängstliches Verhalten.
»Ich kann es nicht behaupten, aber ich glaube bestimmt, daß hier zu gewissen Zeiten Menschenblut vergossen wurde,« sagte Nobody, als er mich auf der Insel herumführte, mir alles und jedes erklärend.
Die Piraten oder vielmehr die Geheimbrüder des gelben Drachen waren demnach in Kenntnis davon gesetzt worden – was nur von ganz oben herab geschehen sein konnte – daß die Regierung diese Insel einem ›weißen Teufel‹ zur Verfügung gestellt hatte; man hatte alles schnellstens fortgeschafft.
Also da hatte der gelbe Drache, der sich seiner Allmächtigkeit rühmt, so ohne weiteres das Feld geräumt, noch dazu vor einem ›weißen Teufel‹, von dem es bekannt war, daß er gegen die Bundesgenossen des gelben Drachen, gegen die chinesischen Piraten, einen Vernichtungskrieg führen wollte?
Nobody traute denn auch dem Braten nicht recht und ... fand richtig in einer versteckten, sehr tief angelegten Felsenkammer eine allermodernste Dynamitmine, welche genügt hätte, die ganze Insel in die Luft zu sprengen!
Aber dieses ›Finden‹ ist leichter gesagt, als es in Wirklichkeit war. Es hatte eine Spürnase dazu gehört, wie sie nur dieser Privat-Detektiv besaß, um das zurückgelassene Andenken des gelben Drachen aufzufinden und die Gefahr noch rechtzeitig zu beseitigen. Denn das mußten gar geriebene Köpfe und gar geschickte Hände gewesen sein, welche diese Torpedomine, schon mehr eine Art von Höllenuhr, gelegt hatten! Nur ein einziger unvorsichtiger Tritt oder Handgriff desjenigen, welcher die harmlos aussehende Kiste untersuchte, hätte genügt, die ganze Insel in einen feuerspeienden Vulkan zu verwandeln. Außerdem war die furchtbare Höllenmaschine durch einen elektrischen Draht mit einer andern, weitentfernten Felsenklippe verbunden, dort brauchte bei passendster Gelegenheit nur ein Hammerschlag geführt zu werden, um die ganze Gesellschaft in die Luft zu sprengen.
Ich will nicht des längern dabei verweilen. Die Gefahr wurde beseitigt; Nobody verfolgte auch das unterseeische Kabel und tat sein möglichstes, aber es gelang ihm leider nicht, den Feind, welcher auf jener Felsenklippe gegebenenfalls die Mine entzündet hätte, zu fassen. Die Piraten waren gewarnt.
Seit zwei Monaten wurde auf San-Le das Tauchen nach den Perlmuscheln betrieben, und der gelbe Drache hatte noch nicht das geringste Zeichen von sich gegeben. Friedlich konnten die Leute ihrer Arbeit nachgehn.
Trotzdem sagte mir Nobody selbst, daß sich diese Leute auf einem verlornen Posten befänden, und gegen den Angriff des gelben Drachen, der über kurz oder lang doch noch erfolgen würde, würden alle seine Sicherheitsmaßregeln nichts nützen. Er unterschätzte die Macht des gelben Drachen durchaus nicht.
In Anbetracht alles dessen, was ich zu hören bekommen hatte, machte die Insel, so lebhaft es auch darauf zuging, einen sehr niederschlagenden Eindruck. Es war ja auch nur ein nacktes Felseneiland.
Die Besatzung bestand aus 42 Europäern, von denen sehr viele Deutsche waren, nur ausgesuchte Männer, die Nobody und Flederwisch nach und nach um sich versammelt hatten, und aus etwa der doppelten Anzahl Chinesen, lauter gefangenen Piraten, welche Frondienste verrichten mußten.
Zuerst waren an Stellen, von denen aus man die ganze Insel und die weitere Umgebung beobachten konnte, aus losgesprengten Bruchsteinen zwei massive Forts errichtet worden, die man mit großen und kleinen Geschützen stark armiert hatte. Sie dienten mehr zur Verteidigung der Insel, falls der gelbe Drache einmal als moderner Angreifer erscheinen sollte, als um einer Meuterei der gefangenen Chinesen zu begegnen.
Diese wurden so vortrefflich verpflegt und behandelt, daß sie mit ihrem Schicksal ganz zufrieden waren. Eine Flucht von der Insel ward schon durch die zahlreich sie umschwimmenden Haifische unmöglich gemacht, dann waren auch eine Menge Wachthunde da, welche bei Nacht die Küsten abstreiften.
Das Einsammeln der Perlmuscheln auf dem Meeresgrunde geschah nur durch Europäer im Taucherkostüm, während den Chinesen das Durchsuchen der am Lande aufgeschichteten Muscheln, die schnell faulen und dann einen gräßlichen Gestank verbreiten, überlassen blieb. Obgleich dabei nur oberflächlich verfahren wurde, war die Ausbeute an Perlen doch eine ganz enorme. Eine Angabe des Wertes durch Zahlen ist hierbei unmöglich. Jedenfalls mußte die Firma Nobody und Kompanie bald eine der reichsten der Welt sein.
In einer Bucht lagen außer einigen Dschonken auch zwei kleine, eiserne Dampfer. Kurz vor unsrer Ankunft waren deren aber fünf hier gewesen. Drei waren bereits abgegangen, um die auf der Pirateninsel gefangenen Chinesen abzuholen.
Auf welche Weise man hier schon davon erfahren hatte, daß die drei Dampfer bereits unterwegs waren? Durch Brieftauben. Auf dieser Insel war eine Station von Brieftauben, der ›Popanz‹ hatte solche an Bord gehabt. Es war eine ganz eigentümliche Art von Tauben, die ich zu sehen bekam, zierlich, gelb, mit einem weißen Federkrönchen, und Nobody erklärte mir, daß es arabische Tauben seien, Selmas genannt, die er hier eingeführt habe, weil sie sich, wenn es einmal gelungen sei, sie abzurichten, als die trefflichsten Briefbeförderer erwiesen, vor allem aber jedem vierbeinigen und jedem geflügelten Räuber entgingen.
Mir lag die Frage nahe, ob die Brieftaubenpost nur zwischen dieser Insel und den von hier abgehenden Schiffen bestände. Ganz sicher gab es auch noch andre Stationen. Und wohin wurden denn die Perlen gebracht? Wohin die vielen gefangenen Piraten? Mich beschäftigten überhaupt noch sehr viele andre Fragen, aber ich unterdrückte sie standhaft, weil ich immer deutlicher merkte, wie mich Nobody nur in das einweihen wollte, was ich zur Zeit mit meinen eignen Augen sah.
Als Oberbefehlshaber der Insel wurde mir ein Japaner namens Keigo Kiyotaki vorgestellt, derselbe, welchen Nobody einst in London vom Fallbrett des Galgens gerettet hatte. Dieser führte mich auch in das Innere der Forts ein, und als ich bei der staunenswerten Armierung – ich sah sogar zwei Dreißigzentimetergeschütze – fragte, wie man denn da die Piraten noch zu fürchten habe, und sei der gelbe Drache auch noch so mächtig, sie könnten sich dieser Insel doch nur in kleinen Fahrzeugen nähern – für die Nacht waren sogar Scheinwerfer vorhanden – da wurde mir statt aller Antwort etwas gezeigt, was wiederum einen sehr niederschlagenden Eindruck auf mich machte.
In einer der unterirdischen Kammern war ein vollständiges Laboratorium eingerichtet. Soeben war ein Herr, der mir als Dr. Abendrot vorgestellt wurde, damit beschäftigt, eine Probe Reis, die er einem großen Sacke entnommen, einer chemischen Untersuchung zu unterziehen, und gleichzeitig bekam ein Hund einen Teller mit gekochtem Reis zu fressen.
»Ich halte den Reis für giftfrei,« lautete dann die Erklärung.
Also Gift war es, was man hier mehr fürchtete als Pulver und Dynamit. Alle Nahrungsmittel, die man den Piraten abnahm, wurden auf Gift untersucht. Denn es war nicht möglich, sich vom Festlande aus mit Proviant zu versehen, und wenn der gelbe Drache auch noch nicht das Geheimnis der Motordschonke kannte, so wußte man doch, daß die Bewohner dieser Insel einen Kaperkrieg gegen die Piraten führten, woran ab und zu auch die kleinen Dampfer teilnehmen mußten, und wenn man den Geheimbund des gelben Drachen kannte, so hatte man vor allen Dingen mit Gift zu rechnen, welches dem Proviante von Dschonken beigemischt wurde, die vielleicht schon dazu bestimmt waren, sich von den ›weißen Teufeln‹ kapern zu lassen.
Da konnte das Eiland trotz aller seiner Perlenschätze kein angenehmer Aufenthalt sein, und ich war herzlich froh, als ich vernahm, daß wir schon am Nachmittage die Insel wieder verlassen würden.
Die Motordschonke blieb hier, um fernerhin Razzias gegen die Piraten zu veranstalten. Wir benutzten zur Weiterfahrt einen der beiden kleinen Dampfer, und auf diesen wurden auch die gefangenen Chinesen und wenigen Japaner untergebracht, die wir aus dem Wasser gefischt hatten. Sie blieben an Händen und Füßen gebunden, wurden aber sonst sehr bequem untergebracht. Auch wenigstens die Hälfte der Besatzung der Dschonke kam mit hinüber auf den Dampfer, vorläufig noch als Chinesen verkleidet. Unter ihnen befand sich auch der kleine, krummbeinige Nasenkönig, den ich nun schon als eine gewichtige Persönlichkeit kennen gelernt hatte. Ferner nahm der Dampfer alle seit Wochen gesammelten Perlen mit, einen ansehnlichen Sack voll.
Wir verließen die Bucht noch am hellen Tage und hatten bei Anbruch der Dunkelheit die gefährlichsten Wasserstraßen hinter uns. Es wurde die ganze Nacht gedampft, und als ich am andern Morgen an Deck kam, wußte ich noch immer nicht unser Ziel.
Einige Stunden später erhob sich vor uns aus der See ein dunkler Gegenstand. Ich kann nicht schildern, wie sich dieser nach und nach zu einem imposanten Felsplateau entwickelte, welches mit schroffen Wänden aus dem Meere stieg.
Zu Mittag speiste ich allein mit Nobody in dessen kleiner Kajüte, wurde von ihm immer nicht nur wie ein angesehener Gast, sondern wie ein vertrauter Freund behandelt, ohne daß ich mir noch klar werden konnte, woher diese liebenswürdige Zuvorkommenheit stammte, und als ich dann wieder mit ihm das Deck betrat, präsentierte sich mir der abgeplattete Felsenberg in seiner gewaltigen Majestät. Er war so geformt, daß er große Aehnlichkeit mit der Insel Helgoland hatte; wie eine Kiste lag er auf dem Meere, aber von weit mächtigeren Dimensionen und vor allen Dingen auch viel höher. Helgoland gleicht einer auf der breitesten Seite liegenden Zigarrenkiste. Hier war die Zigarrenkiste auf ein Kopfende gestellt.
»Kennen Sie diesen Berg?« fragte mich Nobody.
Solch ein schroff aus dem Meere steigendes Felsengebilde ist stets ein wichtiges Seezeichen für die Schiffer und auf allen Seefahrtskarten vermerkt, aber es gibt deren zahllose. Der am einsamsten im Weltmeer liegende Berg ist das englische Assuncion.
Ich verneinte die Frage.
»Es ist der zzziyyy Mountain of sulphurzzz/iyyy, der Schwefelberg. Als Seewahrzeichen kommt er nur wenig in Betracht.«
»Wem gehört er?«
»Mir!« lautete die lakonische Antwort.
»Ihnen?« wiederholte ich erstaunt.
Ich hatte doch gemeint, ob er den Engländern oder den Chinesen gehöre.
»Unter englischer Flagge steht er, aber er ist dennoch mein oder unser Eigentum. Als England ganz Australien und die polynesischen Inseln okkupierte, wurde das alles durch Lose an die englischen Lords verteilt. Das ist gegen Entschädigung wieder zurückgenommen worden, doch es gibt noch Ausnahmen. Der Eigentümer dieses Schwefelberges nebst der darumliegenden Inseln ist Lord Hannibal Roger; er hat sich erst vor kurzem in diesem Besitze parlamentarisch bestätigen lassen und darauf die Schwefelinseln samt diesem Berge mir oder vielmehr der Firma Nobody & Kompanie rechtskräftig abgetreten.«
Erst jetzt gewahrte ich eine Inselgruppe, welche sich um den Berg, herum lagerte. Die Eilande, obwohl ebenfalls bergig, verschwanden gegen den Meeresriesen, welcher selbst immer mächtiger hervortrat.
»Wie groß ist der Schwefelberg?«
»Acht englische Meilen im Umfang.«
»Nicht möglich!«
»Doch. Wir sind noch weit ab, und da kann man sich sehr irren.«
»Und wie hoch?«
»Etwa tausend Meter. Aber das ist nur indirekte Messung. Bestiegen hat ihn noch kein Mensch.«
»Weshalb nicht?«
»Weil er eben unersteigbar ist. Wie soll man da hinaufkommen?«
»Ich erkenne doch treppenartige Terrassen.«
»Ja, aber wie hoch diese Stufen sind!« lachte Nobody. »Da kann man keine Leitern anlegen. Die Terrassen sind auch nicht so regelmäßig, wie sie von hier aus erscheinen.«
»Ist es ein erloschener Vulkan?«
»Sicher nicht. Gerade hier ist der Boden gar nicht vulkanisch. Das Plateau ist jedenfalls völlig eben.«
»Aber deutet Schwefel nicht immer auf vulkanische Eruptionen hin?«
»Sie meinen wegen des Namens Schwefelberg und Schwefelinseln? Diese Inseln heißen wahrscheinlich deshalb so, weil auf ihnen der Schwefel fehlt. Man sagte, einige Quellen sollten Schwefel enthalten. Ich habe daraufhin sämtliche Quellen und Bäche untersuchen lassen, aber auch nicht die geringste Spur von Schwefel darin gefunden.«
»Ich sehe Vögel zu- und wegfliegen.«
»Sehen Sie wirklich? Donnerwetter, haben Sie gute Augen!« bewunderte mich Nobody, der das Fernrohr zur Hand genommen hatte. »Sie sehen ja bald noch schärfer als ich. Was schließen Sie daraus, daß dort oben Vögel leben?«
»Dann muß es dort oben auch Wasser geben.«
»Ist nicht nötig. Es können auch Seevögel sein, Möwen, die dort oben nur nisten, die brauchen kein frisches Wasser.«
»Nein, ich unterscheide auch Landvögel.«
»Können Sie das wirklich unterscheiden? Ich bewundere Sie. Nun ja, es mag sich auf dem Plateau Regenwasser ansammeln.«
»Wie kommt es nur, daß England aus diesem Meeresfelsen kein zweites Gibraltar schafft?«
»Ich sagte Ihnen doch schon, daß der Felsen unersteigbar ist.«
»Es gibt gar keinen Felsen, keinen Berg, keine Felsenwand, die unersteigbar ist; die menschliche Ausdauer, verbunden mit unsrer heutigen Ingenieurwissenschaft, überwindet jedes Hindernis, sie erklimmt auch die steilste Wand und bringt auch die schwersten Geschütze hinauf. Warum schafft England hier nicht eine unüberwindliche Seefeste, wie es sonst seine Gewohnheit ist?«
Ich muß hierbei nochmals bemerken, wie Nobody immer direkt wollte, daß ich an ihn Fragen stellte, er wollte meine Ansichten hören, er verlangte es. Daran hatte ich mich nun schon gewöhnt, daß ich es ganz von selbst tat.
»Sie haben recht,« entgegnete er jetzt. »Auch ich lasse bereits einen Pfad in den Felsen hauen, auf welchem ich dann als erster Mensch diesen jungfräulichen Berg besteigen werde, um ihn danach ›Nobodys Mountain‹ zu taufen. Kanonen lassen sich da freilich noch lange nicht hinausschaffen, das kostet vielleicht die Arbeit von hundert, von einigen hundert Jahren. Ich kenne das. Bringen Sie nur einmal kleine Geschütze einen gewöhnlichen Alpenpaß hinauf! Uebrigens hat dieser Felsenberg für eine Seemacht besonders deshalb gar keine Bedeutung, weil auf drei Seiten zu seichtes Fahrwasser für größere Kriegsschiffe ist, und auf der vierten Seite gibt es auch keine Inseln, da hebt sich die Felswand vollständig senkrecht aus dem Meere.«
Meine Aufmerksamkeit wurde jetzt auf eine der Inseln gelenkt, der wir uns unterdessen so weit genähert hatten, daß von den andern nichts mehr zu sehen war. Wir liefen in einen von Quaimauern geschützten Hafen ein, in dem außer Dschonken und kleineren Fahrzeugen auch zwei ziemlich große lagen, das eine davon wie ein großes Torpedoboot aussehend. Das waren die ›Heliotrop‹ und die ›Wetterhexe‹.
An den Ufern sah ich Hunderte von Chinesen beschäftigt, meist mit Mauerarbeiten, sie waren Sklaven, wurden aber von keiner Sklavenpeitsche angetrieben – überall erblickte ich nur heitere und zufriedene Gesichter.
Nahe am Hafen erhob sich eine stattliche Häuserstadt, daran grenzten Fluren und Wälder, wie ich die ganze Lieblichkeit dieser im gesegnetsten Klima gelegenen Insel auch schon von weitem hatte bewundern können, und einige von Kanonen starrende Bastonaden störten diesen friedlichen Eindruck nicht.
Noch hatten wir den Dampfer nicht befestigt, als ein Boot sich längsseit legte, und ich war nicht wenig überrascht, daß zwei Frauen die ersten waren, welche das Deck betraten. Das heißt, von einem ›Betreten‹ kann eigentlich nicht die Rede sein, sie stürzten vielmehr gleich auf Nobody zu, der sich jetzt aber nicht mehr als Chinese präsentierte.
Die eine hätte ich bald für eine Müllerin gehalten, sie hatte so ein weites, weißbestäubtes Sacktuch um, desgleichen um den Kopf, während die andre, ein schwarzer Lockenkopf, in dem kurzen Reitkleid mit Ledergamaschen einen mehr amazonenhaften Eindruck machte, aber zugleich auch einen etwas zigeunerhaften, denn an ihrem Kostüm flatterten einige Fetzen.
»Alfred!«
»Gabriele, Turandot!«
Die eine, die Müllerin, lag an Nobodys Brust, die andre, die Zigeunerin, hing sich ihm, weil sie vorn keinen Platz mehr hatte, hinten auf den Rücken.
Der Zweck war, dem Leser so kurz wie möglich zu schildern, was Nobody in China treibt, und wie er sich auf der Insel, die er einmal seine zukünftige Heimat nannte, eingerichtet hat.
Daß längere Zeit bei dem Schwefelberge verweilt wurde, hat seine besondere Bedeutung, wie später erkannt werden wird. Er sollte in Nobodys Leben noch eine große Rolle spielen.
Es sei nun bloß noch einer Person in Kürze gedacht, bei der sich Hammers Bericht zu lange aufhält.
Das ist Gabriele. Hammer sieht sie zwar schon an Deck des Dampfers und denkt, es ist eine Müllerin, weil sie so einen staubigen Kittel anhat, lernt sie aber erst richtig in ihrem Bildhaueratelier kennen, wo sie von einem italienischen Künstler, den Nobody direkt aus Rom ›bezogen‹ hat, unterrichtet wird, soweit sie noch eines Unterrichtes bedarf, um das Höchste in der Bildhauerei zu erreichen.
Daß wir das junge Mädchen, oder jetzt vielmehr die junge Frau, welche noch vor kurzem als Jussuf el Fanit die libysche Wüste unsicher machte, jetzt auf einer einsamen Insel als Bildhauerin wiederfinden, ist durchaus nicht wunderbar.
Wolle sich der geneigte Leser nur entsinnen, wie Nobody als vorgeblicher Blinder in der Felsenkammer des Geiergebirges die aus Stein gehauene Badewanne mit der plastischen Skulptur, badende Nymphen darstellend, bewunderte, und was damals über die französischen Journale gesagt wurde, welche solche in Mode gekommene Badewannen abbildeten.
Das war ganz einfach aus Gabrieles eigner Hand hervorgegangen, das und noch manches andre, was Nobody dann noch später zu sehen bekam. Sie hatte es nicht gelernt, niemand hatte es ihr gezeigt, sie konnte es. Das ist das Genie. Ein innerer Drang hatte ihr, wenn sie sich in die Einsamkeit zurückzog, immer wieder Hammer und Meißel in die Hand gegeben. Die Vorlage zu jenen badenden Nymphen hatte sie einem französischen Journal entnommen.
»Seelenverwandtschaft,« sagte Nobody in seiner trocknen Weise, wenn das Gespräch daraufkam, »das ist Fügung, daß wir beide für alles schwärmen, was von Stein ist. Nur ein kleiner Unterschied ist dabei: meine Frau macht Figuren, und ich mache Löcher.« –
Der Mann, der ein Fürstentum im Stich gelassen, hatte sich im Handumdrehen ein neues Reich geschaffen, über das er unumschränkter als jeder Monarch herrschte. In der Welt war er ein Niemand, hier aber sollte seine Heimat sein. Hier auf dieser Insel schleppte er alles zusammen, was er bei seinen Abenteuern draußen in der Welt schön und stark und groß und edel fand, und was ihm nicht gefiel, durfte nicht in sein abgesperrtes Reich hinein – was wohl kein andrer Fürst durchsetzen kann.
Aber es lag nicht in Nobodys Charakter, sich nun auf seinen Lorbeeren auszuruhen und den allmächtigen Gewalthaber zu spielen. Dazu war er viel zu unruhig, er mußte wieder hinaus, neue Abenteuer zu bestehn, das war geradezu eine Sucht bei ihm; dabei sammelte er Schätze, das heißt vor allen Dingen Menschen, die ihm gefielen, die ›kaufte‹ er sich, brachte sie mit nach seiner Insel oder schickte sie hin, und wenn es nötig war, so mußte ihm alles behilflich sein, um seine Pläne auszuführen oder sein Ziel zu erreichen.
So werden wir die Hauptpersonen, welche wir bereits aus Nobodys Tagebuch näher kennen lernten, ab und zu immer wieder irgendwo auftauchen sehen, um gemeinsam mit Nobody zu operieren, und hierzu gehört auch die gefangene Prinzeß Marguérite.
Was für ein Unternehmen Nobody nun gleich nach dem Betreten seiner Insel vorbereitete, das ist das abenteuerlichste und kühnste zugleich, auf das sich ein Mensch wohl jemals eingelassen hat, und zwar ist es die Einleitung zu einem furchtbaren, historischen Drama, welches gerade jetzt alle Welt beschäftigt.