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Der Besuch sollte auch nicht ausbleiben. Mit klopfendem Herzen saß Westerly da und betrachtete den langsam vorrückenden Zeiger seiner Taschenuhr. Je mehr sich derselbe der Zwölf näherte, desto mehr schlug sein Herz, desto furchtsamer stierten seine Augen.
Heute dachte er nicht mehr an den Revolver, der hinter ihm auf dem Nachttisch lag.
Jetzt stand der Zeiger auf der Zwölf, und gleichzeitig erscholl hinter Westerly ein leiser Seufzer.
Obgleich dieser darauf gewartet hatte, fuhr er doch tödlich erschrocken herum und befand sich wieder dem bleichen Geiste gegenüber, entweder dem Schatten seines Bruders oder diesem selbst, der nur zur bestimmten Stunde aus dem Scheintod erwachte und sein Grab verlassen durfte.
Wie war er hinter Westerly gekommen? Er mußte die anderen Zimmer passiert haben, oder aber, was Westerly jetzt wahrscheinlicher fand, er war plötzlich erschienen. Er stand mit gekreuzten Armen vor dem Revolver.
»Hast du den Dolch?« fragte die röchelnde Stimme.
»Nein, noch nicht,« stammelte Westerly.
»Weißt du wo er ist?«
»Ja.«
»So wirst du ihn dir verschaffen?«
»Ja, ich will es.«
»Gut, so habe ich noch andere Fragen an dich zu richten. Beantworte sie mir gleich wahrheitsgetreu, denn ich werde so lange zu dir kommen, bis ich alles weiß, was ich wissen will. In der Nähe des schwarzen Sees steht ein Bungalow, dort wohnte unsere Mutter. Ich war dort, ich wollte sie sprechen, sie fragen, aber da erfuhr ich, daß auch sie ermordet worden wäre. Kannst du mir sagen, von wem, damit ich ihn einst anklage?«
Wieder drohten Westerly die Sinne zu schwinden, neues Zittern befiel ihn. Vergebens versuchte er mit Anstrengung die Augen von dem schrecklichen Ankläger zu wenden – er vermochte es nicht; wie ein Magnet zog derselbe seine Blicke auf sich.
»Die Begum von Dschansi,« brachte er endlich hervor.
»Wer?«
Nicht diese Gestalt hatte dieses Wort gesagt, die Stimme kam aus einer anderen Richtung, und als Westerly seinen Blick dorthin richtete, sank er laut stöhnend in die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen.
Dort, in der Mitte des Zimmers, stand eine andere Gestalt, ebenfalls in weite, indische Gewänder gekleidet, wie die Frauen sie zu tragen pflegen, der Hals zeigte rote Flecke, wie von würgenden Fingern herrührend.
»Wer?« wiederholte diese neue Gestalt.
»Meine Mutter!« ächzte Westerly, ohne aufzublicken.
»Wer hat mich getötet, erwürgt?« erklang es zum dritten Male leise.
»O Gott, o Gott, mache ein Ende!« wimmerte der Gequälte.
»Glaubst du nun an einen Gott?« fuhr die alte Indierin fort. »Zu spät, er wird dich nicht mehr hören. Hier steht dein Bruder, den du ermorden wolltest, und du glaubst auch, es getan zu haben, ohne besondere Reue über deine Tat zu empfinden. Gestehst du es ein?«
»Ja,« stöhnte Westerly, seiner Stimme kaum mehr mächtig.
»Gestehst du auch, mich erwürgt zu haben?«
»Ich kannte dich nicht.«
»Nein, du kanntest allerdings deine Mutter nicht, der du das Witwenscherflein versagtest, aber du begingst einen Mord an einem Menschen, und es war die Mutter, die des Sohnes Hände würgten.«
»Habe Erbarmen,« wimmerte Westerly, »ich will alles tausendfach gutmachen.«
»Was willst du gutmachen, Tor?«
»Ich will dir tausendfach geben, was ich dir verweigert habe.« »Zu spät, ich brauche deine Gabe nicht mehr. Ich bin an einem Ort, wo man die Schätze der Erde verachtet, und noch mehr sind dort, die dich anklagen – hier bringe ich einen.
Blicke auf, ich befehle es dir!«
Westerly hob den Kopf, senkte ihn aber schaudernd schnell wieder. Sollte dieses Gericht denn ewig dauern? Neben seiner Mutter stand plötzlich eine dritte Gestalt – die schwarze Maske.
»Erkennst du diesen?« fragte die Mutter.
»Ja, ja, ich kenne ihn,« jammerte er.
»Gestehst du, auch ihn mit dem Dolche getötet zu haben, welchen du meinem Sohne in den Nacken stießest?«
»Nein, das leugne ich – das tat ich nicht.«
»Du tatest es nicht?«
»Nein. Gott ist mein Zeuge, daß ich an seinem Blute unschuldig bin.«
»Rufe Gott nicht zum Zeugen an. Wer tat es sonst?«
»Aleen, mein Diener.«
»Ja, aber du gossest erst Gift in sein Herz, daß er es tun mußte. Er fürchtete, von dir darauf aufmerksam gemacht, daß Lacoste ein Geheimnis von ihm wüßte, und deshalb ermordete er ihn. Ist es nicht so?«
Westerly sah, daß ihm sein Leugnen nichts half.
»Es ist alles so,« gestand er.
»Du hetztest Aleen nur darum gegen ihn auf, um dich seiner zu entledigen. Du fürchtetest ihn, weil er von deinem Hochverrat, den Sir Carter für dich büßte, und von deiner Verbindung mit Monsieur Francoeur wußte. Tatest du nicht also?«
Westerly gestand, daß die Ermordung Lacostes auf sein Geheiß geschehen sei, daß ihn von Aleen habe ins Wasser werfen lassen, und daß dieser selbst eigentlich in diesem Falle ganz unschuldig wäre.
Eine lange Pause trat ein. Zitternd lag Westerly auf den Knien, er hatte nicht einmal mehr den Mut, sich den Tod zu wünschen; denn dann kam er im Schattenreiche mit jenen Gestalten in noch engere Berührung.
Ach, wenn doch erst die Nacht vorüber wäre, wenn erst die Morgensonne schiene! Aber wohin sollte er denn fliehen, wo sich vor den Schreckgespenstern verbergen? Unverwandt blickten drei Augenpaare auf ihn, er konnte es nicht länger ertragen, mit aller Anstrengung verbarg er das Gesicht in den Händen.
»Blicke auf!« befahl es da aber schon wieder streng, und als er gehorchte, sah er mit Schaudern neben den drei Gestalten eine vierte ganz dicht vor sich stehen, jung und schön und aus den Augen sprühte dämonische Leidenschaft.
»Phöbe!« schrie er da plötzlich.
Wie ein Blitz zuckte ihm der Gedanke durch den Kopf, daß er nichts weiter als das Spielzeug von Betrügern, die die Rolle von Geistern spielten, sei, er wollte aufspringen, nach dem Nachttische zum Revolver eilen, doch das Weib schwang drohend in der Hand den vergifteten Dolch.
Bei dessen Anblick wagte Westerly nicht mehr, eine selbständige Bewegung zu machen.
Er hatte die furchtbare Wirkung schon an anderen beobachtet.
»Ja, ich bin's, Phöbe Dubois,« kam es wie pfeifend, von maßlosem Haß erfüllt, über die Lippen des Weibes, »gut, daß du mich gleich erkennst, so brauche ich nicht erst deine Erinnerungen zu wecken. Wage nicht, dich zu rühren, Schurke, blicke nicht nach dem Revolver! Bei der ersten verdächtigen Bewegung trifft dich die Dolchspitze, und starr sinkst du nieder.«
Lacoste hatte die Maske abgenommen, ein Westerly bekanntes Gesicht war zum Vorschein gekommen. Doch er erinnerte sich nicht gleich, wem es gehöre, Lacoste jedenfalls nicht. Ebenso trug die alte Indierin die Züge der Wirtin, nicht die der Mutter Westerlys, wie dieser jetzt erkannte.
»Ich schenke dir noch einige Minuten,« fuhr Phöbe wieder fort, »dann wirst du tot und doch lebendig sein. Bis dahin betrachte dir deine Gespenster aus Fleisch und Blut. Nicht wahr, du furchtloser Lord, du zitterst auch beim Anblick von Wesen aus Fleisch und Blut, wenn sie wie Gespenster vor dir auftauchen und dich an alte Schuld mahnen?«
Wie eine Rachegöttin, unerbittlich, stand Phöbe vor ihm, den Dolch zum Stoße erhoben.
Westerly wagte sich nicht zu rühren, unstet wanderte sein Auge von einem zum anderen. Jetzt erkannte er auch den vorhin Maskierten. Es war niemand anders als Aleen, sein Diener. Wie kam dieser auf die Seite seiner Feindin? »Ja, blicke ihn dir nur an,« fuhr Phöbe fort, »es ist Aleen, und er steht hier als Zeuge, daß nicht er, sondern du Lacoste ermordet hast. Er war nur ein Werkzeug in deinen Händen.
Warum er dich mir verraten hat, denkst du? Frage ihn selbst, er wird dir antworten.«
Doch Westerly vermochte nicht zu fragen; angstvoll nur blickte er Aleen an.
»Warum ich dein und unser Geheimnis verraten habe?« begann da dieser von selbst.
»Weil ich erkannte, daß ich dir nichts war, wenn du mich nicht mehr brauchtest, ja, daß du mich hilflos sterben ließest, und sogar froh warst, mich tot oder dem Tode nahe zu finden. O, ich habe wohl gesehen und gehört, wie du dich freutest, als ich angeschossen in den Dschungeln am Flußrande lag, als sich die Krokodile mir näherten und mit den Rachen klappten. Du erhobst keinen Stock, die Bestien zurückzuscheuchen, du überzeugtest dich nicht, ob ich wirklich tot sei, du kümmertest dich nicht mehr um den Indier, der dir wirklich treu bis in den Tod war. Besser so, sagtest du und gingst. Da kam diese Dame. Sie hob mich auf, tränkte mich und ließ mich nach Delhi bringen, wo sie mich pflegte und wartete, bis ich gesund war. Dann habe ich ihr alles erzählt, was sie wissen wollte und bin bei ihr geblieben.«
»Und weißt du, über was ich ihn fragte?« begann Phöbe wieder. Dasselbe, was du jetzt, von Furcht getrieben, selbst gestanden hast. Ob du der Mörder von Lacoste, genannt die schwarze Maske, bist.«
Jetzt, da Westerly keine übernatürlichen Richter mehr über sich wußte, suchte er schnell nach Entschuldigungsgründen, die bei menschlichen Richtern Geltung gefunden hätten.
»Lacoste war ein vogelfreier Verbrecher!« murmelte er.
»Er war mein Geliebter,« entgegnete Phöbe, scheinbar ohne Zusammenhang, aber vollkommen verständlich für Westerly.
»Das wußte ich nicht.«
»Doch, du wußtest es, Aleen hat gehört, wie er es dir sagte, und erzählte es mir wieder.«
»Kann ich dafür, daß er dein Geliebter war?«
»Danach frage ich nicht. Du, du hast ihn getötet.«
»Er drohte mir mit Verrat, ich konnte ihn nicht befriedigen, so mußte ich ihn aus dem Weg räumen.«
»Und ich habe geschworen, den zu töten, der meinen Geliebten, meine einzige Hoffnung auf Erden, gemordet hat. Mache dich bereit, Lord Westerly, letzter deines Namens, du wirst von meiner Hand in ewigen Schlaf sinken. Wenn dir daran liegt, dein Leben etwas zu verlängern, so schreie nicht, versuche nicht, dich zu wehren, und ich will dir einigen Aufschub bewilligen. Ich weiß, Westerly, du bist ein Feigling.«
Er las keine Gnade, kein Erbarmen in den Augen des vor ihm stehenden Weibes, und dennoch begann er jetzt um Erbarmen zu flehen, zu betteln und zu winseln. Er war vollkommen gebrochen, noch mehr als vorhin, da ihn Gespensterfurcht beherrschte. Jetzt, angesichts des Todes, war es mit ihm vollkommen vorbei. Seine Glieder zitterten wie Espenlaub, seine Zähne klapperten, er verdrehte die Augen, rang die Hände und bettelte um Schonung seines erbärmlichen Lebens.
Als er kein Erbarmen fand, flehte er um Aufschub seines Todes, er führte tausend nichtige Gründe an; er hätte sein Testament noch zu machen, er wollte Verbrechen gestehen – die er gar nicht begangen hatte – er sprach von wichtigen Geheimnissen, von unermeßlichen Schätzen, die er versteckt wüßte, und so schwatzte er angstvoll weiter, nur um seinen Tod zu verzögern. Dabei lauschte er, ließ die Augen umherwandern und drehte das von Todesangst verzerrte Gesicht hin und her, als erwarte er von irgendwo Hilfe.
Phöbe weidete sich an der Todesangst dieser Jammergestalt. Es war ihr ein Triumph, eine Genugtuung, diesen Mann, der ihr das Liebste geraubt, so leiden zu sehen.
Mit äußerster Schlauheit war sie zu Werke gegangen, um ihr Ziel zu erreichen.
Sie wußte wohl, daß Westerly nicht der Mann war, der unter gewöhnlichen Verhältnissen beim Anblick des Todes zitterte. Schritt für Schritt hatte sie ihn so weit gebracht.
Das erste war, sein Herz mit Furcht vor Übernatürlichem zu erfüllen, denn wem es vor wiederkehrenden Toten graust, der zittert auch vor dem Tode selbst, weil er im Jenseits jenen wieder zu begegnen glaubt.
Es war ihr gelungen, dies zu erreichen. Westerlys Trotz war gebrochen, jetzt zitterte er vor ihrem Dolche.
Sie hatte die alte Frau für sich gewonnen, wofür diese Verzeihung und spätere Sicherheit zu erwarten hatte, denn die Rebellen konnten wohl vernichtet, nicht aber die Macht der Gauklerkaste in Indien gebrochen werden.
Der Kleiderschrank vor der Tür hatte eine Hinterwand, die geöffnet werden konnte. So war es Phöbe möglich, aus dem Nachbarhause in dieses zu gelangen, ohne daß Westerly von einer Verbindungstür wußte.
Die erste Erscheinung der schwarzen Maske, wie die Alte sie im Nachbarhause gesehen haben wollte, war von dieser auf Phöbes Veranlassung nur vorgegeben worden, um Westerly schon vorzubereiten. Er fand das Nachbarhaus leer, denn Phöbe und ihre beiden Genossen hielten sich versteckt.
Während Westerly zurückging, begab sich Aleen, wie die schwarze Maske gekleidet, durch die Verbindungstür in Westerlys Wohnzimmer.
Jetzt gab die Alte an, niemanden zu sehen, was Westerlys Gespensterfurcht nur vermehren mußte. Als er den Revolver hob, drückte sie ihn nieder, er hätte aber ruhig schießen können, denn der Patrone, auf welche der Schnepper fallen mußte, war die Kugel schon entnommen. Auf ein Gespenst pflegt man aber nicht zweimal zu schießen, und von hinten kann man einer Patrone nicht ansehen, ob sie mit einer Kugel versehen ist oder nicht.
Die Rolle des ermordeten Abel, welcher schon längst verwest sein mußte, spielte ein von Timur Dhar Phöbe mitgegeben Indier. Der Mann, an sich schon äußerst mager, war von ihr durch Schminke noch geisterhaft entstellt worden.
Westerly hätte, wenn er daran erinnert worden wäre, in jedem seinen von ihm ermordeten Bruder wiederzuerkennen geglaubt.
Als er geschossen, war es also nur ein blinder Schuß gewesen. Der Mann warf die der Patrone entnommene Kugel, die er von Anfang an in der Hand gehalten, auf den Boden und benutzte den Pulverrauch, durch den Kleiderschrank zu verschwinden.
Die Alte wollte den Schuß nicht gehört haben, ihre Mägde waren instruiert, und Franziska war, wie wir noch sehen werden, ebenfalls schon eingeweiht. Sie wußte jetzt, welch schändliche Absicht Westerly mit ihr vorhatte, und erhoffte Rettung von denen, welche Westerlys Untergang vorbereiteten.
Dies alles steigerte Westerlys Entsetzen ins Unglaubliche. Er hatte geschossen, den Schuß hatte niemand gehört, die Kugel mußte dem Laufe entfahren sein, und doch lag sie unversehrt am Boden.
Die Erscheinung der toten Mutter gab ihm den Rest. Jetzt, da er den Betrug einsah, hatte er nicht mehr die Kraft, aus dem furchtbaren Schrecken zur Besinnung zurückzukehren. Mut und Todesverachtung waren dahin, er bettelte um sein Leben.
Phöbe hatte sich genug an den Seelenqualen ihres Opfers geweidet. Sie erhob den Dolch.
»Sprich dein letztes Gebet,« raunte sie ihm zu, »wenn du Elender noch beten kannst!« »Gnade, Erbarmen!« wimmerte der auf den Knien Liegende. »Verlange von mir, was du willst, ich will dir mein ganzes Vermögen geben, nur schone mein Leben.«
»Dein Leben will ich dir auch nicht nehmen.«
Verwundert, von einer Hoffnung zugleich erfüllt, blickte er auf. Aber mit unbarmherzigem Ausdrucke ruhten Phöbes Augen auf ihm.
»Nein, dein Leben will ich dir nicht nehmen,« fuhr sie fort. »Hast du nicht gehört, was für eine Bewandtnis es mit diesem Dolche hat?«
»Daß – daß –« stammelte er.
»Daß er nur scheinbar das Leben raubt,« ergänzte sie, »ja, das Gift erstarrt nur dein Leben; man wird dich hier finden, dich für tot halten, dich in einen Sarg legen und begraben. Ha, das hattest du wohl nicht gedacht! Wie du erbleichst, wie du zitterst!«
»Es ist nicht wahr!« schrie er in furchtbarer Angst.
»Ich werde es an dir selbst beweisen. Auch Lacoste war nicht tot ...«
»Er war doch tot!«
»Er war nicht tot, sondern er ertrank erst in der Themse, in die du ihn selbst hineinwarfst – ja, du hast ihn hineingeworfen wie ein Aas; wenn du es auch durch einen anderen ausführen ließest, es war doch deine Tat. Ebenso war auch dein Bruder nicht tot, sondern nur starr, und erst im Sarge unter der Erde ist er gestorben, weil er nicht ins Leben zurückgerufen werden konnte. Dasselbe ist dein Los; auch du sollst lebendig begraben werden ...«
»Das ist nicht wahr, das Gift wirkt nicht so,« jammerte der Unglückliche, der darin wie so viele einen Trost fand, daß er eine Gefahr einfach wegleugnete.
»Es wirkt doch so. Ich selbst war Zeuge einer Vergiftung durch diesen Dolch, die ebenfalls auf deine Veranlassung geschah. Ich sah, wie die Begum von Dschansi erstochen wurde. Auch sie wäre scheintot in den wirklichen Tod hinübergeschlummert, wenn Reihenfels nicht gekommen wäre ...«
»Reihenfels ist tot!«
»Er lebt, verlaß dich darauf. Er lebt noch, ebenso wie die Begum. Er kannte das andere Geheimnis des Dolches, seine rettende Eigenschaft, und wurde von Timur Dhar veranlaßt, dadurch die Begum dem Leben wiederzugeben. Sieh, Lord Westerly, du sollst mit derselben Waffe dasselbe erleiden wie Lacoste. Ich werde dich ebenfalls in den Nacken stechen, starr sollst du hinfallen, daß man dich tot wähnt, aber du wirst alles sehen und hören, was um dich her vorgeht. Natürlich wird man dich nicht ins Wasser werfen, was dir eigentlich gebührt, sondern dich begraben, vielleicht sogar mit Pomp ...«
»Höre auf, höre auf!« schrie Westerly.
»Nein, ich höre noch nicht auf. Immer halte dir die Ohren zu, du vernimmst meine Worte doch. Bei vollem Bewußtsein wirst du in den Sarg gelegt und begraben. Was dir mein Diener, als Abel verkleidet, erzählt hat, sollst du selbst erleben. Du wirst die Käfer an deinem Sarge nagen hören, du wirst dir ausmalen, wie die Würmer über deinen starren Körper herfallen.
Glaube aber nicht, daß ich dich sterben lasse ...«
»Nicht? Was sonst?«
»Was ich sonst noch tun werde? O, ich kenne noch Schrecklicheres, um Rache an dir zu nehmen. Nein, du sollst nicht sterben. Ich kenne das andere Mittel dieses Dolches, dich dem Leben wiederzugeben, und ich werde Gebrauch davon machen. Genau weiß ich, wie lange du im Grabe als Scheintoter liegen kannst, und ehe diese Zeit abgelaufen ist, lasse ich dein Grab öffnen, wecke dich auf und pflege dich liebevoll, bis du so weit hergestellt bist, um ein zweites Begräbnis durchmachen zu können.«
»Du bist entsetzlich!« stöhnte der Kniende.
»Ja, ich bin entsetzlich. Was Lacoste im Scheintode erlitten hat, als sich über ihm, dem noch Lebenden, das kalte Wasser der Themse zusammenschloß, das sollst du, sein Mörder, oftmals durchmachen, womöglich hundertmal.« »Bei Gottes Barmherzigkeit, habe Mitleid!«
»Nein.«
»Denke an den ewigen Richter!«
»Ich fürchte ihn nicht,« triumphierte Phöbe, die in ihrem Hasse maßlos war.
Da donnerten unten Schläge an die Haustür, gleichzeitig erscholl es wie dumpfes Murmeln einer Menschenmenge.
Phöbes Begleiter wurde unruhig, hoffnungsvoll lauschte Westerly, nur Phöbe blieb kalt; kein Auge wandte sie von ihrem Opfer ab, der Dolch war zum Stoße bereit.
Noch einmal wurde unten gepocht, das Murmeln wurde lauter.
»Im Namen der Königin, öffnet die Tür!« rief eine Männerstimme.
»Wir müssen fliehen,« flüsterte Aleen.
»Noch nicht,« entgegnete Phöbe.
»Zu Hilfe,« schrie Westerly, »Rebellen morden einen Engländer!«
Phöbe zögerte noch, zuzustoßen.
Die Alte stürzte herein, im Nebenzimmer sah man Franziska mit halb verstörtem, halb freudigem Gesicht stehen.
»Das Haus ist umzingelt,« flüsterte die Alte, »Soldaten und englische Konstabler halten es besetzt. Es gilt Franziskas Befreiung.«
»Zu Hilfe!« schrie Westerly nochmals, schnellte empor und wollte Phöbes Handgelenk ergreifen, um ihr die Waffe zu entreißen.
Dies war sein Verderben.
Kaum merkbar verletzte er sich mit der Hand an dem Stahle, und sofort sank er wie tot zu Boden.
»Legt ihn aufs Bett!« befahl Phöbe, und als dies geschehen war, stellte sie neben ihm auf den Nachttisch ein leeres, offenes Fläschchen.
Dann dachte sie erst an ihren Rückzug.
Die Tür war unten geöffnet worden, hastige, laute Schritte stürmten die Treppe herauf.
In das Zimmer, in welchem Franziska, die Hand auf dem schwer atmenden Busen, stand, drangen uniformierte Männer, nur Engländer, voran ein jugendlicher Soldat, an seinen Abzeichen als Trommeljunge erkenntlich.
»Sie ist es! Miß Reihenfels!« jubelte er auf, nach Franziska deutend. »Dachten wir's uns doch, Jim!«
»Sie sind in Sicherheit, Miß,« redete ein Polizeioffizier sie an und verschwand schon im nächsten Zimmer, gefolgt von einigen Konstablern.
Dann stand er vor Westerlys Bett und rüttelte den regungslosen Körper.
»Verdammt, wir kommen zu spät!« knurrte der Offizier. »Der Schuft hat sich seiner Strafe entzogen, er ist tot wie eine Ratte. Wahrscheinlich ein Schlagfluß. Aha, was ist das?«
Er nahm das Fläschchen vom Tische, roch daran und zog ganz erschrocken die Nase zurück.
»Laudanum – hat sich vergiftet! Du,« wendete er sich an einen seiner Leute, »läufst zum nächsten Arzt, er soll den Tod beglaubigen. Und du holst eine Totenbahre. Innerhalb vier Stunden muß jede Leiche begraben sein – Gräber sind immer genug vorrätig.«
»Kapitän,« sagte einer, »es ist ein Lord!«
»Ach, geh, ein Schuft ist er! Ich war auch dabei, als General Hopkins eingescharrt wurde, ohne Sang und Klang, nicht einmal in einem Sarge, nur in eine Decke gehüllt. Sein Denkmal wird freilich für immer in England stehen. Wenn Miß Reihenfels fähig dazu ist, möchte sie sich hierher bemühen. Sie soll bezeugen, daß er der Betreffende ist.«
Steif und bewegungslos lag Westerly da – und sah viel und hörte alles.
Als er sich mit der Dolchspitze an der Hand verwundete, war es ihm, als verwandle sich sein Herz plötzlich in einen Eisklumpen. Todeskälte packte ihn, er fühlte, wie sein Blut gerann, wie sein Herzschlag stockte. Mit der furchtbarsten Verzweiflung bemühte er sich, einen Laut von sich zu geben, eine Bewegung zu machen – vergebens, vollständig gelähmt waren ihm Zunge und Glieder.
Welch verzweifelte Anstrengungen er auch machte, weder im Gesicht noch am Körper zuckte auch nur ein Muskel.
Und alles, alles vernahm er; was in seinem Gesichtskreise geschah, konnte er sehen, denn die Augen konnten sich zwar nicht bewegen, wohl aber sehen. Er hörte die barschen Worte des Polizeioffiziers, wie er ›Schuft‹ genannt wurde, die Vermutung über seine wahrscheinliche Todesursache: Selbstmord durch Laudanum, ein schnell wirkendes Gift, wie nach dem Arzt geschickt und eine Totenbahre geholt wurde – für ihn, sie sollten ihn nach dem Begräbnisplatze bringen.
Innerhalb vier Stunden mußte jede Leiche in dem von Menschen überfüllten Bombay bestattet sein, um Ansteckungen zu verhüten! Wie Donnerhall klangen ihm diese Worte im Ohre nach.
Nur noch vier Stunden, dann ruhte er im Sarge unter der Erde! Lebendig! Wie er auch rang, seine Anstrengungen waren vergeblich.
Franziska erschien und machte über die Alte nicht entlastende, aber gute Aussagen. Sie hätte Mitleid mit ihr, der Gefangenen, gehabt und hätte auf ihrer Seite gestanden. Franziska sprach nicht ganz die Wahrheit, aber sie machte keine belastenden Aussagen, um die Alte, die ihr den wirklichen Sachverhalt offenbart hatte, zu schonen.
Wer ihre eigentlichen Retter seien, wußte Franziska nicht.
Man belästigte das geängstigte Mädchen nicht weiter.
Der Offizier protokollierte, daß sich Lord Westerly, als sein Versteck entdeckt worden war, vergiftet habe um der Gerechtigkeit zu entgehen. Die gefundenen Papiere ergaben, daß er beabsichtigt hatte, mit Franziska nach Konstantinopel zu reisen, ohne Wissen Lord Cannings, man fand auch gefälschte Briefe vor. Alles übrige, was man von Franziska und der Alten nicht erfahren konnte, würde sich wohl aus den Papieren ergeben. Die Alte, eine stadtbekannte Kupplerin, die Mädchen hielt, war von Westerly bestochen worden, hätte aber Franziska ihre Hilfe zugesagt.
Alles dies vernahm Westerly.
Ferner hörte er, wie der Arzt kam. Er sah ihn auch, als er sich über ihn beugte.
»Vollkommen starr!« sagte er. »Das ist die Wirkung des Laudanums. Eine Untersuchung ist eigentlich gar nicht nötig, doch ich will ihn zur Ader lassen.«
Deutlich fühlte Westerly, wie ihm Schuh und Strumpf ausgezogen und das Messer an die Fußsohle gesetzt wurde.
Haltet ein, wollte er rufen, ich lebe, ich fühle alles, aber er vermochte nicht die Zunge zu bewegen, er konnte nicht einmal zucken, als der scharfe Stahl einen tiefen Schnitt in den Fuß machte, und doch fühlte er einen intensiven Schmerz.
»Nur wenig Blut und ganz dick,« lautete das Urteil des Arztes, »es beginnt sich schon zu zersetzen. Hier haben Sie die Beglaubigung, Kapitän der Mann ist tot! Gute Nacht, meine Herren!«
Westerlys Taschen wurden visitiert; mit monotoner Stimme nannte ein Konstapler die Fundgegenstände, der Offizier nahm sie zu Protokoll und ließ sie zu dem übrigen legen.
»Die Bahre ist da,« meldete jemand.
Westerly hörte, wie sie abgesetzt wurde sie mußte neben seinem Bett stehen.
»Fertig?« fragte der Kapitän, und visitierte selbst noch einmal aufs genaueste die Taschen.
»Ja, gut! Die Kleider mag er anbehalten, das Totenhemd bekommt er auf dem Friedhof. Ladet ihn auf und dann fort mit ihm! Laßt die Miß sich zurückziehen, sie braucht dieses Scheusal nicht noch einmal zu sehen.«
Westerly fühlte sich von acht Händen erfaßt und ziemlich unsanft auf die Bahre gelegt.
»Soll ich ihm nicht die Augen zudrücken?« fragte einer.
»Versuch's, es wird aber wohl nicht gehen.« Es ging auch nicht, die Lider waren steif.
Westerly glaubte, die Haare müßten sich auf seinem Kopfe sträuben. Ach, hätten sie sich doch gesträubt! Nur einen einzigen Seufzer, nur ein sichtbares Zucken, eine Atembewegung – und Westerly gelobte, sein Leben als Mönch zu beschließen oder Krankenpfleger zu werden oder alles zu verschenken und sich sein Brot zu erbetteln.
Vergeblicher Wunsch – er war ein Toter! Die Bahre wurde aufgehoben, hinuntergeschafft, und mit langsamen, schweren Schritten trugen die zwei Männer dieselbe durch die Straßen Bombays, dem Friedhof zu. Ein Lebendiger wurde der Erde überliefert.