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31. Lohn und Strafe

Aber das Laub der Bäume erstarrte nicht, die sprudelnde Quelle verwandelte sich nicht in Eis, die Menschen wurden auch nicht zu Salzsäulen, wie es der Fakir im Traume gesehen, sondern Laub und Gräser bewegten sich noch und flüsterten; der Bach murmelte weiter, und in die Menschen kam wieder Leben.

Hatte der Fakir Recht, so mußte er in diesem Augenblicke viele hundert Meilen südlicher seinen Geist aushauchen – so wollte es das Verhängnis.

Morrison raffte sich zuerst auf. Er verließ den ohnmächtig am Boden liegenden Yankee und eilte zu Reihenfels; August folgte ihm unter Lamentationen. Reihenfels rang noch immer mit verzweiflungsvollem Gesicht die Hände; er mochte das Schreckliche nicht fassen.

»Tot, tot« schrie er dem Freunde entgegen. »Das furchtbare Verhängnis hat sich erfüllt.«

Auch Morrison blieb entsetzt stehen. So schlimm hatte er sich das Unheil, welches Bulwer mit seinem Schuß angerichtet, doch nicht gedacht. Ein Blick überzeugte ihn, was er zu erwarten hatte – aus dem Herzen, dem Sitze des Lebens, floß der Blutstrom unter der Hand hervor.

»O Gott, du kannst furchtbar streng sein!« murmelte er und bedeckte die Augen, aus denen Tränen hervorstürzten. Reihenfels war in seinem Schmerze solcher nicht fähig.

»Aber sie hat ja ein Hemd aus Stahl an, ließ sich August vernehmen, »da kann doch gar keine Kugel nich durchgehen.«

»Einer Spitzkugel aus dem Winchestergewehr hält kein Panzer stand,« entgegnete Morrison. »Baue nicht auf Hoffnungen, sondern überzeuge dich, sieh hin!«

August kniete nieder und nahm die Hand von der Brust der Leblosen, als wolle er sich wirklich überzeugen.

»Nanu, hat denn der verrückte Kerl zweimal geschossen?«

»Einmal, und der verhängnisvolle Schuß genügte.«

»Das ist aber komisch. Dadervon ist die Hand auch gleich mit getroffen worden. Das Blut kommt nämlicherweise aus der Hand, aber hier,« er wischte über die Herzgegend, »herjeh, hier ist Sie ja gar kein Loch nich drin!«

Ungläubig blickten ihn die beiden an. Sie wußten nicht, was August wollte.

»Nu hört sich aber doch die Gemütlichkeit auf!« fuhr dieser fort. »Die ist ja gar nicht tot, der ihr Puls schlägt ja so fidel wie ein Lämmerschwänzchen, und nu macht sie auch die Guckaugen auf. Was wollen Sie denn noch mehr?«

Bega hatte wirklich die Augen geöffnet, seufzte und wollte sich aufrichten. Da fiel ihr Blick auf den rothaarigen August; sie schrie erschrocken auf.

»Bega,« jauchzte Reihenfels auf und schloß die Erwachte in seine Arme, drückte sie an seine Brust und küßte sie auf Mund, Auge und Stirn.

Erst verwundert, dann mißtrauisch schaute sie sich um. Sie konnte noch nicht glauben, daß dies Wirklichkeit war.

»Wo bin ich?« flüsterte sie.

»Bei mir, bei deinem Oskar! O, Bega, nun ist alles wieder gut, nun sollst du nie wieder von mir getrennt werden. Ich schließe dich in meine Arme und nie, nie wieder lasse ich dich aus ihnen.«

»Für immer würde das wohl nicht gut gehen,« meinte August, wurde aber nicht gehört.

Bega lebte. Die Kugel hatte das Panzerhemd in der Herzgegend getroffen, war abgeglitten und hatte die linke Hand gestreift. Die Wunde hatte nichts zu bedeuten, so stark sie auch blutete; nur durch den heftigen Schlag war Bega bewußtlos geworden.

»Ist es wirklich wahr, ich bin bei dir, und du bleibst bei mir?« flüsterte sie, und immer mehr wich der Ausdruck des Schreckens dem der Glückseligkeit.

»Es ist wahr, du bist bei deinem Oskar, und nie wollen wir uns wieder trennen. Arme Bega, was hast du gelitten!«

Sie seufzte, erzitterte und wollte hastig aufstehen, Reihenfels aber hielt sie, noch immer vor ihr kniend, fest umschlungen.

»Ich muß fort.«

»Warum?«

»Wohin ich komme, bringe ich Unglück! Wer sich an mich bindet, den ziehe ich mit in die Tiefe.«

»Nein, nein, Bega, zu neuem Glück will ich dich führen.«

»Du weißt es nicht? Ich werde verfolgt.« »Von wem?«

»Von Rebellen, wie von Engländern.«

»Du irrst; man weiß, daß du nicht jene Begum von Dschansi bist, welche zu fürchten und schadlos zu machen man alle Ursache hat.«

»Man weiß es?«

»Alles, alles!«

»Aber trotzdem werde ich noch verfolgt.«

»Nur, um dich zurückzubringen, und ich nur bin es, der dich verfolgt.«

»Sirbhanga ...«

»Hat im Irrtum gehandelt, oder vielmehr Havelocks Befehl beruhte auf Irrtum. Er konnte noch nicht wissen, daß Canning dich, die falsche Begum von Dschansi, unter seinen Schutz genommen hat. Man weiß auch, daß du Eugenie, die Tochter Sir Carters bist.«

»O, Oskar, und man glaubt es?«

»Es ist schon bewiesen. Bega, ich bringe dir Verzeihung und Freiheit, ich bringe dir noch vielmehr. Gedenkst du noch jener Stunde, da du mir sagtest, daß du mich liebtest?«

»Wie kannst du so fragen!«

»Und du liebst mich noch immer?«

»Oskar!«

»Willst du mein Weib sein?«

Sie lehnte sich an seine Brust und verbarg ihr Gesicht. Ohne daß sie es gemerkt, war ihr von Morrison unterdessen die Hand verbunden worden.

Reihenfels wiederholte die Frage.

»Oskar, bedenke, wer ich bin!«

»Eugenie, Sir Carters Tochter! Willst du mein Weib sein? Schnell, jede Sekunde ist kostbar.«

»Kostbar? Warum? Was hängt davon ab? Noch werde ich von vielen für die Begum von Dschansi gehalten, noch steht mein Leben auf dem Spiele. Laß mich erst in Sicherheit sein.

Noch eine schwere Zeit steht mir bevor.«

»Eugenie, höre mich,« flehte Reihenfels eindringlich, »du kannst die jetzigen Verhältnisse noch nicht erfassen, weil sie so ganz andere geworden sind. Schon einmal bist du mir entflohen, als ich dir den Namen Begum von Dschansi für immer nehmen wollte – damals in Delhi, als du aus dem Fenster sprangst. Eugenie, ich kenne ein Mittel um dich sofort in Sicherheit zu bringen, kein Engländer kann dir dann noch etwas anhaben, und wenn du auch noch von England aus verfolgt würdest.«

»Und welches ist das?«

»Sei mein Weib – jetzt – sofort!«

»Jetzt? Sofort? Du spaßest, Oskar.«

»Wie könnte ich mit so etwas Spaß treiben! Noch könnten dir Unannehmlichkeiten in den Weg treten, wenn du englischen Offizieren begegnest, welche in dir die Begum von Dschansi erkennen und nicht wissen, daß man in Delhi jetzt anders über dich denkt. Indien ist groß, die Truppen sind zu zerstreut. Doch nach der Trauung bist du Missis Reihenfels, nicht mehr die Begum von Dschansi, du hast keine politische Bedeutung mehr.«

»Trauung? Missis Reihenfels?« wiederholte Bega – oder nennen wir sie jetzt Eugenie – träumend.

»Ja, alles ist dazu bereit,« frohlockte Reihenfels und zog sie zu sich empor, wieder in seine Arme.

»Oskar, es ist nicht möglich!« staunte sie, aber es war ein freudiges Erstaunen.

»Nichts ist unmöglich, Miß Carter,« sagte da Morrison. »Ich bin Missionar, amtlich befugt, in den Kolonien Ehen zu schließen, den Eheschein habe ich bei mir, Tinte und Feder ebenfalls, er kann ausgefüllt werden. Nichts steht im Wege.« »Oskar!« konnte sie nur rufen.

»Doch, eins ist noch erforderlich, ehe wir soweit sind,« lächelte Reihenfels.

Erschrocken blickte sie auf Morrison.

»Immer wieder etwas?«

»Dein Jawort. Gezwungen sollst du nicht vor den Traualtar treten, den ein Baumstumpf vertreten wird.«

»Hochzeit, jetzt wird Hochzeit gemacht!« schrie August, dem plötzlich klar wurde, um was es sich handelte, und gebärdete sich wie ein Besessener. »Wo steckt denn nun meine Brautjungfer?«

»Sie haben wirklich einen Trauschein bei sich?« fragte Reihenfels den Missionar. »Das geht einfacher, als ich erwartete.«

»Als ich Sie begleitete, nahm ich ihn mit, denn mir ahnte fast, daß es solch einen Abschluß geben würde, und meine Ahnung hat mich so wenig betrogen wie den Fakir seine Prophezeiung bis zum gewissen Punkte ...«

»Aber Trauzeugen fehlen ...«

»Bitte mich als solchen zu nehmen,« sagte August mit einer Verbeugung. »Weiße Handschuhe habe ich freilich nicht, die könnte ich aber vielleicht durch meine Strümpfe ersetzen. Und sehen Sie, Mister Bulver geruht sich zu erheben, das ist die fehlende Trauzeugin. Wir hängen ihm ein Bettuch um, was freilich nicht vorhanden ist, reißen ihm den Kotelettenbart aus, und das Mädchen ist fertig. Aber das sage ich gleich, heiraten tue ich meine Brautjungfer nicht, denn die ist imstande, mir die Kehle durchzuschneiden und aufzuschreiben, was für Grimassen ihr Mann beim Sterben schneidet. Pfui Deibel!«

»Wir haben dies alles nicht nötig,« wandte sich Morrison lächelnd an Reihenfels, »ehe ich von Delhi fortging, unterschrieben sich schon, wie ausgemacht, Lord Canning und Miß Atkins als Trauzeugen. Müßten sie eigentlich auch dabeisein, und ist es auch nicht ganz in der Ordnung, sich schon im voraus zu unterzeichnen, so kennt doch Not kein Gebot. Wir sind in Indien, das Land ist im Kriegszustande, und was wir tun, können wir verantworten – ich als Missionar, Lord Canning wird wohl nicht zur Verantwortung gezogen werden, ebensowenig Miß Atkins. Mister Reihenfels, Miß Carter, Baroneß von Nottingham, bereiten Sie sich vor.«

Es legte ihm jemand die Hand auf die Schulter – der Amerikaner, der sein Notizbuch in der Hand hielt. Sein Gesicht war so gleichgültig wie sonst, kein Zorn, keine Erregung darin zu lesen.

»Goddam. Sir, Sie haben mich geschlagen uie einen Ochsen zu Boden.«

»Ich bin gern bereit, dasselbe nochmals zu tun.«

»Sie seien grob. Ick fordere Genugtuung.«

»Ich verweigere sie Ihnen.«

»Sie sein kein Gentleman.«

»Ich bin Engländer, ich verwerfe das Duell als eine Albernheit.«

»Uir uerden losen, uer von uns beiden sich uird schießen tot.«

»Halt, stop,« mischte sich August ein, »erst lassen Sie die Hochzeit vorübersein, dann dürfen Sie sich totschießen das heißt, nur Sie, Mister Pulver.«

»Hochzeit, he? Der Kerl ist verrückt. Uo ist die Ueib, die Begum von Dschansi? Ick habe sie geschossen tot, und ick uill sie sehen sterben. Ick habe noch nie gesehen sterben ein Ueib.«

»Dort steht sie.«

»Uah,« brachte nur der Amerikaner hervor, als er die beiden liebevoll umschlungen stehen sah, was er vorher noch nicht bemerkt hatte.

»Uah,« äffte ihm August nach, »das sein die Braut von Mister Reihenfels und uird ihn direktemang auf der Stelle heiraten. Paßt Ihnen das nicht, dann heben Sie sich gefälligst von hinnen.«

Der Amerikaner staunte doch, als ihm Morrison jetzt die nötige Aufklärung gemacht. »Goddam, ick denke, Mister Reihenfels uill die Begum schießen tot, und er uill sie nur heiraten. Goddam, das ist serr schade!«

»Was ist schade?«

»Daß ick kann sie nicht sehen sterben, ick hätte sie so serr gern gesehen sterben. Ick habe mich so gefreut darauf, die Begum zu schießen tot.«

»Wußtest du denn nicht, August,« fragte Morrison diesen, »mit welchen Absichten Mister Bulwer umging?«

»I Gott bewahre! Ich denke, er will nur Rebellen oder Wild jagen. Hätte ich dadervon etwas geahnt, daß er auf die Begum lauert, da hätte ich ihm doch das Gewehr weggenommen oder die Patronen gelegentlich im Wasser aufgeweicht.«

»Das ist mir serr, serr fatal!« sagte der Amerikaner und steckte niedergeschlagen das Notizbuch ein.

»Sie bereuen also, auf das Mädchen geschossen zu haben? Das freut mich wenigstens.«

»O no, ick hätte sie zu gern sterben sehen.«

Reihenfels und Eugenie hatten von dieser Unterhaltung nichts vernommen. In träumender Seligkeit lagen sie einander in den Armen, blickten sich ins Auge, und ihre Lippen suchten und fanden sich. Ein Himmel voll Glück eröffnete sich ihnen, Eugenie sah ihn offen, auch wenn Reihenfels ihr nicht zugeflüstert hätte, daß sie nun nichts mehr zu befürchten habe.

Was konnte ihr geschehen, wenn sie an seiner Seite war! Und was auch geschehen wäre, sie hätte keinen Schmerz, kein Unglück gefühlt, wenn sie es mit ihm teilte! Morrison störte und trennte sie, um sie nur fester zu verbinden.

Sie fanden einen Baumstumpf, der den Altar vertreten sollte. Es waren keine Trauzeugen nötig, Bulwer und August folgten aber dem Priester und dem vorausschreitenden Paare, das hier unter freiem Himmel vorschriftsmäßig zum heiligen Bunde vereint werden sollte.

Es wurde schon einmal erwähnt, daß in England zwischen der Trauung in der Kirche und der auf dem Standesamt fast gar kein Unterschied ist. Beides sind feierliche Handlungen, hier wie da dieselben langen Formeln, welche nachgesprochen werden müssen – auf dem Standesamt fällt nur die Predigt fort, aber die Trauung selbst vollzieht ebenfalls ein Priester.

Mit den Worten: Put the ring on her finger – steck den Ring an ihren Finger – ist die Handlung beendet, sie sind Mann und Frau. Der Ring kann ein ganz beliebiger sein, nur der Mann steckt der Braut einen solchen an den Goldfinger der linken Hand, wo sie ihn immer trägt.

Hand in Hand traten sie vor den natürlichen Altar. Morrison hielt keine einleitende Predigt. Was diese beiden durchgemacht hatten, war nicht in Worte zu kleiden, sie brauchten auch keine Belehrung darüber, was die Ehe zu bedeuten hatte.

Nachdem Morrison gefragt hatte, ob sie beide Mann und Frau werden wollten, was sie nicht mit Ja, sondern mit I will – ich will – beantworteten, sprach er erst Reihenfels, dann Eugenie die Formeln vor, welche Satz für Satz wiederholt werden mußten.

Reihenfels versprach, seiner Frau stets Liebe und Treue zu wahren, sie nie zu verleugnen und nie zu sagen, daß er unverheiratet sei.

Eugenie versprach dasselbe in bezug auf Reihenfels und fügte noch hinzu, daß sie ihm gehorsam sein wolle.

»So steck den Ring an ihren Finger!« schloß Morrison.

Reihenfels zog den einzigen Ring, den er trug, einen Siegelring, ab und steckte ihn Eugenie an. Hiermit waren sie rechtlich Mann und Frau; den vom amtlich angestellten Missionar zusammengefügten Ehebund mußte jeder respektieren.

»So steck den Ring an ihren Finger!« hatte Morrison gesagt, und gleichzeitig erscholl ein wildes, dämonisches Lachen.

Niemand von den fünfen hatte bemerkt, daß noch ein Beobachter zugegen war. Hinter einem Busch blickte das Gesicht eines Weibes hervor, ein Gesicht, entstellt von furchtbaren Schmerzen und grenzenlosem Haß. Sie hatte Zähne und Lippen fest zusammengepreßt, als ob sie dadurch verhindern wolle, vor Schmerz laut aufzuschreien, aber ihre Augen leuchteten vor Haß. Eben hatte sie noch wie im Fieber gebebt, jetzt, als sie nach den letzten Worten des Priesters so grell auflachte, hob sie einen Revolver, und plötzlich zitterte die Hand nicht mehr.

»Und dies ist mein Glückwunsch zur Vermählung!« schrie sie gellend und schoß den auf die junge Frau gerichteten Revolver ab.

Die Kugel hätte den Kopf Eugenies wohl nicht verfehlt, wenn nicht im gleichen Moment die bewaffnete Hand hochgeschlagen worden wäre. Sie wurde mit festem Griff gepackt, der Revolver der Hand entwunden.

»Dachte ich mir doch, daß wieder eine Teufelei dahintersteckte!« rief drohend der Mann, der das versteckte Weib lange beobachtet und ihre Schandtat zur rechten Zeit vereitelt hatte.

Es war Dick Red, der durch den Schuß des Amerikaners herbeigerufen wurde. Wohl wunderte er sich darüber, was für Veranstaltungen dort zwischen Reihenfels und dem endlich gefundenen Mädchen getroffen wurden – für ihn ganz rätselhaft – aber sein scharfer Blick bemerkte auch das von Wut verzerrte Gesicht hinter dem Busch, und die Besitzerin desselben durfte er vor allen Dingen nicht aus dem Auge lassen.

Unbemerkt schlich er sich ihr näher, und wie gut war das gewesen! Sonst hielte Reihenfels die Braut – oder vielmehr die junge Frau – jetzt tot in seinen Armen.

Niemand anderes aber war jenes Weib als die während der Flucht von den Ihrigen abgeschnittene Isabel.

Sonderbar, wie sie sich verhielt! Nur einen Blick voll unsäglicher Wut warf sie auf den kleinen Roten, einen anderen voll Haß auf das herbeieilende Paar, dann öffnete sie den Mund, aber nicht, um Flüche und Verwünschungen auszustoßen, sondern um in ein gellendes Schmerzgeschrei auszubrechen.

Gleichzeitig wälzte sie sich wie in Krämpfen am Boden; ihre Glieder zuckten, vor dem Munde stand Schaum.

Den Umstehenden sträubten sich die Haare vor Entsetzen. Noch nie hatten sie einen Menschen sich so schrecklich gebärden sehen. Ein innerer Schmerz mußte ihr alles durchwühlen. Niemand wußte, was ihr fehlte, was ihr solche Schmerzen verursache, niemand kannte das magere, entstellte, mit Lumpen bedeckte Weib – mit Ausnahme Eugenies.

»Oskar, kennst du sie?« flüsterte sie, die Unglückliche mit erschrockenen Augen anstarrend.

Dieser schüttelte den Kopf.

Es ist Isabel, meiner Mutter Schwester – die Duchesse!«

Reihenfels prallte einen Schritt zurück. Das also war das Ende der Herrlichkeit, wahrscheinlich das Ende des prachtliebenden, stolzen, ehrsüchtigen Weibes selbst, dies die Folge ihrer Intrigen.

»Um Gottes willen,« sagte er erschüttert, »was ist hier geschehen? Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen soll!«

»Vor fünf Sekunden hatte sie noch die ruhigste Hand,« erwiderte Dick. »Wäre ich nicht gekommen, sie hätte wie ein Kunstschütze dem Mädchen da den Kopf mit der Kugel zerschmettert, und nun ist sie mit einem Male nur noch ein Häufchen Unglück. He, Frau, wo tut's Euch denn weh?«

Er bückte sich und faßte sie so zart wie möglich an, aber sie entwand sich seinen Händen unter konvulsivischen Zuckungen, als bereite ihr jede Berührung nur noch furchtbarere Schmerzen. Ihr Geschrei war entsetzlich.

»Serr gut!« sagte der Amerikaner dagegen vergnügt, zog sein Buch hervor und begann Notizen zu machen. »Hier muß geholfen werden!« meinte Morrison. »Wir können sie nicht hilflos sterben lassen. Dick, wir wollen sie erst einmal zur Ruhe zwingen!«

Vergebliche Mühe – man durfte sie nicht anfassen; Isabel schrie wie eine Wahnsinnige auf und kratzte und biß wie ein wildes Tier um sich, allerdings unabsichtlich.

Ihr Ärmel war bei den heftigen Bewegungen von oben bis unten aufgerissen, ein magerer, fast fleischloser Arm kam zum Vorschein, am Gelenk eine hohe, rote Geschwulst zeigend, die wie aus lauter einzelnen Punkten zusammengesetzt war.

»Das ist die Ursache ihrer Schmerzen!« rief Morrison. »Was ist das? Ein Krebsgeschwür?«

Reihenfels schlug sich plötzlich vor die Stirn.

»Ich weiß. Sie hat sich Morphium eingespritzt. Es ist eine Morphiumsüchtige.«

Das Wort mußte Isabel ans Ohr gedrungen sein; in ihr Schreien mischten sich verständliche Silben.

»Morphium – gebt mir Morphium – oder tötet mich!« heulte sie und fuhr fort, um Morphium zu flehen oder sich von der Hand der Umstehenden den Tod zu erbitten.

»Wir kommen zu spät, hier ist keine Rettung mehr möglich, es sei denn, es führe jemand Morphium bei sich.«

Reihenfels sah sich vergebens im Kreise um; wer hätte auch dieses höllische Mittel, das nur in der Hand des erfahrenen Arztes zur segenbringenden Arznei wird, bei sich getragen? Aus Isabels Reden, so irrsinnig sie auch klangen, vernahm man noch mehr.

Sie hatte ihren Vorrat von Morphium, den sie mehr als ihr Leben gehütet, vor zwei Tagen auf der Flucht verloren. Schon seit gestern litt sie an Anfällen, die dadurch entstehen, daß dem einmal an das Gift gewöhnten Körper solches nicht mehr zugeführt wird; immer häufiger wurden die Anfälle, immer furchtbarer die Schmerzen – sie wollte sterben, und sie konnte noch nicht, wimmernd flehte sie das Mitleid der Umstehenden an, ihr den Tod zu geben.

»Dies wird ihr letztes Leiden sein,« sagte Reihenfels erschüttert. »Ich kenne das Ende der Morphiumsüchtigen.«

Isabel raste, sie sah Visionen.

»Dort – dort steht er – Dollamore – er hat es mir prophezeit – das ist seine Rache – verflucht sei er!« keuchte sie. »Tötet mich – tötet mich!« jammerte sie dann wieder. »Eine Kugel durch den Kopf – um Christi Barmherzigkeit willen – eine Kugel –«

Dick hob den Revolver, aber energisch wehrte Mister Bulwer, der mit begierigen Blicken die Zuckungen des Weibes beobachtete, ihn ab.

»Nix schießen,« sagte er drohend, »serr gut das! Ick habe noch nie eine Ueib so sehen sterben. Ick uerde es beschreiben im New-Yorker ›Herald‹.«

»Zum Teufel,« rief Dick, »man erschießt jeden Hund und jedes Pferd, das man leiden sieht, da will ich auch an der keine Kugel sparen, wenn sie auch keinen Schuß Pulver wert ist!«

Aber Morrison fiel ihm in den Arm.

»Haltet ein, Dick, bedenkt, was Ihr tun wollt. Ihr dürft keinen Menschen töten, das ist Gottes Gebot!«

»Nanu! Auch nicht, wenn er sich so in Schmerzen krümmt?«

»Auch dann nicht! Ja, nicht einmal die Waffe dürft Ihr ihm in die Hand geben, wenn er sie zum Selbstmord begehrt.«

»Das ist eine verdammte Grausamkeit! Ist dies wirklich wahr, Mister Reihenfels?«

»Auch ich denke so,« sagte dieser ernsthaft. »Dann spare ich den Schuß! Aber diesem schuftigen Amerikaner möchte ich am liebsten eins aufbrennen, daß er so gleichgültig danebensitzt und alles aufschreibt.«

»Laß ihn gewähren. Wenn seine Beschäftigung auch nicht unsere Achtung verdient, so ist sie doch nicht unnütz. Mister Bulwer wird berichten, wie eine Morphiumsüchtige stirbt, wenn sie nicht mehr in den Besitz von Morphium gelangen kann, und denen, die diesem Laster frönen, wird ein furchtbares Exempel statuiert. Laß ihn nur jede Zuckung und jeden Seufzer notieren – wir können nicht helfen.«

»Es ist zu furchtbar!« hauchte Eugenie.

»Komm fort von dieser Unglücksstelle, mein Lieb!« sagte Reihenfels zärtlich zu ihr, sie umschlingend und beiseite führend. »Beginnt unser Gang durchs gemeinsame Leben auch nicht mit Scherz und Tanz, wie es sonst bei Hochzeiten üblich ist, sondern mit einem entsetzlichen Schauspiel, so wollen wir dies doch nicht als schlimme Vorbedeutung auffassen.«

»Im Gegenteil, es ist ein Fingerzeig des Himmels Das Gute siegt, das Böse geht zugrunde! ruft uns eine allmächtige Stimme vernehmlich zu, wir wollen es beherzigen – und Gott für seine Güte danken!«

Sie ruhten Brust an Brust und sprachen von einer herrlichen Zukunft. Was hätte es geholfen, wenn sie neben der Sterbenden standen? So hatte es kommen müssen, denn alles Böse rächt sich schon hier auf Erden. Die, welche ihr Unglück gewollt hatte, trat jetzt einen weiten Weg an, der sie vor den ewigen Richter brachte.

Morrison störte die beiden zuerst.

»Es ist vollbracht!« sagte er. »Sie hat ausgelitten. Mit einem Fluche schied sie von dieser Welt – er galt Nana Sahib, ihrem Manne. August und Dick sind schon dabei, ihr die letzte Ruhestätte zu bereiten.«

Als dies geschehen war, wurde die Tote in das einfache Loch gelegt, so, wie sie war, denn was konnte man hier für sie anderes tun, und die Erde wurde mit den Händen über die Entseelte geworfen, deren ganzes Leben auf die Befriedigung ihrer Herrschsucht, ihres Hasses und ihrer Rache gerichtet gewesen. Ein kurzes, stummes Gebet, dann war die Feierlichkeit beendet; ein aus zwei Ästen zusammengebundenes Kreuz bezeichnete die Stelle, wo Isabel, die Tochter des Generals Bettinson, Ayda, die Gemahlin des allmächtigen Maharadschas Nana Sahib, den ewigen Schlaf schlief.

Jetzt erst schenkte Dick dem wiedergefundenen Mädchen seine Aufmerksamkeit und war nicht wenig erstaunt, sie so zärtlich von Reihenfels behandelt zu sehen, und nun gar erst, als er erfuhr, daß die beiden vor wenigen Minuten getraut worden waren.

»Potztausend, Ihr habt's aber eilig gehabt. Na, wenn:s Euch nicht geniert, mich geniert's nicht. Da war's nur gut, daß ich noch rechtzeitig dazukam, ehe Euch die alte Hexe ihren Glückwunsch brachte.«

Pferdegetrappel erscholl; eine Schwadron Reiter erschien, stutzte beim Anblick der bewaffneten Männer und kam dann vorgesprengt. Es waren Engländer, und an ihrer Spitze ritten Mac Sulivan und Russell. Sie hatten die Freunde erkannt und umringten sie.

»Wir kommen von Delhi,« erzählte Russell, »um die zerstreuten Truppen zusammenzuholen. Hier gibt's doch nicht mehr viel zu tun; aber in Gwalior ist der Aufstand von neuem ausgebrochen, Radscha Skindiah hat sich von seinen Leuten täuschen lassen. An der Spitze steht die Begum von Dschansi, sie verbreitete überall Schrecken. Ja, wenn erst die einmal ins Gras gebissen hätte! Alle Teufel, was ist das?«

Die letzten Worte bezogen sich auf Eugenie. Er hatte erst jetzt die sich hinter den anderen haltende Eugenie bemerkt, und alte Erinnerungen wurden in ihm wach.

»Die Begum von Dschansi!« schrie er dann, den Degen ziehend, und wie elektrisiert griffen alle Reiter nach den Waffen.

»Wo?« fragte Reihenfels gleichmütig.

Fassungslos starrte Russell ihn an.

»Wenn das nicht die Begum ist, welche mich einst überwältigte und mich wie ein kleines Kind auszog, so will ich hängen.«

»Hängen Sie sich lieber nicht auf! Das ist Missis Reihenfels, meine Gattin.« »Mister Reihenfels, wenn ich Sie nicht so genau kennte, ich würde Sie – – seit wann sind Sie denn verheiratet?«

»Seit meiner Hochzeit. Glauben Sie mir nicht? Sehen Sie, hier ist mein Trauschein.«

Sulivan und Russell blickten in das ihnen unter die Nase gehaltene Dokument. Reihenfels benahm sich so sonderbar, er war so gut aufgelegt.

»Lord Canning und Miß Atkins als Trauzeugen – wahrhaftig. Was aber in aller Welt machen Sie denn hier?«

»Ich bin auf der Hochzeitsreise.«

»Hier zwischen den Rebellen, in den Bergen?«

»Die Luft ist in den Bergen sehr gesund.«

Die beiden Offiziere wußten, daß Reihenfels nur Scherz trieb, aber der Trauschein – dann wieder das Mädchen, oder vielmehr die junge Frau im Panzerhemd. Sie war ohne Zweifel die Begum.

Plötzlich stieß Russell einen Schrei der Überraschung aus und deutete auf eine Stelle im Trauschein.

»Eugenie Carter – nun weiß ich alles.«

»Sie ist es, welche Lord Canning suchen läßt, freilich nicht hier,« fügte Sulivan hinzu.

»Das wird sie wohl sein,« sagte Reihenfels, »früher hieß meine Frau Eugenie Carter, Baroneß von Nottingham.«

Mit offenem Munde staunten die beiden Offiziere Eugenie an. Es war in Delhi schon ziemlich alles bekannt. Das war das geraubte Kind Sir Carters, das Weib, welches die Rolle der Begum von Dschansi gespielt hatte, jedoch nicht zu verwechseln war mit jenem Weibe, welches im Innern Indiens noch immer wie ein Löwe kämpfte, und dessen Person noch immer vom Dunkel umhüllt war.

»Goddam!« brachte Russell hervor, »und Sie sind doch jenes Weib – jene Dame, wollte ich sagen, welche mich damals im Lager überwältigte?«

»Ich war es,« lächelte Eugenie.

»Und die mich auszog. Es war verdammt hart für mich.«

»Ich will's nicht wieder tun.«

»Das wollen wir hoffen,« lachte Reihenfels. »Glauben Sie denn nun, daß dies Eugenie Carter und meine Frau ist?«

»Ja, nun glauben wir's, und wir bringen unseren Glückwunsch dar, zugleich unser Hochzeitsgeschenk. Wissen Sie was?«

»Nun?«

»Eine frohe Nachricht, Wir bringen wirklich etwas.«

»Und das wäre?«

»Wir bringen Ihnen zum Hochzeitsgeschenk, Missis Reihenfels, Ihre Eltern. Sir und Lady Carter sind von den Toten auferstanden, befinden sich gesund und wohl aufgehoben in Delhi und hoffen nur auf Nachricht von ihrer wiedergefundenen aber sich versteckt haltenden Tochter.«

Mit einem Jubelruf warf sich Eugenie dem Geliebten an die Brust, ihr Glück war jetzt vollständig.


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