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27. Sirbbanga

Lady Carter war mit der Anprobe ihres Hochzeitskleides beschäftigt, als eine Kammerzofe meldete, daß Leutnant Carter im Vorzimmer warte.

»Wie, mein Sohn ist schon hier?« sagte Emily erstaunt. »Er schrieb mir doch, der Urlaub beginne erst in einer Woche. Nun, es gilt wohl nur einen kurzen Besuch.«

»So sieht es nicht aus,« entgegnete das Mädchen, »er bringt große Koffer mit und hat einem Diener Befehl gegeben, sein Zimmer in Ordnung zu bringen.«

»Dann tritt er seinen Urlaub schon jetzt an. Desto besser.«

Emily fertigte so schnell wie möglich die Schneiderinnen ab und empfing den jungen Mann, den sie als ihren Sohn betrachtete und auch so liebte.

Eugen, seit kurzem Leutnant, hatte sich herrlich entwickelt. Obgleich erst siebzehn Jahre, sah er bedeutend älter aus, wozu der starke, schwarze Schnurrbart viel beitrug. Der eng anschließende schwarze Gehrock – englische Offiziere tragen nur im Dienst Uniform – brachte seine schlanke, kräftige Figur zur Geltung; alle seine Bewegungen waren sicher und abgerundet, und so konnte er als das Muster eines schönen Mannes gelten.

»Beginnt dein Urlaub schon jetzt?« fragte Emily nach der Begrüßung.

»Leider, wenigstens der meinige. Alle übrigen Offiziere haben vollauf zu tun, sie empfangen ihre letzten Instruktionen, ehe sie nach Indien gehen; nur mich haben die Ärzte verurteilt, mich in die Einsamkeit zurückzuziehen. Wenn ich nicht bis spätestens in vierzehn Tagen von ihnen für gesund erklärt werde, kann ich noch ein paar Jahre in der Garnison liegen und Rekruten drillen.«

»Wie? Du bist krank? Was fehlt dir?« rief Emily erschrocken. »Ja, jetzt sehe ich es. Dein Gesicht ist eingefallen und blaß, deine Augen liegen tief, und deine Hände zittern. Um Gottes willen, Eugen, was fehlt dir?«

»Nichts von Bedeutung, und am allerwenigsten habe ich, wie die Ärzte sagen, den Sonnenstich bekommen,« entgegnete Eugen.

Emily aber trat vor ihn hin, legte ihm die Hände auf die Schultern und schaute ihm ängstlich in die seltsam glänzenden Augen.

»Gewiß, du bist krank! Du hast Fieber.«

»Ich habe auch genug Chinin zu schlucken bekommen, aber es hilft nichts. Die Ärzte verordnen mir Ruhe und Waldluft, ich soll acht Tage hierbleiben, ehe ich mich wieder vorstelle. Es ist zu ärgerlich! Werde ich nicht besser, so reist das Bataillon ohne mich ab, und an meiner Stelle wird ein anderer Leutnant kommandiert.«

»Wann fühltest du dich zum ersten Male krank?«

»Gestern nachmittag. Ich überwachte das Exerzieren der Soldaten, als mir plötzlich unwohl und schwindlig wurde, ich verlor den Steigbügel und stürzte aus dem Sattel. Man trug mich bewußtlos nach meinem Zimmer; dort kam ich zwar bald wieder zu mir, verspürte nicht das geringste Unbehagen, versah meinen Dienst, wurde aber gegen Abend wieder bewußtlos und kam in Behandlung der Ärzte. Ich soll viel spazieren gehen und jede Aufregung vermeiden.«

»Aber du darfst nicht allein gehen.«

»Ich habe meinen Burschen Jim mitgebracht, er wird mich immer begleiten.«

Emily stellte an Eugen noch alle möglichen Fragen betreffs seines Befindens. Er sagte nur noch, daß er rheumatische Schmerzen im linken Arm habe. Die Fragerin bemerkte nicht, wie sich der Kranke mit der Hand schwer auf den Tisch stützte und bemüht war, das Gespräch abzubrechen, um sich entfernen zu können. Nur die Ehrfurcht vor der Mutter hielt ihn noch zurück.

Als er sich endlich entfernen durfte, raffte er sich auf und verließ mit festem Schritt das Zimmer, den Weg durch ein Nebengemach nehmend.

Emily hörte, wie er an einen Stuhl stieß und diesen wahrscheinlich auch umwarf, denn es erfolgte ein dumpfer Fall.

»Er ist sehr schwach,« dachte Emily. »Wenn er nur nicht ernstlich krank wird! Ob vielleicht Bega an seiner Krankheit schuld ist? Ich bedauere ihn, er liebt hoffnungslos.«

Emily hatte mit den Vorbereitungen zur Hochzeit viel zu tun. Fast dieselben Empfindungen beschlichen wieder ihr Herz wie damals vor achtzehn Jahren, als sie Vorbereitungen zur Vermählung mit Sir Carter traf. Ob das wohl ein Segen war, daß die Zeit so spurlos an ihr vorüberging? Sie hatte etwa eine Stunde so zwischen Wäsche, Spitzen und Garderobe herumgekramt, als leise an die Tür geklopft wurde.

Auf ihr Herein schob sich ein kurzgeschorener Kopf mit einem bartlosen, frischen Gesicht durch die Spalte.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau, die Mädchen sagten, ich sollte nur anklopfen. Sie nähmen es nicht übel.«

»Nein, ich nehme es nicht übel,« lachte Emily, in dem Fremden den Burschen Eugens vermutend. »Was für einen Auftrag habt Ihr? Kommt herein!«

Ein blutjunger Mann in der schmucken Uniform der englischen Infanterie, schwarzer Hose und rotem Rock, mit weißem Ledergurt – jedoch ohne Seitengewehr, welches nur im Dienst getragen wird – die bebänderte Mütze in der Hand, trat herein und stellte sich in militärischer Haltung an der Tür auf.

»Seid Ihr Jim?« fragte Emily.

»Zu Befehl, Jim Green!«

»Nun, was läßt mein Sohn mir sagen?«

»Ich glaubte, er wäre hier, und weil ich hier doch fremd bin, wollte ich ihn fragen, ob ich ...«

»Mein Sohn hat mich schon vor einer Stunde verlassen, er muß oben sein.«

»Er ist nicht oben.«

»Ich hörte ihn ja immer in seinem Zimmer auf und ab gehen und pfeifen.«

»Das war ich, gnädige Frau.«

»Dann ist er in einem anderen Raume.«

»Die Diener und Mädchen behaupten, er müßte noch hier sein, denn er hat den Korridor noch nicht wieder betreten.«

Nun wurde Emily doch aufmerksam. Von einer schlimmen Ahnung erfaßt, öffnete sie die Tür des Nebenzimmers und – da lag Eugen bewußtlos auf dem Teppich.

Jetzt kam Leben in das stille Haus. Während ein Diener nach dem Arzt in Wanstead geschickt wurde, beschäftigten sich alle anderen mit dem Bewußtlosen, und als der Arzt kam, war Eugen wohl der Sprache und Bewegungen mächtig, aber nicht bei Bewußtsein, er lag im heftigsten Fieber. Der Arzt hielt es für einen ganz gefährlichen Anfall, und als er die Erklärung Emilys gehört hatte, meinte auch er, es wäre eine Folge des Sonnenstichs und das Schlimmste sei zu befürchten.

Bald stieß der Kranke laute, gellende Schreie aus, als würde er von den furchtbarsten Schmerzen geplagt, dann wieder sank seine Stimme zu einem Flüstern herab; leise, zärtliche und sehnsüchtige Worte kamen über seine Lippen, und sein Gesichtsausdruck änderte sich fortwährend.

Der Arzt beugte sich über ihn und lauschte.

»Er sehnt sich nach einer Person und spricht fortwährend den Namen Bega aus. Wer ist das?«

»Ein junges Mädchen in der Nachbarschaft,« entgegnete Emily.

»So lassen Sie dieses Mädchen sofort holen!«

»Das dürfte Schwierigkeiten haben ...«

»Sie muß kommen!« entschied der Arzt. »Wenn ihre Gegenwart den Kranken nicht beruhigt, so gebe ich alle Hoffnung auf. Lassen sie ihr sagen, daß Tod und Leben eines Menschen von ihrem Kommen abhinge, und sie wird sicherlich dem Rufe Folge leisten.«

Emily schrieb eine Karte und schickte einen Boten nach dem indischen Hause mit der strengen Weisung, sie nur Bega selbst abzugeben.

Eugens, Schmerzen schienen immer mehr zu wachsen, er schrie wie ein Wahnsinniger.

»Sein Arm schmerzt ihn,« sagte der Arzt verwundert. »Wie sprach er sich darüber aus?«

»Er hätte rheumatische Schmerzen darin.«

»Ich werde ihn untersuchen; ziehen wir ihm den Rock aus!«

Als dabei der linke Arm bewegt wurde, schrie Eugen lauter denn je. Der Arzt schlug den Hemdärmel zurück und erschrak.

»Ah, hier liegt ja etwas ganz anderes vor! Das sieht aus wie eine Blutvergiftung.«

Er schlitzte den Ärmel mit seinem Taschenmesser auf, bis die Schulter zum Vorschein kam.

»Da haben wir's ja. Der junge Mann hat sich tätowieren lassen, und dabei ist ein Giftstoff verwendet worden – Blutvergiftung.«

Es muß bemerkt werden, daß die Sitte, oder vielmehr die barbarische Unsitte des Tätowierens in England nicht nur unter den Seeleuten und unteren Bevölkerungsklassen, sondern selbst unter den höchsten Kreisen herrscht. Herren und Damen lassen sich zum Andenken an besondere Gelegenheiten ein Merkzeichen auf Brust oder Arm eintätowieren.

Die herrlichste Blüte dieses Unsinns hat einst ein Mitglied des königlichen Hauses erzeugt.

Der junge Prinz, als Midschipman (Seekadett) in der Marine dienend, ließ sich einmal in der Weinlaune einen großen Anker mitten auf der Nase einstechen. Laut allerhöchsten Befehle sollte der Anker wieder entfernt werden, und nun wurde die geheiligte, prinzliche Nase gebadet, gesalbt, gepflastert, geschnitten, gestochen und sonst auf schreckliche Weise gemartert. Es gelang auch durch Nachstechen mit Milch, die Tätowierung zu bleichen, aber in der Nähe ist der Anker auf der Nase des unterdes zum Greis gewordenen Prinzen doch noch deutlich zu erkennen.

Der Arzt machte ein ganz bedenkliches Gesicht und schickte sofort jemanden mit einer Karte an seinen Diener ab.

»Was wollen Sie beginnen?« fragte Emily ängstlich.

»Ich werde noch etwas warten. Wann hat sich Leutnant Carter wohl tätowieren lassen?«

»Hier ist sein Bursche, der wird es wissen!«

Jim Green hatte sich schon lange ungeduldig auf seinem Fleck bewegt, als wolle er etwas sagen, hatte aber, als Soldat gewöhnt, nur zu reden, wenn er gefragt wurde, geschwiegen.

Jetzt trat er schnell vor.

»Leutnant Carter hat sich nicht tätowieren lassen!«

»Was?« rief der Arzt erstaunt. »Hier können Sie es ja deutlich erkennen!«

Allerdings sah man auf der braunen Haut des stark geschwollenen Oberarms blaue Zeichen. Die betreffende Stelle war ganz besonders geschwollen und entzündet.

»Aber ich weiß, daß sich der Leutnant nicht tätowieren ließ!« behauptete Jim. »Ich war heute morgen bei ihm im Zimmer, als er sich wusch, und habe keine Tätowierung an ihm bemerkt.«

»Sie haben Sie übersehen!«

»Nein, er hatte keine und hat sich auch keine einstechen lassen. Das müßte ich als sein Bursche doch ganz genau wissen, um so mehr, da Leutnant Carter die letzte Woche immer, mit schriftlichen Arbeiten zu Hause beschäftigt gewesen ist.«

Der Bursche sprach mit solcher Überzeugung, daß der Arzt betroffen wurde, jedoch seine Bestürzung hinter einem ungläubigen Lächeln verbarg.

»Was ist denn das überhaupt?« fragte Jim. »Eine Schrift oder ein Wappen?«

Ja, was war das? Punkte und Striche, gerade, gebogene und gezackte.

»Das sieht fast aus wie indische Schrift!« meinte der Arzt. »Kann hier im Hause jemand Indisch schreiben?«

Hedwig wurde gerufen und erklärte, das sei keine ihr bekannte Schrift.

Der Kranke stöhnte und wimmerte weiter; der Arzt wurde immer unruhiger.

»Haben Sie Reitpferde da?« wandte er sich an Emily.

Diese bejahte.

»Dann bitte ich noch um einen Boten.«

Jeremy wurde ihm zur Verfügung gestellt.

»Können Sie reiten?«

»Ich denke, ein Lancier-Korporal der roten Dragoner wird jedes Pferd reiten können!« war die stolze Antwort.

Der Arzt riß ein Blatt aus seinem Notizbuch, schrieb einige Zeilen darauf und gab es Jeremy.

»Werfen Sie sich aufs Pferd und jagen Sie nach dem Osthospital. Auf der Eisenbahn müßten Sie vielleicht warten. Fragen Sie nach Professor Borton. Entweder er kommt sofort, oder er kommt nicht. Sie warten nicht auf ihn. In einer Stunde müssen Sie unbedingt zurück sein, dann nehme ich's auf mich!«

»Was wollen Sie tun?« fragte Emily erschrocken.

»Professor Borton ist ein berühmter Operateur, er ist mein Lehrer gewesen!«

»Sie wollen doch nicht etwa –?«

Der Arzt zuckte die Achseln. Da trat sein Diener herein mit allerhand Instrumenten in Futteralen. Aus einem sah eine blanke Säge hervor.

»Sie wollen den Arm amputieren?« schrie Emily entsetzt, und auch die Übrigen schauderten zusammen beim Anblick der sich enthüllenden, glänzenden Instrumente.

»Gnädige Frau, der Arm muß entfernt werden, soll der junge Mann gerettet werden.«

»Nein, ich dulde es nicht!«

»Es muß aber sein; als Arzt bestehe ich darauf. Ich warte genau eine Stunde; ist bis dahin Jeremy nicht mit der Nachricht zurück, daß Professor Borton sofort kommt, um mit seiner Meisterhand die Operation vorzunehmen, so beginne ich sie in Gottes Namen. Der Arm muß entfernt werden!«

»Entsetzlich!« hauchte Emily, einer Ohnmacht nahe.

Auf der Schwelle stand Bega mit geisterbleichem Gesicht, sie hatte vernommen, um was es sich handelte.

»Bega, Bega!« schrie in diesem Augenblick der Kranke.

Das Mädchen eilte zu ihm, ergriff seine Hände und beugte sich mit tränenden Augen über ihn.

»Armer, armer Eugen!« murmelte sie.

»Bega, verzeihe mir – ich tat es nur – weil ich dich liebte!« stammelte der Unglückliche flüsternd, ohne jedoch Bega zu erkennen, denn so hatte er immer gesprochen, wenn er nicht schrie. »Ja, ich liebe dich – kann ich dafür? – Doch du mußt mich wiederlieben – du mußt –« Bega beugte sich noch tiefer herab und flüsterte etwas den Umstehenden Unverständliches.

»Er erkennt sie nicht!« sagte der Arzt. »Ihre Gegenwart beruhigt ihn auch nicht, wie ich gehofft hatte. Übrigens liegt etwas anderes vor, als ich dachte, Sie sind Indierin, gnädiges Fräulein?«

»Ja.« »Und können Indisch lesen und schreiben?«

»Das kommt darauf an; es gibt viele indische Sprachen und Schriften. Doch ich denke, ich kenne sie alle.«

»Bitte, betrachten Sie diese Zeichen!«

Er deutete auf die Tätowierung am Arm.

Bega musterte sie aufmerksam, trat dann überrascht einen Schritt zurück und verbeugte sich tief mit über den Kopf gehaltenen Armen – das Zeichen der größten Ehrfurcht der Indier.

»Es ist die Schrift der heiligen Bücher der Beda, >Sanskrit'!« sagte sie, sich aufrichtend.

»Was heißt es?«

»Ich kann es nicht lesen, nur Brahmanen dürfen Sanskrit erlernen!«

»Nun, es bleibt sich auch gleich, was es heißt!«

Die Uhr in der Hand, wartete der Arzt ungeduldig auf das Kommen Jeremys. Die Stunde verstrich, und der Bote war noch nicht zurück.

»In Gottes Namen, ich beginne die Amputation des Armes!« sagte der Arzt ernst.

Emily schrie laut auf.

»Warten Sie noch fünf Minuten!«

»Das verschiebt nur die Operation.«

»Nein, nein, es kann nicht sein!«

»Ich muß! Mein Diener wird mir helfen, doch ich brauche noch jemanden für Handreichungen. Wer fühlt sich stark genug, der Operation beizuwohnen?«

»Ich,« sagte Bega, welche immer Eugens Hände in den ihren hielt, als sich niemand meldete, »Sie, Miß?« fragte der Arzt zweifelnd.

»Ja, ich kann den Anblick ertragen!«

»Nun gut denn, ich nehme Ihre Hilfe an.«

»Jeremy kommt!« rief ein Diener.

Der Reiter sprengte in den Hof, saß ab und eilte in das Zimmer.

»Nein, Professor Borton kann nicht kommen, er ist beschäftigt!« meldete er.

»Dann nehme ich die Operation auf eigene Verantwortung vor.«

»Ich habe unterwegs Mister Reihenfels gesehen und ihm alles erzählt. Er will mit der Eisenbahn sofort hierherkommen!« sagte Jeremy, zu Emily gewendet.

»Also deshalb blieben Sie so lange aus!« rief der Arzt unwillig.

»Ja, deswegen komme ich einige Minuten später,« entgegnete Jeremy gleichmütig, »und Mister Reihenfels läßt Sie bitten, Herr Doktor, die Operation nicht vorzunehmen!«

»Reihenfels? Wie kommt der dazu?« fragte der Arzt erstaunt. »Ist das nicht jener Gelehrte, welcher den Fakir begraben läßt?«

»Eben derselbe.«

»Er hat gesagt, ich solle die Operation nicht vornehmen?«

»Ja, das hat er getagt. Er selbst will gleich kommen und Ihnen die Erklärung geben!«

»Ich aber werde nicht auf ihn warten. Mister Reihenfels mag eine Kapazität in seiner Art sein, aber von einer Operation versteht er jedenfalls nichts. Was er mir da sagen läßt, klingt überhaupt sehr anmaßend, oder Sie verdrehen seine Worte, was ich eher glaube.

Bitte, wollen Sie das Zimmer verlassen, bis auf Miß Bega?«

»Sie wollen die Operation beginnen?« fragte Jeremy.

»Gewiß!«

»Ohne auf Mister Reihenfels zu warten? »Fällt mir gar nicht ein. Sie haben ihn auf alle Fälle falsch verstanden!«

»Dorthin gestellt, Jim – Front!« kommandierte Jeremy und postierte den Soldaten vor die Instrumente, den Diener des Arztes zur Seite schiebend. »So, Herr Doktor, die Waffenkammer ist in unseren Händen, nun können Sie Ihre Operation beginnen!«

Jeremy selbst stellte sich neben Jim vor den Tisch, auf dem die Instrumente lagen.

»Was soll denn das heißen?«

»Das soll heißen, daß Sie die Sägen und Messer nicht bekommen, um damit dem jungen Herrn dort den Arm abzuschneiden. Hier stehen Jim und ich, zwei geschulte Soldaten Ihrer Majestät, nun versuchen Sie einmal mit Ihrem Diener, das uns anvertraute Waffenarsenal mit Gewalt zu nehmen.«

»Was?« rief der Arzt aufgebracht. »Sie wagen, mich an der Operation zu hindern?«

»Ja!«

»Mit welchen Recht?«

»Ich handle dem Wunsche Mister Reihenfels gemäß.«

»Der geht mich nichts an!«

»Aber mich desto mehr.«

»Sie wollen mich wirklich hindern, mich meiner Instrumente zu bedienen?«

»Ja« Der Arzt schien nicht daran zu glauben, er wollte an den Tisch gehen, aber Jeremy streckte ihm seine Faust entgegen und sagte ernst: »Sir, ich versichere Ihnen, daß Sie diese Instrumente nur erhalten, wenn Sie mit denselben das Zimmer verlassen.«

Der Arzt war außer sich. Eben wollte er sich an Emily wenden, als Reihenfels hereinkam, hinter ihm ein Mann in indischer Kleidung, mager wie ein Skelett und mit einem richtigen Totenschädel.

»Verzeihen Sie, Lady,« wandte sich Reihenfels sofort an Emily, »wenn ich ohne weiteres hierherkomme. Durch Jeremy erfuhr ich von Eugens Erkrankung, und sofort stieg in mir ein eigentümlicher Gedanke auf. Sie, Herr Doktor, bitte ich, meinen Wunsch, die Operation zu verschieben, nicht mißzuverstehen. Ich sehe, daß Jeremy etwas zu energisch auf demselben bestanden hat.«

Der Arzt war durch diese Worte durchaus nicht besänftigt.

»Ich weiß nicht, wie Sie dazu kommen, Mister Reihenfels, sich in ärztliche Angelegenheiten zu mischen. Das aber kann ich Ihnen sagen, wenn Sie eine Operation unmöglich machen oder durch Ihre Einmischung so lange verzögern, daß sie zu spät ausgeführt wird, und der junge Mann stirbt, so mache ich Sie verantwortlich. Ich werde Professor Borton davon in Kenntnis setzen; er wird Sie zur Rechenschaft ziehen.«

»Herr Doktor, vergessen Sie nicht, daß Professor Borton einst einen Mann für tot erklärt hat, den mein Vater für lebendig hielt. Ich, sein Sohn, widerspreche Ihrer Ansicht, daß hier eine Operation nötig ist.«

Diese Worte verfehlten nicht ihren Eindruck; der Arzt schwieg verlegen. Aller Augen hingen gespannt an den beiden, die jetzt vor den noch immer schreienden und wimmernden Kranken traten.

Bega, welche noch Eugens Hände hielt, begegnete dem Blick Reihenfels und senkte schnell das Auge. Kein Gruß des Wiedersehens wurde gewechselt – sie waren sich fremd.

Reihenfels untersuchte den Arm, und sofort malte sich das größte Erstaunen in seinen Zügen. Dann wendete er sich zu dem Indier.

»Hira Singh, das sind indische Buchstaben. Welcher Schrift gehören sie an?«

Der Indier betrachtete die Tätowierung und verbeugte sich noch ehrfurchtsvoller als vorhin Bega.

»Es ist Sanskrit.«

»Kannst du es lesen?«

»Nein; denn ich bin nur ein Fakir, kein Brahmane.«

»Aber ich kann es lesen. Die Worte heißen >Sirbhanga Brahma'.«

Eine lautlose Stille trat ein nur der Indier verbeugte sich bis an die Erde und sagte: »So gehört der Sahib zur heiligen Kaste der Brahmanen.«

Dann trat der Arzt, dem dies alles unverständlich war, an das Krankenlager.

»Mister Reihenfels, der Kranke hat sich wahrscheinlich vor einigen Tagen tätowieren lassen, und die dabei verwendete Tusche enthielt Gift. Meiner ehrlichen Ansicht nach kann sein Leben nur gerettet werden, wenn der Arm abgenommen wird. Die Vergiftung ist schon weit vorgeschritten.«

»Ich bin anderer Ansicht,« entgegnete Reihenfels. »Hira Singh, wird dieser Mann sterben?«

»Nicht an dieser Tätowierung. Sie ist ausgeführt worden mit der Tusche der Brahmanen; das Gift beginnt jetzt zu wirken, und die Schmerzen haben ihren Höhegrad erreicht. Sie werden sogleich wieder abnehmen. Wann ist der Sahib zum ersten Male ohnmächtig geworden?«

»Gestern nachmittag,« entgegnete Emily.

»So wird er morgen nachmittag wieder gesund sein und nicht den geringsten Schmerz mehr spüren,« »Das halte ich nicht für möglich,« sagte der Arzt kopfschüttelnd. »Ich glaube kaum, daß er den morgigen Tag erleben wird.«

»Wenn der Sahib an dem Gift stirbt, so will Hira Singh mit ihm sterben,« rief der Indier feierlich. »Hira Singh weiß zwar nicht, wie die Farbe der Brahmanen erzeugt wird, denn er ist nur ein Fakir, aber er hat oft gesehen, wie die Buchstaben nach vielen, vielen Jahren plötzlich zum Vorschein kamen, und immer verhielt sich der Tätowierte wie dieser Sahib.«

»Was? So hätte Jim recht gehabt?« rief der Arzt erstaunt. »Der junge Mann wäre gar nicht erst jetzt tätowiert worden?«

,Nein,« entgegnete Reihenfels. »Die Tätowierung ist schon bei seiner Geburt vorgenommen worden.«

»Nicht möglich!«

»Beweisen Sie, daß dies nicht möglich ist! Ich kann's! Die Brahmanen besitzen das Rezept zu einer Farbe, die sich nach Verlauf einer bestimmten Zeit ändert, und die sie zum Tätowieren ihrer Kinder und derjenigen verwenden, die später zu Brahmanen bestimmt sind.

Die Tusche ist anfangs farblos, man sieht die Tätowierung in der Haut also nicht. Nach einer gewissen Zeit, nach vielen Jahren beginnt der Farbstoff zu gären, er erfährt durch einen chemischen Prozeß eine Umwandlung und wird dunkelblau. Dieser Zeitpunkt ist bei Leutnant Carter, einem geborenen Indier, jetzt eingetreten. Hira Singh und ich kennen die Tatsache, aber nicht das Rezept der Farbe selbst. Ich werde mich bemühen, es zu erforschen und zu erfahren, ob die Verwandlung der Farbe nach beliebig vielen Jahren zu erwarten ist – ich bin fast dieser Ansicht. Dies war der Grund, Herr Doktor, daß ich Ihre Operation nicht zulassen wollte, denn durch Jeremys sonderbare Aussage und durch sonst Vorhergegangenes wußte ich, daß bei Mister Eugen eine solche indische Tätowierung vorlag. Deshalb verzeihen Sie mir meinen Eingriff, ich wollte Sie nicht beleidigen.«

»Davon kann keine Rede mehr sein, Mister Reihenfels,« sagte der Arzt, ihm die Hand gebend. »Ich danke Ihnen vielmehr für Ihre Belehrung, und an der Behauptung des Fakirs, daß Leutnant Carter morgen wiederhergestellt ist, zweifle ich auch nicht länger. Kann man nicht etwas tun, seine Schmerzen zu lindern?«

»Schon lassen sie nach,« entgegnete der Indier, »auch die Zuckungen. Man erneuere fortwährend ein kaltes, nasses Tuch auf dem Arm und gebe dem Kranken in allem nach! Wenn er erwacht, wird er sehr reizbar sein, und deshalb soll man sich seinen Wünschen fügen, sonst verzögert sich die Genesung.«

»Erlauben Sie, daß ich bei ihm bleibe, bis er wiederhergestellt ist?« sagte Bega zu Emily.

»Er hat meine Gegenwart verlangt, und durch mich soll seine Genesung nicht verzögert werden.«

Reihenfels trat zu Emily, um mit ihr zu sprechen, blieb aber wortlos vor ihr stehen und lauschte der Unterhaltung, die sich zwischen dem Fakir und Bega entspann und einen heftigen Verlauf nahm.

Bega hatte zum ersten Male die Hände Eugens losgelassen, war zu dem Indier gegangen und sprach mit diesem. Verwundert betrachteten alle die beiden; mit Ausnahme von Reihenfels konnte niemand sie verstehen. Selbst Hedwig und der des Indischen kundige Jeremy nicht, denn der Wortwechsel, der immer heftiger wurde, fand in einem ihnen fremden Dialekt statt.

Bega war sehr aufgeregt, sie schien dem Fakir Vorwürfe zu machen und begleitete ihre Worte mit heftigen Gestikulationen. Der Indier war finster wie immer, zuckte mit den Achseln und antwortete kurz.

Zuletzt deutete Bega auch auf Reihenfels, und da drehte sich dieser plötzlich rasch um, sprach schnell und eindringlich zu ihr und wies nach Eugen.

Die Wirkung der wenigen Worte war überraschend. Wie niedergeschmettert stand Bega da, den Kopf gesenkt und wagte nicht aufzublicken. Dann ging sie zu Eugen, ergriff seine Hände und beugte sich wie vorhin über ihn.

»Ich liebe dich, Bega!« schrie der Kranke im Fieberwahnsinn.

Reihenfels ließ seine Augen zum ersten Male während dieser Stunde länger auf dem Mädchen ruhen, er machte eine ganz eigentümliche Entdeckung, die seine Gedanken stark beschäftigten. Begas Hautfarbe war in dem einen Jahre seltsam gebleicht. Seit wann verlieren Indier selbst im kältesten Norden ihre natürliche Hautfarbe? Doch ja, Bega war nur ein Mischling, sie besaß einen helleren Teint als die Hindus, und nur die indische Sonne hatte ihn so gebräunt. Jetzt zeigte sie ihre wirkliche Hautfarbe, allerdings immer noch sehr dunkel, doch nicht in dem Maße wie die von Reihenfels. Der früher so bleiche Gelehrte hatte in Indien die Farbe der Hindus angenommen.

»Nun bitte ich, ein Wort mit Ihnen sprechen zu dürfen,« wandte er sich an Emily.

Er wurde in ein Nebenzimmer geführt, und noch ehe er beginnen konnte, kam Emily ihm schon zuvor. Aus ihren Worten sprachen Erschütterung und Freude zugleich.

»Mister Reihenfels, es ist wieder eine Prophezeiung des Gauklers in Erfüllung gegangen.«

»Ja, Eugen hat in seinem 17. Jahre seinen wirklichen Namen genannt, den er bei der Geburt empfangen hat: Sirbhanga. Der Zusatz >Brahma< deutet an, daß er zur Kaste der Brahmanen gehört. Nun zweifle ich selbst nicht mehr daran, daß Sie in einem Jahre Ihre Tochter wiedersehen werden, denn dann wäre sie 18 Jahre alt.«

»Auch ich habe durch dieses neue Ereignis die größte Zuversicht bekommen. Ist das aber nicht alles fast zu wunderbar?«

»Es scheint, als ob überirdische Mächte mit Ihrem Geschick spielten, und doch geht alles natürlich vor sich. Jedenfalls hat jedoch das Geschick Sie und Eugen, vielleicht noch andere, in Verwickelungen geführt, deren Lösung erst später erfolgen wird. Es gibt sicher Leute, denen daran gelegen ist, in England geheimnisvolle Ereignisse geschehen zu lassen, welche später in Indien ihre Fortsetzung finden, und der Sitz dieser Leute ist eben dieses Land. Ruft nicht der Name Sirbhanga unangenehme Erinnerungen in Ihnen wach?«

»Allerdings, es ist der Name des Gatten meiner Schwester, so nannte er sich damals wenigstens.«

»Er soll ein indischer Spion gewesen sein.«

»Es wurde vermutet. Er und meine Schwester sind die Urheber all meines Unglücks.

Selbst daß man den untergeschobenen Knaben Sirbhanga nennt, daß man ihm gar keinen anderen Namen geben kann, auch darin sehe ich nur eine Rache von Isabel.«

Emily verschwieg, daß ihr der Name Sirbhanga einen noch viel schlimmeren Gedanken brachte. Schon vorhin, als Reihenfels so langsam den Namen ausgesprochen hatte, war sie tödlich erschrocken. Sie glaubte plötzlich wieder das Gespenst Sir Carters aufsteigen zu sehen, wie es warnend die Hand aufhob. Das waren böse Gedanken kurz vor der Hochzeit.

Als sich Reihenfels verabschiedete, sagte Emily: »Sie werden zu meiner Trauung kommen, wie Sie auf meine Einladung hin mir schriftlich versprochen haben?«

»Sicherlich. Es wird mir die höchste Freude sein, Sie an der Seite Mister Westerlys glücklich zu sehen, und geht dann auch noch die letzte Prophezeiung Timur Dhars in Erfüllung, so fehlt Ihnen nichts mehr! Doch ich werde auch noch vor Verlauf dieser Frist mein möglichstes tun, eine Spur von Ihrer Tochter zu finden. Leider ist es mir bisher noch nicht gelungen.«

»Sie gehen wieder nach Indien?«

»Sehr bald schon. Leben Sie wohl! Auf Wiedersehen an Ihrem Hochzeitstage.«

Auf Reihenfels wartete zu Hause eine Überraschung, die alle vorhergegangenen übertraf.

Endlich schien es, als solle die Dunkelheit durch einen Lichtstrahl zerrissen werden.


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