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3. Der Kosak

Die eine der beiden Monacascognerinnen, deren Gespräch wir belauschten, hatte gemeint, die russische Prinzessin Turandot würde die erste sein, welche den blutdürstigen Gelüsten des mädchenfressenden Kapitäns zum Opfer fiele.

Wir müssen uns jetzt mit dieser russischen Prinzessin beschäftigen, welcher ein solch brillantes Sittenzeugnis ausgestellt worden ist, denn jene Monacascognerin hatte doch tröstend versichert, der Vampir könne zu seinen Zwecken nur unschuldige Mägdlein gebrauchen, und da sie nun auch noch hinzugesetzt, wie schwer solche Unschuldige in Monaco zu erlangen seien, auf dem Kirchhof unter der Erde müsse man sie suchen – gibt es denn da ein besseres Sittenzeugnis, als daß Prinzessin Turandot die erste sein würde, welcher der Vampir das Blut aussauge?

Ihr Vater war und ist noch heute ein russischer Fürst, dessen Name gerade jetzt in der Politik oft genannt wird. Wir aber möchten ihn an dieser Stelle lieber verschweigen, und wenn das Kind nun einmal einen Namen haben muß, so wollen wir ihn ... Alexjeff nennen!

Fürst Alexjeff, damals Statthalter einer asiatischen Provinz, war ein kinderloser Witwer. Die Kinderlosigkeit hatte aber nicht an ihm gelegen, denn seinem Verhältnis mit einer Tscherkessin, die wohl nichts anderes als eine Sklavin gewesen sein mag, war ein Mädchen entsprungen.

Wer Turandot nun in ihren jungfräulichen Jahren gesehen hat, der hält es für möglich, daß der alte Fürst schon in das kleine Kind seiner späten Liebe vernarrt war, daß er es zu adoptieren beschloß und diese Adoption auch durchsetzte.

Er mag dabei auf keine großen Schwierigkeiten gestoßen sein. Als der Zar die kleine Turandot sah, bestätigte er sofort die Adoption vollständig, und wer die Verhältnisse kennt, der weiß wohl, was das heißen will!! Denn durch diesen Ukas des Zaren wurde das uneheliche Kind einer tscherkessischen Sklavin eine tadellose Prinzessin, welche an jedem europäischen Fürstenhofe willkommen war und bei der Polonäse gleich hinter dem Herrscherpaar rangierte!

Hiernach mußte ihre Erziehung eingerichtet werden. Diese erhielt Prinzeß Turandot erst in Petersburg, den letzten Schliff sollte sie in einer Pariser Pension bekommen, welche nur Fürstentöchter aufnimmt.

Wie sich Prinzeß Turandot in Petersburg und in der Pariser Pension für Fürstentöchter betragen hat, hierüber ... schweigt des Sängers Höflichkeit. Der Sänger weiß es auch gar nicht, hat nichts davon gehört. Aber er ahnt es. Denn der Sänger hat sie gesehen, wie sie in Monte Carlo ankam, durchgebrannt aus der Pariser Pension für Fürstentöchter, mit nichts anderem, als was sie auf dem Leibe trug ...

O Turandot, o Turandot!!

Kehre wieder, holde Erinnerung, zaubere mich zurück nach Monte Carlo und zaubere sie mir noch einmal vor!

Hier sitze ich im kalten Norden, der Schneesturm rüttelt an den Fenstern meines Stübchens ... und plötzlich stehst du inmitten von Blumen und Palmen vor mir in deiner herrlichen Jugendpracht. Wild flattern die schwarzen Locken um dein Antlitz wie Milch und Blut, lachend blitzen mich deine Heidelbeeraugen an, und sehnsüchtig strecke ich die Arme nach dir aus ...

O Turandot, o Turandot, du Rose des Kaukasus!! So stolz und so frei, so zart und so kraftvoll, so wild und so sanft, so schön und so edel, so brav und so gut, so sittsam und so rein, so liederlich und so schmutzig ...

Ja, so liederlich und so schmutzig!!

Ja, du Rose des Kaukasus, Prinzeß Turandot – du warst ein Rüpel erster Klasse! Du warst ein – ein – na, ich weiß ja, du kannst nichts übelnehmen, deshalb frei herausgesagt: du warst ein richtiges kleines Ferkel!

Wenn nicht dein Kleid irgendwo aufgeplatzt war, dann hattest du wenigstens von einem Stiefel den Absatz verloren. Und wenn du nicht im Gesicht einen Rußstrich hattest, dann trugst du auf dem Rücken gleich eine ganze Wand mit dir herum. Und wenn es in Monte Carlo einmal Regenpfützen gab, dann kamst du mir immer wie eine junge Ente vor!

Doch genug, genug! Jetzt braucht wohl niemand mehr besondere Phantasie dazu, sich von dieser hoffähigen Prinzessin ein Bild zu machen, was die Feder nicht fertig bringt. –

Sie war also durchgebrannt und tauchte plötzlich in Monte Carlo auf. Weshalb? Na, es hatte ihr eben in der Pension zwischen den anderen Fürstentöchtern nicht mehr gefallen, in Monte Carlo sollte es doch so schön sein – juchhei, nach Monte Carlo gefahren!! Um sich das nötige Reisegeld zu verschaffen, hatte sie in Paris den Schmuck verkauft, den sie für gewöhnlich trug, und als sie in Monte Carlo ankam, hatte sie keinen Sou mehr und kein zweites Hemd, und statt eines Taschentuches hatte sie einen Fetzen blaue Gardine, den sie vom Coupéfenster abgerissen haben mochte.

Es sei hier gleich im voraus erledigt, wie man gegen den Flüchtling vorging. Sie machte aus ihrer Flucht durchaus kein Hehl; sie schrieb sofort aus Monte Carlo einen Brief – oder sie hatte wohl sogar in dem Pensionat einen zurückgelassen, in welchem sie ›höflichst‹ mitteilte, daß ihr alle Gouvernanten mit sämtlichen Pensionaten den Buckel hinunterrutschen könnten, sie sei nun alt genug, um selbständig im Leben aufzutreten, und es sollte nur um Gottes willen niemand versuchen, sie wiederzuholen, der könne seine Augen in acht nehmen. Nur ihr Papa dürfe sie abholen, aber auch nur unter der Bedingung, daß er sie in ihre asiatischen Steppen zurückbrächte, wohin sie gehöre, und so lange bliebe sie in Monte Carlo – punktum!!

Es dauerte natürlich nicht lange, so waren die Gouvernanten aus Paris da, es kamen auch direkt aus Petersburg Haushofmeister, Kammerherren und Kammerdamen, um die Widerspenstige zu zähmen – allein, bei der Prinzessin Turandot war alles vergebens, die lachte alle aus und beharrte bei ihrem Entschluß. Es war mit dem widerspenstigen Mädchen absolut nichts anzufangen, und man hätte einmal versuchen sollen, sie mit Gewalt zurückzuschleppen! Sie hatte den Spitznamen ›Kosak‹ nicht umsonst bekommen.

Dann mußte der fürstliche Vater andern Sinnes geworden sein, oder gegen den wilden Flüchtling wurde irgend eine wohlausgesonnene Intrige ins Werk gesetzt – kurz und gut, die Gouvernanten, Kammerherren und Kammerdamen reisten plötzlich sämtlich wieder ab, man ließ die durchgebrannte Prinzessin, die in einem Hotel feste Unterkunft gefunden hatte, vollständig in Ruhe.

Wie nun war das Verhältnis zu ihrem Vater?

Der Schreiber dieser Zeilen war dabei, als sie sich einmal hierüber äußerte.

Auf der Terrasse hinter dem Kasino saßen einige amerikanische Millionäre, Lord Hannibal Roger und andere Geldfürsten, da kam Prinzeß Turandot im aufgeplatzten Reitkleide angefledert, um wie gewöhnlich die Herren um ein paar tausend Francs anzupumpen, welche dann schleunigst verspielt wurden, und einer von ihnen stellte an sie die vorwurfsvolle Frage, was nun ihr Papa sagen würde, wenn er jetzt käme.

Da antwortete das tolle Ding wörtlich mit der größten Seelenvergnügtheit:

»Ach, der gibt mir bloß ein paar Ohrfeigen, dann kratze ich ihm mal ins Gesicht, und dann sind wir wieder gut zusammen.«

Diese Äußerung charakterisiert wohl am besten das Verhältnis, welches zwischen der hoffähigen Tochter und ihrem erlauchten Vater obwaltete. –

Zuerst aber hatte die durchgebrannte Pensionstochter in Monte Carlo gar keinen so leichten Stand gehabt. Nur der jugendliche Leichtsinn ließ sie die schwere Lage nicht empfinden, in die sie gekommen.

Bei ihrer Ankunft hatte sie sich frisch und froh in das erste beste Hotel begeben. Prinzeß Turandot, Tochter eines russischen Fürsten, der selbst nicht wußte, wie reich er war – wer zum Teufel sollte wagen, der die Tür zu weisen?!

Nun aber hat man gerade in Monte Carlo ganz eigentümliche Ansichten über Namen und Titel. Da sind schon gar zu viele Prinzen und Prinzessinnen gekommen, die sich hinterher als Schwindler entpuppt haben. Klingendes Geld, das ist hier immer die Hauptsache, und die durchgebrannte Pensionstochter sah einer Zigeunerin viel ähnlicher als einer russischen Prinzessin.

Kurz und gut, schon am Abend des zweiten Tages wurde die hoffähige Prinzessin, weil sie nicht gutwillig das Hotel verlassen wollte, vom Hausknecht mit gar nicht so sanfter Gewalt an die frische Luft gesetzt, und da in der Fremdenliste, die äußerst streng geführt werden muß, ihr Name während dieser Zeit nirgends zu finden ist, so ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die hoffähige Prinzessin diese Nacht in irgend einem offengelassenen Hausflur oder auf einer ungewaschenen Bank zugebracht hat.

Außerdem meldet der Polizeibericht von dieser Nacht, daß in jenem Hotel von bübischen Händen einige Fensterscheiben eingeworfen worden waren, und man darf wohl mit Sicherheit annehmen, daß diese bübischen Hände einer hoffähigen Prinzessin angehört haben. Rache ist eben süß.

Am anderen Tage fand sie in einem zweiten Hotel Unterkunft. Der Hotelier war gerade nicht anwesend, und dann behielt man sie auf Kredit, weil jetzt nach und nach die Gouvernanten, Haushofmeister und Kammerdamen angerückt kamen. In diesem Hotel spielte sich also der Kampf ab.

Dann rückten die Gouvernanten, Haushofmeister und Kammerdamen wieder ab, gleichzeitig aber wurden alle Bankiers instruiert, der Prinzeß keinen Kredit zu gewähren, ja, der alte Fürst erließ sogar eine öffentliche Bekanntmachung, in welcher er warnte, seiner hoffähigen Tochter etwas zu pumpen, er käme für gar nichts auf.

Das fuhr dem Hotelier in die Nase, und als sich das kleine Dämchen nicht mit höflichen Redensarten hinauskomplimentieren ließ, kam es zwischen der hoffähigen Prinzessin und einigen Hausknechten abermals zum offenen Kampf, der sich noch auf der Straße fortsetzte, und als sie auch hier von ihren Widersachern nicht abließ, immer wacker kratzte und biß, wurde sogar schon nach der Polizei gepfiffen, und aller Wahrscheinlichkeit nach hätte Prinzeß Turandots Abenteuerfahrt in der Kerkerzelle geendet, wenn da nicht ihr rettender Engel aufgetaucht wäre.

Dieser Engel hieß August Bierling und war Direktor des Riviera-Palast-Hotels.

Das neuerbaute Riviera-Palast-Hotel, auf der Höhe von Monte Carlo Supérieur stehend, mit eigener Haltestation der Zahnradbahn, war soeben erst dem Verkehr übergeben worden.

Ein amerikanisches Aktien-Unternehmen, 300 Zimmer, keins ohne eigenes Badekabinett, das billigste täglich 25 Francs, ohne Licht und Bedienung, und dieses billigste für täglich 25 Francs ist ein Dachzimmer hintenheraus – diese Angaben kennzeichnen das Riviera-Palast-Hotel wohl zur Genüge.

Damals sagten auch die kühnsten Spekulanten im Hotelfache: diese Yankees sind ja verrückt! Und man schien recht zu behalten. Das Hotel ging nicht. Aber heute geht's. Und wie geht's! Immer knallvoll! Das Geld scheint eben, wenn es sich um Luxus handelt, gar keine Rolle mehr zu spielen. Und nur der Ruf ist's, der Ruf allein!

Die amerikanischen Aktienunternehmer hatten sich freilich auch nach einem tüchtigen Direktor umgesehen, und ihre Wahl war auf Herrn August Bierling gefallen, der schon manches faule Hotel in die Höhe gebracht hatte. Er war eigentlich kein Deutscher, sondern ein Schweizer und ist später an Herzverfettung gestorben.

Daß dieser Hotelier aus einem ganz andern Holze geschnitzt war als seine Kollegen, zeigte er schon, als er zufällig Zeuge des Straßenkampfes zwischen der beißenden Zigeunerin und den drei Hausknechten wurde.

Er mischte sich als rettender Engel ein.

»Wollen Hoheit nicht im Riviera-Palast-Hotel logieren?«

Das Mädchen hörte die Stimme vom Himmel und ließ ab vom Kampfe.

»O ja, recht gern, aber das sage ich Ihnen gleich: mein Papa bezahlt nicht.«

»Bitte, davon wollen wir gar nicht sprechen, ich bin der Direktor des Palast-Hotels, und es ehrt mich sehr, wenn gnädigste Prinzeß bei mir logieren wollen.«

Na, die Zigeunerin ging natürlich mit und wurde eben wie eine richtige Prinzessin aufgenommen, die ihren ganzen Hofstaat mitbringt, obgleich diese hier nicht einmal ganze Strümpfe mitbrachte. Gleich vier Zimmer, lauter Prunksalons, daneben ein eigenes Dampfbad und ein kleines Schwimmbassin mit kaltem und heißem Wasser bekam sie, alles, was sie nur haben wollte, sie brauchte die Kleiderkünstlerinnen und Konfektioneusen nur zu bestellen, das nahm alles die Hoteldirektion auf sich, ohne ihr jemals eine Rechnung vorzulegen, und weil sie ein paarmal einen Kellner um das Fahrgeld anpumpte, wurde ihr für die Zahnradbahn gleich ein Abonnement erster Klasse gegeben.

Die Rechnung war ja auch eine ganz einfache. Wurde nicht bezahlt – na, was machte das diesem Riesenhotel aus! Die Zimmer standen doch sowieso leer. Ging das Hotel pleite – dieser blinde Pensionär war nicht daran schuld, und der fürstliche Vater würde schon für seinen geliebten Ruppsack bezahlen – und dann freilich sollte er eine gepfefferte Rechnung zu sehen bekommen! Außerdem gehörte das junge Mädchen zu jenen seltenen Menschen, welche ihre Hotelschulden auch noch nach späten Jahren bezahlen, wenn sie es gar nicht mehr nötig haben – eben deshalb, weil sie gleich sagte, daß nichts bezahlt würde.

Es war also eine ganz sichere Spekulation, die Monsieur Bierling da gemacht hatte. Ja, so hätten sich aber auch alle anderen Hoteliers sagen können, und sie hatten's eben nicht getan! Und nun wollen wir die Sache auch noch von einer andern Seite aus betrachten: dieser August Bierling war der gerissenste Geschäftsmann, der je die Riviera als Hotelier unsicher gemacht hat, und trotzdem war sein verfettetes Herz so gut und brav, wie nur je in eines Menschen Brust geschlagen hat, und er hatte eben an dem tollen Mädchen einen Narren gefressen, so wie ihn noch mancher andere an der Prinzeß Turandot gefressen hat, und wäre seine Spekulation schief gegangen, so hätte er, der einen Gehalt bezog, wie ihn kein Minister bekommt, die ganze Rechnung einfach aus seiner eigenen Tasche beglichen.

Andrerseits muß man der Prinzeß das Zeugnis ausstellen, daß sie den ihr gegebenen Kredit nicht mißbrauchte. Ganz im Gegenteil. Hierbei trat ihr Charakter wieder in ein schönes Licht. Vergebens versuchten ihr die Konfektioneusen die teuersten Toiletten aufzuschwatzen, während der Hotelier, lächelnd daneben stand, selbst sie zum Kaufen auffordernd – nein, das könne sie nicht, und wenn sie auch wisse, daß alles bezahlt würde, so oder so, das könne sie eben nicht, da geniere sie sich, denn Schulden seien es doch – und wenn sie hungrig war und nicht erst nach ihrem Hotel hinauffahren wollte, so ging sie in den ersten besten Bäckerladen, kaufte sich eine Semmel und verzehrte dieselbe wohlgemut gleich auf der Straße.

Freilich, wie ihr ganzes Wesen Exzentrizität war, so offenbarte sich das auch in Geldsachen. An Geld hatte sie niemals Mangel. Als sie einmal am Spieltisch zuschaute, bot ihr jemand sein Portefeuille an, unverzagt griff sie hinein, die andern Damen machten es ja auch so, und von nun an pumpte sie Gott und alle Welt an. Doch sie hätte sich nur auf einen kleinen Kreis zu beschränken brauchen. Durch Lord Roger ward sie in die Gesellschaft der Geldfürsten gebracht, und obgleich diese eigentlich gar nicht so fürs Geben sind, dauerte es nicht lange, so zupfte sie diesen die Tausendfrancsscheine nur immer so aus der Tasche, und ein amerikanischer Eisenbahnkönig, der sonst für gewöhnlich ein recht griesgrämiger Geselle ist, wäre vor Lachen über Prinzeß Turandot bald einmal mit dem Stuhle umgefallen. Na, und wenn sich solche Leute einmal richtig amüsieren können, dann lassen die sich's auch etwas kosten.

Nun dachte sie, das müsse so sein, das ginge hier eben so zu, und bettelte jeden an, der ihr in den Weg lief, immer gleich sagend, daß er sein Geld natürlich nicht wiederbekäme.

Was hier für ein Unterschied vorliegt, daß ist wohl klar. Im Hotel mußte bezahlt werden, das wußte sie, und da wollte sie möglichst wenig Schulden machen. Hiermit hängt auch zusammen, daß sie niemals daran dachte, ihre Hotelschulden mit dem geborgten Gelde zu bezahlen, das borgte sie überhaupt nicht, sondern das ließ sie sich schenken, und deshalb war es auch nur dazu da, um es zu verspielen oder es irgend einer fadenscheinigen Person heimlich in die Hand zu drücken.

Über ihren sittlichen Charakter haben wir aus dem Munde jener Monacascognerin das unparteiischste und schönste Urteil gehört.

Das schon zur Jungfrau erblühte Mädchen war noch das unschuldigste Kind.

Es war eine glückliche Natur. Wohl machte sie alles mit, es konnte ihr nie toll genug zugehen, aber wenn der Abend nahte, wurde sie müde. In der neunten Stunde schlummerte sie mitten im lautesten Lärm regelmäßig ein, gleich auf ihrem Stuhle, weg war sie mit einem Male, mußte wie ein Kind nach Hause und zu Bett gebracht worden, um dann wieder beim ersten Morgensonnenstrahl mit lachenden Augen zu erwachen.

Ja, es war wirklich merkwürdig. So etwas war in Monte Carlo noch nicht vorgekommen. Die philosophischen Beobachter fanden es unerklärlich: mitten in der tiefsten Sünde die reinste Unschuld, welche an dieser Sünde mit voller Lebensfreudigkeit teilnahm, ohne im geringsten von der Sünde befleckt zu werden. So war es. Anders läßt es sich nicht ausdrücken. Philosophen von Monte Carlo sprachen von einem ›Genie der Unschuld‹.

Allerdings hatte diese Unschuld, die durch nichts zu beflecken war, auch ihren Beschützer gegen die brutale Gewalt. Und wiederum war es ganz merkwürdig, wer sich dazu aufgeworfen hatte: der größte aller Sünder, der schon mit jungen Jahren in der Sünde ergraut war – kein anderer als Lord Hannibal Roger.

Er sorgte dafür, daß die auf dem Stuhle Eingeschlafene in ihr Hotel gebracht und von den Zimmermädchen in Empfang genommen wurde, und er sorgte dafür, daß das jungfräuliche Mädchen in Monte Carlo doch nicht alles zu sehen bekam, weil selbst ein Kind darüber erschrocken wäre.

Was hatte er vor? Hatte der abgelebte Lebemann diese aufknospende Rose des Kaukasus für sich bestimmt? Wollte er nur das Erwachen des Weibes abwarten, um diese köstliche Rose dann zu pflücken?

Jeder Mensch mochte hierüber denken, wie er wollte – keiner wagte eine laute Äußerung.

Denn Lord Hannibal Roger gehörte zu jenen seltenen englischen Ausnahmen, welche das Duell für erlaubt halten, und der Besitzer des vierten Teils von London kümmerte sich im Auslande verdammt wenig um die Gesetze seiner Heimat, und die Sünde hatte noch nicht seine elegante Hand zitternd gemacht und sein kaltes Auge geschwächt. Lord Hannibals langgezogenes Pistolenpaar war überall bekannt in der Welt, wo man um der Ehre willen Pistolenhähne knacken läßt, und er trug in sein Jagdbuch den durch das Herz geschossenen Gegner ebenso kaltblütig ein wie den in den indischen Dschungeln erlegten Königstiger.

Die Zeit würde lehren, was Lord Hannibal Roger mit dem Kosaken für Absichten hatte.

Ja, der Kosak!

Gleich, als sie in Monte Carlo aufgetaucht war, hatte sie diesen Spitznamen wegbekommen.

Aber die von Monte Carlo, welche denselben aufgebracht hatten, durften das nicht als ihre Erfindung patentieren lassen. Da war auch wieder so etwas Eigentümliches dabei. ›Kosak‹ war das unbändige Mädchen schon in Petersburger Kreisen genannt worden, in der Pariser Pension war sie der Kosak geblieben, und dann später stellte sich heraus, daß auch der fürstliche Vater von ihr seit ihrer frühesten Kindheit nur als von ›Seinem Kosaken‹ gesprochen hatte.

Wie kam diese Übereinstimmung, welche, wenn man der Sache nachging, immer ganz selbständig entstanden war? Weil sie die Tochter einer Tscherkessin war?

Nein, nicht nur das. Das wilde, übermütige Mädchen war und blieb eben immer ein richtiger Kosak!

 

»Wünsche Eurer Hoheit untertänigst einen guten Morgen. Wie haben gnädige Prinzeß zu ruhen geruht?«

Frisch wie eine aufgebrochene Mairose war sie soeben aus dem Hotelportal getreten, an welchem zufällig auch Monsieur Bierling stand – vielleicht auch nicht so ganz zufällig, denn hier und auf diese Weise begrüßte er seinen zahlungsunfähigen Gast jeden Morgen.

Der joviale Hotelier hatte eben einen Narren an diesem seinem Gast gefressen, keine Gelegenheit ließ er sich entgehen, wenn er sich mit der kleinen Prinzessin herumnecken konnte, wobei er scheinbar immer die größte Ehrfurcht wahrte.

Der Kosak hatte keine Zeit, den Morgengruß zu erwidern, noch viel weniger, Rechenschaft, darüber zu geben, wie sie ›zu ruhen geruht‹ habe.

»Monsieur Bierling, haben Sie es denn schon gehört?!« platzte sie sofort wie mit einer Kanone losgeschossen heraus.

Der Hotelier hatte ja keine Ahnung, was sie eigentlich meinte, aber er hatte das Mädchen doch nun schon kennen gelernt, und danach richtete er seine Antwort ein.

»Nein, gnädige Prinzeß, das ist mir ganz neu, und das ist ja äußerst interessant!« stellte er sich also erstaunt.

»Der Eremit von La Turbie hat gestern nachmittag die Spielbank gesprengt!«

Jetzt wußte der Hotelier, was sie eigentlich meinte, und hiervon hatte er natürlich schon gehört, kannte alle Einzelheiten, jetzt aber mußte er seine Taktik ändern, denn das Mädchen wollte ihm doch nun selbstverständlich alles als das Allerneueste erzählen, und er hörte es ja auch so gern noch einmal aus ihrem liebreizenden Plaudermäulchen.

»Was Sie nicht sagen!! Der Eremit von La Turbie? Die Spielbank hat er gesprengt? I, das ist ja gar nicht möglich!!«

»Sie glauben's nicht? Nun weiß Gott! Ich will auf der Stelle tot umfallen und nie wieder aufstehen, wenn's nicht wahr ist!«

Mit diesen Worten fing die hoffähige Prinzessin ihre ausführliche Erzählung an, bei welcher die kleinste Aufschneiderei die war, daß sie aus der Viertelmillion, welche der Eremit gewonnen und verbrannt hatte, vier Millionen machte, und jeder Zweifel, wie jeder Ruf des Staunens seitens des Zuhörers ermunterte sie zu neuer Aufschneiderei, bis sie endlich nichts mehr aufzuschneiden hatte und ihren Bericht mit den Worten schloß:

»Und denken Sie sich nur: kaum war er hinaus, da hoben eine ganze Menge Herren und Damen auch ihren linken Arm in die Höhe! Als ob sich das Glück dadurch zwingen ließe! So eine Dummheit hält man doch nicht für möglich!«

»Ja, der Aberglaube, der liebe Aberglaube!« beseufzte Monsieur August Bierling diese blinde Welt, die Hände über dem Bauche gefaltet. Aber er wußte schon ganz genau, was jetzt kommen wurde, und richtig ...

»Ich hab's natürlich auch getan,« setzte der Kosak eilfertig hinzu. »So lange, wie ich's aushalten konnte, hielt ich den linken Arm hoch, fast ganze fünf Minuten lang, es war eine entsetzliche Qual, ich wollte immer gern in Ohnmacht fallen, aber es war kein Platz da, wo ich hinfallen konnte – und wahrhaftig, es ist doch etwas dabei ...«

»An dem Armhochhalten?« fragte der Hotelier jetzt interessiert, als sie, wie gewöhnlich, wenn es spannend wurde, eine Pause machte, um deswegen gefragt zu werden.

»An dem Armhochhalten.«

»Gnädige Prinzeß haben am Spieltisch Glück gehabt?«

»Ein furcht-furcht-furchtbares Glück!«

»Sie haben viel gewonnen?« fragte der Hotelier jetzt mit wirklichem Interesse.

»Gewonnen? Nee, das nicht. Aber ich habe dadurch gestern auch bloß 2.000 Francs verloren. Wie ich mich freilich auch angestrengt habe!! Der Arm tut mir jetzt noch ganz riesig weh. Mir ist immer, als wäre er eingeschlafen. Ich muß ihn egal schlenkern ...«

»Auuutsch!!« machte Monsieur August Bierling, knickte etwas zusammen und legte schnell beide Hände auf sein Bäuchlein.

Denn die Prinzeß hatte wirklich den eingeschlafenen Arm geschlenkert und hatte ihn gerade gegen Monsieur August Bierlings Bäuchlein geschlenkert, daß es knallte.

Ach, war das arme Kind tödlich erschrocken!

»O, ich konnte wahrhaftig nichts dafür, ich tat's weiß Gott nicht mit Absicht,« bedauerte sie und begann, ehe es der Hotelier hindern konnte, sanft dessen malträtierten Bauch zu streicheln, »kommen Sie, ich will einen Kuß drauf geben, dann tut's nicht mehr weh ...«

Aber zum Küssen seines Bauches ließ es Herr August Bierling denn doch nicht kommen. »Da – da – da – da ist ja der Eremit von La Turbie!«

»Wo?!«

»Ach so, es ist der Bäckerjunge, der die Semmeln bringt, ich dachte, es wäre der Eremit von La Turbie.«

Gleich war alles andre vergessen, schnell drehte sich die Prinzeß dem Gebirge zu.

»Ja, man soll doch seine Höhle von hier unten aus sehen können? Ach, mein lieber Bierling, holen Sie mir doch einmal das Fernrohr heraus, aber bitte, recht schnell, ich kann's gar nicht erwarten.«

Und der über das furcht-furcht-furchtbare Glück seiner zahlungsunfähigen Pensionärin enttäuschte Hotelier erwies der, die ihm soeben in den Bauch geboxt hatte, auch noch diese Gefälligkeit, holte das große Fernrohr, schraubte es am Stativ fest und richtete es auf den menschlichen Felsenhorst. Auch in diesem guten Fernrohr war nichts weiter zu erkennen als an der nackten Felswand ein grüner Fleck, obgleich man doch sogar die Pflanzen bestimmen und unterscheiden konnte. Es blieb immer noch bei dem grünen Fleck.

Das Treiben des Einsiedlers war schon seit langer Zeit nicht mehr beobachtet worden, und jetzt sah man nur noch das Resultat seiner sechsjährigen Arbeit. Offenbar hatte er das Felsplateau mit einer hohen Mauer umzogen, und von dieser herab hingen grüne Schlingpflanzen. Außerdem sah man noch auf dieser grünen Mauer eine große Stange emporragen.

Von dem Eremiten hatte die Prinzessin gestern abend schon zur Genüge zu hören bekommen, jetzt tauchte ein andrer Wunsch in ihr auf.

»Da muß ich hinauf, da muß ich hinauf!! Wie weit ist das von hier?«

»So kleine acht bis zwölf Stunden,« entgegnete Herr Bierling, aber es zuckte dabei um seine Mundwinkel. »Am besten ist es, Euere prinzliche Hoheit brechen morgens beizeiten auf, übernachten in einer Schneehütte ...«

»Hören Sie, Monsieur Bierling,« wurde er entrüstet unterbrochen, »wenn Sie jetzt nicht endlich aufhören, mich zu veralbern, dann bezahle ich augenblicklich meine Rechnung und verlasse Ihr Hotel! Das ist doch kaum eine Stunde!«

Auf diese fürchterliche Drohung hin gestand der Hotelier, daß sie recht habe. Weiter als eine Stunde war es auch nicht.

Sie hatte nicht einmal nötig, erst die Zahnradbahn zu benutzen, denn der alte Steinbruch wurde jetzt wieder ausgebeutet, und wenn sie den neuangelegten Weg nach diesem verfolgte, konnte sie ihr Ziel gar nicht verfehlen, das war schon von hier aus zu beurteilen. Nur mußte sie dann erst nach Condamine hinab.

»Aber haben Prinzeß auch einen Bergstock und eine lange Rettungsleine?«

»Meinen Sie, daß man das braucht?« fragte das Mädchen harmlos.

»Ganz gewiß! Auch Schneeisen sind für alle Fälle gut. Warten Sie einen Augenblick, ich werde alles zu Ihrer Zufriedenheit besorgen!«

Monsieur Bierling entfernte sich, und richtig, bald brachte er einen Bergstock, eine zusammengerollte Waschleine und außerdem auch noch ein paar Bergschuhe angeschleppt, für einen Riesen berechnet, unten mit einigen Pfund Nägeln beschlagen. Schlittschuhe hatte er im Hotel leider nicht auftreiben können, sonst hätte er die für Schneeeisen ausgegeben.

Bergstock und Waschleine nahm die Prinzeß, die Schuhe wies sie zurück. Wären sie noch etwas größer gewesen, so hätte sie einen gleich als transportable Unterkunftshütte mitnehmen können.

Hätte aber Herr Bierling geahnt, was der Kosak vorgehabt, er hätte das Mädchen nicht so zum Spaß mit Bergstock und Rettungsleine ausgerüstet!

Ja, nach La Turbie hinauf ist es allerdings nur ein Spaziergang, ganz ungefährlich, aber wenn man den gebahnten Weg verläßt und Kletterabenteuer sucht, so hat man zahlreiche Gelegenheiten, sich den Hals zu brechen, und Prinzeß Turandot hatte denn auch nichts anderes vor, als einmal ihr schlankes Hälschen zu riskieren.

Dann nahm Monsieur Bierling noch aus der Hand eines pfiffig grinsenden Kellners ein kleines Paket und ein größeres Kistchen.

»Ich würde Eurer Hoheit sehr raten, doch auch eine Reiseapotheke mitzunehmen. Hier ist eine Korbflasche mit Rotwein und Wasser, hier ist ein sogenanntes gebratenes Huhn – gallina rostica in der Apothekersprache – beide Medikamente nehmen gnädige Prinzeß innerlich ein, wenn oben die Luft zu dünn wird, wenn Sie sich flau fühlen – so hier in der Magengegend herum – Prinzeß wissen schon – und hier ist echt persisches Insektenpulver, das nehmen Prinzeß ein, wenn Sie einmal ...«

Der Kosak hob den Bergstock und stach damit den unverbesserlichen Spötter in den Bauch – tat wenigstens so, als wollte sie es tun – dann hing sie sich die Feldflasche über die Schulter, die Waschleine über den Rücken, band das eingewickelte Brathuhn oben an den langen Stock, schulterte diesen, und so marschierte sie ab.

Monsieur August Bierling blickte ihr nach, so lange er ihr mit den Augen folgen konnte: die Kellner glaubten, ihr Chef sei verrückt geworden, weil er plötzlich gar so unbändig zu lachen begann – und dann ging er frühstücken. In den letzten Jahren hatte der Mann mit dem verfetteten Herzen an chronischer Appetitlosigkeit gelitten. Was hatte er nicht schon an sich herumgedoktert! Was hatte er nicht schon für Summen für Ärzte, Pillen und Tränklein ausgegeben – hatte alles nichts genutzt – seit er diese zahlungsunfähige Pensionärin in seinem Hotel hatte, konnte er wieder essen! –

Wir begleiten die Prinzeß.

Vorläufig also ging es nicht hinauf, sondern mit der Zahnradbahn hinab und dann mit der Pferdebahn, die jetzt natürlich von der Elektrischen verdrängt ist, die fünf Minuten hinunter nach dem Marktplatz von Condamine, wo die Fußtour begann.

Das Mädchen mit dem Bergstock und der Rettungsleine erregte überall die größte Sensation. Nicht etwa, daß man ihre Ausrüstung lächerlich gefunden hätte – ganz im Gegenteil! Die beabsichtigte doch jedenfalls, die höchsten Gipfel zu erklettern, die man von hier unten aus sieht, fast immer in Wolken gehüllt, und dazu gehören allerdings Bergeisen – und eben deswegen, weil man dieses Vorhaben bei ihr vermutete, von ihrer verwogenen Ausrüstung irregeführt, deshalb staunte man sie an.

Daß sie nicht einmal beabsichtigte, nur bis nach La Turbie hinaufzuklettern, das durfte sie freilich niemandem verraten, sonst hätte man sie mit ihrer Waschleine gehörig ausgelacht.

In Condamine, das ist also die untere Stadt von Monaco, fragte sie nach dem Wege von La Turbie, und gleich, als sie die hohe Eisenbahnbrücke überschritten hatte, ging es steil bergauf, zuerst immer zwischen Villen; aber von einem Fahren gibt es hier schon nichts mehr. Der asphaltierte Weg ist eine Rampe, unterbrochen auch schon von steilen Treppen. Dann kommen Bauernhäuser mit der Kultur der Rebe, der Olive und des Feigenbaumes. Die Häuser und Hütten hören auf, der wilde Oliven- und Feigenbaum tritt in sein Recht. Aber noch prangt alles in üppigster Fruchtbarkeit, und wo der Mensch den Boden bearbeitet, da schafft er in einem halben Jahre ein Paradies.

Hinter der einsamen Restauration ›Bellevue‹ begann die richtige Klettertour. Es ist ein abscheulicher Weg, wie mit großen Kanonenkugeln gepflastert, die nicht einmal zur Hälfte in der Erde liegen, und obwohl dieser Weg schon mächtige Zickzacklinien beschreibt, um die Steigung zu überwinden, geht doch das Maultier auf diesem Wege auch noch immer im Zickzack, so steil ist er. Für eine kletterlustige Person liegt die Versuchung sehr nahe, diese langweiligen Krümmungen durch direktes Emporklimmen abzukürzen.

Unser Kosak tat es selbstverständlich. Abstürzen kann man hier nicht, das ist ganz unmöglich; aber den Fuß und auch das Nasenbein kann man sich jeden Augenblick brechen. Der ganze Abhang ist nämlich mit mannshohen Felsblöcken bedeckt, über welche man mühsam klettern muß, und jeden einzelnen kann man mit einem kleinen Miniaturgebirge vergleichen, mit Schluchten, Kämmen und spitzen Zacken.

In dieser Gegend hier wuchert die Wolfsmilch, hier fühlt sich auch der Johannesbrotbaum wohl, mit dessen langen, schwarzen Schoten hierzulande besonders die Pferde gefüttert werden, und wo sich Erde angesetzt hat, da gedeiht auch die dunkelgrüne Olive und die wilde Feige.

Im übrigen ist es eine trostlose Gegend, und dennoch verlangen auch hier noch die Besitzer des Grund und Bodens für den Quadratmeter 20 bis 50 Francs. Und es brauchen auch nur Terrassen angelegt zu werden, dann gedeiht mit Hilfe der Wasserleitung, die von obenher überall zugeführt wird, hier alles in üppigster Fruchtbarkeit. Selbst die in den Boden gesteckte Kokosnuß treibt in vier Wochen einen armlangen und armdicken, etwas gebogenen Keim, gerade wie ein grüner Elefantenzahn aussehend, der wie die zarteste Zuckerschote schmeckt.

Und nun, wenn man sich umblickt! Es läßt sich nicht beschreiben. Dieses Monte Carlo, diese Küste, dieses Meer! Dort in südöstlicher Ferne der Nebelstreifen – das ist Korsika. Dort im Westen die Inselgruppe, aber greifbar deutlich – das sind die Lerinischen Inseln, darunter St. Marguérite, mit einem Turme, in welchem zwölf Jahre lang der Mann mit der eisernen Maske gefangen gehalten wurde, wohl nicht ein Sohn Ludwig des Vierzehnten, wie oft behauptet wird, sondern wahrscheinlich der Minister Mattioli.

Die Szenerie der oberitalienischen Seen, des Lago Maggiore und des Como, ist ohne Zweifel viel lieblicher; aber eine abwechslungsreichere Romantik als hier an der Riviera di Ponente gibt es auf der ganzen Erde nicht. Und steigt man aus dieser wilden Felseneinsamkeit, in der man jedoch überall mit leichter Mühe sein eigenes kleines Paradies schaffen kann, die wenigen Minuten hinab, so ist man in Monte Carlo, im Zentrum des glänzenden Gesellschaftslebens. Und nun schließlich noch dieses Klima hier! Im Winter kein Schnee, den Sommer durch die Seebrisen ganz erträglich, im ganzen Jahre nur 50 Regentage, sonst ein ewig blauer Himmel, und dennoch eine fabelhaft wuchernde Vegetation, weil jede Nacht reichlichen Taufall bringt.

Es gibt eben nur ein einziges Monaco-Monte Carlo, es ist die von der Natur gesegnetste Gegend auf der ganzen Erde, und das wußte der alte Seeräuberkapitän Grimaldi, als er für seine Dienste, die er mit seiner Piratenflotte den Genuesen geleistet hatte, dort den schroffen Meeresfelsen mit dem umgebenden Lande verlangte.

Seeräuber!!

Es ist nämlich ganz merkwürdig! Hier muß etwas in der Luft liegen. Vielleicht sind es Bazillen – Seeräuber-Bazillen.

Seit uralten Zeiten haben hier Seeräuber geherrscht. Die Ligurer, die ersten Bewohner, von der uns die Geschichte meldet, nährten sich schlecht und recht vom Seeraub. Dann siedelten sich hier Sarazenen und Mauren an, bei denen Seeräuberei etwas ganz Selbstverständliches ist. Die alten Grimaldis waren sämtlich Piratenanführer, das darf man ruhig sagen, denn das steht auch in der Chronik, die man in Monaco zu kaufen bekommt, und da ist ja auch gar nichts weiter dabei, diese Ritter plünderten eben nicht die Kaufleute auf der Landstraße, sondern sie spähten von ihren Seefesten nach Kauffahrteischiffen aus, und später boten sie ihre Piratendienste seefahrenden Nationen an, sie kaperten unter Konzession. Na, und wie ist es denn heute? Hier wird noch immer lustig weiter geräubert, mit voller internationaler Konzession, nur modern! Und auch der jetzige Fürst von Monaco lebt ganz auf dem Wasser.

 

Linkerhand war der Steinbruch und dort oben an der nahen Felsenwand der grüne Fleck, von dem jetzt aber schon mehr zu unterscheiden war.

Um da hinaufzukommen, mußte der Weg sowieso verlassen werden, und daß die Prinzessin bloß noch auf den Brandsohlen lief, das hatte für sie als den Kosaken nichts zu sagen.

Noch zwanzig Minuten eines hier wirklich halsbrecherischen Kletterns, und sie stand auf derselben Stelle, auf welcher vor sechs Jahren der zukünftige Eremit zu dem Adjutanten gesagt hatte: ›Das ist das Fleckchen Erde, welches ich mir von der Gnade des Fürsten erbitte.‹ Die Lage des durch Schluchten isolierten Berges, nur rückseitig mit dem Gebirge zusammenhängend, ist schon genau beschrieben worden. Das Mädchen stand auf der rechten Seite, durch die acht Meter breite Schlucht davon getrennt.

Zu überspringen ist solch eine Weite nicht, und man hätte auch gar nicht gewußt, wohin man hätte springen sollen. Von dem Plateau war nämlich nichts mehr zu sehen, der Eremit hatte richtig ringsherum eine drei Meter hohe Mauer aus Bruchsteinen aufgeführt, dicht am Rande, und von oben hing Mauerpfeffer und andres Felsengewächs herab.

Aber einen Zugang gab es, gerade auf dieser Seite. Durch das Fernrohr hatte man doch auf der grünen Mauer eine hohe Stange emporragen sehen. Hier in der Nähe gewahrte man den Irrtum. In die Mauer war ein breites Brett eingelassen, diese noch um Meter überragend. Solch eines langen Brettes hatte der Eremit ja auch schon bedurft, um die Schlucht zum ersten Male überschreiten zu können – demnach handelte es sich hier auf jeden Fall um eine Art Zugbrücke. Weil man aber von Monte Carlo aus nur die schmale Kante des Brettes sah, glaubte man, es sei eine Flaggenstange.

Da nun diese Brücke aufgezogen war, mußte der Einsiedler wohl zu Hause sein, und wenn er ging, mußte er sie unten lassen, denn es war schwer erklärlich, wie er das Brett von hier draußen wieder herunterbekommen wollte.

»Eremit!! – Monsieur Schmidt!! – Hol über!!«

So und mit andern Worten rief der Kosak lange Zeit, und dann erinnerte sie sich eines besonders schönen Ausdruckes; den sie erst jüngst von italienischen Fischern vernommen hatte, um jemanden aufmerksam zu machen, den wir aber hier nicht wiedergeben können, doch die kindliche Prinzessin wußte ja trotz all ihrer Hoffähigkeit gar nicht, was dieses Wort bedeutete, sie gebrauchte es eben, und dann lachte sie, daß die Felswände sich lachend mit ihr freuten.

Aber die Fallbrücke senkte sich nicht herab, kein menschlicher Kopf erschien über der Mauer. Oder konnte der Eremit das Brett von hier aus herunterholen? Dazu gehörte eine mindestens acht Meter lange Stange. Das Mädchen blickte sich suchend um. Nein, hierherum war nichts zu verstecken. Der Eremit mußte die Hakenstange geradezu immer mitnehmen, wenn er einmal ausging. Aber ein echter Eremit darf eigentlich gar nicht spazierengehen, er war ja auch in den sechs Jahren noch niemals wieder gesehen worden – gestern zum ersten Male.

Vielleicht schlief er. Mit Rufen hielt sich die ungeduldige Prinzeß nicht mehr lange auf, sie griff zu Steinen, deren es hier genug gab, und warf sie donnernd gegen das Brett.

Da – bei jedem Steinwurfe bewegte sich die Tür! Das Brett drehte sich unten in Angeln, wie es ja auch bei einer Zugbrücke sein muß. Aber dann wackelte es auch noch immer lange hin und her, ehe es wieder zur Ruhe kam. Also brauchte man wirklich nur eine genügend lange Stange, um die Brücke ...

Halt! Eine geniale Idee! Wozu hatte sie denn die Waschleine mitgenommen? Die Tscherkessen kennen zwar keinen Lasso, aber die in der Pension für Fürstentochter erzogene Turandot hatte schon genug Indianerschmöker gelesen, um wenigstens die Theorie des Lassos zu kennen.

Also die Leine auseinandergerollt, in das eine Ende eine Schleife geknüpft, das andere durchgezogen, und der Lasso wurde kunstgerecht geschleudert.

Gleich der erste Wurf glückte, das Brett war gefangen, und schon bei einem leisen Anziehen senkte es sich willig herab.

Der Lasso hatte nur eine Ecke gefaßt, und als die Brücke eine gewisse Neigung überschritten hatte, glitt die Leine wieder ab, aber jetzt legte sich das Brett vollends über die Schlucht, und ohne Zögern betrat der Kosak die schmale, ganz bedenklich schwankende Brücke, schwindelfrei in den unter sich gähnenden Abgrund blickend.

Sie merkte nicht, wie sich das Brett, als sie auf der andern Seite heruntertrat, sofort von selbst wieder hob. Erstaunt stand sie da. Sie hatte nicht erwartet, hier oben solch einen reizenden Garten zu finden.

In sechs Jahren kann hier selbst auf dem nacktesten Felsen etwas wachsen, wenn man nur den Boden zu bearbeiten und zu behandeln versteht. Gepulvertes Urgestein, mit Sägespänen vermischt, liefert in einem Jahre einen Boden von unerschöpflicher Fruchtbarkeit. So ist ganz Malta urbar gemacht worden. Malta war eine sterile Felseninsel, dort wird noch heute der Felsboden gepulvert.

Üppig wuchernde Büsche mit duftenden Blüten bildeten schon ganze Lauben, die Gemüsebeete ernährten einen Menschen, dazwischen Blumen, und die einst Schatten spendenden Bäume erreichten bereits bald die Mauerhöhe, und wenn das Plateau auch nur von einer dünnen Schicht Erde bedeckt war, für die Bäume brauchte nur ein geräumiges Loch eingemeißelt und mit Erde gefüllt zu werden, dann schafften sich die Wurzeln später schon allein Platz, die zerbrachen dann den härtesten Felsen.

»O, ist es hier schön! Hier möchte ich wohnen!« jubelte das Mädchen in heller Freude, an den Besitzer gar nicht denkend.

Am allermeisten aber staunte sie den Springbrunnen an, der in der Mitte des Gartens plätscherte, das Bassin aus dem Steine herausgehauen. Das Wasser ergoß sich durch eine schmale Rinne erst noch einmal in ein bedeutend größeres und tieferes Bassin, sicherlich zum Baden dienend, und verließ dann das Plateau auf der andern Seite durch ein Loch in der Mauer.

Woher kam denn das Wasser? Die Mauer hatte in Brusthöhe einige Löcher. Das Mädchen spähte hinaus und sah den Bach, dessen Rauschen sie auch schon gehört hatte, sich von oben herab in die jenseitige Schlucht stürzen, und da war aus Bambusrohren eine komplizierte und schließlich doch ganz einfache Vorrichtung angebracht. Ein Teil des Bachwassers wurde mit einem primitiven Trichter aufgefangen und erst hier nach dem Plateau und durch den Springbrunnen geleitet. Die an Stricken hängende Hauptröhre brauchte nur etwas zurückgezogen zu werden, so hörte der Springbrunnen zu fließen auf.

Nachdem sich Turandot mit dem Ein- und Ausschalten der Fontäne einige Zeit amüsiert hatte, spähte sie weiter um sich.

In der hinteren Felswand befanden sich auch Fenster, doch zu hoch für die Augen der kleinen Person. Aber da war ja auch eine Tür, das heißt, ein viereckiges Loch. Unverzagt trat der Kosak ein, am Bergstock immer noch das gebratene Huhn, die wieder aufgerollte Waschleine in der Hand. Wenn der Eremit dennoch hier war, oder wenn er plötzlich kam, so wollte sie wegen des Hausfriedensbruchs schon mit ihm fertig werden.

Es war eine kleine Felsenkammer. Außer einigem Hausgerät war hier alles von Stein. Die wenigen Bücher standen auf einem steinernen Sims, und der offene Kleiderschrank war ebenfalls in den Felsen hineingehauen.

Eine Öffnung führte in eine zweite solche Kammer. Hier schliff der Eremit die optischen Gläser. Tisch und Sitz waren stehen gebliebene Felsen. Hier konnte man nichts beiseite rücken. Von Bequemlichkeit keine Spur, kein Bett, kein Polster, kein Kissen, keine Decke.

Von da aus ging es in eine dritte Kammer, dann in eine vierte. Durch die kleinen Fensterchen sah Turandot den Wasserfall, also war sie schon außerhalb des Plateaus, und jetzt kam gar ein großer Saal.

Himmelherrgottsapperment!! Der Kosak konnte noch ganz anders fluchen, aber das klingt nicht schön aus dem Munde eines Mädchens – oder man mußte es selbst von der Prinzessin frischen Kinderlippen hören, dann verlor der Fluch seine Bedeutung – hatte der Eremit hier gearbeitet!!

Eine Kammer folgte der andern, es wurden Säle daraus, aber alle ganz leer, und da gab es überall auch Türen, welche seitwärts ins Finstere führten, und es blieb nicht nur bei den Türen, da kamen auch immer mehr Treppen, die führten hinauf und hinab ...

Der ganze Berg war ja ausgehöhlt! Die Prinzeß hatte keine der finsteren Türen geöffnet, keine der steilen Treppen betreten, sie hatte sich immer da gehalten, wo durch die Löcher in den dicken Felswänden Licht drang, aber hinausblicken konnte sie nicht, und sie wußte schon jetzt nicht mehr, wo aus und ein, wo sie sich befand, es wurde ihr unheimlich zumute, sie dachte an das Labyrinth des Minotaurus, aus welchem niemand den Rückweg findet.

Nein, das konnte doch unmöglich das Werk eines einzigen Menschen sein, und hätte er auch ein ganzes Leben lang daran gearbeitet! Plötzlich erschrak sie furchtbar. Wie sie um eine Ecke bog, standen mit einem Male vor ihr zwei gepanzerte Riesen.

Lange währte ihr Schreck nicht, dann aber staunte sie um so mehr. So viel hatte sie in den Pensionen gelernt, um gleich zu erkennen, daß diese Steinfiguren gewappnete Sarazenen darstellten, vielleicht aus dem Anfange des Mittelalters. Des Mädchens Blick glitt zwischen den beiden Wächtern hindurch, es sah eine weite Halle, von den sonderbarsten Gestalten gefüllt, und diese steinernen Krieger konnten ihr doch nichts tun, sie trat einen Schritt vorwärts, ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf – hier hatte sie ein Werk der alten Mauren vor sich, ein andres Alhambra, nur mitten in einem Berge angelegt, der Eremit hatte es zufällig entdeckt – oder schon vorher darum gewußt und sein Geheimnis für sich bewahrt – und in demselben Moment, da sie dies dachte und den Schritt tat, um zwischen den beiden Steinwächtern hindurchzugehen, da wich plötzlich unter ihren Füßen der Boden, sie stürzte in die Tiefe – und über ihr schloß sich die Steinplatte wieder.

Die Steinfiguren hatten getreulich Wacht vor dem ihnen anvertrauten Heiligtume gehalten!

 

Seit der Kosak die schwankende Brücke überschritten hatte, war noch keine halbe Stunde vergangen, als auf derselben Seite gegenüber dem ummauerten Plateau ein älterer Herr erschien, höchst elegant gekleidet bis auf die Lackstiefel – nur schade, daß diese bloß noch aus Fetzen bestanden, wie sich unten auch schon die Hosen, vornehmer ›Pantalons‹ genannt, ausfransten.

Erst mußte er sich auskeuchen, dann trocknete er den Schweiß von der Stirn, blickte sich um und setzte die Hände trichterförmig an den Mund.

»Monsieur Eremiiit!« Es war eine sehr schwache Stimme, mit der er das piepste. Doch es war gehört worden. Fast augenblicklich senkte sich das Brett herab, und in der Mauerspalte stand der Eremit.

»Willst du mich sprechen? Komm herüber!« sagte die metallharte Stimme.

Ach, du lieber Gott! Der alte Geck mit den zerfetzten Lackschuhchen und den ausgefransten Pantalons blieb schon fünf Schritte von dem Rande entfernt, hinter welchem er ganz richtig etwas Tiefes vermutete.

Es hätte aber auch ein kühner und schwindelfreier Durchschnittsmensch sein können, er hätte es sich doch erst sehr überlegt, ehe er die Brücke betrat.

Bei der russischen Prinzessin paarte sich jugendlicher Leichtsinn mit angeborener Verwegenheit, sie war einfach, ihr Ziel im Auge habend, hinübergegangen, deshalb ist vorhin gar nichts von der Gefährlichkeit der Passage gesagt worden.

Eigentlich war diese ja auch nicht gefährlich. Das Brett war doch fest und einen halben Meter breit, wie kann man da fehltreten, und ob sich das Brett nun einen Meter oder hundert Meter über dem Erdboden befindet, das ist doch ganz egal ...

Na, kurz und gut, das ist eben nicht so ganz ›egal‹, sonst könnte wohl jeder Mensch das Turmseil besteigen, und auch auf solch einem Brette balanciert nicht so leicht ein gewöhnlicher Europäer über eine acht Meter breite Spalte, besonders wenn der Grund unten von der Seite her tageshell erleuchtet ist, so daß man ihre gewaltige Tiefe ganz deutlich erkennen kann.

Dieser elegante Europäer hier machte lieber gleich noch einige Schritte rückwärts anstatt vorwärts.

»Aber – aber – aber Monsieur Eremit – aber ...,« stotterte er.

»Komm herüber, wenn du mich sprechen willst!« erklang es zurück.

»Ach – ach – ach nein – ich möchte Sie wirklich nicht in Ihrer Häuslichkeit stören – bitte, kommen Sie doch lieber zu mir herüber – ich bitte Sie sehr – ich möchte Sie wirklich nicht stören. Rau – rauchen – rauchen Sie vielleicht eine gute Zigarre? Havanna Deckblatt mit Felix Brasil Einla ...«

Der Eremit drehte sich um, und der Kavalier, das Zigarrenetui in der Hand und es schon hinhaltend, als könne jener mit seinem Arm über die ganze Schlucht langen, sah ihn verschwinden.

»Monsieur Eremit, ich bitte, ich bin ein alter Mann -,« erklang es nach einer Weile im kläglichsten Tone.

Vergebens. Das Brett blieb unten – der Eremit verschwunden.

Nachdem der alte Stutzer mit seinen zerrissenen Lackschuhchen und seinen aufgefransten Höschen noch eine Zeitlang unruhig herumgetrippelt war, aber immer in respektvoller Entfernung von der verfl ... Schlucht, zündete er sich selbst eins Zigarre an, und es sah schon ganz aus, als wolle er den Rückweg von der fruchtlosen Expedition antreten, als er plötzlich stutzte. Schnell klemmte er das Monokel ins Auge, und als er erkannt hatte, was da den Berg heraufgekrabbelt kam, legte er sich schnell unter einen großen Wolfsmilchstrauch, der hier sein einsames Dasein fristete, blies den Rauch vor sich hin, spielte den Gleichgültigen.

Jetzt erschien auf der Bildfläche eine elegante Dame, untenherum auch schon etwas zerlumpt, Stammgast von Monte Carlo.

»Ah, bon jour, Mademoiselle!« näselte der alte Kavalier, erstaunt tuend, als bemerke er die Kommende erst jetzt, stand auf und lüftete den Hut.

»Ah, der Herr Baron!«

Wegen ihrer Kleidung untenherum brauchten die beiden einander keine Entschuldigungen zu machen, und es wäre auch komisch gewesen, hätten sie etwa mit schön gedrechselten Redensarten ihrer Freude Ausdruck gegeben, sich so ganz zufällig hier oben zu treffen.

»Ist der Eremit zu sprechen, Herr Baron?«

»Gewiß – ohne weiteres – er wartet immer nur auf Besuch. Bitte, wollen Sie sich hinüberbemühen, Mademoiselle?« Er machte eine einladende Handbewegung nach der Brücke.

Die Dame warf dem Brette einen mehr als mißtrauischen Blick zu.

»Waren Sie denn schon drüben, Herr Baron?«

»Ich? Gewiß – nu gewiß doch – ich war schon drüben. Zweifeln Sie daran? Das war doch natürlich gleich mein erstes, deshalb kam ich doch hier herauf.«

»Was sagte er denn?« flüsterte die Dame erregt, während der Herr Baron seine Stimme nicht erst zu dämpfen brauchte, denn sein Piepsen hörte man überhaupt nur in allernächster Nähe.

»Was er sagte? Ja, das ist eben – ich weiß auch noch nichts – es müssen nämlich immer zwei auf einmal kommen – mindestens zwei, jedem einzelnen will er das Geheimnis nicht erzählen – das macht zu viel Umstände, wissen Sie – und da hat er mich einstweilen wieder herübergeschickt, ich sollte hier auf die zweite Person warten. Nun, bitte ...«

Wieder die einladende Handbewegung nach dem Brette, begleitet von einem höflichen Lächeln – jetzt aber traf der mehr als mißtrauische Blick der Dame den Herrn Baron, der so zum Betreten der gefährlichen Brücke einlud.

»Gut, gehen Sie voraus, Herr Baron!«

»Nein, nein, niemals,« wehrte aber der Herr Baron energisch ab, »die Damen haben stets den Vortritt.«

»Schwindlig bin ich gerade nicht,« meinte Mademoiselle, sinnend das ekelhafte Brett betrachtend, »aber ... Herr Baron, gehen Sie lieber zuerst hinüber.«

»Nein, niemals, niemals,« wurde der galante Baron wegen solch eines Ansinnens jetzt förmlich entrüstet, »da verlangen Sie wirklich zu viel von mir, ich kann einer Dame nicht den Vortritt wegnehmen, das ist mir eine Unmöglichkeit, das geht gegen meinen Charakter – besonders, wenn die Dame so jung und so schön ist, wie Sie, Mademoiselle,« setzte er mit einer Verbeugung hinzu.

Allein auch diese Schmeichelei wollte den Zweck nicht erreichen.

»Herr Baron, ich – ich glaube gar nicht recht, daß Sie wirklich dahinüber balanciert sind,« stiegen denn jetzt auch der Dame gerechte Zweifel auf.

»Wie?! Was höre ich?! Ich nicht?!« rief der süße Baron so empört, wie es sein Charakter einer Dame gegenüber erlaubte. »Meine Gnädige wissen doch, ich habe die Jungfrau bestiegen!! Und Sie brauchten nur zu winken, so würde ich auch ein Turmseil besteigen!!«

»Die Jungfrau – hm – aber ein Turmseil? Na, da machen Sie es mir doch erst einmal hier bei dem Brette vor! Ich winke also, ich bitte Sie darum.«

Der Baron hatte sich eine starke Blöße gegeben und war arg in die Klemme gekommen, aber in solchen Gesprächen war er sattelfest, da konnte er stundenlang quasseln und sich drehen und wenden, um Ausflüchte war er nie verlegen – und so wäre das zwischen den beiden noch eine Schraube ohne Ende geworden, wenn nicht noch zwei andere Personen erschienen wären, ein Herr und eine Dame, welche gleichfalls von dem Eremiten den Stein des Weisen zu erlangen wünschten, nämlich das unfehlbare System. Es kamen immer mehr hinzu, es bildete sich eine ganze Gesellschaft von Herren und Damen, alle mehr oder weniger untenherum zerlumpt, und so konnte sich der Baron unlädiert aus dem Haupttreffen zurückziehen.

Um das System zu erfahren, hätten sich wohl alle dem Teufel verschrieben, aber über das schmale Brett da hinüberbalancieren – das war doch eine andere Sache, da konnte sie der Teufel am Ende ganz umsonst bekommen.

»Ssst, Miß Fidderly kommt,« hieß es da flüsternd. »Passen Sie auf, die geht gleich hinüber, die riskiert alles.«

Auf der Schaubühne erschien in schwerer, schwarzer Seide eine ältere, hagere Dame, noch nicht so sehr alt, noch nicht vierzig, aber eben eine alte Jungfer, das konnte man ihr schon von weitem ansehen.

Miß Fidderly hätte herrlich und in Freuden leben können, ihr Bruder war Großkaufmann und sie Teilhaberin am Geschäft, aber – sie war eben vom Spielteufel besessen. Nur wegen des Spielens hatte sie nicht geheiratet, sie hatte keine Zeit dazu gehabt. Ein Glück war es, daß ihr großes Vermögen im Geschäft festgelegt war und nicht belastet werden konnte, sonst wäre es schon längst mit ihr alle gewesen.

Weil Miß Fidderly einmal einen unverschämten Droschkenkutscher mit dem Regenschirm geschlagen hatte, mußte sie nach Ansicht dieser Herrschaften großen Mut besitzen – ›Die riskiert alles!‹ – dann mußte sie auch über die gefährliche Brücke hinüberbalancieren, und energisch war die alte Jungfer jedenfalls, die ließ sich im Spielsaale ihren Stuhl nicht wegnehmen, wenn sie einmal aufstand und hinausging.

»Ist der Eremit drüben?«

»Jawohl, gnädige Miß. Sie können ohne weiteres hinübergehen.«

Das Brett wurde durch die Lorgnette am ellenlangen Stiele beäugelt, und bald war der Entschluß gefaßt. Eine ganz einfache Idee, und alle die andern mußten sehr beschränkt sein, daß sie nicht darauf gekommen waren.

»Ich bitte die Gentlemen, sich umzudrehen!« erklang es befehlerisch.

Erst erstaunte Gesichter, man vorstand ja gar nicht, was die da verlangte, nach und nach folgten die Herren der wiederholten Aufforderung, sie drehten sich um, wendeten aber natürlich bald die Gesichter nach der alten Richtung zurück, um zu sehen, was hinter ihrem Rücken vorging.

Ganz einfach – so einfach, wie Kolumbus das Ei stehen ließ.

Aufrecht hinüberzugehen, dazu hatte Miß Fidderly auch nicht ganz den Mut. Aber das wurde auch gar nicht verlangt, und da gab es noch etwas Mindergefährliches.

Sie blickte sich einmal nach den Herren um, da das aber die steife Engländerin sehr langsam tat, so hatten diese noch Zeit, durch Drehen ihrer Köpfe schnell wieder Diskretion zu heucheln, und als sich die alte Jungfer vor lüsternen Männeraugen gesichert sah, raffte sie, vor den Mitschwestern sich nicht genierend, ihr seidenes Kleid hoch – noch etwas höher – immer noch ein bißchen höher – kniete nieder, setzte sich rittlings auf das Brett, und so rutschte sie hinüber. Drüben kroch sie ans sichere Ufer und verschwand, ohne sich noch einmal umgeblickt zu haben, mit wieder züchtig herabgelassenen Kleidern hinter der Mauer.

Es war alles beobachtet worden, und nicht nur von den Damen.

Naaah! Das war wahrhaftig das Ei des Kolumbus! Das nachzuahmen, dazu hatten die meisten den Mut.

Das Brett blieb unten, und wenn nur immer eine einzelne Person hinüberkommen sollte, um Belehrung zu empfangen, wie man die herauskommende Nummer stets im voraus weiß, so hätte der Eremit die Brücke doch wieder hochziehen können – also rutschte immer ein Herr nach dem andern in vorgemachter Weise hinüber, natürlich, daß immer nur einer auf dem sich doch etwas biegenden Brette war, sonst hätte es knacken können.

Eine Dame machte vorläufig den Versuch noch nicht. Einmal befanden sich an dieser Seite der Schlucht noch immer einige Herren, und diese drehten sich ja doch um, und man hatte vorhin bei der alten Jungfer doch etwas gar zu viel gesehen – wenn auch mehr Knochen als Fleisch – und wenn man sich auch in Monte Carlo befand, in der Öffentlichkeit waren es doch schließlich alle anständige Damen, mußten es sein – und außerdem konnte man ja erst abwarten, was die Zurückkommenden erzählen würden. Unterdessen wurde viel gelacht, und einstweilen gesellten sich wieder neue Ankömmlinge hinzu, vom Wissensdurst, von der Neugier und ... vom Wahnsinn heraufgeführt, darunter auch ein vornehmes Pärchen, welches wir zu kennen bereits die Ehre haben.

Soeben erschien jenseits der Schlucht Miß Fidderly wieder, und die trotz ihrer Freiheit so keusche Engländerin schien jetzt keine Zeit zu haben, die Herren erst zum Umdrehen aufzufordern, sehr eilig traf sie ihre Vorbereitungen zum Rückritt.

»Was macht denn die da driem eegentlich?« sang die schöne Sächsin an des Offiziers Arm. »Nu, hat die denn gar keene Schämichte?! Nee awwer so was!«

Die hagere Dame saß rittlings auf dem Brette und begann die Rutschpartie.

»Nee, nu gucken Se mal bloß, Herr Graf, was die for därre Beene hat!!!«

Ob die Zuschauer dieses Deutsch nun verstanden oder nicht – jedenfalls kollerten sich alle vor Lachen.

»Was sagte er? – Verrät er es? – Wie macht man es?«

Mit diesen und mit andern Fragen wurde die zurückgekehrte Engländerin von allen Seiten bestürmt.

Aber Miß Fidderly würdigte die ganze Gesellschaft keiner Antwort, gar keines Wortes, sie hatte nichts gehört, ordnete ihr Kleid und trat die Klettertour nach unten an. Sie schien gar nicht recht zufrieden zu sein.

In der Mauerspalte erschien der erste Herr und rutschte wieder herüber, ein zweiter stand schon bereit, ihm zu folgen.

»Ja, er hat sein System erklärt, und ich glaube wohl, daß es geht. Es bedarf allerdings einiger persönlicher Vorbereitungen, es ist mystisch; verstehen Sie, meine Damen, um was es sich im Grunde genommen handelt? Die erste Hauptbedingung zum Gelingen ist die, daß man nichts davon verraten darf, sonst verliert das Geheimnis sofort seine Kraft. Es ist okkult, verstehen Sie, meine Damen? Er nimmt jeden persönlich vor. Bitte, meine Damen, rutschen Sie nur hinüber, Sie werden es erfahren. Es ist nämlich geradezu wunderbar! Es streift wirklich ans Übersinnliche. So etwas ist mir auch in meinen kühnsten Träumen nicht eingefallen. Nicht wahr, Monsieur Vendom? Rutschen Sie nur hinüber, Mademoiselle, es ist ja gar keine Gefahr dabei.«

So erklärte der erste Herr, und fast ganz genau so sprachen alle die andern Herren, welche nacheinander wieder herüberkamen.

So groß die Neugier und selbst die Erregung auch war, vorläufig fand sich noch keine der Damen dazu bereit, die Rutschpartie anzutreten; die Geschichte war ihnen doch etwas zu ›genierlich‹, es würde sich schon eine passendere Gelegenheit dazu finden, und einer der Herren würde schon schwatzen, man kannte doch die Herren der Schöpfung, man konnte vielleicht auch einmal die Delila spielen, die nur Simsons Kopf in den Schoß zu nehmen brauchte, um alles von ihm zu erfahren, und dann würde es sich ja zeigen, ob sich die Rutschpartie auch wirklich lohnte.

Nur einige der Herren, die bisher noch gezögert hatten, sich dem schwankenden Brette anzuvertrauen, riskierten es jetzt doch – natürlich immer rittlings.

»Nee, das mache ich nich, so gemeene bin ich nich, ich will ja ooch gar nich wissen, wie man beim Schpiehln egal gewinnt, das hawe ich ooch gar nich neetj, ich will mir nur emmal den seine Wohnung ahnguhken. Gomm Se, mei liewer Graf, awwer mir gehn glei uffrecht niewer.«

Die Balletteuse war also in dem Wahne befangen, um das Geheimnis zu erfahren, dazu dürfe man über das Brett nicht gehen, sondern man müsse unbedingt rutschen, das gehöre mit dazu – und da stand die elegante Ballerine auch schon mitten auf der schwankenden Brücke, dort drehte sie sich noch einmal gelassen um, wedelte sich mit dem Fächer Kühlung zu und sagte mit bezauberndem Lächeln:

»Was meenen Se denn nu, mei liewer Graf, wenn der jetzt mit eenem Male das Bräht wegziehn tähte, wo ich grade druffstehe. Wirden Se mir glei nachhubben?«

Und fächerwedelnd, mit gelassenem Schritte, setzte die schöne Balletteuse ihre Promenade fort. Die fühlte sich auf dem schwankenden Brette zu Hause.

Der sonnenverbrannte Offizier blickte einmal in die Schlucht, und dann war er mit acht meterlangen Schritten ebenfalls drüben.

»Awwer dahier isses scheene!«

Die beiden wurden eben noch Ohrenzeugen, wie der Eremit den Rutschreitern das große Geheimnis preisgab, aber nicht jedem einzeln, sondern er verfuhr summarisch.

»Wenn ihr imstande seid, aufrecht zu mir zu kommen, dann seid ihr fähig, die erste Lektion zu hören.«

So sprach der Eremit – und die Herren konnten wieder zurückrutschen.

Jene ersten hatten also ein Komplott gemacht. Sie wollten mit ihren geheimnisvollen Andeutungen die Damen veranlassen, über das Brett zu rutschen, das wäre ja nun für die Herren so ein Gaudium gewesen, dann hätten sie die Kletterpartie doch nicht gänzlich umsonst gemacht. Und die Herren, welche jetzt den Rückzug antraten, waren nun auch ohne weitere Verständigung gleich eingeweiht, was sie drüben zu sagen hatten, vielleicht gelang es dennoch, eine neugierige Evastochter aufs Brettl zu locken.

Aber fort mußten die Rutschkünstler jetzt, das half alles nichts.

Der letzte, welcher über das Brett zurückritt, war der alte Geck, der Baron. Auch er hatte schließlich zum Hinweg den Mut gefunden, und nun, da er sah, daß die Sache doch gar nicht so gefährlich sei, schwoll ihm der Kamm, und das Renommieren lag nun einmal in seiner Natur.

Wie er also in der Mitte des Brettes angekommen war, blieb er sitzen, klammerte sich mit den Händen an den Kanten fest und schlenkerte kühn mit den Beinen.

»Nirgends ist mir wohler als zwischen Himmel und Erde. Sehen Sie, meine Damen, so sitze ich immer zu Pferde.«

»Sie sitzen wohl auf dem Pegasus?« wurde gelacht. »Sie fangen ja sogar schon an zu dichten.«

Der Baron baumelte weiter mit den Beinen, bis sich mit einem Male das Lachen der Herren in ein Brüllen verwandelte, während die Damen plötzlich laut aufkreischten und sich meistenteils schnell wegwandten und auch noch das Gesicht mit Händen und Taschentüchern bedeckten, um das gräßliche Unglück nicht sehen zu müssen.

Es war nämlich etwas gebrochen – aber nicht das Brett, es erfolgte auch kein Sturz in die Tiefe.

»So sitzen Sie immer zu Pferde, Herr Baron?« brachte einer unter Lachen mühsam hervor.

»Jawohl, immer, immer. Na, was haben Sie denn eigentlich zu lachen? Nehme ich mich nicht sehr gut aus?«

»Sehr gut, sehr gut!!!« erklang es jetzt einstimmig, immer brüllend vor Lachen. »Photographieren! Wer hat einen Apparat da?!«

Eine kurzsichtige Französin wagte sich etwas näher an die Schlucht, bog sich vor, brachte die Lorgnette vor Augen, um zu erkunden, weswegen denn eigentlich so gelacht wurde, was es da zu sehen gäbe, und eine ebenfalls kurzsichtige Engländerin nahm gleich das Opernglas zu Hilfe.

»Iiiiiiiihh, fi donc!« quiekte die Französin.

» Shocking!« bellte die Tochter Albions.

Beide flohen entsetzt zurück und gesellten sich ihren weitsichtigeren Schwestern bei, die aber jetzt ganz hörbar zu kichern anfingen, während die Herren vor Lachen zu ersticken drohten.

Da mit einem Male ging dem alten Baron eine furchtbare Ahnung auf, es wurde ihm plötzlich so kühl am Leibe, er bekam einen unerlaubten Luftzug – und ein Glück war es nur, daß er das feste Land gewann, ehe ihn vor Schreck und Scham das Bewußtsein verließ ...

Die Hose war ihm an der Stelle, die beim Reiten am straffsten angespannt ist, total aufgeplatzt! –

Sofort, als der Baron von der Brücke herunter war, ging diese von ganz allein in die Höhe. Der Eremit schien wenigstens nichts zu tun, denn er stand ganz ruhig da. Aber ein großes Geheimnis brauchte nicht dahinterzustecken. Das Brett drehte sich am unteren Ende in Achsen, auch waren Seile daran befestigt, diese verschwanden am Boden in einem Loche, jedenfalls hingen Gegengewichte daran, alles war ausbalanciert, und da gehörte wahrscheinlich nur ein unmerklicher Griff dazu, um die Brücke zu heben.

»Du willst wissen, woher mir bekannt war, in welches Fach die Kugel immer fallen würde?« wandte sich der Eremit sofort an den Herrn. »Die Sache ist ganz anders. Die Kugel fiel stets dahin, wohin ich sie fallen lassen wollte. Die Kugel gehorchte meinem Willen! Auch du kannst ihr befehlen. Höre, Mensch: Besiege dich selbst, und die Naturkräfte müssen dir gehorchen!«

Der deutsche Offizier war ganz und gar nicht überrascht, hier so etwas zu hören. Ja, er war, als er einiges über den Einsiedler vernommen hatte, von vornherein fest überzeugt gewesen, daß der Eremit diese Worte oder solche mit ganz demselben Inhalte sprechen würde, er wäre jede Wette eingegangen.

Sei vollkommen Herr über dich selbst, und du bist Herr der ganzen Natur, die Elemente müssen dir gehorchen, du kannst Tote wieder lebendig machen, es ist dir eben gar nichts unmöglich.

Es ist die uralte Lehre, in sämtlichen Hauptreligionen enthalten, am intensivsten ausgesprochen im Buddhaismus: die Abtötung des Fleisches.

Der Eremit behauptete, es darin schon so weit gebracht zu haben, daß die kleine Elfenbeinkugel seinem Willen gehorchte. Das ist bereits ein recht ansehnlicher Erfolg.

Der philosophisch gebildete Offizier wunderte sich also nicht, und ebensowenig verlangte er von dem Weltüberwinder einen Beweis seiner Wunderkraft. Der wäre ihm natürlich versagt worden, und das Warum wäre ihm bewiesen worden.

Es ist ja ganz einfach. Wer es so weit in der Abtötung des Fleisches gebracht hat, der ist auch in der Erkenntnis Gottes – Gott ist ein persisches Wort und bedeutet ›das Unfaßbare‹ – so weit gekommen, daß er sich in die Gesetze der Natur nicht einmischt, er gehorcht ihnen freiwillig. Würde solch ein Mensch seine Kraft zu irgend einem egoistischen Zwecks benützen, indem er etwa eine geliebte Person vom Tode erweckt – in diesem Augenblicke hat er seine Kraft auch wieder verloren. Er wird es aber überhaupt gar nicht tun. Indem er das Walten des Schicksals in seiner Weisheit erkennt, greift er diesem nicht vor, um die ewige Harmonie nicht zu stören, und wenn der Mensch die Macht hat, alle Schätze der Erde zu erlangen, so haben diese Schätze keinen Wert mehr für ihn; wenn er also so weit ist, sie zu erreichen, dann wird er sie nicht mehr erstreben. Eins hängt immer vom andern ab. –

Doch genug hiervon! Es gibt hierüber eine Menge Bücher; von den theosophischen Vereinen bekommt man sie geschenkt.

Der Eremit allerdings sprach zu dem deutschen Offizier, in dem er einen Kopf erkannte, der ihn verstand, was ihm wohl selten passierte, noch länger davon – wir aber halten es mit der schönen Ballerina, welche diese Unterhaltung wenig interessant fand und sich lieber die Wohnung des Eremiten ›ahnguhkte‹.

Sie sah nicht mehr als Prinzeß Turandot – aber viel weniger!

»Erlaum Se giedigst,« sagte sie und betrat die erste Felsenkammer, blickte sich darin um, das war die Wohnung des Eremiten, dieser bestätigte auch ganz zuvorkommend auf ihre Frage, daß er dort auf der nackten Steinbank schlafe.

»Nu awwer uff so'n nackjen Schteene wird 'ch nich schlafen,« meinte sie und betrat den zweiten Raum.

Hier schliff er also die optischen Gläser, der dritte war seine Vorratskammer – und dann mußte die Dame wieder umkehren, mehr Zimmer hatte der Einsiedler in den Felsen nicht eingemeißelt, es war weiter keine Tür vorhanden – und das war das Merkwürdige an der Sache!

Die Prinzeß, welche die Behausung in des Eremiten Abwesenheit betreten, war stracks durch eine Öffnung in eine vierte Kammer und immer weiter gegangen – und von dieser Öffnung war jetzt nichts mehr zu bemerken!

Als die Neugier der Balletteuse befriedigt war und sie zurückkehrte, hörte sie gerade, wie ihr Galan den Eremiten fragte, was die erste Bedingung sei, welche er von seinen Schülern fordere.

Die Antwort des Eremiten lautete:

»Gib alles, was du hast, den Armen – dann komme wieder zu mir, dann will ich weiter mit dir sprechen.«

Die Entgegnung auf diese Forderung kam nicht aus dem bärtigen Munde des Offiziers, sondern von den schönen Lippen seiner Begleiterin:

»Nee, heern Se, das tun mir nich. Mir mehrschtenteels nich. Nu, so dumm! For was bezahln mir denn Armschteiern? Adje, läm Se wohlriechend!«

Der Offizier fand höflichere Worte, machte sich aber auch schleunigst davon, und als sich beide noch auf dem wieder herabgesenkten Brette befanden, sagte die Ballerina nach rückwärts zu ihrem Begleiter:

»Heern Se, Herr Graf, der hat ooch ennen Biebmatz in Gobbe. Ich gloowe iewerhaubt, hier in Mondegarlo ham se alle Biebmätze. Mir gehn liewer wo andersch hin, sonstens kriegen mir ooch noch een!« –

Nach und nach kamen noch mehr Herren und auch Damen, welche aufrecht über die gefährliche Brücke gehen konnten. Sie alle hörten dasselbe, das A und das O aller seligmachenden Religionen, die erste Hauptbedingung, um sich freizumachen von seelischen Sklavenketten:

»Gib alles, was du besitzt, den Armen, wirf alles von dir – dann erst bist du überhaupt reif, den Geist meiner Lehre zu verstehen!«

Auch Monsieur de Haas erfuhr es, er hätte gar nicht nötig gehabt, deshalb einen besonderen Abgesandten zu dem Eremiten zu schicken, und er war beruhigt. Er lächelte mitleidig.

Mein braver Eremit, da hast du dich sehr geirrt, da kennst du das Publikum von Monte Carlo noch lange nicht!

Und daß er dreimal hintereinander die Nummer wußte, in welche die Kugel fiel? Einfach Zufall. Und wenn er sie ein dutzendmal hintereinander riet, so ... hatte er eben immer richtig geraten. Zufall, nichts weiter! Denn wenn in einer Staatslotterie, in welcher es so viele Tausende von Losen gibt, ein Mann, wie es schon vorgekommen ist, zweimal hintereinander den Haupttreffer zieht, so kann jemand in der Roulette mit nur 37 Nummern viel leichter ein dutzendmal hintereinander richtig raten.

Nein, von dieser Seite aus hatte die Spielbank von Monte Carlo nichts zu fürchten. Aber in einer andern Sache irrte sich Monsieur de Haas trotz aller seiner Welt- und Menschenkenntnis.

Höre, Leser: Stecke die wahnwitzigste Idee heraus, die du ersinnen kannst, und kleide sie in eine Lehre, behaupte etwa, du seist Adam, der Stammvater aller Menschen, der vor sechstausend und einigen Jahren gelebt hat – und wenn du nicht gläubige Jünger findest, welche dich als den wirklichen Adam anerkennen und dir Weihrauch streuen, dann will der Schreiber dieser Zeilen -... dein zweiter Jünger werden und dich anbeten! Dein erster wird er freilich nicht, das überläßt er einem andern, und dann ist er von seiner Verpflichtung frei, und vorausgesetzt wird auch, daß du ein geschickter Geschäftsmann bist, der Reklame zu machen versteht.

Denn die Gläubigen werden nicht alle, und der Dummen werden immer mehr. Das beweist täglich der Annoncenteil jeder Zeitung.

 

Ein stattlicher, alter Herr verließ die vor dem Riviera-Palast haltende Zahnradbahn und begab sich direkt in das Hotel.

»Ist der Hotelier zu sprechen?« wandte er sich an den Portier.

»Ich glaube. Wen darf ich melden?«

Der alte Herr zog schweigend eine Karte hervor – es war der Papa, der seine Kosakentochter holen wollte – wir nennen ihn also Fürst Alexjeff.

Er wurde sofort in ein für solch hohen Besuch bereitgehaltenes Zimmer geführt. Nach zwei Minuten trat unter mehreren Bücklingen Monsieur Bierling ein.

»Sie kennen mich! Ist meine Tochter hier?« hub ohne weiteres der Fürst in gereiztem Tone an.

»Prinzeß können jede Minute von einem Ausfluge zurück sein, den sie in die Berge zu machen beliebte,« entgegnete der Hotelier devot.

Der alte Papa war sehr erregt, sprang plötzlich vom Stuhle auf und deutete mit einer wilden Gebärde vor sich auf den Boden.

»Hier auf den Knien wird sie mir Abbitte leisten!!« rief er.

Da erwiderte Monsieur Bierling, zwar noch immer sehr devot, aber doch mit einer Dreistigkeit, die zuerst ganz unerklärlich war:

»Bitte, Durchlaucht, wollen Sie Ihrer Tochter nicht in andrer Weise wiederbegegnen?«

Der alte Fürst war denn auch zuerst ob dieser Ermahnung ganz starr, dann fuhr er empor und musterte den Sprecher von oben bis unten.

»Herr, wer sind Sie, daß Sie mir so etwas zu sagen wagen?! Sind Sie nicht der Hotelier?« fragte er in schneidendem Tone.

Da aber richtete sich auch der Gastwirt hoch empor, er war plötzlich ein ganz andrer.

»Ja. Und nicht einmal das, ich bin nicht einmal der Besitzer, sondern nur der angestellte Direktor von diesem Hotel. Aber ich habe Ihre Tochter auch nur als meinen persönlichen Gast aufgenommen, weil ich nicht sehen konnte, wie das junge Mädchen auf der Straße hätte schlafen müssen; denn nachdem sie aus zwei Hotels ausgewiesen worden war, hätte sie hier kein Obdach mehr gefunden – nur noch auf der Polizeiwache!«

Wenn wir von einem guten Herzen, verbunden mit echter Manneswürde, die hier wirklich vorlag, absehen, wenn wir diese Worte vom rein geschäftlichen Standpunkte aus betrachten, so war das eine überaus feine Spekulation des Hoteliers, daß er plötzlich so auftrat.

Er kannte den alten Fürsten nicht, aber die Tochter hatte ihm genug erzählt vom guten Papa, und er sah es dem alten Manne ja auch gleich an, daß diese Barschheit nur Verstellung war, der ›gute Papa‹ konnte es ja gar nicht erwarten, seinen geliebten Kosaken wieder in die Arme zu schließen.

Doch es war keine Geschäftsspekulation, sondern es war Herrn Bierlings Charakter gewesen, der so gesprochen hatte!

Der Fürst wischte sich denn auch gleich die Augen, und dann reichte er jenem, der ihm so unverblümt die Wahrheit gesagt hatte, gerührt die Hand.

»Sie sind ein edler Mann, ich danke Ihnen. Ja, ich hatte schon gehört, daß man sie aus einigen Hotels hinausgewiesen hat, ich wollte sie auch strafen, zog meine Hand zurück, aber so – das habe ich nicht gewollt, das habe ich wirklich nicht gewollt! Na, wenn Sie sich ihrer angenommen haben, dann ist ja alles gut, verdient hat sie das gar nicht, die Karbatsche sollte sie eigentlich doch bekommen – jawohl, die Karbatsche! Na, was will man denn dagegen machen, sie ist nun einmal so, wie sie ist, 's ist eben ein wilder Kosak. Aber natürlich die Rechnung, die Rechnung, die bitte ich mir aus. Ach, und kann ich mir inzwischen nicht einmal ihr Zimmer ansehen?«

»Gewiß, Durchlaucht,« bejahte der Hotelier ebenso den Wunsch nach Besichtigung des Zimmers, wie den nach der Rechnung. Denn wenn der Fürst diese verlangte, dann konnte er sie natürlich auch für seine Tochter bezahlen, so übrig hatte es Monsieur Bierling denn doch nicht, und dann vor allen Dingen mußte er die Interessen derer wahren, in deren Brot und Lohn er stand.

»Werden Durchlaucht hier logieren?« fragte er noch auf dem Fahrstuhl.

Na, wer solch ein Ansinnen vorher an den alten Fürsten gestellt hätte, in dem Hotel zu wohnen, wo sich seine durchgebrannte Tochter aufgehalten hatte, der hätte aber eine Grobheit zu hören bekommen!

»Sicherlich, sicherlich,« beeilte er sich jetzt zu sagen. »Ich habe meine Sachen einstweilen im Hotel Metropole unterstellen lassen, die können dann gleich herbesorgt werden.«

In Wirklichkeit also hatte er schon ein Hotel, sein Diener war auch bereits dort. Aber der alte Diplomat hatte hier in diesem Hotelier einen Rivalen gefunden, der ihm in gewisser Hinsicht über war.

Himmel, sah es in den Zimmern aus, in denen der Kosak hauste!

Sie waren noch nicht in Ordnung gebracht worden, und ... es sah eben gräßlich liederlich darin aus! Ein Zimmer genügte ihr noch nicht, sie brauchte vier, um ihre Siebensachen überall am Boden ausstreuen zu können.

»Ja, hier wohnt meine Tochter,« erklärte der Papa mit gerührter Zufriedenheit, woraus man erkannte, daß er diese Unordnung mit ganz andern Augen betrachtete, vielleicht mit russischen Augen. »Das sehe ich gleich daran, weil auf der Wasserflasche ein Hut hängt und auf dem Sofa schmutzige Stiefeln liegen. Das macht meine Tochter immer so. Sie ist überhaupt sehr ordnungsliebend, weiß ihre Sachen immer gleich zu finden.«

Monsieur Bierling mußte sich bei dieser Äußerung väterlichen Stolzes krampfhaft auf die Lippen beißen, um nicht laut herauszulachen.

»Na, was hat sie denn nun eigentlich hier die ganze Zeit getrieben?«

Etwas hatte der Alte ja schon erfahren, sogar von der Polizei, aber dieser Hotelier konnte ihm doch die beste Auskunft geben, und Monsieur Bierling, welcher den ›guten Papa‹ nun schon zur Genüge erkannt hatte, hielt nicht hinterm Zaun zurück, er schenkte ihm gänzlich reinen Wein ein, so beschrieb er unter anderm ganz ausführlich die Prügelszenen mit den Hausknechten, und der russische Papa freute sich wie ein Schneekönig über seinen ungeratenen Kosaken.

»Wirklich, gekratzt und gebissen hat sie – wirklich gebissen hat sie den Hausknecht?« schmunzelte er händereibend. »So ein Blitzmädel – ja, so war sie immer, im Kratzen und Beißen hatte sie was los.«

Etwas Übles war über den Wildfang ja in Wirklichkeit nicht zu berichten.

Dann schlug der Papa einen noch vertraulicheren Ton an, wurde zugleich aber auch etwas ängstlich, er kam so langsam von hintenherum, Turandot wäre doch kein Kind mehr, und hier in dem verführerischen Monte Carlo ...

I, Gott bewahre. Nicht nur er, der Hotelier, hätte alle Hände über sie gehalten, auch noch andere, vor allen Dingen Lord Hannibal Roger, für dessen Ehrenhaftigkeit er, August Bierling, die Garantie übernehmen wolle.

»Überhaupt,« setzte Monsieur Bierling noch hinzu, »die Prinzeß ist trotz ihrer kindlichen Naivität schon so selbständig, daß man sie getrost ihre eignen Wege gehen lassen könnte.«

Das war wieder etwas, was dem alten Herrn gar nicht recht zu gefallen schien.

»Ja, sie kann sehr selbständig sein, sehr selbständig,« seufzte der Minister, der aber in Familienangelegenheiten auch nur ein Mensch war. »Na da geben Sie mir einmal die Rechnung, daß die Vergangenheit gleich gestrichen wird.«

Die Rechnung war schon fertig, der Oberkellner brachte sie.

Die Prinzeß war noch gar nicht so lange hier, die Rechnung war auch gar nicht so lang – zwei Wochen volle Pension mit vier Zimmern und was dazu gehört – 2448 Francs 60 Centimes – - Riviera-Palast-Hotel – dankend quittiert.

Der Papa blickte sich nur noch einmal in den Zimmern um, dann steckte er die Rechnung ein, ohne eine Miene zu verziehen, sie war angenommen, er würde sie für seine Tochter Prinzeß Turandot bezahlen. Eine lächerliche Kleinigkeit für ihn, und so logiert eben eine Tochter des Fürsten Alexjeff!

Aber noch vor einigen Minuten, als er das Hotel betreten hatte, um seine ungeratene Tochter zu holen – da hätte ihm diese Rechnung nicht präsentiert werden dürfen, da hätte der Hotelier Gelegenheit gehabt, einen groben Russen kennen zu lernen.

»Gut, mein lieber Wirt, ich bezahle dann gleich. Wenn mein Kosak solche Schulden hat, da muß ich aber doch erst einmal zum Bankier. Mich freut es nur, daß sie hier bei Ihnen so gut aufgehoben war, nehmen Sie noch einmal meinen besten Dank entgegen, ich ...« der russische Fürst griff wie zufällig an das oberste Knopfloch seines Rockes – » ... werde Ihnen demnächst auch eine Freude bereiten. – Ja, was ich noch sagen wollte – könnte man gegen die beiden Hoteliers, welche meine Tochter, von der sie doch wußten, wer sie war, so rücksichtslos hinausgewiesen haben, nicht klagbar werden? Die verdienten doch eine exemplarische Strafe.«

Nein, das ging nicht. Klagen konnte man wohl, aber dann würde der Papa noch mehr als nur den Spott obendrein haben. Das brachte Monsieur Bierling dem alten Herrn mit gewandten Andeutungen bei, und der Fürst sah das auch schnell genug ein.

»Na, wenn die in Rußland wären, ich wollte sie ... bei uns in Rußland herrscht nämlich Gerechtigkeit,« meinte er nur noch, und dann fiel ihm etwas andres ein, die Hauptsache: »Ja, wo steckt sie denn eigentlich?«

Seit ihrem Abmarsch nach der Behausung des Eremiten waren nun schon vier Stunden vergangen, sie hätte wieder zurück sein können.

Doch zu Sorgen war vorläufig noch kein Anlaß. Der Leibdiener, welcher seinen Herrn auf der weiten Reise von Petersburg begleitet hatte, kam mit dem Gepäck. Der Fürst ward einquartiert, die erste Rechnung wurde bezahlt, ein halbes Stündchen geschlummert – und der Kosak war immer noch nicht da.

Vielleicht war sie schon im Kasino? Die gab nichts auf Toilette, und bei einer echten Prinzessin sieht auch der Anstandsmeister nicht so streng aufs Äußere, sonst wäre der Kosak niemals in die Spielsäle gekommen.

Der Vater wollte gleich selbst hinab, um seine Tochter zu suchen; er konnte es nicht erwarten, sie wiederzusehen, und Monsieur Bierling begleitete ihn, weil er am schnellsten Erkundigungen einziehen konnte, die Prinzeß brauchte sich ja auch nicht gerade im Kasino aufzuhalten.

Nein, Prinzeß Turandot war in ganz Monte Carlo nirgends gesehen worden.

Die Zeit verging. Der Fürst wurde dem Lord Roger und andern Herren vorgestellt, von denen er schon wußte, daß seine leichtsinnige Tochter bei ihnen tief in Schulden stecke – ach wo, Schulden!! Man war doch hier in Monte Carlo! Wenn hier nur jeder wirkliche Spaß so billig zu haben wäre!

Dann bekam der Fürst in Gesellschaft dieser Herren auch gleich die interessante Neuigkeit von dem maskierten Kapitän und dem Eremiten zu hören – aber dies alles brachte seine Tochter nicht zur Stelle – und es wurde schon dunkel, die Nacht brach an!

Es waren heute also schon viele Personen oben an der Klausnerwohnung gewesen, sie wurden befragt – niemand hatte Prinzeß Turandot im Gebirge gesehen, und wenn man die Zeit nachrechnete, so mußte sie die erste gewesen sein, welche dem Eremiten einen Besuch abgestattet hatte.

Ein Monacascogner, welcher den Weg nach dem alten Steinbruch auch im Finstern fand, wurde hinaufgeschickt. Sehr bald kam er zurück.

Auf sein Rufen war der Eremit in der Mauerspalte erschienen und hatte willig Rede und Antwort gestanden. Die Erscheinung des Mädchens war leicht zu beschreiben, sie war auffallend, dazu der Bergstock, die Leine, die Korbflasche – in Condamine hatte sie nach dem Wege von La Turbie gefragt, man hatte sie am Gasthaus ›Bellevue‹ vorbeigehen sehen, aber der Eremit wollte nichts von solch einem Mädchen wissen.

So war es zehn Uhr geworden. Es wurde Mitternacht, und die Prinzessin war noch immer nicht zurück!

Heute war nichts mehr zu machen. Warten! Die Gefühle des alten Vaters sind nicht zu schildern. Immer wieder mußte man ihm versichern, es sei ja gar kein Gedanke daran, daß sich die Prinzeß vor der Rückkehr des Vaters so gefürchtet habe, um Selbstmord begehen zu können. In dieser Nacht merkte der alte Mann, daß auch ein Fürst die Freundschaft des geringsten Hausknechts suchen kann, nur um ein tröstendes Wort von ihm zu hören.

Am andern Morgen wurden in Monaco möglichst viele ortskundige Leute geworben, sie durchstrichen das Gebirge nach allen Richtungen, ohne eine Spur von der Vermißten zu finden.

Jetzt mußte mit Bestimmtheit angenommen werden, daß das junge Mädchen verunglückt war. Ja, dann mußte es aber immer noch gefunden werden, und wenn es nur die Leiche war!

Am zweiten Tage wurden die Nachforschungen in noch größerem Maße eingeleitet. Der Kommandeur des französischen Forts Tête de Chien, welches auf hohem Felsen über Monaco wacht, stellte eine Kompagnie terrainkundiger Artilleristen zur Verfügung, auf den Generalstabskarten der führenden Offiziere war jeder Winkel verzeichnet, die meilenweite Umgebung wurde wie ein Schachbrett in Felder eingeteilt und so abgesucht, eine sehr hohe Prämie brachte die männliche Bevölkerung von ganz Monaco auf die Beine, jede Spalte wurde sondiert – nein, auch nicht verunglückt konnte sie im Gebirge sein.

Weiter konnte aber auch auf das bestimmteste konstatiert werden, daß sie keine Fahrgelegenheit benutzt hatte, um das kleine Fürstentum zu verlassen.

Jetzt wurde das Verschwinden der Prinzeß Turandot rätselhaft!

 

Der unglückliche Vater saß in einem Hotelzimmer, teilnahmlos, nur noch auf die Botschaft wartend, daß man die Leiche seines einzigen Kindes endlich gefunden habe – dann hatte er wenigstens Gewißheit.

Im Zimmer befand sich auch sein Diener, ein schon älterer Mann, trotz seines glattrasierten Gesichtes gleich den Stockrussen verratend, wenn es ihm auch lieber war, wegen seines guten Französisch und seiner Weltgewandtheit für einen Franzosen gehalten zu werden.

Er machte sich immer noch im Zimmer zu schaffen, ohne etwas darin zu tun zu haben, aber sein Herr wollte nicht aufmerksam werden.

Endlich war der Entschluß des Mannes gefaßt, offen trat er hervor.

»Durchlaucht!«

»Was willst du, Paul?« fragte der Fürst mit müder Stimme, ohne den Kopf aus der Hand zu nehmen und jenen anzublicken.

»Die hiesigen Leute sind gar nicht recht für das Suchen nach der gnädigen Prinzessin interessiert.«

Es lag hauptsächlich im Tone, welcher etwas Geheimnisvolles erst einzuleiten schien, daß jetzt der Fürst aufmerksam den Kopf nach dem Diener wendete.

»Was soll das heißen? Sind die dreitausend Francs Prämie nicht genug? Sie mögen verzehnfacht werden, wenn es nur Erfolg hat!«

»Durchlaucht verzeihen mir – ich glaube, daß auch das Hundertfache nicht den Eifer der Leute am Suchen beleben würde.«

»Weshalb nicht? Jetzt sprich offen, Paul, halte mich nicht hin!«

»Es geht hier ein Gerücht um – ein Gerücht – es ist die reine Torheit ...«

»Was für ein Gerücht? Nun heraus mit der Sprache, was es auch sei!«

Der Fürst hatte sich vor Spannung erhoben, er war auf alles gefaßt.

»Es fällt mir schwer ... glauben Durchlaucht an ... an ... Vampire?«

»An ... Vampire!« echote der Fürst mit bleichen Lippen nach.

Die Russen sind noch weit zurück. Der Glaube, daß sich böse Menschen zeitweilig in reißende Tiere verwandeln können, besonders die Sage vom Werwolf, ist in Rußland ungemein stark verbreitet, und nicht nur in den unteren Schichten des Volkes. Wie es in den oberen aussteht, das bemerkt man am meisten bei den heiligen Festen, am Neujahrstage, bei Kindtaufen usw., da huldigen in Rußland auch die gebildetsten Kreise dem gröbsten Aberglauben, und wenn man den Hokuspokus auch lachend vornimmt, weil man daran ja gar nicht glaubt – es wird eben doch getan, und das genügt schon, mehr verlangt ja der Aberglaube gar nicht.

Paul war von der Existenz des menschlichen Werwolfes, der es ebenfalls hauptsächlich auf unschuldige Mädchen abgesehen hat, fest überzeugt. Er hatte nämlich einmal ›Etwas erlebt‹, worüber er allerdings niemals sprach, nur immer schauerliche Andeutungen machte. Die Sage von Vampiren kennt man in Rußland gar nicht, dort mag es den menschlichen Blutsaugern zu kalt sein, die verwandeln sich dort lieber in Wölfe mit zottigem Fell. Aber Paul war gebildet genug, um davon zu wissen, und wenn es Menschen gibt, die sich in Wölfe verwandeln können, warum sollen sie in andern Gegenden nicht auch andre Gestalten annehmen?

Der alte Fürst glaubte im Grunde genommen weder an den Vampir noch an seinen einheimischen Werwolf noch an sonst etwas dergleichen; aber er hatte als Kind doch so viel davon hören müssen, daß dies jetzt, in Verbindung mit seiner verschwundenen Tochter gebracht, einen gewaltigen Eindruck auf ihn machte. Dazu kamen nun noch die schlaflosen Nächte, die seine Nerven beeinflußten.

»Nein, ich glaube nicht an dieses Märchen von blutsaugenden Vampiren in Menschengestalt. Doch was ist's, Paul, sprich offen, ich befehle es dir!«

»Die Leute behaupten, es triebe hier ein Vampir sein Wesen ...«

»Unsinn! Aberglaube!«

»Durchlaucht befahlen mir, ganz offen zu sprechen.«

»Du hast recht. Fahre fort!«

»Man sollte doch lieber alles in Betracht ziehen.«

»Das werde ich auch tun. Was also sagen die Leute hier? Erzähle!«

»Durchlaucht haben schon den schwarzmaskierten Herrn gesehen? Es soll ein Vampir sein, und nach dem, was sich auf der sogenannten Teufelsinsel abgespielt hat, auf welcher hier die Selbstmörder begraben werden, kann man das auch annehmen. Selbst einer seiner Matrosen hat schon junge Mädchen zu ihm zu locken versucht, und zwar unter ganz erschwerenden Umständen. Nun ist hier von vornherein gesagt worden – woher das die Leute wissen wollen, das ist mir freilich unbegreiflich – und es fällt mir schwer, Eurer gütigen Durchlaucht noch mehr Sorge zu bereiten ...«

»Er hätte es auf meine Tochter abgesehen?« kam der Fürst dem Stockenden zu Hilfe, und er war ganz gefaßt dabei, was freilich sehr unnatürlich erschien.

»Durchlaucht sagen es. Das erste Mädchen, welches aus Monte Carlo verschwände, würde die Prinzeß sein – sein erstes Opfer – so hat es allgemein in ganz Monaco geheißen – die Leute hier sind gar nicht verwundert, daß die Prinzeß plötzlich verschwunden ist – und gerade unter solchen Umständen – denn der Maskierte ist gesehen worden, wie er bei nächtlicher Weile im Gebirge umherstrich – und es war Vollmond ...«

Wir wollen nicht weiter zuhören, was der Diener erzählte.

Auf dem Tische lag eine kleine Zeitung, ›Die Maske‹, in Monte Carlo ganz neu erschienen. Sie berichtete einzig und allein, wie schon ihr Name anzeigte, über den maskierten Kapitän und was mit diesem zusammenhing.

Monsieur Girard hatte für gut befunden, deswegen täglich eine besondere Zeitung herauszugeben. Dafür aber kostete die winzige Nummer auch einen ganzen Franc, den Preis der offiziellen Fremdenzeitung hätte er nicht erhöhen dürfen, und es war eine glückliche Spekulation gewesen, die Nummern gingen ab wie die warmen Semmeln und fanden ihre Verbreitung noch weit außerhalb der Grenzen des ›Reiches‹.

Zur Herausgabe der Zeitung brauchte er die polizeiliche Erlaubnis, die hatte er erlangt, und man wunderte sich nur, was in der ›Maske‹ alles erzählt wurde, ohne daß die Polizei jemals eine Nummer konfiszierte.

Es konnte nur sein, daß die ›Regierung‹ selbst wünschte, das ›Volk‹ würde über die mysteriösen Vorfälle aufgeklärt. Das tat diese Zeitung nun freilich nicht, sie verdunkelte durch geheimnisvolle Andeutungen nur noch mehr.

Die erste Nummer hatte die Unterhaltung zwischen dem Kapitän und dem Journalisten wörtlich wiedergegeben, und wenn der Maskierte einmal während des Gespräches ein Papiermesser vom Tisch genommen hatte, so stand das auch mit drin. Das war also nichts weiter, dagegen hatte die hohe Polizei nichts einwenden können.

Dann war auch schon das Elixier untersucht worden, und jetzt wurde die Sache etwas interessanter.

Es war, wie der vereidigte Chemiker mit Bestimmtheit konstatieren konnte, der Hauptsache nach eine konzentrierte Lösung von Ambra in Alkohol. Dann waren noch andere Zersetzungsprodukte organischer Substanzen darin, gerade solche Zersetzungsprodukte kann man aber sehr schwer bestimmen, so weit ist die organische Chemie noch nicht; der Chemiker glaubte, dem Geruch nach nur behaupten zu dürfen, daß es sich um Reptilien und Krustentiere handle.

Also doch! Wirklich Schlangen, Eidechsen und Krebse! Der vereidigte Chemiker von Monaco hatte es gesagt!

Für die Sensationslust des Publikums waren die Schlangen und Eidechsen natürlich die Hauptsache, da schauerte man so schön zusammen.

Aber die Zeitung verfehlte nicht, auch auf eitle andre Tatsache hinzuweisen.

Ambra löst sich in Alkohol so leicht und in derselben Menge wie Zucker in Wasser. Es war aber eine konzentrierte Ambralösung, und das Gramm Ambra kostete in der Apotheke fünf Francs.

Wenn der Kapitän jeden Tag nur einen Teelöffel voll von dem Elixier eingenommen hatte, so hatte er täglich für mindestens 20 Francs Ambra verschluckt! Sapristi, das war eine teure Medizin, und die zwölf Jahre lang täglich genommen!! Ja, dann freilich war der Indier auch gar nicht so teuer gewesen, als er für seine Kur 100.000 Rupien verlangt hatte. Fast die Hälfte davon hatte ja der Kapitän allein an Ambra verschluckt!

Dann weiter in derselben Nummer: Das weiße und das schwarze Haar stammte von ein- und derselben Person, die verschiedene Farbe hatte dabei nichts zu sagen, die Struktur und alle Eigenschaften waren dieselben, an diesem Gutachten eines Sachverständigen war nicht zu rütteln!

Nun konnte jeder über die Verjüngungskur denken, was er wollte. Die ›Maske‹ stellte nur die Tatsachen fest.

Schon die nächste Nummer aber beschäftigte sich mit dem Doppelselbstmord in der Pension Blond, mit dem rätselhaften Verschwinden der Leiche des jungen Mädchens und mit den Vorgängen auf der Teufelsinsel.

Doch konnte die Zeitung nur das erzählen, was die Augen der Beamten dort gesehen hatten. Monsieur Girard hatte täglich Zutritt zu dem Kapitän, aber was dieser in jener Nacht erlebt hatte, darüber wollte er sich mit keinem Worte auslassen, daß müsse er erst nach andrer Stelle berichten.

Übrigens werden wir Monsieur Girard selbst begleiten, wenn er sich nach jener Schreckensnacht auf der Teufelsinsel zu dem maskierten Kapitän begibt, jetzt wollen wir bei den Zeitungen bleiben, welche vor dem Fürsten Alexjeff aus dem Tische lagen.

Als einzige Tatsache konnte die ›Maske‹ nur angeben, daß jenes Leichenhemd, welches der jedenfalls vom Starrkrampf befallene Kapitän angehabt hatte, wirklich das des jungen Mädchens gewesen war, daran war kein Zweifel, also ...

Und nun konnte Monsieur Alfons Napoleon Bonaparte Girard in seiner kühnsten Phantasie allein weiterschwelgen, und das gesamte Publikum schwelgte mit ihm.

Ach, was ließen sich da nicht für Hypothesen aufstellen!!

Daß das kein Starrkrampf gewesen war, das war ja ganz klar! Der maskierte Kapitän war einfach schon tot gewesen, also er hatte schon in der Todesstarre gelegen, aber es hatte nur die Berührung einer warmen Hand bedurft – die des Arztes – um ihn wieder dem Leben zurückzugeben, und gar kein Zweifel, jede Nacht fiel dieser Vampir, der sich mit Leib und Seele dem Teufel verschrieben hatte, in solch einen ›unnatürlichen Todesschlaf‹, und dann ...

Doch genug! Wir haben uns schon von den ›Tatsachen‹, welche Monsieur Girard berichtete, zu den Gerüchten verirrt, die unter dem Publikum zirkulierten, und wenn wir erst hiermit anfangen wollten, da würden wir überhaupt niemals fertig. Weil wir nun aber einmal dabei sind, so wollen wir uns mit eigenen Augen ansehen, was der Prinz von Monte Carlo treibt.

In sinnloser Furcht hatte er die Teufelsinsel verlassen. Doch konnte das ebensogut eine sehr große Erregung gewesen sein, die er schon ziemlich wieder bemeistert hatte, als er in Condamine die Pferdebahn bestieg. Auch das Hotelpersonal merkte dann dem Kommenden nichts weiter als nur eine große Hast an.

Zwei Stunden hielt er sich in seinem Zimmer auf. Unterdessen war auch seine Ordonnanz zurückgekommen, diese konnte durch das eigene Zimmer zum Herrn Kapitän gelangen, und nach den zwei Stunden sollte sie Monsieur Girard holen. Der quälte schon seit langer Zeit die Kellner mit neugierigen Fragen, und ob es denn gar nicht möglich sei, vorgelassen zu werden.

Er wurde vom Kapitän empfangen.

»Fragen Sie mich nichts, ich antworte nicht!« rief ihm der Maskierte gleich entgegen. »Ich habe in diesem Fürstentums etwas erlebt, worüber ich nicht sprechen darf, so lange ich nicht die Erlaubnis dazu habe. Verstehen Sie mich?«

Es blieb dem Redakteur wohl nichts andres übrig, als zu bejahen.

»Können Sie mir die genaue Adresse des Fürsten geben?« fuhr der Kapitän fort.

Ja, das konnte Monsieur Girard. Der Fürst von Monaco hielt sich zur Zeit mit seiner Jacht in Christiania auf, mit Beginn des Sommers wollte er noch höher nach Norden hinauf. Man munkelte sogar etwas von einer kleinen Nordpolexpedition – woraus dann freilich nichts geworden ist.

Auf dem Tische lag ein versiegeltes, umfangreiches Kuvert, der Kapitän setzte sofort die angegebene Adresse darauf. Er hatte unterdessen also wirklich an den Herrn dieses Landes über den Vorfall berichtet, und das ging nicht erst nach Paris. Auch hatte er schon Toilette gemacht.

»Hängt es vielleicht mit der Familiengeschichte des Fürsten zusammen?« fragte der Journalist, so ungefähr an eine weiße Frau denkend.

»Monsieur Girard, wenn Sie diese Sache noch einmal mit einer einzigen Frage berühren, dann sind wir für immer geschieden. Ich brauche Ihnen ferner wohl nicht erst zu sagen, wie unangenehm es den Fürsten berühren würde, wenn Sie solch einen Verdacht, wie Sie ihn eben andeuteten, veröffentlichten, und was das vielleicht für Folgen für Sie haben könnte ...«

Nein, das würde der Redakteur auch nicht tun, so klug war er allein. Von den Familienangelegenheiten des Fürsten steht in ausländischen Zeitungen mehr, als man in Monaco davon weiß.

»Kann ich dem Herrn Kapitän sonst mit etwas dienen?«

»Ja, ich hatte Sie hauptsächlich auch wegen etwas ganz andern zu mir bitten lassen, des Fürsten Adresse hätte ich auf der Post ja auch erfahren. – Ich fühle mich im Hotel nicht wohl. Ich will mir so schnell als möglich eine eigene Wohnung anschaffen. Können Sie mir behilflich sein, ein Haus zu kaufen?«

Ja, das konnte Monsieur Girard. Gelegenheit dazu war genug vorhanden: denn in Monte Carlo und Umgegend sind immer von drei Häusern zwei zu verkaufen, meist vollständig möbliert, darunter auch Schlösser und Paläste, das › à vendre‹ hängt überall im Fenster.

Das steht in enger Beziehung mit der Spielbank. Ein reicher Mann kommt zum ersten Male nach Monaco, er ist von dieser Szenerie entzückt – ›hier bleibe ich oder hierher komme ich doch jedes Jahr, hier muß ich ein Haus haben!‹ – entweder kauft er sich eins, die Auswahl hat er, oder er läßt sich gleich eins nach seinem Geschmack hinbauen – eines Tages hat er von der Geschichte die Nase voll bekommen – ›nee, nee, hier bleibe ich lieber nicht!‹ – à vendre, zu verkaufen.

Der Herausgeber des ›Le Monte Carlo‹ schien sich auch mit Häuservermittlung abzugeben, er hatte sämtliche Kaufobjekte von Monaco im Kopfe und wußte auch ihren Preis, auf dem Tische hatte schon eine große Karte von Monaco ausgebreitet gelegen, so konnte er immer gleich die Lage des betreffenden Hauses bezeichnen.

Die Preise schwankten zwischen 50.000 und einer Million Francs. Es gibt aber auch noch teurere, denn schon zu einer Villa gehört doch ein größerer Garten, man will doch hier Palmen und Orangen haben, und in der besseren Lage Monte Carlos ist das Quadratmeter nicht unter 800 Francs zu haben. Sogar am öden Strande von Monaco, wo die Sonne alles verbrennt, kostet er noch 200 Francs.

Aber dem maskierten Kapitän schien keines der Angebote zu behagen.

»Ich habe schon von der Gaumates-Schlucht gehört. Wie sieht es dort aus?«

Die Gaumates-Schlucht trennt also die Neustadt Condamine von Monte Carlo. In der Nähe des Strandes ist hiervon nichts zu bemerken, aber besonders auf dem Boulevard du Nord, wo die beiden Städtchen zusammengrenzen, jedoch durch eine 45 Meter hohe Brücke voneinander getrennt, dort gewinnt man einen großartigen Blick in diese dicht mit Häusern besetzte Schlucht.

»O, das ist nichts für Sie, Herr Kapitän.«

»Warum nicht?«

»Einmal sind dort nicht Pferd und Wagen unterzubringen, welche Sie sich doch, wie Sie vorhin sagten, anschaffen wollen ...«

»Das hätte nichts zu sagen, die könnten anderswo eingestellt werden.«

»Und in der Gaumates-Schlucht sind keine Häuser zu verkaufen,« ergänzte der Redakteur seinen begonnenen Satz.

»In der Welt ist alles zu verkaufen.«

»Doch nicht, Herr Kapitän. Entschuldigen Sie, wenn ich hierin zu widersprechen wage. Sämtliche Häuser in der Gaumates-Schlucht gehören Herrschaften, welche es nicht nötig haben, zu verkaufen. Vielleicht wohnen sie niemals drin, aber sie werden auch niemals vermieten. Hier handelt es sich eben um eine Kuriosität, wie es eine solche sonst nirgends in der Welt gibt.«

Der erfahrene Redakteur sprach die Wahrheit, aber der Kapitän war eigensinnig oder glaubte, mit seinem Golde alles durchsetzen zu können.

»Ich will doch zuerst in der Gaumates-Schlucht Umschau halten,« beharrte er, »jetzt machen Sie mich gerade lüstern. – Ordonnanz, einen Wagen!«

Er wollte auf der Stelle hinfahren, Monsieur Girard möchte ihn begleiten, und es war einmal eine große Ausnahme, daß die Ordonnanz nicht mitkam.

Sie hätten auch die Pferdebahn benutzen können. Man steigt auf der belebten Hauptstraße aus, geht nur hinüber auf die andre Seite und betritt vom Trottoir aus die Gaumates-Schlucht, welche ja von Monte Carlo, respektive von Condamine rings eingeschlossen ist.

Das ist nun wieder so etwas, was sich nicht beschreiben läßt, und wenn es ein Maler bildlich wiedergibt, wie es in dieser Schlucht aussieht, so würden die meisten Menschen sein Bild für die Ausgeburt einer wahnsinnigen Phantasie halten; denn so etwas kann es ja gar nicht in der Welt geben.

Links vom Eingange zur Schlucht – also immer mitten in der Stadt! – ist die Restauration Terminus mit der feinsten Austern-Bar, rechts hält der Gambrinus Wache, ein Lokal mit fidelem Tingeltangel. Noch einige Schritte – nur vier große Schritte - und man befindet sich in der wildromantischen Schlucht und steht vor einer reizenden Kapelle, von durchgegangenen Liebespärchen, denen aber zur ehelichen Vereinigung sonst nichts im Wege liegt, stark zu Trauungen benutzt. Hinter dieser Kapelle aber fängt gleich die richtige Wildnis an, eine wilde Schlucht, wie sie im Buche steht, wie sie nur ein phantasiebegabter Knabe in seinen Indianerträumen sich ausmalen kann, ein Paradies für Rinaldo Rinaldini. Im Hintergrunde stürzt der schon erwähnte Bach, dem auch der Eremit Wasser entnahm, 70 Meter hoch herab; er durchfließt in noch mehreren Fällen und Kaskaden die vielleicht 12 Meter breite Schlucht, und da gibt es Höhlen und Felsklippen und alles mögliche, überwuchert mit Büschen und Schlingpflanzen, und wenn man nur an den Bach will, da stürzt man ganz sicher ab und bleibt tot liegen – und niemand verbietet dieses Vergnügen!

Und das ist keine künstliche Dekoration à la Weltausstellung. Natürlich ist die Schlucht in der Mitte der Stadt mit Absicht so wild gelassen worden. So etwas ist eben nirgends anders möglich als nur in dem einzigen Monte Carlo! Denn Monte Carlo hat keine Einwohner, Monte Carlo hat nur Fremde, die in Hotels wohnen. Hier gibt es keine Straßenjugend, die von Monaco und Condamine darf nicht nach Monte Carlo herein, und so ist hier kein Verbot angeschlagen, man kann tagelang in den Höhlen zubringen, sich ein Feuer anzünden, wie ein Wilder leben – niemand kümmert sich darum – und abends geht man nebenan ins Tingeltangel.

Nur kann man, wenn man so in der wilden Einsamkeit träumend daliegt, eine kalte Dusche oder aber auch etwas andres auf den Kopf bekommen. Oben in einer Höhe von 45 Metern führt nämlich über die Schlucht hinweg eine Brücke, und zwar ist das eine belebte Hauptstraße, jetzt fährt dort oben auch die Elektrische. Das Pflaster wird immer gesprengt, da verirrt sich manchmal ein Wasserstrahl über das Geländer hinaus, dort oben sitzen Streichholz- und Orangenverkäuferinnen, dort oben flanieren die vornehmen Herren und Damen und – spucken der romantischen Wildnis da unten einmal auf den Kopf. O, es ist herrlich hier unten, wenn einem auch manchmal auf den Kopf gespuckt wird!

Nun ist aber diese wildromantische Schlucht, in der man sich in einer richtigen, jungfräulichen Wildnis fühlt, auch dicht mit Häusern besetzt.

Kann der geneigte Leser sich dies zusammenreimen? Wohl schwerlich. Und doch ist es so. Nur zu beschreiben ist das nicht, das muß man selbst sehen, um es glaubhaft zu finden, also kann es nur beim Versuch bleiben, dieses seltsame Bild der Widersprüche beschreiben zu wollen.

Die Häuser ziehen sich nämlich zu beiden Seiten dicht nebeneinander die steilen Felswände hinauf. Aber nun wie sie das tun!! Es gibt wohl Felsvorsprünge, doch als Fundament für ein Haus ist keiner zu benutzen. Alles ist nur so drangeklebt. Solch ein Haus ist mit 15 bis 20 Stockwerken an die 50 Meter hoch, ragt also noch weit über die Brücke hinaus, ein New Yorker Wolkenkratzer, und dabei hat es nur 5 Meter Front und die noch nicht einmal. Es ist alles in den Felsen hineingemeißelt. Da hängen überall in der Luft kleine Gärtchen mit herrlichem Blumenflor, oben im Himmel wachsen riesige Palmen, da ragt aus der nackten Felswand ein horizontaler Block in der Größe eines Quadratmeters hervor, auf dem steht ein Mann und begießt sein Gemüsegärtchen, das er auf diesem im Himmel schwebenden Quadratmeter Land angelegt hat, und wohl sieht man überall halsbrecherische Treppchen, aber man sieht keinen Ein- und Ausgang, und da kann man stundenlang liegen und mit den Augen suchen, man entdeckt immer wieder etwas Neues, etwas Wunderbares, und man weiß gar nicht, wie die Bewohner der Häuser eigentlich in diese hineinkommen können! Hier geht eben alles von hintenherum, die Felsen sind mit Tunnels durchsetzt wie die Ameisenhaufen, und das hängt alles so hoch oben, daß man die Gitter gar nicht sieht.

Die Bewohner dieser Häuser können in einer Minute am Meere sein, die betreffenden Türen sind natürlich unten, aber sie worden selten oder überhaupt gar nicht benutzt, denn auf diesem kurzen Wege durch die Schlucht kann man erst einigemal wie in den Alpen abstürzen. Deshalb klettern die Bewohner lieber zum Dache hinaus, ihre Häuser reichen ja aus der jungfräulichen Wildnis bis in das lärmende Treiben von Monte Carlo Supérieur hinauf, haben also den Haupteingang mit Portal und mit Räumen für Pferde und Wagen oben auf dem Dache, die Bodenkammer unten im Keller ...

Die ganze Geschichte ist so kompliziert, daß hiermit der Versuch aufgegeben wird, sie zu beschreiben. Das muß man sich selbst ansehen.

Aber die Tatsache bleibt bestehen: wenn man dort unten träumend in der einsamsten Wildnis liegt, sieht man direkt über sich im Himmel eine ganze Stadt hängen.

 

Die Equipage hielt neben der Kapelle, weiter konnte sie nicht fahren.

»Ah, hier ist es herrlich!« rief der Kapitän entzückt, nachdem er wenige Schritte getan hatte. »Solch ein Haus muß ich haben!«

Der Franzose schwatzte noch lange davon, daß hier leider nichts zu verkaufen sei, sich immer entschuldigend, als könne er etwas dafür, während der Kapitän schon Umschau hielt, welches der gefährlichen Felsennester am meisten seinem Geschmack entspräche, um es dann zu kaufen, ob der Besitzer damit einverstanden war oder nicht. Solch einen Eindruck machte diese Häuserschau wenigstens, im übrigen war sie ja ganz zwecklos.

Die linke Seite schien dem Kapitän nicht zu gefallen, mit der war er schnell fertig. Desto länger verweilte er bei der rechten Felswand. Er hatte einen Krimstecher umgehängt, den nahm er, setzte sich auf einen Stein und begann eins der Häuser nach dem andern zu mustern.

Aber wie er das tat! Jedes Fenster einzeln! Was der Mann für eine beispiellose Geduld hatte! Der lebhafte Franzose verzweifelte bald, und er wagte trotzdem nicht zu gehen, etwas zu sagen, es hätte ja doch auch keinen Zweck gehabt, der seltsame Kapitän wäre doch nicht aus seiner Ruhe zu bringen gewesen, Monsieur Girard kam sogar dem Hungertode nahe ...

Es sei kurz erklärt, warum Monsieur Alfons Napoleon Bonaparte Girard bald verzweifelte und sogar dem Hungertode nahe kam.

Um elf Uhr hatten die beiden die Schlucht betreten – und nachmittags um fünf Uhr, also sechs Stunden später, saß der Kapitän immer noch auf demselben Steine, den Krimstecher vor der Maske und musterte jedes einzelne der zahllosen Fenster aufs genaueste, und während dieser sechs Stunden hatte er kein einziges Wort gesprochen, sein Begleiter existierte nicht für ihn.

Sechs Stunden auf demselben Flecke sitzen, ohne sich zu rühren, immer den Krimstecher vor den Augen!! Findet man Worte? Nein, Monsieur Girard hatte von phlegmatischen Engländern schon manches erlebt, aber so etwas wie bei diesem internationalen Kapitän, der sich einen über neunundsiebzig Untertanen herrschenden König nannte, denn doch noch nicht! So etwas war ihm ganz neu! Das war keine Ausdauer mehr, das war – etwas anderes. Denn das war auch nicht mehr ein harmloser Spleen, wenn man einen andern Menschen dabei bald des Hungers sterben läßt. Der höfliche Franzose, der heute früh zum Kaffee erst ein Brötchen genossen hatte, wagte sich ja nicht zu entfernen, dieses maskierte Ungeheuer hatte doch einen vom Fürsten eigenhändig geschriebenen Passepartout und hörte ja überhaupt gar keine Frage!

Doch endlich, endlich nach diesen sechs Stunden, die Dämmerung des Februartages brach schon an, setzte der Kapitän den Krimstecher ab und sagte in ruhigem Tone, auf einen bestimmten Wolkenkratzer deutend:

»Dieses Haus gefällt mir am besten.«

Ja, das war ihm zu glauben! Das bizarrste hatte er wenigstens endlich herausgefunden. Dieses Haus, nicht einmal 5 Meter breit, stieg sogar im Zickzack zum Himmel hinauf, und in den zahllosen Winkeln überall Gärtchen und Treppchen und verdeckte Brückchen – eben ein Wunder der Phantasie.

Aber hatte der Kapitän denn nur wirklich sechs Stunden dazu brauchen müssen, um endlich herauszufinden, daß dieses Haus, welches hier nicht seinesgleichen hatte, seinem Geschmacke am meisten entspräche? O, dem Manne mit dem schönen Namen Alfons Napoleon Bonaparte standen die Augen schon längst voll Tränen, er weinte über seinen knurrenden Magen.

Dabei hatte das lange Suchen dieses Ungeheuers nicht einmal Zweck gehabt!

»O, Monsieur Kapitän, die Mäander-Burg ist gerade am wenigsten verkäuflich!« hatte der Journalist sofort gerufen.

»Mäander-Burg? Dieser Name paßt ausgezeichnet. Wem gehört sie?«

»Seiner Herrlichkeit dem Lord Roger, und der ...«

»Dem Lord Hannibal Roger?!« wurde er hastig unterbrochen, und mit einer schnellen Bewegung hatte sich der Kapitän ihm zugewandt. »Logiert der nicht im Hotel de Paris?«

»Ja, aber wenn er dieses Haus auch nicht mehr bewohnt, weil er sich an dem Spielzeug übersättigt hat – verkaufen wird er es niemals, denn er hat dieses phantastische Ding selbst entworfen, hat den Bau selbst geleitet, sogar selbst mit daran gearbeitet, mit Meißel und Kelle, und Lord Hannibal Roger ist vielleicht der reichste Mann von England, und ...«

»Schon gut, schon gut,« unterbrach der Kapitän mit nachlässiger Handbewegung den Redefluß des Franzosen. »Und ich bin der Mann, welcher hier nicht so lange vergebens seine Auswahl getroffen haben will. – Nun, mein lieber Monsieur Girard,« fuhr es dann hinter der Maske in heiterem Tone fort, »Sie haben wohl inzwischen etwas Appetit bekommen?«

Appetit? Jetzt wurde der Malefizkerl auch noch ironisch. Aber der Chefredakteur des ›Le Monte Carlo‹ war ein höflicher Franzose.

»O, so schlimm ist es gerade nicht,« lächelte er, während sich schon seine Tränen der Verzweiflung in solche der Freude verwandelten, weil er endlich von seiner Qual erlöst werden sollte. »Es hat ein wenig lange gedauert, es ist unterdessen dunkel geworden, aber wenn man ein Haus kaufen ...«

»Dunkel? Nennen Sie das wirklich dunkel? Ich finde das noch ganz hell. Sehen Sie dort am Rande des Baches die drei einzelnen Blumen?«

Plötzlich hatte der Kapitän etwas Blitzendes in der Hand, und ehe der Redakteur noch ahnte, was das sein könne, donnerten in der engen Schlucht drei Revolverschüsse, ein hundertfältiges Echo gebend.

»Weg sind sie! Da kann es doch noch nicht dunkel sein. Nun will ich gleich diesen Lord Roger aufsuchen. Diese Mäander-Burg muß ich haben.«

Ob er die drei Blumen wirklich weggeschossen hatte, das wußte Monsieur Girard nicht – er wußte überhaupt nur eins: sein Begleiter hatte dreimal mit dem Revolver geschossen! – hatte in Monte Carlo geschossen!! – in Monte Carlo war geschossen worden, ohne daß es einen Selbstmord gab!! Himmel, stürz ein! – Monsieur Alfons Napoleon Bonaparte war schon eingestürzt! Wie er dann nach dem Wagen gekommen war, wußte er später nicht mehr zu sagen.

Der Leser wundert sich, er fragt, was für ein ungeheuerlicher Fall hier denn eigentlich vorläge, daß so lange dabei verweilt wird?

Man nehme doch nur an, jemand besieht sich das Kaiserliche Residenzschloß, und wie er ins Allerheiligste geführt wird, zieht er aus der Tasche einen Revolver und fängt an, aus dem Fenster nach Spatzen zu schießen!

Ungefähr derselbe Fall lag hier vor. In dieser Schlucht ist alles, alles erlaubt – aber nur nicht schießen! Das beleidigt in Monte Carlo die Ohren gar zu sehr! Eine Ausnahme bilden nur die Tage, an welchen das große Taubenschießen abgehalten wird.

Dieses maskierte Ungeheuer aber hatte geschossen, sogar dreimal hintereinander! Es kam denn gleich ein pompös uniformierter Wächter der Ordnung, und der Mann war ganz verstört, obgleich er an der Brust zwei Orden für Tapferkeit im Nachtdienst baumeln hatte.

»Monsieur Girard, um Gottes willen, haben Sie nicht drei Schüsse fallen hören?« brachte der Dekorierte nur mühsam heraus, als er den Redakteur erkannte, und er zitterte dabei an allen Gliedern.

Der Kapitän hatte hinter dem Wagen gestanden, er trat schnell hervor.

»Die werde wohl ich fallen gelassen haben nur zu meinem Privatvergnügen, ich entlud meinen Revolver.«

Der Anblick der mit dem fürstlichen Passepartout konzessionierten Maske bewirkte Wunder. Der Polizist klappte die Hacken zusammen, daß es knallte, und legte salutierend die Hand an die Tressenmütze.

»Pardon, Monsieur Kapitän, Ihre Schüsse waren mir sehr angenehm – wirklich sehr angenehm,« sagte er und war wieder verschwunden.

Das herzliche Lachen des Kapitäns folgte ihm nach.

Es ging nach dem Hotel de Paris zurück. Lord Roger war anwesend. Der namenlose Maskierte ließ sich als Kapitän der Heliotrop anmelden, wurde sofort empfangen und verschwand in des Lords Salon.

Monsieur Girard bedauerte nicht, daß er nicht dabeisein durfte, denn der arme Mann starb bald vor ›Appetit‹. Er stürzte in die Restauration.

Den Ausgang der Unterredung wußte er sowieso. Keine Ahnung, daß der Lord sein niedliches Spielzeug, das er sich in den Himmel gebaut hatte, verkaufen würde, und so etwas wie vermieten gibt es bei solchen Leuten auch nicht.

Der Mensch denkt, und ... diesmal hatte der geheimnisvolle Kapitän gelenkt, nämlich das Herz des Lord Roger.

Schon nach einer Viertelstunde erschien der Kapitän wieder, begleitet vom Lord. Dieser schickte einen Mann mit einem Auftrage nach dem Elektrizitätswerke und ließ eine Taschenlampe mit Benzin füllen. Wieder erhielt ein Wagenlenker als Ziel die Kapelle in der Schlucht angegeben, die beiden fuhren davon, nur daß diesmal der Kapitän von seiner Ordonnanz begleitet wurde.

Das sah aus, als wollte der auf sein Spielzeug stolze Lord dasselbe dem geheimnisvollen Kapitän heute abend noch zeigen, wie es ja auch die Kinder machen, sie müssen noch einmal aus dem Bett, um den Besuch ihre Puppe bewundern zu lassen, sonst können sie nicht schlafen.

Der Lord wollte den Kapitän von unten in das romantische Haus einführen, denn dieser Eingang war auch wieder so romantisch, daß man es nicht für möglich hält, wenn man es nicht gesehen hat.

Ein Monteur vom Elektrizitätswerk erwartete die Herren schon und meldete, daß die betreffende Leitung eingeschaltet sei. Er hatte außer einigem Handwerkszeug auch eine große Laterne mit, und die konnte man hier besser gebrauchen als die kleine des Lords.

Zuerst mußte nämlich der wild rauschende Bach passiert werden, auf einem ungehobelten Brette, und dann ging es in eine stockfinstere Höhle, in der sich Fledermäuse amüsierten – das war der Eingang zu dem Hause, dessen innere Pracht der Kapitän gleich sehen sollte, und das war keine künstliche Höhle, die war so echt, wie die in ihr hausenden Fledermäuse, es war auch gar nichts zu ihrer Verschönerung getan, von ihren Wänden tropfte das Wasser. –

Nur immer so bizarr und verrückt wie möglich! Dieser Wahlspruch wird immer beliebter. Bei London hat sich ein englischer Krösus einen ganzen Palast aus Glas unter Wasser bauen lassen, die zum Atmen nötige Luft muß hineingepumpt werden, die Ventilationsrohre laufen oben in Wasserlilien aus. Ein anderer Engländer hat in der Nähe von Leytenstone einen Raubtiergarten angelegt, ein ungeheurer Käfig, gefüllt mit Bestien aller Art, welche sich bei geeigneter Vegetation in der Freiheit zu befinden glauben, überall sind Türme mit Sicherungen angebracht, durch unterirdische Gänge miteinander verbunden, da setzt sich der Mann hinein, raucht gemütlich seine Zigarre und sieht zu, wie der Tiger die Antilope beschleicht und sie niederreißt, wie die verschiedenen Bestien sich gegenseitig befehden.

Das sind zwei Engländer. Wenn aber erst der Yankee an so etwas Geschmack findet, der kann in der Verrücktheit noch etwas ganz anderes leisten! –

Im Hintergrunde dieser Höhle befand sich eine ganz kleine Eisentüre. Der Lord hatte dazu den Schlüssel in der Tasche gehabt, man mußte gebückt hindurchkriechen. Der Monteur hatte hier das elektrische Licht gelegt, unter seiner kundigen Hand flammte es auf – und der Kapitän sah sich in einem luxuriös eingerichteten Raume, obgleich dies nur das Entree mit dem kleinen Fahrstuhle war, dessen elektrischer Antrieb jetzt von dem Monteur probeweise in Tätigkeit gesetzt wurde. Alles war in Ordnung, der Elektriker wurde entlassen. Der Lord schloß hinter ihm die Höhlentür ab, er war mit dem Kapitän und dessen Ordonnanz allein – und wir wollen die drei auch allein lassen.

 

Eine Stunde später war alles bekannt.

Lord Hannibal Roger hatte sein niedliches Spielzeug dem geheimnisvollen Kapitän der Heliotrop für zehn Millionen Francs verkauft, mit allem, wie es stand und ... hing. So muß es wohl in diesem Falle heißen.

Es hieß, ein Diener jener vornehmen Herren hatte etwas davon verlauten lassen – der Kapitän hätte das Geheimnis der Teufelsinsel mit in den Kaufpreis geben müssen, was er gestern nacht da erlebt habe; aber die Hauptsache waren doch jetzt die zehn Millionen Francs. Wieder wurde ganz Monaco-Monte Carlo darüber halb wahnsinnig.

Wer mag es nur sein, dieser Maskierte? So fragten zehn Prozent, und die andern neunzig Prozent sagten: Wenn ich nur wüßte, wie auch ich mich dem Teufel verschreiben könnte!

Der Kapitän trat sein Besitztum sofort an. Er bezahlte im Hotel de Paris seine Rechnung, verteilte Trinkgelder wie ein echter Märchenprinz, dann mußten die drei Matrosen das Gepäck nach Monte Carlo Supérieur hinaufbringen, jetzt wurde der andre Eingang oben im Boulevard du Nord benutzt, wo auch der Lord wieder herausgekommen war, und die vier Mann verschwanden in der Mäander-Burg, um für längere Zeit ein recht zurückgezogenes Leben zu führen.

Dann sah man von der Brücke aus einige Fenster in dem seltsamen Gebäude erleuchtet. Ein Steward machte bei einem Weinhändler, beim Fleischer, Bäcker, Gemüsehändler und in andern Geschäften der Nahrungsmittelbranche Einkäufe, und nicht nur, daß er laufende Bestellungen aufgab, sondern Leute mit schwerbepackten Körben mußten ihm direkt an die Mäander-Burg folgen, kamen natürlich nicht weiter als bis ins Portal.

Auch darüber waren die Neugierigen orientiert, daß der Kapitän seit heute morgen noch nichts gegessen hatte, und ein Koch war nicht mit hineingenommen worden, also würde einer der Stewards, vielleicht ein gelernter Koch, die Küche führen, und dabei würde es wohl bleiben. Er wollte eben keinen fremden Menschen mit in sein Haus nehmen, geradeso wie niemand vom Hotelpersonal sein Schlafzimmer hatte betreten dürfen, nur in jener ersten Stunde, als der alte Kapitän es als junger Mann mit einer Maske wieder verlassen hatte, war einmal eine Gelegenheit dazu gewesen, dann wurde es wieder verschlossen und von den Matrosen in Ordnung gehalten.

Natürlich, wenn man sich dem Teufel verschrieben hat, da hat man seine Geheimnisse, und warum trug der Mann denn sonst eine Maske? –

Dies alles hatten die Nummern der ›Maske‹ berichtet, welche vor dem russischen Fürsten auf dem Tische lagen. Nun hatte der Diener doch gesagt, der maskierte Kapitän, der beim Volke im Verdachte eines Vampirs stand, sei nächtlicherweile im Vollmondscheine im Gebirge gesehen worden. Auch hiervon erzählte die Zeitung, aber nur, daß der Kapitän bei einer Mondscheinpromenade in den Bergen beobachtet worden sei; er mochte solche nächtliche Spaziergänge lieben – sonst waren weiter keine Andeutungen gemacht worden, so wenig wie Monsieur Girard sich mit den blutsaugenden Eigenschaften des Kapitäns beschäftigt hatte. Dazu war er zu klug; derartiges konnte er auch getrost der Phantasie des Publikums überlassen.

Wir selbst wollen den Kapitän auf diesem nächtlichen Spaziergang begleiten und etwas beobachten und erlauschen, was sonst kein andrer Mensch erfuhr. Die Erklärung des geheimnisvollen Vorganges erfolgt später.

Es war noch an demselben Abend, da der Kapitän die Mäander-Burg bezogen hatte, um die elfte Stunde, als oben aus der Türe des Hauses eine in einen langen Mantel gehüllte Gestalt heraustrat, den breitkrempigen Filzhut tief in die Augen gedrückt, vor dem Gesicht ein Taschentuch, und das Heraustreten war mit einer Wendung so schnell geschehen, daß es niemand gemerkt hätte, der nicht gerade hinblickte. Hier oben war auch die beste Gelegenheit für einen Mann, der die Mäander-Burg unbemerkt verlassen wollte. Denn obgleich die Februarnacht kühl war, promenierten unten auf dem Boulevard de la Condamine doch noch sehr viele Menschen, meist Einheimische, Frauen und Mädchen mit ihren Männern und mehr noch mit ihren Liebhabern, während hier oben der vornehme Boulevard du Nord schon wie ausgestorben war.

Der Vermummte brauchte nur einige Treppen zwischen Häusern hinaufzusteigen, so befand er sich schon auf dem einsamen Wege nach La Turbie. Aber das war ein anderer Weg als der, welchen Prinzeß Turandot benutzt hatte, das hier war der von Monte Carlo hinaufführende, einen dritten gibt es nicht.

Die Nacht war durch den Vollmond fast tageshell, selbst ein Unkundiger konnte den Weg nicht verfehlen. Rüstig stieg der Vermummte bergauf, und die Rauheit des Weges konnte die Elastizität seines Schrittes nicht mindern.

Auf dieser Seite kommt man an zwei Osterien vorüber, kleine Wirtschaften, in denen Weinhüter und Steinbrucharbeiter verkehren, und hier war es, wo der Kapitän der Heliotrop erkannt wurde.

In der einen Wirtschaft waren noch Gäste, und wenn der Vermummte auch seinen Schritt beschleunigte, wieder das Taschentuch vor das Gesicht preßte und nach der andern Seite blickte – die scharfen Augen der Bergbewohner, die auch oft genug nach Monaco hinunterkamen, hatten genug gesehen.

»Wer war denn das?« hieß es erstaunt.

»Der hatte doch etwas Schwarzes vorm Gesicht!«

»Ja, es war eine Maske, wie sie sie beim Karneval in Nizza tragen.«

»Dann war es auch kein andrer als der Kapitän von der Heliotrop.«

»Natürlich war er es, ich habe ihn schon einmal gesehen und ihn gleich an seinem Schritte wiedererkannt.«

»Was hat denn der um diese Zeit noch im Gebirge zu suchen?«

»Na, habt ihrs denn noch nicht gehört von der Teufelsinsel ...«

Und nun gingen die Schauergeschichten los über den Vampir, der jetzt im Vollmondschein nach neuen Opfern suchte, und dazu wurden Kreuze geschlagen. Wir wollen die Schauergeschichten nicht hören, wir begleiten den Kapitän. Auch dieser Weg stößt hinter dem Steinbruche mit jenem andern zusammen, die letzte Klettertour begann, und der Kapitän stand im Vollmondschein vor der Schlucht des Eremiten.

Die tiefste Stille herrschte, kein Lichtschein drang über die Mauer.

»Eremit!« rief der Kapitän mit unterdrückter Stimme, nachdem er vorsichtig um sich gespäht und sich überzeugt hatte, daß kein Beobachter in der Nähe war.

Er wiederholte mehrmals den Ruf, immer lauter – es kam keine Antwort, nichts regte sich, der Einsiedler mochte schlafen.

Zuletzt bückte sich der Kapitän und hob einen Stein auf, um, wie der Kosak, durch Werfen gegen die Tür den Bewohner des Felsenhorstes aufmerksam zu machen.

Er richtete sich wieder auf und ... warf den Stein nicht! Hoch oben auf der Mauer neben dem aufgezogenen Brette stand plötzlich, vom Mondlicht umflossen, die hagere Gestalt des Kuttenträgers.

»Was willst du, Betrüger?« fragte die metallharte Stimme.

Mit solch einem beleidigenden Titel gleich empfangen zu werden, das hatte der Besuch wohl nicht erwartet. Der Kapitän fuhr erschrocken zusammen und sah sich schnell um, als ob er dächte, jemand könne dieses Wort gehört haben.

»Wie wagst du mich zu nennen?« fragte er dann gereizt, aber mit vorsichtig gedämpfter Stimme zurück.

»Einen Betrüger,« wurde drüben gleichmütig wiederholt.

Der Kapitän hob die Hand, welche noch den aufgenommenen Stein hielt.

»Ich hätte Lust, dir einen Denkzettel zu geben, ich habe ihn in der Hand.«

»Recht so, füge deinen verbrecherischen Lügen auch noch Tätlichkeiten hin zu!«

Die zum Wurfe erhobene Hand mit dem Steine sank wieder herab.

»Mein lieber Heiliger,« erklang es jetzt spöttisch hinter der Maske hervor, »mir kannst du mit deiner Allwissenheit gar nicht imponieren. Du hast etwas läuten hören, weißt aber nicht, woher der Ton kommt. Ich dagegen kenne die Quelle deines Wissens. Verstanden? Ich wollte dir eine höfliche Visite machen, aber du zwingst mich, anders gegen dich aufzutreten. – Laß das Brett herab!!«

Soweit im Mondlicht zu erkennen war, blieben die eingefallenen Züge des Eremiten ebenso unbeweglich wie die ganze Gestalt.

»Du willst mir drohen? Womit?« erklang es verächtlich auf der Mauer.

»Verlange lieber nicht, daß ich es laut sage, es könnte dir wenig angenehm sein, und auch der tote Felsen hat manchmal Ohren. Lasse das Brett herab, ich will dich drüben sprechen. Das Brett herab, ich befehle es dir!!!«

»Dich plagt der Wahnsinn!« hohnlachte es auf der andern Seite. »Was willst du eigentlich von mir? Ich mag mit Lügnern und Betrügern nichts zu tun haben, und du gehörst zu ihnen!«

Wieder blickte sich der Maskierte, ehe er eine Antwort gab, schnell und vorsichtig um, dann trat er bis an den äußersten Rand der Schlucht, beugte auch noch den Oberkörper weit vor – er, der Seemann, kannte nichts von Schwindel.

»Gut denn!« kam es jetzt in zischendem Tone über seine Lippen. »Wenn du mich einen Lügner und Betrüger nennst, der ich nicht bin, so will auch ich dir einen Namen geben, dessen Nichtigkeit ich aber beweisen könnte und unter Umständen auch beweisen werde – Leichenräuber!!!«

Die Wirkung dieses Wortes zeigte sich sofort, es mußte getroffen haben.

So plötzlich, wie der Eremit aufgetaucht war, so schnell war er wieder von der Mauer verschwunden, und gleich darauf senkte sich das schmale Brett herab. Mit festem Fuße überschritt es der maskierte Kapitän.

 

Wir kehren zurück zu dem alten Fürsten und seinem Diener.

Ja, er hatte genug schon von dieser mysteriösen Persönlichkeit des Kapitäns der Heliotrop gehört, hatte auch alles gelesen, und jetzt stand er erregt auf, mit einer Bewegung, welche zeigte, daß sein Entschluß gefaßt war.

»Paul, meinen Hut! Jetzt gehe ich erst zur Polizei und frage, wer dieser maskierte Mann eigentlich ist, und wenn man mir dort die genügende Erklärung vorenthält, so spreche ich erst einmal selbst mit dem geheimnisvollen Herrn. Und wenn ich mit dessen Erklärung nicht zufrieden bin, dann werden einmal Wir, Fürst Peter Alexjeff, die Frage auswerfen, wie weit diese geheiligte Majestät von Monaco eigentlich ...«

Der alte Herr vollendete den Satz nicht, den er mit der größten Energie in Worten und im Tone begonnen hatte.

Es hatte an der Tür geklopft, der Zimmerkellner brachte eine Karte.

Seine Herrlichkeit der Lord Hannibal Roger ließ sich melden. Fürst Alexjeff hatte ihn also schon kennen gelernt und empfing den Besuch natürlich sofort, hoffte er doch noch immer auf eine Nachricht über seine Tochter.

Seine zaghafte Hoffnung sollte wirklich in Erfüllung gehen.

»Durchlaucht, Prinzeß Turandot ist gefunden worden,« rief der Lord noch auf der Türschwelle. »Sie ist wohlbehalten.«

Der gebeugte Vater hob beide Hände empor, Tränen entstürzten plötzlich seinen Augen; das hatte ihn überwältigt, weil er es nicht mehr zu hoffen gewagt.

»Gelobt sei Gott, der Allmächtige und Allgütige!!«

Er bekam aber seine Tochter noch nicht gleich zu sehen. Sie war von allein aus dem Gebirge zurückgekehrt, hatte sich, von dem Hiersein des Vaters nichts wissend, zuerst zu Lord Roger begeben, mit dem sie immer die beste Kameradschaft gehalten, und jetzt bat dieser den Vater erst um eine Unterredung unter vier Augen, bevor er ihm die Tochter zuführte.

Und der Vater bekam etwas zu hören, was er sich auch nicht hatte träumen lassen. Er hatte sein einziges Kind wiedergefunden, um es für immer zu verlieren.

 

Wir betrachten alles wieder mit eigenen Augen, um einen Überblick zu gewinnen, gewissermaßen aus der Vogelperspektive.

Der Kosak war nach dreitägiger Abwesenheit wieder da.

Aus den Bergen mußte die Prinzeß gekommen sein, woher denn sonst! Und plötzlich befand sie sich mitten in Monte Carlo.

Sie sah danach aus, als wenn sie in den drei Tagen etwas in den Bergen erlebt hätte! Ihr Kleid bestand nur noch aus zusammenhängenden Fetzen, desgleichen die Schuhe, gewaschen konnte sie sich in den drei Tagen auch nicht haben.

Natürlich, wenn man in eine Gletscherspalte oder sonst in eine Schlucht stürzt, da hört die Toilette auf, und solche Gebirgsabenteuer kann man, wie schon erwähnt, in der dichtesten Nähe von Monte Carlo erleben, man braucht nur die gebahnten Wege zu verlassen.

Merkwürdig aber, daß sie gar nicht von der Sonne gebräunt war. Sie sah sogar bleich aus, etwas leidend, angegriffen.

Doch warum sollte das merkwürdig sein? Sie hatte eben die drei Tage in einer Spalte gesessen, in welche die Sonne nicht hineinkam, war trotz allen Suchens nicht gefunden worden, hatte sich selbst wieder daraus befreit, den Alpenstock und die lange Leine brachte sie wieder mit, und es war nur ein Glück gewesen, daß sie diese Gebirgsausrüstung und etwas Proviant bei sich gehabt.

So wurde einstweilen gesprochen, bis man das Weitere erfahren würde, was sie denn eigentlich in Wirklichkeit erlebt hätte.

Sie hatte sich sofort ins Hotel de Paris begeben und Lord Roger zu sprechen begehrt, welcher anwesend war. Durch diesen also erfuhr sie jedenfalls erst von der Ankunft des Vaters. Mit dem Lord war sie eine halbe Stunde zusammengewesen, dann hatten sich die beiden mit der Zahnradbahn nach dem Palast-Hotel begeben. Hier aber verlangte der Lord den Vater erst allein zu sprechen, die Tochter blieb einstweilen in einem ihrer Zimmer, und sie hatte mindestens eine Stunde warten müssen, ehe sie vor den Vater kommen durfte.

Was sollte man zu alledem sagen?

Daß der Vater der schon totgeglaubten und so inniggeliebten Tochter nicht gleich entgegengestürzt war, um sie an sein Herz zu drücken, das war doch ganz, ganz merkwürdig! Denn von einer Erbitterung, weil sie aus der Pariser Pension durchgebrannt war, konnte jetzt ja keine Rede mehr sein. Nein, hier mußte ein ganz besonderer Fall vorliegen, natürlich mit ihrem dreitägigen Verschwinden zusammenhängend.

Was war nun die einfachste Erklärung? Der maskierte Kapitän hat als Vampir sie zwischen seinen Klauen gehabt; sie ist nur eben mit dem Leben davongekommen. Er ist doch auch im Gebirge bei Vollmondschein gesehen worden.

Das heißt, so wurde mehr unter den Einwohnern von Monaco gesprochen als in dem gebildeten Monte Carlo, hier glaubten die meisten denn doch nicht an diese Vampirerei, obschon ... es mußte mit dem zurückgekehrten jungen Mädchen doch eine eigne Bewandtnis haben.

Der, welcher die erste nähere Auskunft geben konnte, war Monsieur Bierling. Er mußte seinen Gästen Rede und Antwort stehen, er hatte auch Freunde, trank sein Glas Wein doch nicht nur im eignen Hotel, und da wurde das so weitergebracht und machte die Runde.

Viel war es freilich auch nicht, was der Hotelier erzählen konnte, wie das Wiedersehen zwischen Vater und Tochter stattgefunden hatte.

»Es war wohl Freude, die Tochter unversehrt wiederzusehen, aber es war auch offenbar Kummer dabei. Eine ganze Stunde hat die Prinzeß warten müssen, ehe sie zum Vater kommen durfte. Da hat der Lord ihn doch offenbar auf etwas vorbereitet, hat irgend etwas gutmachen müssen, und ich habe den alten Fürsten weinen sehen. Ich habe ihn aber auch mehrmals lachen hören! Das ist das Seltsame dabei! Wie reimt sich das zusammen? Und das junge, fröhliche Mädchen ist plötzlich eine ganz andere geworden. So ruhig, so ernst, so – so – so würdevoll! Denn traurig oder ängstlich war sie nicht etwa! Aber jedenfalls war sie gar nicht wiederzuerkennen. Die muß etwas ganz Besonderes erlebt haben. Ich glaube, sie reisen ab. Bezahlt ist schon alles.«

So erzählte der Hotelier. Mehr wußte auch er nicht.

Aber sie reisten nicht ab. Sie fuhren nur mit der Zahnradbahn die drei weiteren Minuten bis La Bordina hinauf, nicht ein Dörfchen mit einer Station, sondern eine Station mit einem Dörfchen, und in der Umgebung viele Villen.

Die Prinzeß war wieder in Toilette, aber – wie schon gesagt, es war eine ganz andere geworden. Das war kein toller Kosak mehr, immer zu übermütigen Streichen aufgelegt, übersprudelnd vor Lebenslust. Würdevoll – das war der richtigste Ausdruck für ihr jetziges Auftreten. Außerdem war es wirklich auffallend, wie bleich und angegriffen sie aussah. Die mußte in den drei Tagen wirklich etwas durchgemacht haben!

In La Bordina verließen der ernste Vater und die noch ernstere Tochter bald die gebahnten Wege und schlugen sich seitwärts in die Feigenbüsche. Hier aber braucht man nicht den Hals zu riskieren, hier ist das Terrain eben, strotzend von einer südlichen Vegetation.

Bald erschienen sie wieder, der Vater kehrte einmal in einem kleinen Gasthause des Dörfchens ein, und als er wieder herauskam, begleitete ihn ein Arbeitsmann mit einem großen Schlüssel, sie drangen abermals in den Busch, und dann fuhren Vater und Tochter in das Hotel zurück.

Jetzt wurde Monsieur Bierling ins Vertrauen gezogen. Dieser empfahl einen ehrenwerten Vermittler für dergleichen Geschäfte, und nun erfuhr man es: Fürst Alexjeff hatte bei La Bordina zirka tausend Quadratmeter Bauland gekauft, der Agent hatte die geforderten 75.000 Francs gleich auf 50.000 herabgedrückt. Das hätte der russische Fürst freilich nicht fertig gebracht, auch nicht Monsieur Bierling. Dazu muß man ein die Verhältnisse kennender Italiener sein – oder ein Chinese, welcher bekanntlich zehn Armenier betrügt, obschon ein Armenier wieder zehn Juden übers Ohr hauen kann.

Dieses Bauland war eigentlich ein Garten mit einer Hütte und gehörte einem Tagelöhner. Der hatte vielleicht schon seit zwanzig Jahren auf einen ›Dummen‹ gelauert. In dem Garten wucherten die Orangen und Feigen nur so, aber was bringt denn das hier ein? Keine zehn Francs im Jahre. Der Mann ließ das wachsen und faulen und wartete eben auf einen ›Dummen‹. Jetzt war ein solcher endlich gekommen, jetzt war der arme Tagelöhner plötzlich ein wohlbestellter Rentier, welcher den ganzen Tag im Café liegen und Domino spielen konnte.

Alle Sachverständigen sagten trotzdem, daß der Fürst einen ausgezeichneten Kauf gemacht habe. Das Terrain brauchte nicht erst geebnet zu werden, und der größte Vorteil war, daß das Grundstück eine eigne Quelle hatte. Wenn der Fürst, der sich also hier ansiedeln wollte, etwas Hübsches vorbaute, so konnte er das jederzeit wieder verkaufen und noch ein gutes Geschäft dabei machen, ohne einen ›Dummen‹ suchen zu müssen.

Ja, wie aber hing dieser Grundstückskauf mit der dreitägigen Abwesenheit der Tochter und dem ernsten Verhalten des Vaters zusammen?

Hierüber unterhielten sich noch Eigentümer und Geschäftspersonal eines italienischen Ladens, so ein Bachchal, in dem alles mögliche zu haben ist, als plötzlich die Prinzessin Alexjeff in eigner Person eintrat – und auch wieder so ernst, so hoheitsvoll und doch so demütig.

»Ach, bitte, haben Sie Samen?« wandte sie sich mit niedergeschlagenen Augen an den herbeispringenden Prinzipal.

Das ganze Personal kam außer Rand und Band.

»Wünschen durchlauchtigste Prinzessin Vogelsamen? Vielleicht Kanarienfutter? Oder Ameiseneier? Auch Mehlwürmer kann ich Ihnen empfehlen.«

»Ach nein, ich meine solchen Samen, den man in die Erde steckt, dann wächst's, und wenn's reif ist, dann esse ich's auf.«

Ein Glück war es, daß die Italiener, wenn es sich darum handelt, etwas zu verdienen, von gutem Verstehstdumich sind.

Aha!! Jetzt wurde schon für den Garten gesorgt! Das war auch sehr vernünftig. Wenigstens ein Teil des zukünftigen Villagartens konnte vor den Stiefeln der Maurer geschützt werden, und wenn man jetzt etwas säte, hatte man im Sommer schon etwas im Garten.

Von den Samensorten ›welche man in die Erde steckt, und wenn's reif ist, kann man's aufessen‹ waren vorhanden und wurden empfohlen: Tomaten, Melonen, Gurken, verschiedenes Gemüse ...

»Ach nein,« wehrte die prinzliche Pensionstochter ab, »bitte, haben Sie nicht Hafergrütze?«

»Hafergrütze?« wiederholte der Italiener etwas perplex, weil er sich nicht recht vorstellen konnte, wie es im Köpfchen von solch einer Pensionstochter aussieht, ob diese nun durchgebrannt ist oder nicht.

»Jawohl, Hafergrütze. Sie muß also noch keimkräftig sein. Wieviel Hafergrütze brauche ich etwa, um so ein Stück Land zu bestellen, ungefähr von hier bis dorthin?«

Aha! Jetzt kapierte der italienische Geschäftsmann, und er verzog keine Miene. Wieviel Hafergrütze sie brauchte, um solch ein Stück Land zu bestellen? Nun, vielleicht drei Pfund. Und die drei Pfund Hafergrütze wurden ihr eingepackt – Quakers Oat.

Das ist nicht etwa ein Witz! Daß die höhere und allerhöchste Pensionstochter glaubte, wenn sie Hafergrütze säte, dann ginge Hafergrütze auf, das ist verzeihlich. Wie viele gebildete Menschen mag es nicht geben, welche nicht wissen, was Graupen sind, was Hirse, was Sago. Es ist sogar schon vorgekommen, daß italienische Makkaroni als Senker in die Erde gesteckt worden sind!

Aber daß der italienische Geschäftsmann die drei Pfund Hafergrütze wirklich einpackte, ohne eine Miene zu verziehen, das ist unverzeihlich, und das charakterisiert das ganze italienische Geschäftsprinzip, wie es auch in Griechenland herrscht, im ganzen Orient.

Man will etwa Rosinen kaufen, man macht den Leuten klar, daß man Kuchen backen will, das wird ganz genau verstanden, aber man verwechselt die fremden Worte und fordert aus Versehen Hosenknöpfe – und der Kaufmann hat keine Rosinen, wohl aber Hosenknöpfe – dann packt der unter der Ladentafel ganz kaltblütig die Hosenknöpfe ein und sagt, es wären Rosinen zum Kuchen backen.

Und genau so ist es im Großhandel. Man frage nur einen Importeur, etwa einen Weinhändler, der mit Italien und der Levante arbeitet.

»Nun gewiß auch noch Blumensamen?« fragte der Prinzipal.

»Nein, von Blumen will ich nichts wissen, aber – Seife. Haben Sie Seife? Bitte geben Sie mir welche, aber ganz gewöhnliche.«

Der Verdacht, daß sie die Seife in die Erde stecken wollte, ist wohl ausgeschlossen – sogar bei einer höheren Pensionstochter.

Merkwürdig war es nur, daß sie keine Toilettenseife, sondern ordinäre Waschseife haben wollte. Jetzt brauchte der Italiener doch einige Zeit, ehe er das kapierte.

Endlich hatte Turandot die Seife, welche sie haben wollte.

»Wieviel wiegt solch ein Stück?«

»Ein halbes Pfund.«

»Dann gleich einen Zentner – also 200 Stück, wenn ich bitten darf.«

Oho, was hatte denn die vor?! Und nun kaufte sie auch noch eine Waschleine, Klammern, Zwirn und was sonst noch zur Wäsche und zum Hausstande gehört, ferner einen Spaten, eine Hacke und noch vieles andre mehr, was alles in diesem Laden zu haben war – aber andres, was man vermutet hätte, kaufte sie wiederum nicht. Zum Beispiel wollte sie von Kochgeschirr nichts wissen.

Was wollte sie denn nur mit dem Zeug? Sie mußte in den drei Tagen wirklich etwas ganz Merkwürdiges erlebt haben!

»Bitte, schicken Sie alles ins Gasthaus von La Bordina hinauf, die Rechnung in das Riviera-Palast-Hotel an meinen Papa.«

Als sie gegangen war, klopfte sich der höfliche Geschäftsmann in Gegenwart des Ladenpersonals ganz ungeniert vor die Stirn.

»Die muß etwas wegbekommen haben!«

Hierauf betrat die Prinzeß das teuerste Kleidermagazin. Kredit hatte sie jetzt überall, die Konfektioneuse war wie ein Ohrwürmchen.

»Bitte, ich möchte ein Kostüm haben, nach Maß, so ein – so ein – so eine Kutte, Sie wissen, wie die Nonnen sie tragen, so ein Kostüm für die Einsamkeit, wenn man von der ganzen Welt nichts mehr wissen will. Ganz, ganz einfach, furchtbar einfach – aber natürlich auch ein bißchen elegant – man muß sich darin auch vor den Leuten sehen lassen können.«

Schön, konnte sie haben. Nächstens war in Nizza Karneval, und wenn das auch nicht der Fall gewesen wäre - ganz egal, immer nur bestellen, was man wünscht.

Also auch die französische Kleiderkünstlerin verzog keine Miene, sie legte der gnädigen Prinzeß Stoffproben für eine elegante Nonnenkutte vor.

»Nein, ach nein, so etwas nicht,« wehrte aber der Kosak ab, sogar in etwas entrüstetem Tone, »ich will so etwas – so – so ...«

In dem Laden lag gerade ein großer Ballen, in Sackleinwand eingenäht, darauf stand mit drei Zoll großen Buchstaben: Monaco via Lyon.

»Da, solche echte Packleinwand, die meine ich, daraus machen Sie mir ein Eremitenkostüm, so ein echtes, wie der von La Turbie eins hat.«

Auch gut. Nur immer frisch herausgesagt, was man haben will.

»Wünschen Hoheit den Frachtstempel auch mit auf das Kostüm?«

Der Kosak wurde nachdenklich. Wer die Wahl hat, hat die Qual.

»Hm. Monaco via Lyon. Glauben Sie, daß mir das gut stehen würde?«

»Gewiß, Hoheit, ganz vorzüglich, und das ist auch originell.«

Aber der Kosak hatte immer seinen eignen Kopf, und mit der Wahl war auch die Qual beendet.

»Nein, doch lieber nicht. Es braucht ja auch nicht gerade dieses Stück zu sein, nehmen Sie andre Pack- oder Sackleinwand – aber es muß auch wirklich echte sein, sie kann kosten, was sie will, wenn es nur echte Sackleinwand ist.«

Schön, wurde alles besorgt. Gleich drei solcher Nonnenkostüme aus echter Sackleinwand wurden bestellt, das erste würde schon morgen fertig sein.

Billig wurde solch eine echte Nonnenkutte aus echter Sackleinwand, angefertigt in diesem vornehmen Kleidermagazin natürlich nicht! Solche Schrullen müssen bezahlt werden! Für das Geld hätte sich manch arme Ladenmamsell eine pompöse Balltoilette taufen können.

Mit diesen Einkäufen hatte die Prinzessin ihr Vorhaben schon etwas verraten. Sie wollte es ja auch gar nicht verheimlichen, denn die Ausführung folgte auf dem Fuße nach, doch als es geschah, da wollte man es nicht für möglich halten – und es war ja doch schon zur greifbaren Wirklichkeit geworden!

Das Grundstück, welches der Fürst gekauft hatte, war mit einer drei Meter hohen Mauer aus Bruchsteinen umgeben. In diesen Gegenden wird nämlich alles mit solchen Mauern umfriedet, auch ganze Felder. Das charakterisiert die südfranzösische und italienische Landkultur. Es geschieht zum Schutze der Pflanzen gegen den bösen Mistral, einen kalten Westwind, und ebenso zum Schütze gegen die Hunde, welche in diesen Gegenden allerlei Feldfrüchte fressen, besonders auch, wie die Füchse, Weintrauben; ein paar Hunde weiden in einer Herbstnacht einen ganzen Weinberg ab.

In der Mitte des Grundstücks stand eine zweiräumige Hütte, abermals umschlossen von einer hohen Umfassungsmauer, und dies alles war wohl von den Steinen einer kleinen Ruine ausgeführt worden, vielleicht einer ehemaligen Kapelle, deren letzte Reste gleichfalls noch in dem innern Ringe lagen, jetzt also abgetragen bis auf die Grundmauern.

Hier wimmelt ja alles von Ruinen aus der Römer- und Sarazenenzeit, man sieht sie nur nicht immer, es ist alles zu überwuchert. Mancher Villenbesitzer hat eine Burgruine in seinem Garten und weiß gar nichts davon, bis der Gärtner einmal ein Gebüsch in Ordnung bringen will, und er findet alte Grundmauern.

Es soll dies keine Belehrung sein, sondern der geneigte Leser wird später noch erkennen, wie eng dieser Hinweis auf die zerstörten Bauten von alten Völkern, welche einst in dieser Gegend gehaust haben, mit unsrer Erzählung zusammenhängt – wie es nötig ist, dies zu wissen.

Die Mauern und die Hütte mußte der Fürst natürlich erst abtragen lassen ...

Nein, es geschah eben nicht!! Die leere Hütte wurde bezogen, und zwar augenblicklich – und das allein von der Tochter, von Prinzeß Turandot!

Man vernahm das Abkommen, welches mit dem Wirte des Gasthofes von La Bordina getroffen worden war, und nun wußte man alles, und man konnte nicht mehr an das Unmögliche zweifeln, weil es schon geschehen war.

Prinzessin Turandot zog sich mit Einverständnis des Vaters in die Einsamkeit zurück – für immer! Eine moderne Anachoretin, eine Weltentsagerin, eine Weltüberwinderin! Und der Eremit von La Turbie konnte an die Strenge ihrer klösterlichen Observanz nicht ›tippen‹. Der hatte in seiner Einsiedelei doch wenigstens einen Petroleumofen, auf dem er sich seine vegetabilischen Gerichte kochte, und er hatte auch Auswahl in seinen Speisen! Aber die weltentsagende Prinzessin wollte von solchem Luxus nichts wissen.

Die elende Hütte war ›unmöbliert‹ gewesen, einfach zwei nackte Räume. Zufällig hatte sich ein alter Tisch darin befunden, der konnte gleich darin bleiben, und dann nahm sie nur noch einen einzigen Stuhl mit hinein, auf den sie sich setzen konnte, wenn sie die Beine nicht mehr trugen und sie sich nicht gleich an den Boden legen wollte. Sie wollte in dieser Hütte ganz wohnen, auch schlafen, aber von einem Bett war keine Rede. Auf der nackten Erde wollte sie jede Nacht liegen, und der einzige Luxus bestand in einem großen Steine als Kopfkissen.

Wovon fristete sie ihr Leben? Bis sie sich dereinst von der Körnerfrucht ernähren konnte, bis sie im Schweiße ihres Angesichts selbst baute – (zunächst also geschrotete Hafergrütze) – mußte ihr jener Gastwirt täglich ein Pfund Brot über die Mauer werfen. Das sollte ihre einzige Speise sein.

Als persönlichen Schutz waren für das einsam lebende Mädchen zwei große, billige Köter angeschafft worden; die nahm sie hinter die Mauer und legte sie zunächst an die Kette. Die Tiere brauchten aber doch Futter. Das mußte der Gastwirt gleichfalls täglich über die Mauer werfen lassen.

Nun noch die Schaufel und die Hacke zum Bearbeiten des Gartens, den Zentner Seife zum eigenhändigen Waschen der Garderobe, ein Nähzeug, wenn etwas zu flicken war – so konnte das Einsiedlerleben losgehen!

Wie war die Prinzeß denn nur auf solch eine verrückte Idee gekommen? Hing dies vielleicht mit ihrem dreitägigen Verschwinden zusammen?

Ganz gewiß. Soweit es die fürstliche Atmosphäre des Vaters, welcher vorläufig im Palast-Hotel wohnen blieb, gestattete, wurde dieser mit Fragen bestürmt. Eine bequemere Quelle war Lord Roger, der doch darum gewußt hatte, als er die Wiedergekommene dem Vater zuführte, und wenn es sich um seinen Schützling handelte, wurde der sonst so zurückhaltende Lord stets mitteilsam, und so erfuhr man nach und nach alles.

Turandot hatte im Gebirge ein Abenteuer erlebt. Sie war in eine Schlucht gestürzt, war lange bewußtlos gewesen. Da hatte sie eine Vision gehabt, hatte ein menschliches Skelett gesehen, behangen mit seidenen Gewändern und mit Flittertand, geschmückt mit Ringen und mit Juwelen, der grinsende Totenschädel schön frisiert und sogar gepudert und geschminkt, und dieses geputzte Damengerippe hatte dem Mädchen eine Geschichte erzählt von der Nichtigkeit des Daseins – memento mori, es ist alles eitel!

(Hier dürfte der geneigte Leser fragen: wo bleibt denn aber die Erzählung von dem Abenteuer in der Wohnung des Eremiten, wie der Kosak sich in dem Labyrinth verirrte, die beiden Steinriesen sah und plötzlich im Boden verschwand? Ja, davon erzählte die Prinzeß eben nichts, das verschwieg sie, und der geneigte Leser wird noch sehen, wie überhaupt alles ganz anders kommt und was das alles zu bedeuten hat. Wir wollen jetzt nur das wissen, was damals ganz Monaco erfuhr – und glaubte.)

Die Prinzessin war also nach ihrer eigenen Aussage in eine Schlucht gestürzt und hatte in ihrer Bewußtlosigkeit jene Vision gehabt.

So sehr originell war diese gerade nicht. Die Hauptsache aber war, daß Turandot diesen Traum für Wirklichkeit nahm. Sie behauptete, sich mit dem Skelett ganz vernünftig unterhalten zu haben.

Als die Erscheinung wieder verschwunden war, gelang es ihr, sich mit Hilfe der Waschleine aus ihrer Lage zu befreien. Wie alle solche Geister, suchte sie, ehe der Entschluß gereift ist, die Einsamkeit auf, sie wußte, daß sie gesucht würde, aber sie versteckte sich absichtlich, wich den Suchenden aus, irrte im wilden Gehege umher, sich nur von Wurzeln nährend – bis die Vision verdaut und ihr der felsenfeste Entschluß entstanden war.

Vanitas, vanitatum vanitas.

Es ist alles eitel. Das Leben hat nur einen einzigen Zweck: ihm zu entsagen. Also entsage ich!

Das mußte sie wohl erst ihrem Vater schreiben; aber ob der nun damit einverstanden war oder nicht – gemacht wurde es doch!

Auf dem Rückweg nach Monte Carlo kam sie an einem ummauerten Gehöft vorüber. Daß es zu verkaufen war, stand an einer Tafel, und es mußte wohl eine höhere Eingabe gewesen sein, welche den Kosaken veranlaßt hatte, auf einen Johannesbrotbaum zu klettern und über die Mauer zu blicken.

»Ja, das wäre gerade für eine Einsiedelei geschaffen, vielleicht kauft mir's Papa, und wenn nicht, dann werde ich auch ohne ihn fertig.«

Sie kletterte wieder herunter von dem Baum, welcher den Namen dessen führt, den sie sich zum Vorbild genommen hatte – daher jedenfalls auch die ›höhere Eingabe‹ – und setzte ihren Weg fort.

In Monte Carlo begab sie sich gleich zu ihrem besten Freund, dem jungen Lord Roger – ›das ist gerade so ein verrückter Knopp wie ich, der wird mir schon helfen‹ – um erst mit diesem die geschäftlichen Angelegenheiten in der Weltüberwindung zu besprechen.

Da erfuhr sie, daß ihr Vater angekommen war! An ihrem Entschluß änderte das nichts. Nun mußte erst Lord Roger hin, um den Vermittler ihres bizarren Wunsches zu machen. Sie wartete den Erfolg ab.

»Und der Vater hat es erlaubt?« fragten erstaunt die Zuhörer.

Der erzählende Lord Roger zog die Schultern bis an die Ohrläppchen und behielt sie eine ganze Weile dort oben, ehe er sie wieder herunterließ.

Vor allen Dingen waren besondere Verhältnisse zu bedenken, mit denen man hier zu rechnen hatte – nationale und religiöse Charakterverhältnisse.

Der Fürst war ein griechisch-katholischer Russe. Wenn seine Tochter, sein einziges Kind, den Wunsch geäußert hätte, einen Nonnenorden zu stiften, vielleicht verbunden mit einer Erziehungsanstalt, mit Krankenpflege, – solch ein nützlicher Zweck dabei war aber auch gar nicht nötig – und sie selbst wollte sich als Priorin für immer in dieses Kloster zurückziehen – der Vater wäre sofort mit Freuden darauf eingegangen, er hätte sein halbes, vielleicht auch sein ganzes Vermögen diesem Zweck geopfert, und dabei brauchte er durchaus nicht fromm zu sein, konnte der größte Freidenker sein. Aber seine Tochter als Stifterin eines sanktionierten Klosters zu sehen, diesem als Priorin selbst vorstehend – das hätte dem russischen Edelmann zur höchsten Ehre gereicht, das wäre das Glück seines Lebensabends gewesen.

Das sind eben besondere nationale Ansichten. Angedeutet sei nur noch, daß dies damit eng zusammenhängt, daß der Zar in Rußland zugleich auch das Kirchenoberhaupt, der Papst ist.

Im übrigen hat jedes Land und jedes Volk seine eigenen Ansichten in gewissen Sachen, man muß sich nur danach umschauen.

Zum Beispiel: ein großer englischer Kaufmann hat nur einen Sohn, den er für sein Geschäft erzogen hat. Derselbe berechtigt zu den schönsten Hoffnungen, nebenbei ist er ein ausgezeichneter Kricketspieler, unüberwindbar im Ballschlagen, und eines Tages sagt er: Papa, was meinst du, ich ergreife das Kricketspiel als Profession.

Ist der Vater ein echter Engländer, so gibt er alle Geschäftsprojekte auf und läßt seinen Sohn gehen, damit dieser als Ballschläger in aller Welt die Ehre Old-Englands verteidigt – wobei allerdings zu bedenken ist, daß man in England für die besten Kricket, Lawn-Tennis und Fußballspieler Nationalsubskriptionen ausschreibt und ihnen sogar öffentliche Denkmäler setzt.

In Deutschland ist so etwas nicht möglich, aber lächerlich darf man das durchaus nicht finden. Wir wollen uns erinnern, daß die herrlichen Statuen des Altertums Athleten darstellten, also geschaffen zu einer Zeit, als Griechenland auf der höchsten Stufe der Kunst stand, und auch bei diesen Griechen, von denen einst dreihundert Mann die Thermopylen gegen die ungeheure, persische Heeresmacht verteidigten, waren die Sieger in olympischen Spielen frei von allen Staatssteuern!

Der Engländer, noch mehr der Yankee, begreift wiederum nicht, warum in Deutschland der Offizier und der Beamte vor anderen Menschen einen Vorzug genießen. Das ist ihm völlig unverständlich. –

Daß seine Tochter sich also in die Einsamkeit vergraben wollte, auf der nackten Erde schlafen und trocken Brot essen - das gefiel dem fürstlichen Vater ganz und gar nicht, das war einfach eine Verrücktheit. Über diese Schrulle seiner Tochter hatte er gelacht, geschimpft und endlich auch geweint.

Und dennoch, es ist schon angedeutet worden, daß so etwas gar nicht so gänzlich außerhalb des Ideenkreises eines russischen Orthodoxen liegt.

Ja, was sollte er denn auch dagegen machen? Der alte Mann konnte seine Tochter ebenso wenig in die Pension zurückbringen, wie sie ihrem neuen Entschluß abtrünnig machen. Er erntete, was er gesät hatte. Er hatte eine Tscherkessin geliebt – hier hatte er die Frucht dieser wilden Ehe, auch noch gemischt mit russischer Halsstarrigkeit. Hier hörte die Macht der Erde auf. Gewaltmittel? Der Kosak lachte ja über so etwas. Die sprang aus dem Coupéfenster des Schnellzuges, die sprang mitten im Meere über Bord, um an Land zu schwimmen, und im Hungerturm hätte sie das heimlich zugesteckte Brot dem Wärter geschenkt.

Der junge, kühl denkende englische Lord hatte die Sachlage gleich ganz richtig erkannt und dem Vater so lange zugeredet, bis auch dieser die Richtigkeit des Vorschlages einsah.

Einfach nachgeben! Auf alles eingehen! Hier hast du deine Einsiedelei, und nun mach, was du willst. Ich bin in aller Liebe damit zufrieden.

Wie lange würde es denn dauern? Ihr ganzes Leben lang nicht; aber vielleicht vierzehn Tage. Dem romantisch angehauchten Backfisch war nun einmal durch die Geschichte mit dem Eremiten das kleine Köpfchen verdreht worden, die Vision war erst nachträglich hinzugekommen – wenn sie überhaupt eine gehabt hatte und nicht nur mit so etwas ihr phantastisches Vorhaben rechtfertigen wollte, zugleich der ganzen Sache ein hübsches Mäntelchen umhängend. Auch wegen der kärglichen Nahrung brauchte man sich keine Sorgen machen. Eben weil die Prinzeß so kerngesund war, würde sie es bei Wasser und Brot nicht lange aushalten. Sie bekam schon wieder einmal Appetit nach einem gebratenen Beefsteak, und noch eher würde sich das Verlangen nach Schokolade einstellen. Das kannte man doch. Dann würde sie grimmig alles gegen die Wand werfen und sich selbst verschämt lachend in die Arme des Väterchens. Man kannte doch den Kosaken!

Schließlich gab es auch noch etwas anderes, um die überspannte Phantasie wieder zur Räson zu bringen. Der alte Vater hatte dabei pfiffig mit den Augen geblinzelt, als er einmal hierüber eine Andeutung gemacht hatte – nur eine Andeutung, nichts weiter. Aber da braucht man wohl nicht lange zu raten. Der Kosak kam jetzt gerade in die Jahre. Die Liebe, die Liebe! Die mußte erst einmal kommen, und da konnte man vielleicht auch ein bißchen nachhelfen – natürlich in allen Ehren. Das war alles zu arrangieren.

Jedenfalls – das hatte der Vater nun auch schon eingesehen – war es viel, viel besser, die phantastische und eigensinnige Prinzessin sehnte sich nach trocken Brot und einem Nachtlager auf der Erde, als wenn sie plötzlich gesagt hätte: Papa, ich liebe den schönen Johann im Pferdestall, ich will meinen Johann mit dem gewichsten Schnurrbart heiraten! – Da war dies doch tausendmal besser, jetzt konnte man in dieser Beziehung ihre Zukunft lenken.

Der russische Diplomat hatte ein halbes Jahr Erholungszeit, er blieb im Palasthotel wohnen – Lord Roger führte ihn in die exklusiven Millionärskreise ein, der alte Herr fühlte sich darin recht behaglich, traf Landsleute und sogar alte Freunde, spielte seinen Whist und L'Hombre, machte auch einmal ein Jeuchen am grünen Tisch, und sonst beobachtete er das Treiben seiner weltüberwindenden Tochter, die dem Papa gütigst erlaubt hatte, sie täglich zu einer gewissen Stunde in ihrer beschaulichen und erbaulichen Einsamkeit zu besuchen.

Vorläufig aber war und blieb es Tatsache! Ihre Hoheit, die hoffähige Prinzeß Turandot putzte die Fenster, scheuerte die Hütte, bearbeitete mit Spaten und hacke den Garten – von der Hafergrütze war sie doch abgekommen, jetzt steckte sie lieber Erbsen und Bohnen, nur hatte sie zuerst gelbe Erbsen genommen – sie wusch ihre Wäsche selbst und hing sie zum Trocknen auf, flickte Risse und Löcher, schlief auf dem kalten Estrich, unter ihrem Kopfe wie weiland Vater Erzvater Jakob einen Stein, und aß täglich nur ein einziges Pfund Brot.

In Monte Carlo war die Sensation groß. Die eleganten Damen und Herren fuhren nach La Bordina hinauf, um sich das Wunder anzusehen.

Vergebliches Bemühen – Eintritt verboten!

Ein breiter Streifen außerhalb der Umfassungsmauer gehörte mit zu dem Terrain, auf diesem Streifen hatten Bäume gestanden, wie einen solchen ja auch die Heimkehrende benutzte, um ihre zukünftige Eremitage zu besichtigen, aber die hatte sie aus Vorsicht gleich umhauen lassen. Sie wollte in ihrer Einsamkeit nicht beobachtet werden, und das konnte man ihr nicht verdenken. Von den weiter entfernt stehenden Bäumen aus war die hohe Mauer nicht zu überblicken. Ein Schlüsselloch gab es wohl, aber das war von innen verhängt. Zu hören war auch nichts anderes als ununterbrochen ein wütendes Hundegebell, solange ein Mensch in der Nähe war.

So konnten die Neugierigen nur die rebenumsponnene Mauer von außen bewundern, das erzählten sie unten, und trotzdem kamen immer mehr Menschen herauf.

Ein dreister Zeitungsschreiber erschien einmal mit einer Leiter, legte sie an und kletterte hinauf. Er sah nur den äußeren Garten, das Allerheiligste wurde von einer noch höheren Mauer umschlossen, und zwischen dieser und jener tobten die entfesselten Hundeköter, nur darauf wartend, daß der jedenfalls delikat schmeckende Zeitungsmensch zu ihnen herabkäme – und wie dieser noch so über die Mauer lugte, bekam er plötzlich eine Ladung Seifenwasser mit Soda ins Gesicht, daß ihm vollends Hören und Sehen verging und er nicht erst wieder langsam die Leiter hinabzusteigen brauchte, er war von ganz alleine heruntergekommen, nur durch die Anziehungskraft der Erde.

Der Vater durfte sie also täglich besuchen, doch auch nur für eine Viertelstunde, zu einer ganz bestimmten Zeit. Am dritten Tage nun nahm er einen alten Russen mit hinein, den die Prinzeß kannte und zu dessen Besuch die Weltüberwinderin ihre hohe Erlaubnis gegeben hatte. Am folgenden Tag wurde der Vater von Lord Roger hinter die Mauer begleitet, und so sah man, daß der Eintritt wohl gestattet sei, aber immer nur in Gesellschaft des Vaters, und jetzt wurde dieser mit Anträgen bestürmt, bis es denn auch dem Berichterstatter einer großen Zeitung gelang, die Erlaubnis zu erhalten.

Es war aber im Heiligtum nichts anderes zu sehen, als was man schon wußte. Still und mit gesenkten Blicken begrüßte die junge Einsiedlerin in härener Kutte den fremden Herrn, sie zeigte, wie sie schon im Garten gearbeitet hatte, sie war gerade beim Wäscheaufhängen, und sie zeigte, wo sie des Nachts schlief – dort auf dem nackten Estrich, jener große Stein diente ihr als Kopfkissen.

Dem Herrn wurde ganz feierlich zumute. So jung, so schön, so hold, so reich – und ... schlief hier auf der nackten Erde!

Dieser Zeitungsmensch hatte eigentlich gar kein so gefühlvolles Herz, aber er war noch ziemlich jung, und er konnte sich nicht helfen – der Menschheit ganzer Jammer packte ihn einmal an, und zwar dermaßen, daß er sich die Nase schneuzen mußte.

Und bei der Weltentsagerin kam nicht einmal die Religion in Betracht! Turandot war in dem Glauben des Vaters erzogen worden, und sie mochte auch einen frommen Kindesglauben bewahrt haben – aber sonst hatte diese Weltentsagung mit trocken Brot und aller Wäscheflickerei absolut nichts mit Frömmelei zu tun. Sie betete sich nicht die Knie wund, geißelte sich nicht, man sah nichts von Erbauungsschriften – nicht einmal mit dem sonst unumgänglichen Totenschädel war die Höhle dieser modernen büßenden Magdalene dekoriert.

Freilich hätte man auch vergebens darüber nachgegrübelt, wegen welcher Schuld denn diese kindliche Magdalene, genannt Kosak, hätte büßen sollen. Es war einfach die Erkenntnis, ihr in einer überirdischen Vision beigebracht, daß in dieser Welt alles, alles eitel sei! Man soll sich mit dem zum Leben Unumgänglichsten zufrieden geben, und wenn man wirklich damit zufrieden ist – das ist das höchste Glück, welches das Leben gewähren kann, und diese Zufriedenheit muß eine dauernde sein, weil man überhaupt nichts mehr verlieren oder beweinen kann.

»Und glauben Sie nicht, daß man seinen Mitmenschen eine nutzbringende Arbeit schuldig ist?« examinierte der Interviewer weiter.

Das Mädchen deutete hoheitsvoll auf die umgegrabenen Beete.

»Das ist meine Antwort auf Ihre Frage. Es gibt nichts Nützlicheres auf der Erde, als das, was man ißt, im Schweiße seines Angesichts selbst zu bauen. Das ist nützlicher, als Kanonen zu gießen oder Schokolade zu fabrizieren oder das Publikum mit Geschichten zu unterhalten. Führen Sie nicht an, daß man Besseres tun könnte, wenn man mehr gelernt hat. Das kann man alles noch nebenbei betreiben, und wenn mich diese Arbeit nicht mehr vollauf beschäftigt, so werde ich auch noch eine andere nützliche aufnehmen.«

Der gebildete Mann konnte vor solchen Ansichten der kleinen Philosophin nur den Hut ziehen. Zu bestreiten geht freilich mit Wort und Feder alles.

»Und Sie sind wirklich glücklich?«

»O, Sie ahnen nicht die beseligenden Gedanken, welche mich erfassen, wenn ich mich des Abends, ermüdet von harter Arbeit, dorthin auf die Erde lege! O, Sie können nicht wissen, wie reich ich mich fühle, dadurch, daß ich gar nichts mehr habe, gar nichts mehr brauche. – Ja, ich bin wahrhaft glücklich!«

Und doch, und doch, der Zeitungsmensch mußte sich wieder die Nase schneuzen, noch kräftiger als das erste mal, so gerührt war er.

Über die Mauer kamen Kotelettenknochen, abgenagte Hammelrippchen, Hühnerbeine und andere Delikatessen geflogen. Die während des Besuchs angeketteten Hunde heulten vor freudiger Erwartung. Dann nahm denselben Weg durch die Lüfte auch noch ein Paket – ehe es den Boden berührte, hatte es sich auch schon aus dem Papier gewickelt, und zwischen dem Hundefutter lag ein kleiner Brotlaib.

»Wenn dies der Mensch täglich hat, dann soll er zufrieden sein,« sagte die Prinzessin demutsvoll, hob das Brot auf, verwischte das daran hängengebliebene Hundefutter mit der Gartenerde zu einer Schmiere und legte es auf den Tisch. Das war ihr Futter ... pardon, ihre Speise.

Armes Kind! Zum dritten Mal wurde der Zeitungsschreiber von der Menschheit ganzem Jammer angefaßt, zum dritten Mal mußte er sich die Nase schneuzen, und diesmal pustete er dabei, um seiner Rührung Herr zu werden, wie ein den Fluten entsteigendes Nilpferd.

Ja, hierbei war aber ein Geheimnis – das heißt, nicht mit dem Naseschneuzen, sondern mit dem Brotlaib, mit der Speise der Weltentsagerin.

Die Prinzeß hätte bei einer Nahrung von täglich nur einem Pfund Brot jetzt schon ganz abgemagert sein müssen – und statt dessen blühte sie nicht nur wie eine Rose, sondern sie war in letzter Zeit merklich dicker geworden

»Sie kennen doch die Geschichte von Daniel in der Löwengrube,« entgegnete sie jetzt wie stets, wenn sie über dieses Wunder befragt wurde. »Die anderen Jünglinge magerten bei den köstlichen Gerichten ab, welche sie von der Hoftafel erhielten; Daniel dagegen gedieh bei der kärglichsten Kost. Sehen Sie, gerade so ist es auch bei mir. Es kommt eben nicht darauf an, was der Mensch ißt, sondern was für Gedanken er dabei hat. Die Menschen, welche glauben, sie müssen bei so wenig Brot verhungern, weil sie es in Büchern gelesen haben, die werden auch dabei verhungern. Ich aber denke anders – und ich werde dick und fett dabei.«

Hatte das die Prinzeß gelesen oder stammte diese Weisheit wirklich aus ihrem eigenen kleinen Köpfchen? Denn eine tiefe Weisheit steckte wirklich dahinter, welche das Gros der ›aufgeklärten‹ Menschen vergebens totzulachen sucht.

Es fehlte nicht an bösen Zungen, welche behaupteten, der Vater brächte der Tochter heimlich bessere Nahrungsmittel, hier wolle sich jemand nur mit dem Nimbus der Heiligkeit schmücken. Für solch eine Behauptung war auch schon einmal eine kräftige Ohrfeige gefallen. Und dann mußte dieser Verdacht bald wieder verschwinden. Der Vater nahm doch stets eine andere Person mit hinein zur Tochter, oftmals eine ihm ganz fremde. Dann machte der Fürst auch einmal einen Ausflug von mehreren Tagen. Wer versorgte denn da die Hungerkünstlerin mit anderer Nahrung? Die Umgebung der Mauern konnte nicht nur Tag und Nacht beobachtet werden, sondern es gab auch Menschen, welche dies wirklich taten, und deren unparteiisches Urteil ging dahin, daß der Einsiedlerin nichts zugesteckt würde.

Oder teilte die hoffähige Prinzessin vielleicht mit ihren Kötern das Futter? Nein, auf solch einen Verdacht kam nicht einmal der gemeinste Charakter, und überhaupt, wer auf der nackten Erde schläft, als Kopfkissen einen Stein, der gibt auch nicht nur vor, trocken Brot zu essen – die Prinzeß lebte wirklich nur von trocken Brot und Wasser.

Schließlich gab es ja auch für dieses körperliche Wohlbefinden bei solcher Kost eine Erklärung, ohne an ein Wunder glauben zu müssen. Jeder kann es an sich selbst probieren. Das zierliche Mädchen brauchte eben täglich nicht mehr als ein Pfund Brot. Das bekam ihr nach der bisherigen Lebensweise, die nicht schlecht gewesen war, sogar ganz ausgezeichnet. Dabei konnte sie noch ›dick und fett‹ werden. Einmal tritt dann freilich die Reaktion ein. Die Folgen dieser ungenügenden Nahrung würden sich schon noch bemerkbar machen. –

Lord Roger war es gewesen, der ihr oder dem Vater den Vorschlag gemacht hatte, sie solle für die Besuche doch Eintrittsgeld erheben, zehn Francs, hundert Francs, tausend Francs! Die Eintrittskarten wurden verauktioniert! Man war doch hier in Monte Carlo! Das Geld konnte sie dann zu mildtätigen Zwecken verwenden.

Nein, das sähe aus, als wenn sie bewundert werden wolle, und das wünschte sie durchaus nicht! Aber eine andere Absicht hatte sie, durch welche sie dasselbe erreichte, sogar in noch viel großartigerem Maßstab.

Eines Tages erschien sie zum ersten Mal wieder in der Außenwelt. Das schwarze Lockenköpfchen in frommer Betrachtung tief gesenkt, durchwandelte sie in ihrer sauberen, mit roter Borte eingefaßten Kutte die Straßen von Monte Carlo, jetzt trug sie auch keine Stiefel oder Schuhe mehr, sondern an den nackten Füßen elegante Badesandalen – denn einfachere waren hier nicht zu haben gewesen – zierlich mit roten Riemen befestigt, und das alles paßte so zusammen, und die unverschleierte Nonne war überhaupt eine so liebreizende Erscheinung, daß der erste Fremdenjüngling, der ihr begegnete, sofort wie ein Besessener nach Hause rannte und gleich zu dichten anfing.

Sie betrat das Bosamentiergeschäft und verlangte Wolle und Stricknadeln. Waren ihre Strümpfe durchgelaufen, das sie jetzt keine mehr trug?

Nein, diesen Luxus der Kultur verachtete sie, aber für andere wollte sie diese angenehmen Bekleidungsstücke verfertigen, in der Pension hatte sie Handarbeitsunterricht genossen, und überhaupt trat ihr Eremitenleben jetzt in ein ganz anderes Stadium ein. Sie hätte gar nicht mehr nötig gehabt, daß der Papa für sie Brot und Hundefutter bezahlte – ja, sie hätte ihm die 50.000 Francs zurückerstatten können, mit einer Hand.

Mit der Wolle und den Stricknadeln verschwand sie wieder hinter ihren Mauern, und bald war es bekannt: der Kosak strickt Strümpfe! Der Papa soll den Verkauf übernehmen. Der Erlös gehört den Armen und Kranken. Der Kosak strickt Strümpfe! Himmel, hast du keine Flinte!

Aber es war Tatsache! Und sie war überaus fleißig gewesen. Schon am nächsten Tage gingen aus der Einsiedelei ein paar Kinderstrümpfchen hervor – das heißt, es konnte auch etwas anderes sein. Es waren kleine Säckchen, oben mit einem Loch drin. Man behauptete aber, daß es Kinderstrümpfchen seien.

Der alte Fürst fühlte sich nicht als Auktionator berufen. Von den Herren, welche die Sache in die Hand genommen hatten, wurde ein Pariser Schokoladenfabrikant vorgeschoben, der größte der Welt, dessen bekannter Name hier aber nicht genannt werden soll, sehr reich, sehr gutmütig und sehr ... und im übrigen zu denen gehörend, derer das Himmelreich ist.

Der bewaffnete sich mit einem großen Fleischhammer; in einem Hotelgarten fand die Auktion statt.

Der Schokoladenonkel war auf einen Stuhl geklettert, er betrachtete die gestrickten Dinger und legte los:

»Ein paar Waschlappen, selbstge ...«

»Kinderstrümpfchen!« wurde er entrüstet unterbrochen.

Der Schokoladenonkel war nicht vollständig eingeweiht worden, er wußte nur, daß er diese Dinger hier verauktionieren sollte, er hatte sie für Waschlappen gehalten, und jetzt merkte er nur, daß er wieder einmal irgendeine Dummheit begangen hatte, er hatte aber auch nicht richtig verstanden, was man ihm zugerufen – und so setzte er bedächtig seinen Klemmer auf und betrachtete aufmerksam die Dinger.

Richtig, wie sich der Mensch doch irren kann, das waren doch ...

»Ein Paar Fausthandschuhe, selbstgestrickt von ...«

»Kinderstrümpfchen, Kinderstrümpfchen!« erklang es jubelnd im Chor.

Der Schokoladenonkel setzte nochmals den Klemmer auf und betrachtete nochmals kopfschüttelnd die Dinger von allen Seiten. Was sollte das sein? Na, wenn es alle sagten, dann mußten es wohl wirklich Strümpfe sein, und der Schokoladenonkel fügte sich.

»Ein Paar Kinderstrümpfchen, selbstgestrickt von der heiligen Prinzessin von La Bordina. Wer sie trägt, darf die Eremitin jeden Tag besuchen ...«

»Tausend Francs!« rief Lord Roger.

»Tausend Francs zum ersten ...«

»Zweitausend Francs!« erklang es, aber es war kein andrer als wiederum Lord Roger, der sich selbst überbot, und alles lachte.

»Zweitausend Francs zum ersten ...«

»Dreitausend Francs!« erscholl es von einer anderen Seite.

»Viertausend Francs!« überbot jetzt der Lord den anderen.

»Fünftausend Francs!«

Es ging noch weiter. Die Summe soll nicht genannt werden, für welche die Kinderstrümpfchen schließlich losgeschlagen wurden. Im Rahmen einer Erzählung würde es doch nicht geglaubt. Da muß es erfunden sein – und natürlich furchtbar übertrieben – so etwas glaubt doch kein Mensch!

Deshalb soll hier einmal außerhalb unserer Erzählung ein Geschichtchen berichtet werden, welches zeigt, wie es dort unten manchmal zugeht, was dort für ein Geist herrscht, und wer an der Wahrheit der Erzählung verzweifelt, der kann sich durch Nachfragen an Ort und Stelle leicht von der Wahrheit überzeugen.

Im Februar des Jahres 1901 lag Gordon Bennett, der bekannte Besitzer des ›New-York-Herald‹ mit seiner Dampfjacht im Hafen von Nizza. Solch eine Dampfjacht ist ein großes Ozeanschiff, 50 Mann Besatzung drauf.

Mr. Bennett ist ein schon älterer Herr, aber immer noch galant – er hat eine französische Schauspielerin zu sich an Bord eingeladen. Die beiden machen auf der Jacht eine Spazierfahrt, die Küste entlang, nach Monte Carlo zu.

Es war am Kap St. Boron, in der Nähe der Villa Smith, wo sich das Nachfolgende ereignete. Die Küste ist hier mit wildromantischen Felsen eingefaßt. Das mit Geröll bedeckte Ufer steigt sanft an, dicht am Meer ist eine Kirschenplantage, gleich dahinter die Landstraße.

Die beiden stehen an Deck und betrachten diese schöne Szenerie.

»Haben Sie schon einmal einen Schiffbruch erlitten, Mr. Bennett?« fällt es da der Dame bei Anblick der wilden Felsen, denen sie sehr nahe sind, zu fragen ein.

»Jawohl, meine Gnädige.«

»Ach,« flötet da die Schauspielerin, »ich möchte auch einmal einen Schiffbruch erleben.«

»Sofort, meine Gnädige.«

Und Gordon Bennett schiebt den Matrosen vom Steuerrad, dreht es um – ›Volldampf!‹ – und der große Dampfer schießt in voller Fahrt zwischen die Felsen, schusselt über das Geröll weg, kommt vollkommen aufs Trockene und kippt in der Kirschenplantage um. Das Vorderteil lag noch halb auf der Landstraße.

»Da haben Sie einen Schiffbruch, meine Gnädige,« sagte Gordon Bennett, der auf einem Kirschbaum saß.

Der Dampfer war natürlich wrack. Was sonst noch alles passiert war, das erfuhr man nicht, das wurde alles mit Geld vertuscht; aber das Wrack konnte nicht dort oben liegen bleiben, das mußte wieder ins Wasser geschafft werden, und das allein schon soll gegen 150.000 Francs gekostet haben, und das ist zu glauben. Alle in Nizza liegenden Dampfer spannten sich mit Stahltrossen vor, und als ihre Kraft noch nicht reichte, kamen aus Marseille noch vier Dampfer, und das kostet schweres Geld! Schließlich ist das alles nur Reklame, alles für die Zeitung, das kommt alles wieder ein, aber im Übrigen

Wenn man nun einen Romanhelden aus Galanterie zu seiner Angebeteten solch einen Streich ausführen lassen wollte, würde ein Leser glauben, daß so etwas in Wirklichkeit geschehen könne? Nein und abermals nein! Da ist die Phantasie des Romanciers durchgegangen. Und doch ist's passiert, Gordon Bennett hat es gemacht!

Eine wirkliche Unwahrscheinlichkeit aber wäre es, wenn man jetzt behaupten wollte, jene Schauspielerin wäre noch einmal mit Gordon Bennett spazieren gefahren.

 

Das Bieten auf die merkwürdigen Kinderstrümpfchen ging also weiter.

Lord Roger schien sie durchaus haben zu wollen, hatte aber einen schweren Stand gegen die Bella Cobra, eine Kokotte, deren Name schon erwähnt worden ist. Diese hatte nämlich am Arm einen neuen Liebhaber, einen blutjungen Menschen, einen amerikanischen Dandy, zwischen dessen Zähnen man beim Sprechen immer die eingesetzten Diamanten blitzen sah – damals die allerneuste Errungenschaft des amerikanischen Dandytums.

»George, ich muß die Kinderstrümpfchen haben, ich muß, sonst bin ich unglücklich,« schmachtete an seinem Arme die Kokotte, eine ehemalige Schlangendame, mit liebeverheißendem Blick, und der amerikanische Jüngling schien gewillt zu sein, sich wegen der Kinderstrümpfchen zu ruinieren.

Das mußte wohl auch auf alle Fälle geschehen, wenn er den Bitten der Sirene Gehör schenkte, und Lord Roger gab nicht nach, und mit Geld war der Besitzer des vierten Teiles von London nicht totzumachen.

»Hören Sie auf, mich zu überbieten, Mr. Kock, diese ersten Strümpfe müssen mir gehören, ich habe sie gerade sehr nötig, ich habe schon seit acht Jahren keine mehr an, ich lasse mich nicht überbieten – hören Sie lieber auf!« warnte er mit leiser Stimme, die fast drohend klang, und machte dann in seinem letzten Angebot gleich einen gewaltigen Sprung.

»George – und tausend – sage doch, mein George – und tausend Francs mehr!« flüsterte die schöne Schlange an seinem Arm mit heißem Atem.

»Und dann könnte ich vielleicht aufhören, vielleicht!« setzte Lord Roger lächelnd hinzu, aber mit seinen kalten Augen den Gegner ansehend.

Und unter diesem kalten Blicke ernüchterte sich der Yankee plötzlich, er kam zur Besinnung, und er tat wahrscheinlich das Beste, was er überhaupt hätte tun können – er riß sich nicht nur von dem Arme seiner Begleiterin los, sondern er nahm gleich ganz Reißaus, ging im Galopp davon, rannte um eine Ecke – und man sah ihn niemals wieder. Der nächste Zug hatte ihn für immer aus Monte Carlo entführt.

Wohl dem, der wenigstens noch im letzten Augenblick eine solche Kraft besitzt! Dann forderte dieses Höllenparadies manches Opfer weniger.

» ... zum dritten und zum letzten!« rief der Schokoladenonkel und ließ den hölzernen Fleischhammer dröhnend auf den Tisch fallen.

Die sehr, sehr kostbar gewordenen Kinderstrümpfchen wurden also dem Lord Roger zugesprochen, er nahm sie in Empfang.

War das eine sinnlose Geldverschwendung? Es handelte sich ja um einen wohltätigen Zweck. Da gibt es noch ganz andere Geldverschwendung.

»Gott sei Dank, nun habe ich endlich wieder Strümpfe anzuziehen,« sagte der Lord trocken, als er sein Scheckbuch hervorholte, und das Gelächter über diese Worte vermischte sich mit dem über den davon galoppierenden Jüngling, und nicht minder lachte man darüber, mit was für einem Gesicht die Kokotte dastand, wie vom Donner gerührt, und dann begriff sie, daß sie nicht nur träumte, daß ihr der Galan wirklich durchgebrannt war, auf solch eine unerhörte Weise, richtig durch die Lappen gegangen, sie war unsterblich blamiert, und nun machte sich die Wut der ehemaligen Schlangendame in Worten Luft - in Worten, welche schließlich hier nicht allzu selten sind - es bedarf nur einmal eines leichten Regenschauers, und die leichte Tünche ist abgewaschen.

Plötzlich verstummte Lachen und Schimpfen. Mit einem Mal gewahrte man den maskierten Kapitän, der mitten unter den Anwesenden stand. Infolge der durch die tolle Auktion erzeugten Spannung hatte man ihn übersehen.

»Wissen Sie schon, Herr Kapitän?« wandte sich Lord Roger sofort an ihn, durch den Verkauf der Mäander-Burg ja mit ihm bekannt geworden, und triumphierend hielt er die Strümpfchen in die Höhe. »Selbstgestrickt von der Prinzeß ...«

»Ich kam leider im letzten Augenblick, der Hammer war schon gefallen, sonst hätte auch ich mich an dieser Auktion beteiligt, und ich hatte bereits große Pläne mit dieser Seltenheit vor,« erklang es lachend hinter der Seidenmaske.

Der Lord blickte prüfend auf seine Stiefel hinab und dann an der hohen Gestalt des Kapitäns hinauf.

»Ich bemerke eben,« sagte er dann, »daß mir die Strümpfchen eine Nummer zu klein sein dürften, Ihnen paßten Sie eher. Darf ich Ihnen die Kleinigkeit als Präsent überreichen, Herr Kapitän?«

Ohne Zaudern wurde das Geschenk angenommen.

»Danke bestens, ich werde mich bei Gelegenheit revanchieren.«

Jetzt hatte der maskierten Mann die Kinderstrümpfchen in der Hand, und im Augenblick ging durch die Menge eine Ahnung, daß an diesem Kinderstrümpfchen der Fluch der Lächerlichkeit klebe, wenigstens jetzt hier unter dem Publikum; der Lord war ganz ersichtlich froh, daß er sie schnell wieder losgeworden war, denn schließlich hatten sie ja auch gar keinen Wert.

Was sollte denn nun der Kapitän mit den Kinderstrümpfchen anfangen? Nämlich jetzt hier auf der Stelle! So einfach in die Tasche stecken?

Mit Spannung sah alles nach ihm hin, wie er sich aus der Patsche helfen würde, und keiner hätte in seiner Haut stecken mögen. Die mit zartem Empfinden fühlten schon die fremde Schamesröte in den eigenen Wangen.

Es sollte ganz anders kommen, als jemand erwartet hatte.

»Danke bestens, Mylord,« wiederholte der Maskierte, »ich weiß ein solches Geschenk zu würdigen.«

Sprach's, riß den verbindenden Faden durch, befestigte das eine Strümpfchen an seiner Uhrkette, hatte eine Nadel in der Hand, trat plötzlich auf die Bella Cobra zu, steckte ohne weiteres und ohne ein Wort zu verlieren das andre Strümpfchen an ihrem Busen fest, lüftete artig den Hut und ging schnellen Schrittes davon.

Und sprachlos stand das Publikum da und staunte ihm nach. Worüber es staunte? Das läßt sich nicht mit Worten wiedergeben. Es staunte ein Genie an. Ganz gewiß, hier handelte es sich auch um eine Art von Genie, welches gleich kann, was selbst das Talent niemals lernt.

» God damn't,« ließ sich da ein alter Engländer vernehmen, »wenn der Prinz von Wales der erste Gentleman von der Welt ist, dann ist der Prinz von Monte Carlo der zweite!«

 

Aus der Einsiedelei kamen noch mehr Strümpfe hervor, auch andere als nur Kinderstrümpfchen, jeden Tag ein Paar, und dazu gehörte etwas, die kleine Eremitin war erstaunlich fleißig, sie mußte Tag und Nacht stricken, und die Strümpfe wurden immer länger und immer vollkommener, und jeden Tag wiederholte sich die Auktion.

Wenn man auch nicht mehr solch ungeheure Preise erzielte, wurden sie doch noch immer mit Summen bezahlt, die man sonst nicht für Strümpfe ausgibt, auch wenn sie von der kostbarsten Seide und mit Blumen gestickt sind, und man riß sich noch immer um sie – und die Herren hingen sich den erstandenen Strumpf an die Uhrkette, die Damen befestigten ihn sich an der Brust, und wer keinen Strumpf aufweisen konnte, den die heilige Prinzessin selbst gestrickt hatte, der galt nicht für fashionabel, und je länger der Strumpf, umso fashionabler war man, oder für desto origineller hielt man sich, und an den Uhrketten und an den Busen baumelten schon ellenlange Strümpfe.

Verrückt, nicht wahr?

Nun wollen wir einmal den Fall bei einem anderen Lichte betrachten.

Der Prinz von Wales hatte einmal seine Schlipsnadel falsch angesteckt – und ein halbes Jahr später hatte die ganze Männerwelt – nein, die ganze Herrenwelt die Nadel schief im Schlipse sitzen.

Der Prinz von Wales ließ sich seine Hosen oben eng und unten weit machen – und gehorsam trug die ganze Herrenwelt die Hosen oben eng und unten weit.

Der Prinz von Wales kommandierte: Hosen oben weit und unten eng! – Und die ganze Welt gehorchte.

Weiß man denn, daß in den englischen Clubs Wetten abgeschlossen werden, wie lange es dauert, bis auf der Berliner Friedrichstraße alles in dem hohen Stehkragen herumläuft, der in London diktiert wird?

Ja freilich, nach der darwinschen Theorie stammt der Mensch vom Affen.

O, es ist eine Schmach! Und der Deutsche, welcher bei seinem schlichten Umschlagekragen und seinem einfachen Krawattchen bleibt, nicht nur aus Bequemlichkeit, sondern aus einsichtsvollem Stolz, weil er dem englischen Pfiff nicht gehorchen will, der wird womöglich auch noch ausgelacht.

Und liest man die Zeitung, da wird gegen Engländer geschimpft und gewettert und gehöhnt, da wird von deutschem Stolze geschwärmt – und nun sieht man die Verfasser dieses Artikels – und da läuft dieser Kerl, der den patriotischen Deutschen herausstecken will, genau so wie ein lackierter Affe, gekleidet, wie es die Londoner Mode vorschreibt ... o, es ist eine Schmach!

Vorläufig aber ist es so. Der Prinz von Wales, der jetzige König von England, wird von seinem Volke ganz mit Recht › the first gentleman of the world‹ genannt, denn er schreibt die Mode vor, und bedingungslos gehorcht ihm die ganze Welt.

Jener alte Engländer hatte den Prinzen von Monte Carlo, wie der maskierte Kapitän nun einmal genannt wurde, als den zweiten tonangebenden Gentleman bezeichnet, und er hatte Recht.

Der Prinz von Monte Carlo hatte sich den Strumpf an die Uhrkette gehängt, den anderen dem Weibe an den Busen gesteckt, und wer das jetzt nicht mitmachte, der war in Monte Carlo nicht fashionable, nicht gesellschaftsfähig. –

Mit dem ›Kosak‹ war es für immer vorbei. Es war daraus eine heilige Prinzessin geworden. Es gab auch Leute genug, welche wirklich Grund hatten, sie als ihre Schutzpatronin zu verehren. Der Vater hatte viel zu tun, die einkommenden Gelder mit weiser Hand zu verteilen. Es gab aber auch Leute, welche keinen pekuniären Vorteil davon hatten, und welche dennoch zu ihr wie zu einer Heiligen aufblickten, trotz einer verschiedenen Religion.

Eine alte Frau, eine vornehme, war die erste gewesen, welche die heilige Prinzessin beim Rockzipfel erwischt und einen ehrfurchtsvollen Kuß darauf gedrückt hatte, und immer mehr wurde die echte Sackleinwand geküßt, verstohlen und offen, wenn die kleine Heilige sittsam mit gesenktem Köpfchen durch die Straßen nach dem Bosamentierladen pilgerte, und sie mußte die Ehrfurchtsbezeugungen dulden, sie konnte es ja beim besten Willen nicht verhindern, und außer beim Gange nach Wolle zeigte sie sich ja auch niemals in der Öffentlichkeit, sie wollte nicht bewundert werden.

So hatte sie auch immer nur eine kurze, ganz bestimmte Zeit, zu welcher man sie in ihrer Einsamkeit aufsuchen durfte. Da zeigte sie sich nach wie vor mit stiller Bescheidenheit, wie sie im Garten arbeitete, wo sie in der Nacht auf der nackten Erde schlief, sie zeigte das kleine Brot, mit dem sie ihr tägliches Leben fristete, und sie zeigte die klare Quelle, zu der sie sich zum Trinken niederbeugte, und auf dem Tische lag immer der Strickstrumpf.

»Alles, alles, ist eitel, nur in der Entsagung liegt das höchste Glück.« Und dabei blieb sie.

Das war nun ganz besonders etwas für die Damen! In der Hütte von La Bordina ward geseufzt und geschwärmt und bemitleidet und so manche schmerzliche Träne vergossen – nämlich von den weiblichen Besuchern, die in Scharen herbeiströmten. So jung, so schön, so reich – und hier in der Einsamkeit lebt sie bei trocken Brot und Wasser und schläft auf der nackten Erde, das Köpfchen, das auf seidenen Pfühlen zu ruhen gewohnt, auf einen harten Stein gebettet!

Armes, armes Kind! Ja, ja, sie hatte ganz recht – 's ist alles nischt!!

So stimmten die Damen immer wieder und immer mehr bei, und dabei seufzten sie sehnsuchtsvoll.

Und merkwürdig, gerade die Kokotten und die anderen zweifelhaften Damen, darunter solche von sehr hohem Range und in bester Lebensstellung, welche sich aber am wenigsten eines tugendsamen Lebenswandels befleißigten – gerade diese fühlten sich von der jungen Weltentsagerin am meisten angezogen, wie von einer geheimnisvollen, magnetischen Kraft.

In der Gesellschaft spotteten sie wohl darüber, machten schlechte Witze über die Einsiedlerin – und dennoch pilgerten sie immer wieder hinauf, um in der Hütte von La Bordina unter den ehrlichsten Tränen über die Nichtigkeit des Daseins zu jammern.

Das heißt, für den, der die Welt und die besonderen Verhältnisse kennt, ist das ganz und gar nicht merkwürdig. Es ist vielmehr selbstverständlich, daß sich gerade diese Damen am allermeisten von der weltentsagenden Prinzessin angezogen fühlten.

»Paßt auf,« flüsterten die sachverständigen Philosophen von Monte Carlo, »wir erleben noch etwas. Das wird noch interessant.«

Nun, wir werden später sehen, was daraus noch wurde – wir werden mit dem ehemaligen Kosaken und der jetzigen heiligen Prinzessin noch etwas ganz Seltsames erleben.


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