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10. Katastrophen

»Papa, ich liebe ihn, und ich lasse nicht von ihm.«

»Und ich liebe Ihre Tochter über alles in der Welt.«

»Mehr noch als die Jacht, die jetzt ihm gehört,« mußte der Kosak noch erläuternd hinzusetzen.

Der alte Fürst wandte sich an den mitanwesenden Lord Roger.

»Mylord, kennen Sie diesen Mann?«

»Ich kenne ihn sogar sehr gut und schätze es mir zur Ehre, ihn meinen Freund nennen zu dürfen. Auch ist er vollkommen imstande, Ihre Tochter zu ernähren – sogar standesgemäß, wenn Durchlaucht es wünschen.«

Bei Lord Roger wußte man niemals, ob er im Ernste sprach oder nicht, aber diese Erklärung mußte dem Fürsten wohl genügen.

Er wandte sich wieder an die beiden, die schon Hand in Hand zusammenstanden, obgleich ihnen das eigentlich noch gar nicht erlaubt war.

»Ich verzeihe euch. Auch ich war einmal jung und ...«

Er trat schnell auf Kapitän Flederwisch zu, legte ihm die Hände auf die Schultern, reckte sich so hoch als möglich auf den Fußspitzen empor, und ehe sich Flederwisch dessen eigentlich versah, hatte er seinen Kuß weg.

»Sei gut mit meinem Kosaken!«

Mehr sagte der alte Fürst nicht, und es hatte sehr weinerlich geklungen, und für seine Tochter hatte er überhaupt gar nichts, auch einen Segen oder so etwas gab es nicht – der Fürst drehte sich nach diesem Kusse schnell um und verließ das Zimmer, das Taschentuch vor die Augen gedrückt.

Das war der Schluß der Szene gewesen, wie Fürst Alexjeff sich mit dem Geliebten seiner Tochter versöhnt und ihn als Schwiegersohn willkommen geheißen hatte, und eigentlich war dieser Schluß überhaupt die ganze Versöhnung gewesen. Sie hatte keine drei Minuten in Anspruch genommen.

Man konnte es dem Fürsten ja nicht verdenken, wenn er diese Angelegenheit so schnell als möglich erledigt haben wollte und allein zu sein wünschte. Es war etwas gar zu viel, was der alte Mann in der letzten Stunde erlebt hatte. Solche Aufregungen war er nicht mehr gewohnt.

Heute ging ihm entschieden alles verkehrt! Er hatte sich doch soeben noch in einem höchst luxuriösen Salon befunden, hatte diesen durch eine höchst kunstreich geschnitzte Flügeltür verlassen, und plötzlich befand er sich in einer engen Kammer, in welcher ein Lumpensammler seine Schätze aufzubewahren schien.

Zum Glück war schnell Lord Roger dem Fürsten nachgeeilt und erlöste ihn von dem Anstaunen eines großen Haufens menschlicher Knochen.

»Verzeihung, Durchlaucht sind in die Lumpenkammer geraten! In der Mäander-Burg muß man so etwas entschuldigen. Hier ist noch ein Türchen. Ich gehe mit Ihnen. Es ist wohl das beste, wenn wir die beiden Leutchen jetzt allein lassen.«

Er hatte eine Tür geöffnet, und als Fürst Alexjeff fortfuhr, sich erst die Tränen aus den Augen und dann den Schweiß von der Stirn zu trocknen, befand er sich schon wieder in einem bewohnbaren, sogar abermals mit höchster Eleganz ausgestatteten Zimmer. Doch die volle Besinnung konnte er dadurch immer noch nicht gleich wiederbekommen. Jetzt fing er erst an, den Lord wie ein Phantom anzustieren.

»Ja, Mylord – wie ist mir denn? – wie kommen Sie denn hierher? – ich denke, Sie sind – Sie müssen doch eigentlich ...«

Langsam hob der Lord die Hand und machte die Gebärde des Halsabschneidens.

»Geköpft sein? Nein, noch nicht!«

»Das konnte ich mir wohl denken, als mir Mister Nobody sagte, ich würde Sie hier sehen. Ja aber – wie kommen Sie denn nur hierher! Ich denke, Sie sind auf der Pirateninsel?«

»Hat Ihnen denn Mister Nobody nicht gesagt, daß Sie mich hier finden würden?«

Fürst Alexjeff trommelte sich mit den Fingern gegen die Stirn, als wolle er auf diese Weise seinen Gedanken zu Hilfe kommen, und dann griff er in die Brusttasche und zog ein Etui hervor.

»Ich weiß gar nichts mehr. Mir ist ganz wirr im Kopfe. Erst muß ich eine Zigarette rauchen, das gibt mir stets klare Gedanken. Belieben Mylord eine?«

»Danke,« sagte Lord Roger, eine der angebotenen Zigaretten nehmend. »Sind das russische?«

Der Fürst war froh, auf andre Gedanken gebracht zu werden.

»Sogar echte. Ich kann keine andern rauchen als diese.«

»Hm, die kenne ich wohl, aber die sind hier nicht zu haben,« meinte der Lord, nachdenklich seine Zigarette betrachtend, ehe er sie anbrannte. »Haben Durchlaucht davon Vorrat mitgebracht?«

»Leider nur zehn Kistchen, gehen bald zur Neige.«

»Welchen Zoll haben Durchlaucht dafür an der Grenze bezahlt?«

»Zoll?« schmunzelte der Fürst, behaglich den Rauch durch die Nase blasend. »So was gibt's ja gar nicht. Ich brachte sie im Handgepäck durch. Ich finde, geschmuggelte Zigaretten schmecken noch einmal so gut.«

»Ich auch,« entgegnete der Lord, jetzt ebenfalls den Rauch durch die Nase blasend.

»Ich habe einmal,« fuhr der alte Fürst sich zu brüsten fort, »einen ganzen Koffer voll Zigarren und Tee mit hinein nach Paris gepascht. Wenn ich den Zoll zu bezahlen gehabt hätte, wären es wenigstens hundert Francs gewesen.«

»Das ist aber strafbar!«

Der alte Herr machte große Augen, fing aber gleich zu lachen an.

»Na, Mylord, das wissen Sie doch: das Schmuggeln ist erlaubt, man darf sich nur nicht erwischen lassen! Apropos,« hiermit hielt der Fürst dieses Gespräch für erledigt, er erinnerte sich wieder der Hauptsache, »mir ist alles Hals über Kopf gekommen – wer ist denn nun eigentlich dieser Kapitän Müller, der auch Flederwisch genannt wird? Wie ist er zu seinem Vermögen gekommen? Was betreibt er denn?«

Lord Roger blies den Rauch noch nachdenklicher als zuvor durch die Nase.

»Dasselbe wie Sie,« war dann seine lakonische Antwort.

»Dasselbe wie ich? Was meinen Sie damit?«

»Er schmuggelt.«

Der Fürst glaubte nicht recht gehört zu haben.

»Er – schmuggelt?«

»Jawohl, und mit seiner Schmuggelei hat er sich ein recht hübsches Geld verdient.«

Fürst Alexjeff neigte sich zurück und riß die Augen weit auf.

»Un-er-hört! Ein gewerbsmäßiger Schmuggler?«

»Jawohl.«

»Und – einen solchen – Menschen – empfehlen Sie mir als Schwiegersohn?«

»Warum denn nicht?«

»Einen Menschen, welcher die Steuerbehörde betrügt?! Welcher strafbare Handlungen begeht?«

»Na, Durchlaucht,« entgegnete Lord Roger phlegmatisch, »Sie wissen doch: das Schmuggeln ist erlaubt, man darf sich nur nicht dabei erwischen lassen – und Kapitän Flederwisch ist eben niemals dabei erwischt worden.«

Der russische Diplomat ahnte schon, daß er wieder einmal auf Gnade und Ungnade gefangen worden war, und stillschweigend, ohne einen Mucks sagen zu dürfen, mußte er zuhören, wie der guteingeweihte Lord ihm von des Schwiegersohnes dunkler Vergangenheit erzählte. Denn als moralischer Mensch durfte er dagegen auch nichts einwenden, daß der Kapitän die Schmuggelei im größten Maßstabe betrieb, während er selbst nur einmal so bei Gelegenheit im kleinen die Steuerbehörde betrogen hatte.

»Hm,« brummte er, »eigentlich ist das aber doch etwas ganz andres ...«

»Sie meinen,« fiel ihm der schlagfertige Engländer ins Wort, »weil nach dem Sprichwort nur die großen Diebe gehangen werden sollen?«

»O nein, o nein,« wehrte der Fürst ab, aber schon ganz kleinlaut, »ich meine nur, ich habe doch bloß die Zigaretten und den Tee geschmuggelt, weil mir dann das Zeug besser schmeckt, nur so des Spaßes wegen ...«

»Ganz von demselben Grundsatze ging Ihr Herr Schwiegersohn aus. Der schmuggelte auch bloß, weil es ihm Spaß machte, die Steuerbeamten anzuführen.«

Lord Roger erzählte weiter, ging aber nun mehr auf die Details der abenteuerlichen Schmuggelfahrten des Kapitäns Flederwisch ein, und der alte Fürst war ganz Ohr. Das imponierte ihm von seinem zukünftigen Schwiegersohn, zumal der Lord verschwieg, wie Kapitän Flederwischs Gewohnheit war, den Punsch mit Bambusrohren aus der Badewanne zu sau ... gen, usw.

»Übrigens ist diese Schmuggelei schon längst vorbei,« fuhr der Lord fort. »Flederwisch hat einen andern Beruf ergriffen. Jetzt geht er wieder nach China.«

»Was will er dort? Als was?«

»Als Piratenkapitän.«

»Als ... Pipipipiratenkapitän?« stotterte der alte Herr.

»Ja. Das heißt, gerade in entgegengesetzter Eigenschaft. Er wird nur als chinesischer Piratenhauptmann oder als Kapitän einer Räuberdschonke auftreten müssen.«

»Ich verstehe ganz und gar nicht.«

»Sie wissen doch, daß die chinesischen Küsten sehr von bezopften Seeräubern heimgesucht werden.«

»Und ob ich das weiß! Auch wir Russen können im fernen Osten keine Ansiedlung nahe der Küste anlegen, ohne sie zu befestigen und ihr eine starke Garnison zu geben, nur wegen der chinesischen Piraten, welche jeden Augenblick bereit sind, schutzlose Kolonien zu überfallen. Und die wittern alles! Sobald das Militär einmal nur einige Werst ins Land hineinrückt, tauchen am Horizonte auch schon die Bastsegel ihrer Dschonken auf. Wir aber geben das schwere Geld für nichts und wieder nichts aus.«

»Dann dürfte Ihr zukünftiger Schwiegersohn ihrem Vaterlande noch einen großen Dienst erweisen, wofür es ihm immer dankbar sein wird, denn Kapitän Flederwisch wird die chinesischen Gewässer von diesen Piraten säubern.«

Der russische Diplomat mußte wohl allen Respekt vor den chinesischen Seeräubern haben, daß er so ungläubig lächelte, und seine nächste Frage zeigte auch, daß er darin Erfahrung besaß.

»Sie haben wohl noch nicht von der geheimen Verbindung des gelben Drachen gehört.«

»O ja, ich habe schon davon gehört, daß diesem Geheimbunde die mächtigsten Persönlichkeiten Chinas und Japans angehören, und von ihren fremdenfeindlichen Absichten.«

»Ja, das sind aber alles nur Vermutungen. Noch kein Uneingeweihter ist in die Geheimnisse des Bundes eingedrungen, und so lange dies nicht der Fall ist, ist gar nicht daran zu denken, energisch gegen die Piraten vorzugehen. Diese werden ja von der Gesellschaft des gelben Drachen unterstützt, sogar geleitet, daher auch die scheinbare Allwissenheit der Piraten. Erst muß einmal der gelbe Drache selbst getötet sein ...«

»Und das wird Mister Nobodys nächste Aufgabe sein. Während Kapitän Flederwisch zur See operiert, wird Nobody an Land dem gelben Drachen zu Leibe gehen.«

Der in Nobodys Pläne oder doch Absichten vollkommen eingeweihte Lord gab weitere Erklärungen, welche für den russischen Staatsminister von höchstem Interesse waren. Aber dabei kam ihm ein Gedanke, der ihm als Vater durchaus nicht gefallen wollte.

»Da soll doch nicht etwa meine Tochter den zukünftigen chinesischen Admiral auf seinen abenteuerlichen Kriegszügen begleiten?«

»O nein? Und doch! Kennen Sie die Inselgruppe der Kju-Lus, bei uns die ›Schwefelinseln‹ genannt?«

Nein; so gut der Diplomat auch in der Geographie jener Gegenden beschlagen war, von diesen Inseln hatte er noch nie gehört.

»Das ist begreiflich, denn sie gehören zum großen Archipel des stillen Ozeans, und wer nur die Inselnamen von Westpolynesien alle im Kopfe haben wollte, der müßte schon ein fabelhaftes Gedächtnis besitzen. Die Schwefelinseln zeichnen sich nur dadurch aus, daß sie die westlichste Gruppe des ganzen Archipels sind, ganz nahe an China und an Japan herantreten, aber unter englischer Oberhoheit stehn.

Als ich nun mit Nobody intime Freundschaft schloß und er mir eröffnete, wie sein geschäftliches Operationsfeld für die nächste Zeit die Gegend von Formosa sein würde, erinnerte ich mich lebhaft wieder meiner Schwefelinseln; denn sie sind seit jener Zeit, als aus politischen Gründen fast ganz Australien an englische Lords verteilt wurde - eine faule Spekulation, die vollkommen fehlschlug – im Besitze der Rogers, sind es geblieben und gehören mir als unbestrittenes Eigentum. Ich habe mich freilich bisher verflucht wenig um dasselbe gekümmert. Es sind vier größere und mehrere kleinere Eilande. Der Name kommt daher, daß einige Quellen schwefelhaltig sind. Sonst ist von Schwefel darauf nichts zu bemerken, nur von einer Schwefelbande! Wegen Fehlens eines geeigneten Hafens für die große Schiffahrt ganz wertlos, sind sie das Paradies chinesischer Piraten und andrer Banditen, die mit ihren Dschonken in jede Bucht einlaufen können und sich dort häuslich niedergelassen haben. Diese Inseln nun habe ich der Firma Nobody und Kompanie zum Geschenke gemacht, ich selbst trete nur als Teilhaber ein. Wir werden die Piraten bald hinausgeekelt haben, und dann werden die Schwefelinseln die Basis bilden, von welcher wir gegen die Küstenräuber operieren, und auf diesen paradiesischen Eilanden werden wir uns dann eine neue Heimat gründen, ein Reich, wie es die Welt noch nicht gesehen hat – und dieses Reich wird auch die Heimat Ihrer Tochter werden.«

Der sonst so phlegmatische Lord hatte zuletzt mit einer plötzlich ausbrechenden Begeisterung gesprochen, welche noch sehr der Erklärung bedurfte.

Fürst Alexjeff aber dachte im Augenblick an etwas andres.

»Ah, das also ist die berühmte Koralleninsel in der Südsee, von welcher Flederwisch als Prinz von Monte Carlo immer den Kokotten erzählt hat?«

»Keine Ahnung! Diese Koralleninsel, auf der man die Diamanten schaufelweise aus der Erde hebt, existiert doch nur in der Phantasie! Ich hatte auch weder dem Kapitän, noch Nobody etwas von den Kju-Lus gesagt.«

»Ach so, richtig!« stimmte auch der Fürst bei. »Die Kokotten sollen ja auf einer Insel an der marokkanischen Küste sein. Ja, zum Teufel, was für eine Bewandtnis hat es denn nun mit dieser? Wo stecken denn eigentlich die Kokotten, die eine menschenleere Insel wieder bevölkern sollen?!«

Der Lord brach in ein herzliches Lachen aus.

»Sie fragen auch noch? Na, da kommen Sie, wir wollen sofort nach jener marokkanischen Insel dampfen. Ich glaube sogar, wir treffen dort gerade zur rechten Zeit ein, um die Damen unter sich beobachten zu können.«

Noch immer nicht verstehend, was hier eigentlich vorlag, folgte Fürst Alexjeff dem Lord durch einige Korridore, und dann eine Treppe hinauf. Er ward in ein dunkles Kabinett geführt, hörte dort schon dumpfe Stimmen, da plötzlich drang ein heller Lichtschein herein. Der Lord hatte nämlich von einem kleinen, runden Fenster einen Vorhang zurückgeschlagen, er schob den Fürsten an dasselbe, und dieser blickte einige Sekunden schweigend hindurch, bis er seinem grenzenlosen Staunen Luft machen mußte.

»Das ist doch ... die ... die Cobra Bella ... und die ... die Madame Phöbe!! Ja, die kenne ich doch alle! Sind das denn nicht alle die ... die ...«

»Alle die Kokotten, welche der Prinz von Monte Carlo mit seiner Jacht entführt hat,« ergänzte der Lord flüsternd. »Sie dürfen sprechen, nur nicht gar so laut. Lauschen Sie jetzt der Unterhaltung, dann wird Ihnen alles klar werden.«

Der Fürst blickt durch das Fensterchen in einen großen Salon, durch ein Oberlicht erhellt. Auf Diwans und Polstersesseln saßen, wie bei einer zwanglosen Gesellschaft, viele Damen – der Fürst zählte deren 34 – sie plauderten, naschten Konfekt, rauchten Zigaretten, einige zogen türkische Wasserpfeifen vor, und schlürften aus winzigen Täßchen Kaffee, welcher ihnen von Dienern gebracht wurde, die in reiche, türkische Gewänder gekleidet waren und das Gesicht verhüllt hatten. Auch die Damen trugen goldgestickte, türkische Kostüme. Das ganze glich dem Harem eines reichen Orientalen.

Da sich zu viele Parteien zugleich unterhielten, konnte der Fürst nur hin und wieder einen Satz der ihm zunächst sitzenden Damen auffangen.

»Mein gestriger Freund war groß und schlank und hatte einen Knebelbart, ich glaube ganz bestimmt, daß es der Prinz selbst gewesen ist,« sagte die Cobra Bella fächerwedelnd.

Die Antwort, die ihr zuteil ward, zeigte, daß auch in diesem Harem die Eifersucht herrschte.

»Bilden Sie sich doch nichts ein, meine Liebe!« klang es spöttisch zurück. »Selbst wenn er klein und dick war, glauben Sie stets, daß es der Prinz gewesen sein müßte.«

»Mustapha, noch eine Tasse Mokka!«

»Meine Wäsche könnte nun auch schon von Monte Carlo hier sein.«

»Ob sie über Marseille geht?«

»Ganz gewiß, die Post nach Marokko wird nur über Marseille geleitet.«

»Wie lange braucht denn ein Postpaket von Monte Carlo nach Marokko?«

»Ja, das weiß ich nicht, aber es muß doch immer erst eine Gelegenheit abgewartet werden, wenn ein Schiff der Piraten von Marokko hierherfährt.«

»Wie lange dauert es denn noch, bis wir uns frei auf dieser Insel bewegen dürfen?« wurde auf einer andern Seite geklagt. »Haben wir denn noch immer nicht alle Prüfungen bestanden?«

»Morgen soll es durch Feuer und Wasser gehen.«

»Ob da Karabaß schon wieder hier ist?«

Mehr wollte der Fürst nicht hören, mit staunendem Fragen wandte er sich an seinen Begleiter.

»Bin ich denn von Sinnen oder sind's diese Weiber?!«

»Wir wollen das letztere annehmen,« entgegnete der Lord. »Ja, wir haben sie künstlich in den Wahn versetzt, daß sie sich auf einer Pirateninsel an der Küste von Marokko befinden, während sie mitten in Monte Carlo sind.«

In einem andern Zimmer gab Lord Roger nähere Erklärungen. Wir bedürfen deren wohl kaum. Die Heliotrop war eben außer Gesichtsweite der Küste von Monaco nur hin- und hergedampft; dafür, daß die Jacht immer wendete, hatten diese Damen doch gar kein Verständnis, und in der dritten Nacht wurden sie zurück an Land und in die Mäander-Burg gebracht, und hiervon hatte auch in Monaco niemand eine Ahnung, niemand konnte etwas davon bemerken, denn es war eine mondlose Nacht gewesen, und die Landung der Boote erfolgte an der Teufelsinsel: die Damen mußten den unterirdischen Weg durch die Tunnel nehmen.

Bemerkt sei nur noch, daß auch der Kapitän bei Nacht sich immer, wenn er wollte, an Land begeben konnte. In der letzten Nacht war auch Turandot als der maskierte Raoul an Bord gekommen, um Zeuge der Komödie zu werden, wie die 36 Weiber auf der vermeintlichen Pirateninsel an der afrikanischen Küste ausgeschifft wurden.

Der Lord konnte noch viel mehr Interessantes erzählen. Es wären Bände mit dem zu füllen, was man mit den Kokotten unterdessen alles angestellt hatte. Die ›Freunde‹ aber, welche mit vermummten Gesichtern ihre Geliebten besuchten, gehörten sämtlich jener exklusiven Gesellschaft an, welche sich, wie geschildert, in dem gepolsterten Hotelzimmer zusammenfand, um sich einmal richtig auslachen zu können.

»Ei, das ist doch das Tollste, was ich je in meinem Leben zu hören bekommen habe!!« rief der alte Fürst immer wieder.

»Ja, Kapitän Flederwisch hat sich meine Heliotrop redlich verdient, obschon der ganze Plan zu dem Streiche Nobodys genialem Kopfe entsprungen ist.« Dem alten Fürsten fiel etwas ein, er machte ein verdrießliches Gesicht. »Warum aber hat man nicht auch mich in dies alles eingeweiht?«

»Durchlaucht verzeihen – wegen Ihrer Tochter nicht. Die Gefahr lag zu nahe, daß dann alles verraten wurde.«

»So war es allen jenen Herren bekannt, daß meine Tochter und Raoul ein und dieselbe Person waren?«

»Ja, und auch, daß die Prinzeß die weiße Gestalt auf der Insel spielte, wobei sie sich einer blonden Perücke bediente.«

»Und daß meine Tochter schon mit ... mit ... mit dem Kapitän ...«

»Ich will es nicht verheimlichen ... ja, auch dies war allen jenen Herren bekannt.«

So unangenehm die Empfindungen auch waren, die jetzt noch nachträglich auf den alten Vater einstürmten, es war zu spät, es war schon geschehen, und er tat das Beste, wenn er alle solche Gedanken abschüttelte, hatte er doch auch schon verziehen.

»An diesem Amüsement hätte man mich eigentlich auch teilnehmen lassen können. Ich brauchte deshalb doch nichts von meiner Tochter zu erfahren,« sagte er, anscheinend schmollend, um seine andern Gefühle zu verbergen.

»Nun, Durchlaucht,« lächelte der Lord, »wenn Sie wünschen, so können Sie immer noch einmal die Rolle eines vermummten Freundes spielen.«

»Nein, nein!« wehrte der Fürst ab, machte aber dabei eine etwas betrübte Miene. »Ja, wenn ich zehn Jahre jünger wäre! Jetzt ist das nichts mehr für mich. – Da ist also auch die Madame Pompadour nur von hier aus bis dort an den Strand geschafft worden?«

»Nicht weiter.«

»Das verstehe ich nicht recht. Sie wurde doch in ihrem Fasse an Bord eines Schiffes gehievt, hörte die Dampfpfeife heulen, befand sich dann in einer Segelkammer, wurde im Fasse wieder ausgeladen.«

»Stimmt! Aber das besteht alles nur in ihrer Einbildung. Madame Pompadour hat die Mäander-Burg nie mit einem Fuße verlassen. Das angebundene Faß wurde hochgeleiert und wieder herabgelassen, dabei wurde mehrmals gellend gepfiffen, und da der Pompadour von einem Schiffe vorerzählt worden war, auf das sie käme, so sah sie denn auch in ihrem Geiste ganz deutlich dieses Schiff. Das vermeintliche Kabelgatt mit den Segeln und Tauen war eine Kammer unten in diesem Haus. Darin blieb sie zwei Tage und drei Nächte. In der dritten Nacht wurde wieder das Ausladen markiert, Madame Pompadour in dem Fasse von hier aus an den Strand gewälzt und dort auf gut Glück stehen gelassen.«

Fürst Alexjeff konnte nur den grauen Kopf schütteln.

»Und die Kokotte, welche mit einem Fuße in ein Fuchseisen geraten ist?«

»Daran ist nur das wahr, daß sich Mademoiselle Psyche bei dem Gang durch den Tunnel den Fuß vertreten hat. Sie wird gut gepflegt und wird ein anständiges Schmerzensgeld erhalten.«

»Und was soll nun aus den Damen werden? Nimmt der Kapitän sie mit nach den Schwefelinseln?«

»I, keine Spur!« lachte Lord Roger. »Das wäre die richtige Schwefelbande, die dort noch fehlte! Nein, morgen ist die Komödie zu Ende. Schon heute macht der Kapitän alles zur Abreise bereit. Die Kokotten müssen entlassen werden – und da soll auch noch einmal das Publikum von Monte Carlo seinen Spaß haben. Aufklärung allerdings wird es nicht bekommen. Mag sich jeder denken, was er will; mögen sie sich einmal wieder den Kopf zerbrechen!«

Lord Roger sprach noch länger von dem herrlichen Spaße, den sie morgen haben würden. Aber es sollte etwas anders kommen, als er erwartete.

 

»In der Mäander-Burg blickt oben jemand zum Fenster heraus.«

»Jawohl, und wissen Sie, wer es ist?«

»Nun, wer denn?«

»Wenn es nicht Lord Roger selbst ist, so sieht er geradeso aus.«

So wurde am nächsten Morgen um die elfte Stunde in ganz Monaco-Monte Carlo atemlos gesprochen, einer erzählte es dem andern, daß oben in der Mäander-Burg der auf der marokkanischen Pirateninsel enthauptete Lord Hannibal Roger zum Fenster heraussehe und ganz vergnügt eine Zigarre rauche, wonach er also wohl noch einen Kopf haben mußte. Nach dem Boulevard du Nord entstand infolgedessen eine wahre Völkerwanderung.

Als sich nun auch einige der exklusivsten Herren und Damen auf den Weg machten, um das Wunder mit eignen Augen anzuschauen, schloß sich ihnen ganz Monte Carlo an, die schon gefüllt gewesenen Spielsäle entleerten sich immer mehr.

Und es war eine Tatsache! Wenn es nicht Lord Hannibal Roger selbst war, dann mußte es sein Geist sein, welcher dort oben aus einem Turmfenster auf die unter ihm wimmelnde Menge herabblickte und eine Zigarre dazu rauchte.

»Lord Roger, sind Sie es denn nur wirklich?« wurde hinaufgerufen.

Der Gefragte blieb die Antwort schuldig, er zog sich zurück, denn sie waren da, welche er dort unten nur noch vermißt hatte.

Eiligst drapierte er sich mit einem bereitliegenden arabischen Burnus, verhüllte sein Gesicht und begab sich schnell hinab in einen großen Saal, der aber ebenfalls nur durch Oberlicht erhellt war, und wo wieder die 34 Kokotten, sämtlich in orientalischen Kostümen, versammelt waren. Soeben hatten sie mit stürmischem Jubel den zurückgekehrten Karabaß begrüßt, und zwar um so freudiger, weil er ihnen die Nachricht mitbrachte, daß ihre Prüfungszeit nun beendet sei.

»Sie sollte zwar nach unsern Gesetzen vier Wochen dauern, aber ich bin berechtigt, gewisse Ausnahmen zu gestatten, und da die Damen die Prüfungen so glänzend bestanden haben, will ich Sie nicht länger in den Zimmern eingeschlossen halten. Machen Sie sich bereit, das Haus zu verlassen, um die Insel zu besichtigen.«

Die Aufregung der Kokotten war ungeheuer. Mit hundert Fragen stürmten sie gleichzeitig auf den Kapitän ein und es ist begreiflich, daß sich das Hauptinteresse dieser Damen schon immer um die Schätze gedreht hatte, welche auf der Insel vergraben liegen sollten, so massenhaft, daß die Kinder mit der Schaufel darin herumschippten – wie sich der Kapitän einmal ausgedrückt hatte.

Das war natürlich auch jetzt die Hauptsache, um die sich alles drehte.

»Was für Schätze sind denn das? Lauter solche altertümliche Ringe und Armspangen, wie Sie Monsieur Girard gezeigt haben?«

»Jawohl, lauter solche!«

»Wo liegen sie denn aus der Insel vorgraben?«

»Überall, man muß nur danach suchen, und der Boden ist nur weicher Sand.«

»Kann man sie denn mit den Händen auspaddeln?«

»Das nicht, man findet sie etwa einen halben Meter unter dem Boden.«

»Da müssen wir aber doch Schippen haben.«

»Die können die Damen bekommen.«

Auf diesen Wunsch war natürlich nur gewartet und für Schaufeln schon gesorgt worden, sie wurden von Dienern gebracht, und an die Damen verteilt.

Es waren richtige hölzerne Schneeschaufeln, die leichtesten, welche man in der nächsten Stadt, die mit Schneefall rechnen mußte, hatte auftreiben können.

Die Damen wußten nicht viel von Schneeschaufeln, und wegen der eigentümlichen Form wurde ihnen versichert, daß diese Werkzeuge nach Erfahrung der Inselbewohner am geeignetsten seien, um in dem Sande nach den Schätzen graben zu können. Nachdem jede Kokotte mit ihrer Schneeschaufel bewaffnet war, stand ihrem ersten Ausgang nichts mehr im Wege. Jetzt endlich sollten sie also alle Geheimnisse der paradiesischen Pirateninsel an der marokkanischen Küste kennen lernen!

Wie die Wangen gerötet waren, und wie die Augen funkelten, als die 34 Türkinnen mit ihren Schneeschaufeln dem Torweg zuschritten!

Nun öffneten sich die beiden Torflügel. Die ersten Paare waren schon draußen, sie stutzten, sie stockten, allein die hintern drängten stürmisch, sie wollten doch auch schnellstens sehen, worüber die ersten so erstaunt waren, und dann standen alle die 34 Odalisken mit ihren Schneeschaufeln wie die Wachsfiguren da, vor Staunen wirklich zu Statuen erstarrt.

Sie sahen eine Straße, sie sahen Häuser, alles ihnen so wohlbekannt, sie sahen die vielen Menschen – und diese standen ebenfalls wie die Salzsäulen da und starrten ihrerseits die 34 Türkinnen an ...

»Das ist doch die Cobra Bella?!« erscholl es zuerst aus der Menge.

»Ja, das ist doch ... das ist doch ... der Boulevard du Nord?!« erklang es aus dem Munde der Haremsweiber.

»Das sind ja die Damen, welche von Karabaß entführt worden sind?!« hieß es wieder auf der andern Seite.

»Ja, das sieht doch geradeso aus, als ob wir in Monte Carlo wären?!«

»Du, Papa,« ließ sich da ein blondhaariger Knabe vernehmen, der seine Eltern aus dem Norden nach der Riviera begleitet hatte, »die wollen wohl hier Schnee schippen?«

Der Knabe sollte das letzte Wort in dieser Sache gesprochen haben. Es kam eben nicht so, wie jene Herren es gewünscht hatten, es erfolgte auch keine richtige Aufklärung. Vielleicht zürnte der Himmel ob solcher Komödie, daß er sich grollend einmischte.

Dabei aber lachte an seinem blauen Firmamente freundlich die Sonne. Überhaupt, wer je so etwas erlebt hat, der weiß, daß da kein Sturm und Blitz und Donnerschlag zu sein braucht, das spielt sich alles ganz anders ab, als man denkt, und doch ist es das Furchtbarste, was den Menschen betreffen kann.

Das leise Murren im Erdinnern war kaum zu hören. Aber der Boden erbebte und kam stoßweise in Bewegung, und wenn die feste Erde ihren Halt verliert, so ist das etwas, was jedem Menschen das Kopfhaar vor Entsetzen in die Höhe stehn läßt.

Das Haus des Architekten Bruzzo in Monte Carlo Supérieur war das erste, welches zusammenknatterte. Gleich daneben wurde eine andre Villa, ein großes, steinernes Haus, richtig um seine Achse verschoben, und in demselben Augenblicke erfolgte von La Turbie herab ein furchtbarer Bergrutsch, alle Häuser, die ihm im Weg waren, unter Erde und Steinen begrabend.

Nach vierzehn Ruhejahren wurde die Riviera wieder einmal von einem Erdbeben heimgesucht, und zwar war dies das schlimmste, welches die Chronik dieser Küste zu verzeichnen hat. Mit jenen gewaltigen Katastrophen, wie etwa die in Lissabon, läßt es sich allerdings nicht vergleichen, aber immerhin, es genügte.

Wie sich die Menschen dabei benahmen, das spottet jeder Beschreibung. Ein einziger gellender Schrei durchdrang die sonnige Luft. Alles stürmte in wahnsinniger Flucht davon. Wohin? Im Gebirge brachen die Berge zusammen, in der Stadt die Häuser – also dem Meere zu!

Da brauste eine mächtige Woge heran. Im Nu war der Strand mit den Planken zerschmetterter Boote bedeckt.

Im Hafen hatten drei Jachten gelegen.

Die des Schokoladenfabrikanten hatte nur einen Anker ausgeworfen gehabt. Die Kette riß. Die große Jacht wurde gegen den Felsen von Monaco geschleudert und war wie weggeblasen. Ein Wunder war es, daß kein einziger Mann der Besatzung dabei sein Leben verlor. Alle konnten sich retten. Lord Rogers Jacht hatte der Sturzwelle standgehalten, hatte vollen Dampf gehabt, im nächsten Augenblick dampfte sie hinaus, von der zurückgehenden Welle getragen, ihr folgte die Heliotrop ins offene Meer.

Carnegies Jacht hatte weit draußen auf Reede gelegen und war von der Woge nicht berührt worden.

Auf dem Söller des Mäander-Turmes stand Lord Roger. Er hatte diese Vorgänge beobachtet, die sich fast in einem einzigen Augenblicke abgespielt hatten. Wie er nun so nach dem offnen Meere hinausblickte, sah er plötzlich das mächtige Klostergebäude der Arche Noah wie eine Theaterdekoration zusammenklappen, sich in einen Schutthaufen verwandeln.

»Nach der Arche Noah!!!«

Mit diesem heisern Rufe sprang der Lord die Söllertreppe hinab und auf die Straße, unterwegs einige ihm begegnende Matrosen der Heliotrop mitnehmend.

»Der Master ist verschüttet!!« erklang der Ruf.

»Johanna!!« setzte jammernd ein schwarzlockiger Mann hinzu.

In wenigen Minuten hatten sie den Felsen erreicht, auf dem sich das massive Gebäude erhoben. Einen Eingang gab es nicht mehr, alles ein Trümmerhaufen. Hier konnten einige Menschen nur mit ihren Händen nichts schaffen, das war auf den ersten Blick zu erkennen.

Der um den Schutthaufen herumrennende Lord traf mit Riccardo zusammen, der händeringend das Grab seiner Braut betrachtete. Ob da drin nach Hilfe gerufen wurde, das wäre gar nicht zu hören gewesen, das ganze Fürstentum hallte ja wider von einem einzigen Hilfeschrei.

»Folgen Sie mir! Es gibt noch einen andern Weg in die Arche Noah, welcher schwerlich verschüttet ist!« schrie der Lord, und der ganz kopflos gewordene Künstler rannte dem Davonspringenden nach.

Lord Roger nahm seinen Weg durch die Gaumates-Schlucht, den Schlüssel zu der Höhlentür hatte er in der Tasche, desgleichen seine kleine Benzinlaterne. Er setzte sie in Brand und drang durch den erst kürzlich neuentdeckten Eingang, den man nun bequemer gemacht hatte, in den Keller, von dem man früher gar nichts gewußt hatte. Riccardo folgte seinem Führer.

Die Vermutung des Lords bestätigte sich. Der Gang war unversehrt. Wir werden aber gleich sehen, daß dem doch nicht ganz so war, auch hier unter der Erde mußte sich durch das Erdbeben verschiedenes geändert haben.

Davon aber war eben vorläufig nichts zu merken. Flüchtigen Fußes eilte der Lord durch den Tunnel, nur manchmal seinen Begleiter auf gefährliche Stellen aufmerksam machend.

Bald hatten sie das unterirdische Wasserbecken erreicht, wo am Tage zuvor die Matrosen noch mit dem Steinbohrer gearbeitet hatten. Das Werk war über Nacht beendet worden, die Wand war durchbrochen. Dem bequemen Eintritt in die Höhle, welche sich schon im Felsen der Arche Noah befand, stand nichts mehr im Wege.

Da man nun nicht annehmen konnte, daß Nobody noch einen Ausweg aus dem zusammenstürzenden Gebäude gefunden hatte, weil er doch sonst sicher gleich nach der Mäander-Burg geeilt wäre, und da man ihm auch nicht im Tunnel begegnet war, so mußte der Lord um seines Freundes Schicksal mit der größten Besorgnis erfüllt werden. Allein er unterdrückte alle diesbezüglichen Äußerungen, um nicht seinen Begleiter Johannas wegen noch besorgter zu machen.

Sie drangen in die geräumige Höhle. Im Scheine seiner Laterne sah Lord Roger hier zum ersten Male die nach oben führende Steintreppe, von der ihm Nobody bisher nur erzählt hatte, denn das Taucherkunststück hatte ihm noch niemand nachzumachen gewagt.

»Hallo, was für ein Licht ist das dort unten?!« erklang es da von oben aus der Finsternis.

»Alfred!« jauchzte der Lord, der Nobodys Stimme erkannt hatte.

»Wahrhaftig, Hannibal – Hannibal vor den Toren Roms und unter den Trümmern Karthagos!« erscholl es oben nicht minder erfreut. »Wen hast du da bei dir? Ah, Riccardo! Auch Johanna ist bei mir, ganz unversehrt, aber sie kann mir nicht helfen, und ich sitze hier in einer ekligen Klemme. Könnt ihr heraufkommen?«

Die beiden verstanden gar nicht recht, was diese letzte Frage bedeuten sollte. Eiligst erstiegen sie die Treppe, unterwegs allerdings merkend, daß auf den Stufen hin und wieder kleine Steine mit frischen Bruchstellen lagen. Hier mußte es einen Steinregen gegeben haben.

Der vorauseilende Lord sah oben aus den Stufen eine weibliche Gestalt sitzen, die sich an die Wand lehnte, ferner lag da ein großer Felsblock, unter diesem glaubte der Lord noch einen Mann zu erkennen – in diesem Augenblicke verlöschte die Benzinlaterne.

Während sich der Künstler dadurch nicht aufhalten ließ, sondern im Finstern weitertastete, um zu der Geliebten zu gelangen, blieb Hannibal stehen und suchte in seinen Taschen.

»Verflucht – und kein Streichholz! Signor Riccardo, haben Sie Streichhölzer einstecken?«

Der Gefragte hielt das halb ohnmächtige Mädchen schon in seinen Armen und mußte diese angenehme Beschäftigung jetzt mit der prosaischen unterbrechen, daß er nach Zündhölzern suchte.

»Nein, ich habe keine bei mir.«

»Alfred, hast du welche?«

»Ach, was brauchen wir Licht! Ich finde den Weg auch im Finstern, wenn ich nur erst einmal aus dieser bösen Lage heraus bin.«

Der Lord stieg weiter hinauf, und erkannte jetzt erst, aber nur durch Tasten, in welcher schauderhaften Lage sich sein Freund befand. Nodody selbst gab einige Erklärungen über seine Situation und wie er in dieselbe gekommen war.

Er war mit Johanna in die Öffnung gesprungen, von der die Falltür emporgeschleudert worden war, war aber nicht viel weiter gekommen. In demselben Augenblick, da er die ersten Stufen unter seinen Füßen fühlte, prasselten Steine um ihn herum, er wurde zu Boden geschleudert, verlor jedoch nicht die Besinnung, konnte sich aber auch nicht erheben. Er lag auf der Treppe, über seinem linken Oberschenkel ein gewaltiger Felsblock, der sich von der Decke des Gewölbes losgelöst haben und gerade durch jene Öffnung gestürzt sein mußte.

Dabei hatte Nobody noch außerordentliches Glück gehabt. Sein Bein hatte gerade in der Ecke zwischen zwei der hohen Stufen gelegen, und so hatte sich der Felsblock darübergeworfen. Nobody fühlte keine Schmerzen, er glaubte, er könne höchstens kleine Hautabschürfungen davongetragen haben. Aber gefangen war er, er vermochte das Bein, so wenig dieses auch gequetscht wurde, nicht wieder hervorzuziehen, daran hinderte ihn das Knie, und noch weniger konnte er den mächtigen Felsblock durch eigne Kraft von sich abwälzen.

Johanna schien ganz unverletzt davongekommen zu sein, aber daß sie ihrem Beschützer jetzt Hilfe leistete, daran war gar nicht zu denken. Zitternd und sprachlos hatte sie die ganze Zeit neben ihm gekauert. Seit der Katastrophe bis jetzt mochte vielleicht eine Viertelstunde vergangen sein.

Nachdem sich Lord Roger durch Tasten davon überzeugt hatte, daß es zwei Männern gar nicht so schwer werden könne, den Steinblock herabzuwälzen, forderte er Riccardo auf, ihm dabei behilflich zu sein. Während dieser Vorbereitungen stellte der Engländer eine seltsame Frage.

»Was dachtest du denn, Alfred, während du hier unter dem Steine lagst?«

»Vorläufig liege ich noch drunter. Was ich dachte? Meinen Bericht habe ich aufgesetzt, das heißt nur im Kopfe. Ei, Tausend, was ich in der Arche Noah erlebt habe! Wie sieht es denn an der Erdoberfläche aus?«

»Es hat ein kleines Erdbebchen gegeben.«

»Ein Erdbebchen ist gut.«

»Ich habe noch ganz andre erlebt. Bisher sind nur drei Häuser eingefallen – gar nicht der Rede wert.«

»Und die Heliotrop?«

»Hat das offene Meer gewonnen, desgleichen meine und Carnegies Jacht. Nur die des Schokoladenfritzen ist am Felsen von Monaco zerschellt. – So, jetzt kann die Geschichte losgehn. Nicht wahr, Signor Riccardo, Sie sind Bildhauer?«

»Klaviervirtuose.«

»Schade. Na, da spucken Sie einmal in Ihre Klavierfinger, fassen Sie hier an, und bei drei schieben Sie, was Sie schieben können. Eins – zwei – drei – bruch!«

Donnernd polterte der Felsblock die Treppe hinab, unter sich die Stufen zermalmend, und stürzte unten in der Höhle mit einem lauten Plätschern ins Wasser.

Nobody sprang auf und dehnte die lahmgewordenen Glieder.

»Nix ist passiert, alles ist gut gegangen.«

»Ja, du hast mehr Glück wie Verstand,« meinte Lord Roger.

»Ebensoviel Glück wie Verstand,« korrigierte Nobody.

Es war eine seltsame Szene. Während an der Erdoberfläche die Menschen in furchtbarer Panik vor dem Tode flohen, hatte hier unten im Tunnel der Künstler seine Geliebte, Lord Roger sein gewöhnliches Phlegma und Nobody seinen trocknen Humor wiedergefunden.

Ein neues Grollen und Zittern der Erde erinnerte sie daran, daß sie selbst noch nicht außer dem Bereiche der Gefahr waren.

»Das Gewölbe des Tunnels muß sich doch stark gesenkt haben,« meinte Nobody.

Dem widersprach zwar der Lord, aber Nobody blieb bei seiner Behauptung, wenn auch die beiden nichts davon gesehen hätten.

»Vor mir sprang, von einer unsichtbaren Macht in die Höhe geworfen, die schwere Falltür auf, und ich entsinne mich gleichzeitig, einen äußerst heftigen Luftstrom bemerkt zu haben, der mir aus der Öffnung entgegendrang. Das ist einfach komprimierte Luft gewesen, erzeugt durch irgend eine Senkung unter der Erde.«

»Der Eingang aus dem Keller der Mäander-Burg ist jedenfalls noch frei.«

»Vorläufig mag das stimmen, aber wenn das nur so bleibt! Und wie steht es hier oben?«

Er begab sich die wenigen Stufen hinauf. Wohl konnte er noch fühlen, wo sich einst die Falltür befunden hatte, jetzt aber lag dicht über der Öffnung ein großer Stein, den die drei Männer auch vereint nicht emporzuheben vermochten, und es war auch besser, sie vermieden es, ihn aus seiner Lage zu bringen. Wer wußte, was dann noch nachgepoltert gekommen wäre.

Zu hören war nichts, kein Hilfeschrei, kein Wimmern, kein Röcheln. Es half nichts, man mußte die verschütteten Weiber vorläufig ihrem Schicksale überlassen.

So traten alle vier, nachdem ein nochmaliges Suchen nach Streichhölzern erfolglos geblieben war, im Finstern den Rückweg an.

Grade, als sie unten die große Höhle erreicht hatten, erbebte abermals donnernd die Erde, stärker denn je zuvor, hier unten doppelt schrecklich anzuhören, und gleichzeitig wurden sie von einem starken Windhauch getroffen.

»Luft!« rief Lord Roger. »Das Erdbeben hat dem früher ganz isolierten Tunnel irgendwo einen neuen Eingang geschaffen, der direkt ins Freie führt!«

»Oder gerade das Gegenteil!« meinte jedoch Nobody besorgt. »Ich fürchte eher, daß sich das Gewölbe wiederum stark gesenkt hat, und daß uns nur die zusammengedrückte Luft traf.«

Es sollte sich bald zeigen, wie sehr Nobody recht hatte.

Als sie sich weitertasteten, stießen sie auf große, am Boden liegende Steinblöcke, welche vordem noch nicht dagelegen hatten, sie mußten erst bei dem letzten Erdstoß von der Decke gestürzt sein. Die Wände schienen zusammengerückt und zusammengestürzt zu sein, und endlich konnten die vier sich kaum noch zwischen den Steintrümmern hindurchzwingen.

»Wir sind verschüttet!« stöhnte Riccardo. »Johanna, wir haben uns nur gefunden, um zusammen zu sterben.«

»Nur Mut! So schlimm ist es noch nicht!« tröstete aber Nobody. »Hier sind wir schon am Keller der Mäander-Burg und – der Ausgang ist noch offen!«

Er zwängte sich zwischen den letzten Steinen hindurch, und schon nach wenigen Minuten schimmerte ihm das goldene Tageslicht entgegen.

Alle vier waren gerettet, und in was für einer fürchterlichen Gefahr sie geschwebt hatten, das sollten sie erst nachträglich erkennen.

 

Es ist wirklich, als dürfte es nicht sein, daß Monte Carlo auch eine richtige Sommersaison hat.

Diesmal schien es geglückt zu sein, die Gäste während des Sommers zu fesseln, nicht infolge eigner Bemühungen, sondern einer Komödie, welche ein fremder Mann dem Publikum vorgeführt hatte – da hatte der Himmel selbst der schon zu weit vorgeschrittenen Saison ein jähes und schreckliches Ende bereitet. Hals über Kopf, fast alle ihr gesamtes Gepäck im Stiche lassend, waren die sämtlichen Fremden mit den nächsten Zügen abgereist, ohne sich darum zu kümmern, was hinter ihnen unter den Trümmerhaufen blieb.

Die edlen Menschen hatten ja auch ganz recht; das würden sie schon später noch in den Zeitungen lesen können.

Übrigens war das Unheil auch gar nicht so schlimm. Wenigstens hätte dieses Erdbeben, welches wieder einmal die Riviera heimgesucht, noch ganz andres Unglück anrichten können.

Die wenigen eingestürzten Häuser hatten keinen einzigen Menschen unter sich begraben – mit Ausnahme der Arche Noah.

Noch an demselben Tage wurden die Schutthaufen dort von Rettungsmannschaften und besonders von den französischen Artilleristen der benachbarten Forts abgeräumt oder doch durchwühlt.

Von den achtundzwanzig Weibern wurden nur fünf tot gefunden, die andern mehr oder minder verletzt, zum Teil fürchterlich zugerichtet.

Doch wir wollen nicht bei Einzelheiten verweilen, sondern nur einige Andeutungen machen. Bedauerlich dabei ist vielleicht, daß besonders die Senora de la Fonserra fast bloß mit dem Schrecken davongekommen war. Sie begab sich nach Mexiko zurück und trieb dort wahrscheinlich ihren widerlichen Kultus weiter.

Das Skelett aber war glücklich erschlagen worden, nicht von Nobodys Fausthieb, sondern durch einen Stein. Das Nixchen lag lange im Hospital des oberen Monaco, ehe auch sie wieder nach ihrer Heimat zurückreisen konnte.

Von den übrigen Kokotten sei nur erwähnt, daß auch die grüne Eva bei der Katastrophe ihren Tod gefunden hatte. Diejenigen Kokotten, welche die Katastrophe überstanden hatten, verschwanden bald spurlos.

Was nun den seltsamen Zustand anbetrifft, in dem die Rettungsmannschaften fast sämtliche Weiber gefunden hatten, mit den von Peitschenhieben zerfetzten Rücken usw., so mußte man wohl dem Berichte glauben, welcher bald darauf in ›Worlds Magazine‹ erschien.

Nun freilich war das Staunen groß. Hatte man doch keine Ahnung gehabt, daß jener Nobody in Monte Carlo geweilt. Aber, wie schon gesagt, man mußte dem Berichte Glauben schenken, beichteten doch auch im Hospitale einige Kokotten, daß die vorgebliche Lady Roger ein Mann gewesen sei.

Das Rätsel über den sogenannten Prinzen von Monte Carlo aber und über alles, was damit zusammenhing, blieb bestehen. Denn die Eingeweihten hatten ihr Ehrenwort gegeben, nichts davon zu verraten.

Selbst das Erdbeben hatte dafür gesorgt, daß nichts nachträglich noch an das Licht der Sonne kommen sollte.

Nach dem Gutachten der Sachverständigen war hier, besonders in Monaco, eine allgemeine Erdsenkung erfolgt, welcher auch die Ile de Castelle zum Opfer gefallen war. Endlich war das schon längst vorausgesehene Ereignis eingetreten, die aufgeregte See hatte das nur noch von den Baumwurzeln zusammengehaltene Erdreich weggewaschen, mit diesem die Gräber, da mußte auch der alte Sarazenenturm gefallen sein – aus dem Wasser ragten nur noch nackte Klippen empor.

Aber das ahnte niemand, daß dieser alte Turm den Zugang zu einem unterirdischen und sogar unterseeischen Tunnel verschlossen hatte. Jetzt muß er natürlich mit Wasser gefüllt sein, und das Eindringen dieser großen Wassermenge erzeugte jedenfalls den gewaltigen Luftdruck, welcher in der Arche Noah die Falltür gleich bis an die Decke geschlendert hatte.

Das Kasinogebäude war ebenso wie das obere Monaco von dem Erdbeben ganz verschont geblieben, wohl aber hatte sich der Felsen, auf welchem die Arche Noah stand, stark gesenkt und senkte sich später noch mehr. Anscheinend ist die ehemalige Höhle ganz zerstört worden. Überhaupt folgten die Erdsenkungen, und das ist leicht begreiflich, den Richtungen, welche die unterirdischen Tunnel genommen hatten, von deren Vorhandensein sonst niemand etwas wußte.

So war auch die hintere Wand, die den Felsenhorst des Eremiten von La Turbie abgeschlossen hatte, zusammengebrochen. Es vergingen einige Tage, ehe man daran denken konnte, dem doch jedenfalls Verschütteten Hilfe zu bringen.

Das Gärtchen mit der Fontäne war von Steinmassen, verschüttet worden, und hier lag noch etwas andres vor, als nur der Zusammenbruch eines von Menschenhänden aufgebauten Hauses, hier mußte man bald jede Arbeit aufgeben. Der Eremit wurde also nicht gefunden, und niemand ahnte, daß jener ganze Felsen, der nun einem Trümmerhaufen glich, ebenfalls durchhöhlt gewesen war.

Wer kümmerte sich jetzt noch darum, wo plötzlich die Heliotrop mit Kapitän und Mannschaft, wo jener maskierte Knabe, wo Lord Roger, wo Prinzeß Turandot mit ihrem Vater geblieben seien?

Das Erdbeben hatte eben allem ein jähes Ende bereitet, jeder war Hals über Kopf von dem gefährlichen Boden geflohen.

Wir aber werden die Hauptpersonen bald wieder zusammen finden.


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