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Nach unserer Ankunft in Petersburg schrieb Anjuta sogleich an Dostojewski und bat ihn, uns zu besuchen. Fedor Michailowitsch kam an dem festgesetzen Tage. Ich erinnere mich, mit welch fieberhafter Spannung wir ihn erwarteten, wie wir schon eine Stunde vor der bestimmten Zeit auf jedes Klingeln aus dem Vorzimmer lauschten. Sein erster Besuch fiel jedoch sehr übel aus.
Wie schon berichtet, war mein Vater gegen alles, was aus der literarischen Welt kam, sehr mißtrauisch. Wenn er der Schwester auch erlaubt hatte, mit Dostojewski bekannt zu werden, so geschah dies nur mit zagendem Herzen und nicht ohne Furcht. »Merk dir das, Lisa, auf dir wird eine große Verantwortung lasten«, prägte er der Mutter ein, als wir aufbrachen. »Dostojewski ist kein Mensch unserer Gesellschaft. Was wissen wir schon von ihm? Nur, daß er Journalist und ein ehemaliger Verbrecher ist. Eine schöne Empfehlung! Das läßt sich nicht bestreiten! Man muß ihm gegenüber sehr vorsichtig sein.«
Im Hinblick darauf ordnete der Vater aufs strengste an, daß die Mutter bei der Begegnung mit Fedor Michailowitsch unbedingt anwesend sein und beide keinen Augenblick allein lassen sollte.
Ich bat mir auch die Erlaubnis aus, während seines Besuches anwesend zu sein, und unsere beiden deutschen Tantchen ersannen sofort einen Vorwand, um im Salon zu erscheinen. Sie sahen den Schriftsteller wie ein seltenes Tier neugierig an und ließen sich schließlich auf dem Sofa nieder, auf dem sie auch bis zum Schluß seines Besuchs sitzen blieben.
Anjuta ärgerte sich, daß ihre erste Begegnung mit Dostojewski, von der sie vorher soviel geträumt hatte, unter solchen widrigen Umständen stattfand; sie machte ein böses Gesicht und schwieg hartnäckig. Fedor Michailowitsch fühlte sich unter den alten Damen unbehaglich und war ebenfalls verärgert. Er kam mir an diesem Tage alt und krank vor, so wirkte er immer, wenn er mißgelaunt war. Er zwirbelte unablässig an seinem schütteren, blonden Bärtchen und biß in seinen Schnurrbart, wobei das ganze Gesicht sich verzerrte.
Die Mutter gab sich jede erdenkliche Mühe, ein interessantes Gespräch herbeizuführen; schüchtern und verwirrt wie es schien, suchte sie ihm etwas Angenehmes und Schmeichelhaftes zu sagen und überlegte, welche Frage zu stellen wohl das Beste wäre. Dostojewski erwiderte einsilbig, mit betonter Unhöflichkeit.
Endlich á bout de ses ressources, schwieg auch die Mutter. Nach einer halben Stunde nahm Fedor Michailowitsch den Hut, verneigte sich ungeschickt und ging eilig fort, ohne jemandem die Hand zu reichen.
Anjuta lief in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett und weinte hemmungslos. »Immer, immer wird einem alles verdorben!« wiederholte sie schluchzend.
Die arme Mutter fühlte sich, ohne eigentlich etwas verschuldet zu haben, doch schuldig. Es kränkte sie allerdings auch, daß man zum Dank für ihr Bestreben, alle zu befriedigen, ihr gar noch böse ist; und auch sie fing an zu weinen.
»Ja, so bist du immer; du bist mit nichts zufrieden! Der Vater hat dir den Gefallen getan und dir erlaubt, mit deinem Ideal bekannt zu werden, ich hörte eine ganze Stunde lang seine Grobheiten an, und du beschuldigst uns noch!«
Mit einem Wort, wir waren alle furchtbar unglücklich, und der Besuch, auf den wir uns so sehr vorbereitet und auf den wir so sehnsüchtig gewartet hatten, ließ ein nur schmerzliches Gefühl zurück.
Fünf Tage danach kam Dostojewski wieder zu uns, aber dieses Mal waren die Umstände wie sie günstiger nicht hätten sein können: weder die Mutter noch die Tanten waren zu Hause, meine Schwester und ich waren allein. Fedor Michailowitsch nahm Anjuta bei der Hand, sie setzten sich nebeneinander auf den Divan und sprachen sofort wie zwei alte Bekannte.
Das Gespräch war nicht mehr gezwungen wie das letzte Mal, als es sich mit Gewalt von einem langweiligen Thema zum anderen schleppte. Sowohl Anjuta, als auch Dostojewski sprachen sich ungestört aus, fielen einander in die Rede, scherzten und lachten.
Ich saß dabei, ohne mich ins Gespräch zu mengen, konnte den Blick nicht von Fedor Michailowitsch abwenden und sog alles, was er sprach, gierig ein. Er schien mir jetzt ein ganz anderer Mensch, jung, und so einfach, lieb und klug. »Ist er wirklich schon dreiundvierzig Jahre alt?« dachte ich, »ist er wirklich dreieinhalb mal älter als ich und mehr als doppelt so alt wie die Schwester? Und dazu ist er noch ein großer Schriftsteller, mit dem man ganz so wie mit einem Freunde verkehren kann!« Und da fühlte ich, daß er mir merkwürdig lieb wurde und nahe kam.
»Was für ein reizendes Schwesterchen Sie haben!« sagte Dostojewski ganz unerwartet, denn er hatte eine Minute vorher mit Anjuta über etwas ganz anderes gesprochen, ohne mir, wie es schien, auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
Ich erglühte vor Vergnügen, und mein Herz erfüllte sich mit Dankbarkeit für meine Schwester, als sie zur Antwort auf diese Bemerkung Fedor Michailowitsch zu erzählen begann, welch ein gutes, kluges Mädchen ich sei, wie ich als die einzige in der Familie immer zu ihr gehalten und ihr beigestanden hätte. Sie belebte sich völlig, indem sie mich pries und dichtete mir nicht vorhandene Verdienste an. Zum Schluß verriet sie Dostojewski sogar, daß ich Verse schreibe: »Wahrhaftig, wahrhaftig, gar nicht schlecht für ihr Alter!« Und ungeachtet meiner schwachen Proteste lief sie weg und holte das dicke Heft mit meinen Reimereien, aus welchem Fedor Michailowitsch gleich zwei, drei Bruchstücke las, die er lobte.
Die Schwester strahlte vor Freude. Mein Gott! Wie liebte ich sie in diesem Augenblick! Es schien mir, daß ich mein ganzes Leben für diese zwei lieben, mir so teuern Menschen hätte hingeben können.
Ehe man sich's versah, waren drei Stunden vergangen. Plötzlich ertönte im Vorzimmer die Klingel: Mama ist von ihren Besorgungen heimgekehrt. Nichtsahnend, daß Dostojewski bei uns weilte, trat sie ins Zimmer noch mit Hut auf dem Kopf, ganz beladen von Einkäufen und entschuldigte sich, daß sie ein wenig verspätet zu Tische komme.
Als sie Fedor Michailowitsch so ungezwungen mit uns sitzen sah, wunderte sie sich außerordentlich und erschrak: »Was würde Wassili Wassiliewitsch dazu sagen«, war ihr erster Gedanke. Aber wir fielen ihr um den Hals, und als sie uns so zufrieden und strahlend sah, taute auch sie auf, und es endete damit, daß sie Fedor Michailowitsch sogar aufforderte, mit uns zu essen.
Von diesem Tage an verkehrte er bei uns wie ein Mitglied der Familie, und mit Rücksicht darauf, daß unser Aufenthalt in Petersburg nicht lange dauern sollte, besuchte er uns sehr oft, drei-, viermal wöchentlich.
Besonders schön war es, wenn er des Abends kam und sonst kein Besuch da war. Dann pflegte er lebhaft zu werden und war außerordentlich herzlich und bezauberte uns alle. Allgemeine Gespräche konnte Fedor Michailowitsch nicht vertragen; er sprach bloß in Monologen und das auch nur dann, wenn ihm alle Anwesenden sympathisch waren und mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörten. Wenn diese Bedingungen erfüllt waren, konnte er so schön sprechen, so malerisch und anschaulich, wie ich keinen anderen je gehört habe.
Manchmal erzählte er uns den Inhalt eines künftigen Romans, manchmal Szenen und Episoden aus dem eigenen Leben. Lebhaft erinnere ich mich beispielsweise, wie er uns jene Minuten schilderte, als er, zum Erschießen verurteilt, bereits mit verbundenen Augen vor den zielenden Soldaten stand, die das verhängnisvolle Kommando: »Gebt Feuer!« erwarteten, und plötzlich statt dessen die Trommel geschlagen wurde und die Nachricht von der Begnadigung eintraf.
Ich erinnere mich noch einer anderen Erzählung. Meine Schwester und ich wußten, daß Fedor Michailowitsch an der Epilepsie litt, aber diese Krankheit war in unsern Augen von solch magischem Schrecken umgeben, daß wir uns niemals entschlossen hätten, diese Frage auch nur zu streifen. Zu unserem Erstaunen fing er einmal selbst darüber zu sprechen an und erzählte uns, unter welchen Umständen er den ersten Anfall bekam.
Später hörte ich eine ganz andere Version: Dostojewski hätte die Fallsucht in Folge einer Leibesstrafe bekommen, die er als Sträfling erlitten. Die beiden Versionen sind einander gar nicht ähnlich; welche die richtige ist, wage ich nicht zu entscheiden, da mir viele Ärzte sagten, es hätten fast alle, die an dieser Krankheit leiden, den typischen Zug, sich nicht erinnern zu können, wie es bei ihnen begann, und daß sie deswegen allerhand erdichteten.
Wie dem auch sei, Dostojewski erzählte uns folgendes: nicht in den Jahren der Zwangsarbeit sei diese Krankheit bei ihm ausgebrochen, sondern erst als er in der Verbannung lebte. Er litt damals furchtbar unter der Einsamkeit, und monatelang sah er keinen Menschen, mit dem er ein vernünftiges Wort hätte sprechen können. Da plötzlich kam ein alter Freund zu Besuch; ich habe den Namen, den Dostojewski nannte, vergessen. Es war gerade in der Nacht vor dem Ostersonntag. Wegen des freudigen Wiedersehens vergaßen sie jedoch, welche Nacht es war, und sie blieben zu Hause im Gespräch, achteten nicht der Zeit noch der Müdigkeit und berauschten sich an ihren eigenen Worten. Sie sprachen von dem, was beiden am teuersten war – von Literatur, Kunst und Philosophie; zuletzt kamen sie auf die Religion; der Freund war Atheist, Dostojewski tief gläubig, ein jeder von seiner Überzeugung durchdrungen.
»Es gibt einen Gott, es gibt einen!« schrie Dostojewski endlich außer sich vor Erregung.
In diesem Augenblick erklang von der nahen Kirche die Glocke zur Osterfrühmesse. Die Luft geriet in Schwingung und tönte dumpf. »Und ich fühlte«, erzählte Fedor Michailowitsch, »wie der Himmel zur Erde kam und mich verschlang. Ich fand wirklich Gott und ward von ihm erfüllt. ›Ja, Gott ist‹ schrie ich – und sonst erinnere ich mich an nichts!«
»Ihr seid alle gesunde Menschen«, fuhr er fort, »und Ihr habt nicht die geringste Vorstellung von jenem Glück, das wir Epileptiker in der Sekunde vor dem Anfall empfinden. Mohammed versichert in seinem Koran, daß er das Paradies gesehen habe und dort gewesen sei. Alle klugen Toren sind davon überzeugt, daß er einfach ein Lügner und Betrüger ist. Aber nein! Er lügt nicht! Er war tatsächlich im Paradies, während des Anfalls der Epilepsie, an der er gleich mir litt. Ich weiß nicht, ob diese Glückseligkeit Sekunden oder Stunden oder Monate währt, aber glauben Sie mir aufs Wort, alle Freuden, die das Leben geben kann, würde ich für sie nicht eintauschen!«
Dostojewski hatte die letzten Worte mit dem ihm eigenen leidenschaftlichen Flüstern hervorgestoßen. Wir alle blieben wie hypnotisiert, völlig unter der Herrschaft seiner Worte. Plötzlich durchschoß uns alle ein und derselbe Gedanke: er wird sofort einen Anfall bekommen. Sein Mund verzog sich nervös, das ganze Gesicht zuckte.
Dostojewski las wahrscheinlich in unseren Augen die Besorgnis. Er brach plötzlich seine Rede ab, führte die Hand über das Gesicht und lächelte bitter. »Fürchten Sie nichts«, sagte er, »ich weiß immer im voraus, wenn es über mich kommt.«
Uns war es unbehaglich und peinlich, daß er unsere Gedanken erraten hatte, und wir wußten nicht, was zu entgegnen. Fedor Michailowitsch ging bald darauf weg, später erzählte er uns, daß er tatsächlich in jener Nacht einen furchtbaren Anfall hatte.
Manchmal war Dostojewski in seinen Reden sehr realistisch und vergaß vollständig, daß er in Gegenwart von jungen Mädchen sprach. Meine Mutter brachte er damit zur Verzweiflung.
So erzählte er zum Beispiel einmal eine Szene aus einem Roman, den er noch in seiner Jugend entworfen hatte: der Held, ein Gutsbesitzer in mittleren Jahren, sorgsam und fein erzogen, bereiste das Ausland, las gute Bücher, kaufte Bilder und Stiche. In der Jugend hatte er es arg getrieben, später aber ward er ruhiger, versah sich mit Frau und Kindern und genoß allgemeine Achtung.
Als er eines Morgens erwachte, schien bereits die Sonne in sein Schlafgemach; alles um ihn ist so rein, gut und behaglich. Und auch er selbst fühlt sich so rein und gut. Seinen Körper durchströmt das Gefühl der Zufriedenheit und Ruhe. Wie ein wahrer Genießer beeilt er sich nicht aufzustehen, um den angenehmen Zustand des allgemeinen, zunehmenden Wohlbehagens zu verlängern.
Zwischen Träumen und Wachen durchlebt er in Gedanken so manche schöne Momente seiner letzten Reise ins Ausland. Er sieht wieder in der Münchner Galerie den merkwürdigen Lichtstreifen auf die nackten Schultern der heiligen Cäcilie fallen. Auch kommen ihm sehr vernünftige Stellen aus einem Buch: »Über die Schönheit und Harmonie der Welt«, das er kurz vorher gelesen hatte, in den Sinn.
Plötzlich beginnt er mitten in diesen angenehmen Träumereien und Erinnerungen ein Unbehagen zu fühlen, aber es war weder richtiger Schmerz, noch Unruhe. Ähnliches kommt bei Menschen mit alten Schußwunden vor, aus denen die Kugeln nicht herausgezogen wurden: einen Augenblick vorher schmerzte noch gar nichts, und plötzlich nagt die alte Wunde, nagt und nagt.
Unser Gutsbesitzer beginnt nachzudenken und überlegt, was das wohl zu bedeuten hätte. Schmerzen . . . es schmerzt ihn gar nichts. Aber im Herzen . . . gerade, wie wenn Katzen kratzen würden, immer schlimmer und schlimmer.
Er glaubt, er müsse sich an irgendetwas erinnern und bemüht sich und strengt das Gedächtnis an . . . Und mit einem Mal erinnert er sich wirklich an etwas, so lebhaft, so greifbar, und empfindet dabei einen solchen Ekel, als wäre es gestern, nicht vor zwanzig Jahren geschehen, während ihn das alles im Laufe der zwanzig Jahre gar nicht beunruhigt hatte.
Er erinnerte sich, wie er einmal nach einer durchschwärmten Nacht, von betrunkenen Kameraden aufgestachelt, ein zehnjähriges Mädchen vergewaltigt hatte.
Meine Mutter schlug die Hände zusammen, als Dostojewski das sagte.
»Fedor Michailowitsch, erbarmen Sie sich, hier sind Kinder!« flehte sie mit verzweifelter Stimme.
Ich habe damals Dostojewskis Worte nicht begriffen, bloß aus dem Unwillen der Mutter erriet ich, daß es etwas Schreckliches gewesen sein mußte.
Im übrigen wurden die Mutter und Fedor Michailowitsch gute Freunde. Die Mutter gewann ihn sehr lieb, obgleich sie oft manches von ihm zu ertragen hatte.
Gegen Ende unseres Petersburger Aufenthaltes kam Mama auf den Einfall, einen Abschiedsabend zu geben und alle unsere Bekannten einzuladen. Auch Dostojewski hatte sie gebeten. Er sträubte sich lange, aber der Mutter gelang es zu ihrem Unglück, ihn zu überreden.
Dieser Abend mißlang völlig. Da meine Eltern bereits seit zehn Jahren auf dem Lande lebten, hatten sie in Petersburg nicht mehr ihre Gesellschaft; das Leben hatte die alten Bekannten und Freunde längst nach verschiedenen Richtungen zerstreut. Einigen von ihnen war es im Verlaufe dieser zehn Jahre gelungen, glänzende Karriere zu machen und sich auf eine sehr hohe Stufe der gesellschaftlichen Leiter zu erheben. Andere dagegen waren der Armut und dem Bettelstab verfallen, führten in entlegenen Stadtvierteln eine kümmerliche Existenz und hatten ein kärgliches Auskommen. Diese Leute hatten gar nichts Gemeinsames, fast alle hatten jedoch die Einladung der Mutter angenommen und waren an unserem Abend erschienen, weil sie sich an »cette pauvre chère Liese« erinnerten.
Eine ziemlich große, aber sehr bunte Gesellschaft versammelte sich bei uns. Unter den Gästen befanden sich die Gemahlin und die Tochter eines Ministers, der Minister hatte versprochen, gegen Ende des Abends für einen Augenblick zu kommen, hielt jedoch nicht Wort. Auch ein sehr alter, kahlköpfiger Deutscher, ein hervorragender Staatswürdenträger, war da, von dem mir bloß in Erinnerung geblieben, daß er gar zu drollig mit dem zahnlosen Mund schmatzte und Mamas Hand fortwährend mit den Worten küßte: »Sie war sehr schön, Ihre Mutter. Keine der Töchter ist so schön.«
Dann war ein herabgekommener Gutsbesitzer aus den Ostsee-Provinzen anwesend, der in Petersburg lebte und erfolglos nach einer einträglichen Stelle suchte. Es gab viele ehrwürdige Witwen und alte Jungfern, einige Akademiker, die noch mit meinem Großvater befreundet gewesen waren. Das deutsche Element, würdevoll, geziert und farblos, herrschte vor.
Die Wohnung der Tanten war zwar recht groß, bestand aber aus lauter kleinen Zellen, gefüllt mit einer Menge unnützer, häßlicher Dinge und Nippes, welche die zwei ledig gebliebenen deutschen Jungfern im Laufe ihres langen Lebens gesammelt hatten. Infolge der vielen Gäste und der Menge brennender Kerzen war die Luft furchtbar drückend. Zwei Diener, schwarz befrackt und mit weißen Handschuhen, reichten auf dem Präsentierbrett Tee, Süßigkeiten und Früchte herum.
Meine Mutter, des großstädtischen Lebens, das sie früher so sehr liebte, entwöhnt, hatte im stillen Angst und war aufgeregt: »Ist auch alles bei uns, wie es sich gehört? Geht es nicht zu altmodisch, zu provinziell her? Und werden die alten Bekannten nicht finden, daß wir hinter ihrer Welt zurückgeblieben sind?«
Die Gäste interessierten sich wenig füreinander. Alle langweilten sich, aber als wohlerzogene Leute, bei denen solche Abende einen unvermeidlichen Bestandteil ihres Lebens bilden, fügten sie sich, ohne zu murren, in ihr Schicksal und ertrugen stoisch diese Langweile.
Man kann sich vorstellen, wie es dem armen Dostojewski in einer solchen Gesellschaft erging. Sowohl durch sein Aussehen als auch durch sein ganzes Benehmen unterschied er sich scharf von allen anderen. In einem Anfall von Selbstverleugnung hatte er es für notwendig erachtet, den Frack anzulegen, und dieser Frack, der schlecht und unbequem saß, ärgerte ihn im stillen während des ganzen Abends. Dieser Ärger begann schon in dem Augenblick, als Dostojewski die Schwelle des Salons betrat. Wie alle nervösen Menschen empfand er eine peinliche Verlegenheit, wenn er in eine unbekannte Gesellschaft geriet, und je dümmer, unsympathischer und bedeutungsloser ihm diese erschien, desto verwirrter wurde er, und durch das Gefühl des Ärgers aufgeregt, suchte er nun, mit irgendjemandem Händel zu beginnen.
Meine Mutter beeilte sich, ihn den Gästen vorzustellen, aber statt des Grußes murmelte er nur etwas Unverständliches und kehrte ihnen den Rücken. Das allerschlimmste aber war, daß er den Anspruch erhob, Anjuta ganz für sich allein zu haben. Er führte sie in einen Winkel des Salons und ließ deutlich die Absicht erkennen, sie von dort nicht mehr fortzulassen. Das verstieß selbstverständlich gegen alle Regeln gesellschaftlichen Anstands, überdies war sein Benehmen ihr gegenüber alles andere als salonfähig: er faßte sie an den Händen und beugte sich, wenn er mit ihr sprach, bis zu ihrem Ohr. Anjuta selbst wurde es unbehaglich zumute, und die Mutter war außer sich. Anfangs versuchte sie, Dostojewski auf zarte Weise verständlich zu machen, daß dieses Betragen unschicklich sei; gleichsam zufällig vorbeigehend, rief sie die Schwester und wollte sie mit irgendeinem Auftrag wegschicken. Anjuta hatte sich bereits erhoben, aber Fedor Michailowitsch hielt sie zurück: »Nein, warten Sie, Anna Wassiliewna, ich habe Ihnen noch nicht zu Ende erzählt.«
Nun verlor aber die Mutter völlig die Geduld. »Entschuldigen Sie, Fedor Michailowitsch, aber als Tochter des Hauses muß sich Anjuta auch den anderen Gästen widmen«, sagte sie sehr barsch und führte die Schwester fort.
Fedor Michailowitsch wurde böse, zog sich in eine Ecke zurück und schwieg trotzig, indem er alle Anwesenden maliziös musterte.
Unter den Gästen war einer, der ihm vom ersten Augenblick unerträglich erschien. Das war einer unserer weitläufigen Verwandten aus der Schubertschen Familie, ein junger Deutscher, Offizier bei einem Garde-Regiment. Er galt als eleganter junger Mann, sah gut aus, war klug und gebildet, in der besten Gesellschaft sehr beliebt, nicht zu bedeutend, aber guter Durchschnitt. Er machte auch Karriere, wie es sich ziemt, nicht aufdringlich rasch, sondern solid, ehrenhaft; er verstand es, jenem einen Dienst zu erweisen, dem er gebührte, aber ohne erkennbare Absichtlichkeit und tiefe Bücklinge.
Auf die Rechte der Verwandtschaft hin machte er seiner Cousine den Hof, wenn er sie bei den Tanten traf, aber auch das mit sehr viel Takt und recht unauffällig, wobei er aber erraten ließ, daß er »Absichten habe«.
Wie es immer in solchen Fällen geschieht, wußten alle, daß er der mögliche und wünschenswerte Bräutigam sei, aber man gab sich den Anschein, als ob man eine solche Möglichkeit nicht vermutete. Selbst meine Mutter, wenn sie mit den Tanten allein blieb, hat bloß mit halben Worten und Andeutungen diese delikate Frage berührt.
Dostojewski jedoch brauchte nur einen Blick auf diese schöne, hohe, selbstzufriedene Gestalt zu werfen, um sie auch schon bis zur Raserei zu hassen.
Der junge Kürassier, malerisch in einen Fauteuil hingestreckt, ließ die modern genähten Pantalons, die seine langen, schlanken Beine eng umschlossen, in ihrer ganzen Schönheit sehen. Die Epaulettes schüttelnd und sich leicht zu meiner Schwester neigend, erzählte er irgend etwas Amüsantes. Anjuta, von dem Zwischenfall mit Dostojewski noch verwirrt, hörte ihm mit ihrem einstudierten Salon-Lächeln zu, »mit dem Lächeln eines keuschen Engels«, wie es die englische Gouvernante giftig bezeichnet hatte.
Fedor Michailowitsch wandte kein Auge von dieser Gruppe, und in seinem Kopf entstand ein ganzer Roman: Anjuta kann diesen »Teutschen«, diesen »selbstgefälligen Frechling« nicht ausstehen und verachtet ihn, aber die Eltern wollen sie um jeden Preis mit ihm zusammenführen und verheiraten. Der Abend wurde natürlich nur zu diesem Zweck veranstaltet! Dostojewski glaubte auch an seinen erfundenen Roman, und er wurde immer grimmiger.
Den Hauptgesprächsstoff in diesem Winter bildete das Buch eines englischen Geistlichen, ein Vergleich zwischen der Orthodoxie und dem Protestantismus. In dieser russisch-deutschen Gesellschaft war das ein für alle interessantes Thema, und als es berührt wurde, begann die Unterhaltung lebhafter zu werden. Die Mutter, selbst eine Deutsche, bemerkte, daß einer der Vorzüge der Protestanten den Orthodoxen gegenüber darin bestehe, daß sie das Evangelium häufiger zu lesen pflegen.
»Ja, ist denn das Evangelium für Salondamen geschrieben?« fiel plötzlich Dostojewski ein, der bisher hartnäckig geschwiegen hatte. »Wie heißt es denn da? ›Am Anfang schuf Gott Mann und Frau‹, und weiter: ›Und der Mann wird Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhangen.‹ So verstand Christus die Ehe! Und was sagen dazu alle Mütterchen, die bloß daran denken, wie man die Töchter nur noch vorteilhafter versorgen könnte!«
Dostojewski sagte das mit ungewöhnlichem Pathos. Er krümmte sich, wie jedesmal, wenn er sich aufregte, zusammen, und schien seine Worte wie Pfeile abzuschießen. Die Wirkung war verblüffend. Alle diese wohlerzogenen Deutschen verstummten und glotzten ihn an. Erst nach Verlauf von einigen Sekunden begriffen plötzlich alle die ganze Unschicklichkeit des Gesagten, und alle begannen durcheinander zu sprechen, um den peinlichen Vorfall zu vertuschen.
Dostojewski sah noch einmal alle böse, mit einem herausfordernden Blick an, verbarg sich dann wieder in seinem Winkel und brachte bis zum Schluß des Abends kein Wort mehr hervor.
Als er das nächste Mal wieder bei uns erschien, versuchte die Mutter, ihn kühl zu empfangen, ihm zu zeigen, daß sie beleidigt sei, aber bei ihrer merkwürdigen Güte und Weichheit konnte sie niemandem lange zürnen, um so weniger einem solchen Menschen wie Fedor Michailowitsch; deshalb wurden sie bald wieder die alten Freunde.
Dagegen hatten sich seit diesem Abend die Beziehungen zwischen Anjuta und Fedor Michailowitsch spürbar verändert – gerade als ob beide in eine andere Phase ihrer Gefühle getreten wären. Dostojewski gelang es nun gar nicht mehr, Anjuta zu imponieren, im Gegenteil, sie hatte das Verlangen, ihm zu widersprechen, ihn zu ärgern, und er war jetzt nervös wie nie zuvor und suchte fast immer Streit. Er begann Rechenschaft zu fordern, wie sie die Tage, an denen er nicht bei uns war, verbrachte, und verhielt sich allen Menschen gegenüber, denen sie einige Sympathie zeigte, feindlich. Er kam nicht seltener zu uns, sondern eher öfter und blieb länger als früher, zankte sich aber fast die ganze Zeit mit meiner Schwester.
Zu Beginn ihrer Bekanntschaft war Anjuta bereit, auf jedes Vergnügen, jede Einladung an den Tagen, da sie Dostojewski bei uns erwartete, zu verzichten; und wenn er im Zimmer war, beachtete sie keinen andern. Jetzt aber veränderte sich das alles; kam er, wenn wir Gäste hatten, so fuhr sie ruhig fort, sich mit diesen zu unterhalten. War sie an einem Abend, an dem er nach Verabredung hätte kommen sollen, irgendwohin eingeladen, so schrieb sie ihm jetzt ab und entschuldigte sich.
Am darauffolgenden Tage kam Fedor Michailowitsch und trat schon böse ein. Anjuta tat, als bemerke sie seine Verstimmung nicht, nahm die Arbeit zur Hand und begann zu nähen. Das erzürnte Dostojewski noch mehr. Er setzte sich in eine Ecke und schwieg mürrisch. Meine Schwester schwieg auch.
»So lassen Sie doch das Nähen!« sagte er endlich, nicht länger an sich haltend, und nahm ihr das Nähzeug aus der Hand.
Meine Schwester kreuzt die Arme über der Brust und schweigt noch immer.
»Wo waren Sie gestern?« fragt Fedor Michailowitsch erzürnt.
»Auf einem Ball«, antwortet meine Schwester gleichmütig.
»Getanzt?«
»Versteht sich.«
»Mit dem Vetterchen?«
»Mit ihm und mit anderen.«
»Und das amüsiert Sie?« setzt Dostojewski sein Verhör fort.
Anjuta zuckte mit den Schultern. »Wenn man nichts Besseres vorhat, so unterhält auch das,« erwidert sie und greift wieder nach ihrer Arbeit.
Dostojewski sieht sie einige Minuten schweigend an. »Sie sind ein törichtes, oberflächliches Mädchen, das ist es!« sagt er schließlich.
In dieser Art wurden jetzt oft ihre Gespräche geführt.
Das Thema des Streites, das immer wieder auftauchte und über das sie ständig streiten konnten, war der Nihilismus. Der Disput über diese Frage dauerte manchmal weit über Mitternacht, und je länger sie sprachen, desto mehr ereiferten sie sich, und in der äußersten Hitze des Gefechtes sprachen sie Ansichten aus, die weit extremer waren, als jene, welche sie tatsächlich hatten.
»Die ganze heutige Jugend ist dumpf und unentwickelt!« schrie Dostojewski manchmal. »Ihr sind geputzte Stiefel mehr wert als Puschkin!«
»Puschkin ist in der Tat für unsere Zeit veraltet«, bemerkte ruhig die Schwester, wohl wissend, daß man Fedor Michailowitsch durch nichts so wütend machen konnte, wie durch eine unehrerbietige Bemerkung über Puschkin.
Dostojewski war außer sich vor Zorn, nahm den Hut und erklärte feierlich: mit einer Nihilistin zu streiten sei unnütz, und sein Fuß werde unser Haus nicht mehr betreten. Aber er kam selbstverständlich am nächsten Tag wieder, als ob nichts vorgefallen wäre.
Während sich die Beziehungen zwischen Dostojewski und meiner Schwester dem Anscheine nach immer mehr verschlechterten, wuchs meine Freundschaft für ihn täglich. Ich begeisterte mich mehr und mehr für ihn und unterwarf mich vollständig seinem Einfluß. Er bemerkte natürlich meine grenzenlose Verehrung, und sie war ihm angenehm. Er stellte mich stets der Schwester als Vorbild hin.
Wenn Dostojewski irgendeinen tiefen Gedanken oder ein geniales Paradoxon äußerte, die gegen die hergebrachte Moral verstießen, fiel es der Schwester plötzlich ein, so zu tun, als verstehe sie nicht . . . mir glühten die Augen vor Begeisterung, sie aber, um ihn zu ärgern, ging mit einigen seichten, abfälligen Bemerkungen darüber hinweg.
»Sie haben eine erbärmliche, unbedeutend kleine Seele!« ereiferte sich dann Fedor Michailowitsch. »Das ist Sache Ihrer Schwester! Sie ist noch ein Kind, aber wie versteht sie mich, weil sie eine feine Seele hat!«
Ich errötete vor Freude, und wenn es nötig gewesen wäre, hätte ich mich in Stücke zerschneiden lassen, um ihm zu beweisen, wie ich ihn verstand.
Tief in der Seele war ich sehr zufrieden, daß Dostojewski nicht mehr so für die Schwester schwärmte, wie zu Beginn ihrer Bekanntschaft. Ich schämte mich dieses Gefühls sehr, machte mir darob und über mein verändertes Benehmen der Schwester gegenüber Vorwürfe und kam, fast unbewußt, mit meinem Gewissen überein, meine heimliche Sünde durch besondere Zärtlichkeit und Dienstfertigkeit wiedergutzumachen. Die Gewissensbisse haben mich jedoch nicht gehindert, jedesmal unwillkürlich zu frohlocken, wenn Anjuta und Dostojewski sich zankten. Fedor Michailowitsch nannte mich seine Freundin – in meiner Naivität glaubte ich ihm mehr zu bedeuten als die ältere Schwester, und daß ich ihn besser verstehe.
Selbst mein Äußeres pries er zu Anjutas Nachteil. »Sie bilden sich ein, daß Sie sehr hübsch sind«, sagte er. »Aber Ihr Schwesterchen da wird mit der Zeit viel hübscher als Sie werden! Sie hat ein ausdrucksvolleres Gesicht und Zigeuneraugen! Sie aber sind nur eine recht nette kleine Deutsche! Das ist es!«
Anjuta lächelte verächtlich; ich aber sog mit Entzücken die mir völlig neuen Lobpreisungen meiner Schönheit ein.
»Sollte das vielleicht zutreffen?« sagte ich mir mit klopfendem Herzen, und ernstlich besorgt dachte ich sogar darüber nach, wie man es einrichten könnte, daß die Schwester durch die Bevorzugung, welche Dostojewski mir angedeihen läßt, nicht gekränkt werde.
Ich hätte so gern erfahren, was Anjuta selbst über all das denkt, und ob es richtig ist, daß ich hübsch sein werde, wenn ich ganz erwachsen, bin. Diese letzte Frage beschäftigte mich besonders.
In Petersburg schlief ich mit der Schwester in demselben Zimmer, und abends beim Auskleiden fanden unsere vertraulichsten Gespräche statt.
Anjuta steht gewöhnlich vor dem Spiegel, kämmt ihr langes, blondes Haar und flicht es für die Nacht in zwei Zöpfe. Diese Angelegenheit braucht Zeit: ihr Haar ist sehr dicht, seidenartig, und sie kämmt es gern und lang. Ich sitze auf dem Bett, schon entkleidet, die Hände um die Knie, und denke darüber nach, wie ich das Gespräch auf das Thema bringen soll, das mich so sehr interessiert.
»Was für komische Dinge Fedor Michailowitsch heute sagte!« begann ich schließlich, indem ich mich bemühte, möglichst gleichgültig zu erscheinen.
»Was denn?« fragt die Schwester zerstreut. Offenbar hat sie das für mich so wichtige Gespräch schon längst vergessen.
»Nun, daß ich Zigeuneraugen habe und einmal hübsch sein werde«, sage ich und fühle, daß ich bis über die Ohren erröte.
Anjuta läßt die Hand mit dem Kamm sinken und wendet mir das Gesicht zu, wobei sie malerisch den Hals biegt.
»Und du glaubst, daß Fedor Michailowitsch dich hübscher als mich findet?« fragt sie und blickt mich dabei frohlockend und rätselhaft an.
Dieses seltsame Lächeln, diese grünen, spöttischen Augen und das aufgelöste, blonde Haar machen sie völlig zu einer Wassernixe. Neben ihr, im großen Spiegel, der gerade gegenüber ihrem Bett steht, sehe ich mein eigenes, kleines, braunes Figürlichen und kann uns vergleichen. Ich kann nicht sagen, daß dieser Vergleich besonders schmeichelhaft für mich ausfällt, aber der kalte, sichere Ton meiner Schwester ärgert mich, und ich will mich nicht ergeben.
»Der Geschmack ist oft verschieden!« sage ich böse.
»Ja, es gibt auch einen sonderbaren Geschmack!« bemerkt Anjuta ruhig und fährt fort, ihr Haar zu kämmen.
Die Kerze ist schon ausgelöscht, und ich, das Gesicht ins Kissen gedrückt, grüble noch immer über dieselbe Frage nach.
»Es ist ja doch möglich, daß Fedor Michailowitsch einen solchen Geschmack hat, daß ich ihm gefalle«, dachte ich bei mir, und mechanisch, wie ich es als Kind gewohnt war, beginne ich still für mich zu beten: »Lieber Gott! Mögen alle, mag die ganze Welt von Anjuta entzückt sein – mach es nur so, daß ich Fedor Michailowitsch als die Hübscheste erscheine!« Allein dieser Illusion stand in nächster Zeit eine grausame Enttäuschung bevor.
Zu der großen Zahl jener talents d'agrément, die zu üben Dostojewski uns ermunterte, gehörte die Musik. Bisher lernte ich das Klavierspielen, wie wohl die meisten Mädchen, ohne dafür eine besondere Leidenschaft oder Abneigung zu empfinden. Ich hatte ein mittelmäßiges Gehör, da man mich aber seit meinem fünften Lebensjahr eineinhalb Stunden täglich Skalen und Übungen spielen ließ, besaß ich bereits im dreizehnten Jahr eine gewisse Fingerfertigkeit, einen ziemlich guten Anschlag und eine Gewandtheit im Notenlesen.
Kurze Zeit, nachdem wir mit Dostojewski bekannt geworden waren, spielte ich ihm einmal ein Stück vor, das ich besonders gut konnte: »Variationen über Motive aus russischen Liedern«. Fedor Michailowitsch war kein eigentlicher Musikliebhaber. Er gehörte zu jenen Menschen, bei denen ein musikalischer Genuß von rein subjektiven Ursachen, von der Stimmung im gegebenen Augenblick abhängt. Oft ruft die beste künstlerische Ausführung bei ihnen nur ein krampfhaft unterdrücktes Gähnen hervor; ein anderes Mal aber bewegt sie ein Leierkasten, der im Hofe spielt, zu Tränen.
Als ich damals spielte, befand sich Fedor Michailowitsch gerade in einer empfindsamen, bewegten Stimmung; deshalb geriet er über mein Spiel in Entzücken und ließ sich in gewohnter Weise hinreißen, an mich die übertriebensten Lobeserhebungen zu verschwenden: ich hätte Talent und Seele und Gott weiß was.
Selbstverständlich gab ich mich seit jenem Tage mit Leidenschaft der Musik hin. Ich erbat mir bei Mama eine gute Lehrerin und verbrachte während unseres ganzen Petersburger Aufenthaltes jede freie Minute am Klavier, so daß ich in diesen drei Monaten tatsächlich große Fortschritte machte.
Jetzt wollte ich für Dostojewski eine Überraschung vorbereiten. Er hatte uns einmal erzählt, daß er von allen musikalischen Kunstwerken die Pathétique von Beethoven am meisten liebe und diese ihn immer in eine Welt vergessener Gefühle versetze. Obgleich die Sonate bedeutend schwieriger war als alle bisher von mir gespielten Stücke, entschloß ich mich doch, sie um jeden Preis einzuüben, und indem ich wirklich alle Mühe daran setzte, erreichte ich es schließlich, daß ich sie leidlich gut spielen konnte.
Jetzt wartete ich bloß auf die günstige Gelegenheit, Dostojewski damit zu erfreuen. Eine solche bot sich bald.
Es blieben bis zur Abreise im ganzen nur noch fünf, sechs Tage. Die Mutter und alle Tanten waren zu einem großen Diner beim schwedischen Gesandten, einem alten Freund unserer Familie, eingeladen. Anjuta, die des Herumfahrens und der Diners müde war, entschuldigte sich mit Kopfschmerzen. Wir blieben allein zu Hause. An diesem Abend kam Dostojewski zu uns.
Die Nähe der Abreise, der Gedanke, daß von den Eltern niemand zu Hause ist und daß sich solche Abende jetzt nicht bald wiederholen werden, das alles versetzte uns in eine seltsame Gemütsstimmung. Fedor Michailowitsch war auch so eigenartig nervös, nicht, wie es bei ihm in der letzten Zeit oft vorkam, aufgeregt, im Gegenteil, weich und zärtlich.
Da! Jetzt ist ein ausgezeichneter Moment, ihm seine Lieblingssonate vorzuspielen; ich freute mich schon im voraus bei dem Gedanken, welches Vergnügen ich ihm bereiten werde.
Ich begann zu spielen. Die Schwierigkeit des Stückes, die Notwendigkeit, jede Note zu beachten, die Angst, falsch zu greifen, haben bald meine ganze Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch genommen, daß ich meiner Umgebung vollständig entrückt wurde und nicht bemerkte, was um mich herum vorging. Ich hatte die Sonate beendet – mit dem befriedigenden Bewußtsein, gut gespielt zu haben. In den Händen fühlte ich eine angenehme Müdigkeit. Noch ganz unter dem Einflusse der Musik und jener angenehmen Erregung, die sich immer nach jeder gut ausgeführten Aufgabe einstellt, erwartete ich das verdiente Lob. Aber alles blieb still. Ich wandte mich um: niemand war im Zimmer.
Das Herz erstarrte mir. Ich wußte nicht, was ich denken sollte; aber nichts Gutes ahnend, ging ich ins nächste Zimmer. Auch da niemand! Ich schob den Türvorhang zur Seite und erblickte endlich im kleinen Salon Fedor Michailowitsch und Anjuta. Aber mein Gott, was sah ich!
Sie saßen nebeneinander auf dem kleinen Sofa. Das Zimmer war von einer Lampe mit großem Schirm nur schwach erleuchtet. Das Gesicht der Schwester konnte ich nicht wahrnehmen, da es im Schatten lag. Aber Dostojewskis Gesicht sah ich deutlich: es war bleich und erregt. Er hielt Anjutas Hand in seinen Händen, und zu ihr gebeugt sprach er mit jenem leidenschaftlichen, stoßweisen Flüstern, das ich kannte und so sehr liebte:
»Mein Täubchen, Anna Wassiliewna, bedenken Sie doch, ich liebte Sie ja von dem ersten Augenblick an, da ich Sie erblickte; ja, sogar früher ahnte ich es schon, aus den Briefen vorher. Und nicht mit Freundschaft liebe ich Sie, sondern mit Leidenschaft, mit meinem ganzen Wesen . . .«
Mir wurde es dunkel vor den Augen. Das Gefühl einer bitteren Vereinsamung, einer furchtbaren Kränkung erfaßte mich plötzlich, und das ganze Blut, das anfangs zum Herzen strömte, stürzte in heißen Wellen zum Kopf. Ich ließ die Portiere los und rannte aus dem Zimmer; hinter mir hörte ich den Stuhl umfallen, den ich unvorsichtigerweise angestoßen hatte.
»Bist du es, Sonja?« rief die Schwester erschrocken.
Ich aber antwortete nicht, lief davon und blieb erst stehen, als ich unser Schlafzimmer auf der gegenüberliegenden Seite, am Ende eines langen Korridors, erreicht hatte. Ohne die Kerze anzuzünden, riß ich mir das Kleid herab, warf mich noch halb angekleidet aufs Bett und vergrub den Kopf unter die Decke.
Ich hatte in diesem Augenblick nur die eine Angst, daß etwa die Schwester kommen und mich in den Salon zurückrufen könnte. Ich hätte den Anblick der beiden jetzt nicht ertragen.
Ein noch nie empfundenes Gefühl der Verbitterung, der Beleidigung und Scham erfüllte meine Seele. Bis zu dieser Stunde hatte ich mir selbst in den geheimsten Betrachtungen über die Gefühle für Dostojewski keine Rechenschaft gegeben und mir nicht eingestanden, daß ich in ihn verliebt sei. Obgleich ich erst dreizehn Jahre alt war, hatte ich schon ziemlich viel von Liebe gehört und gelesen, aber ich glaubte, daß man sich nur in Büchern, nicht aber im wirklichen Leben verliebt. Was Dostojewski betrifft, dachte ich, daß dies das ganze Leben lang so gehen würde, wie es diese Monate gewesen.
»Und mit einem Male alles, alles zu Ende!« wiederholte ich mir immer wieder voller Verzweiflung. Und erst jetzt, da mir alles als ein unwiederbringlicher Verlust erschien, wurde mir deutlich, wie glücklich ich alle diese Tage, gestern, heute, noch einige Augenblicke vorher gewesen war – und jetzt, mein Gott, jetzt!
Was zu Ende war, was sich verändert hatte, gestand ich mir nicht ein; ich fühlte bloß, daß alles für mich abgeblüht und weiter zu leben nicht der Mühe wert sei.
»Und weshalb haben sie mich genarrt, weshalb heimlich getan, weshalb sich verstellt?« warf ich ihnen mit boshafter Ungerechtigkeit vor.
»Nun, mag er sie lieben, mag er sie heiraten, was geht mich das an!« sagte ich mir einige Sekunden darauf; aber die Tränen flossen immer fort, und im Herzen fühlte ich jenen unerträglichen, mir neuen Schmerz.
Die Zeit verstrich. Jetzt hätte ich gewünscht, daß Anjuta mich holen käme. Ich zürnte ihr, daß sie nicht nach mir sah.
»Sie kümmern sich nicht um mich, auch wenn ich sterben würde! Gott, wenn ich wirklich sterben könnte!« Ich tat mir plötzlich unsäglich leid, und die Tränen flossen noch stärker.
»Was tun sie wohl jetzt? Wie glücklich müssen sie miteinander sein!« Und bei diesem Gedanken überkam mich das unbändige Verlangen, hinzulaufen und ihnen Grobheiten zu sagen. Ich sprang aus dem Bett, suchte mit zitternden Händen ein Streichhölzchen, um Licht zu machen und mich anzukleiden. Aber ich fand keines.
Da ich meine Kleidungsstücke vorhin im Zimmer herumgeworfen hatte, konnte ich mich im Finstern nicht anziehen, und das Stubenmädchen zu rufen, schämte ich mich; deshalb warf ich mich abermals ins Bett und begann, im Gefühl meiner hilflosen, hoffnungslosen Verlassenheit, wieder zu weinen.
Von den ersten Tränen ermüdet man bald – wenn man solche Schmerzausbrüche nicht gewohnt ist. Der Paroxismus einer großen Verzweiflung verwandelt sich in eine dumpfe Starre.
Aus dem Salon drang kein Laut bis zu unserm Schlafgemach, aber aus der benachbarten Küche hörte man, wie die Dienstboten das Abendbrot vorbereiteten. Sie klopften mit Tellern und Messern; die Mädchen plauderten und lachten. »Alle sind fröhlich, allen ist es wohl, bloß ich bin einsam . . .«
Endlich, nach Verlauf von einigen Ewigkeiten, wie es mir schien, vernahm man starkes Klingeln. Das waren die Mutter und die Tanten, welche vom Diner zurückkehrten. Man hörte die eiligen Schritte des Dieners, der öffnen ging; dann erklangen im Vorzimmer laute, fröhliche Stimmen, wie immer, wenn man von einem Besuch heimkehrt.
»Dostojewski ist sicherlich noch nicht fortgegangen. Wird Anjuta der Mutter gleich heute oder erst morgen erzählen, was sich ereignet hat?« dachte ich. Und da unterschied ich auch schon seine Stimme unter den anderen. Er verabschiedet sich, beeilt sich fortzugehen. Mit angespanntem Gehör vernehme ich sogar, wie er die Galoschen anzieht. Wieder schlägt die Vorzimmertür zu, und bald darauf hörte man im Korridor das Geräusch von Anjutas Schritten. Sie öffnete die Tür, und ein heller Lichtstreifen fiel mir gerade ins Gesicht. Dieses unerträglich scharfe Licht tat meinen verweinten Augen weh, und ein geradezu körperliches Gefühl der Feindseligkeit gegen die Schwester stieg plötzlich in mir auf.
»Die Abscheuliche! Sie freut sich!« dachte ich verbittert, kehrte mich rasch zur Wand und stellte mich schlafend.
Anjuta sputete sich nicht, stellte die Kerze auf die Kommode, dann kam sie an mein Bett und stand einige Minuten schweigend da. Ich lag regungslos und hielt den Atem an.
»Ich sehe es doch, daß du nicht schläfst!« sagte Anjuta schließlich.
Ich schwieg noch immer.
»Nu, wenn du schmollen willst, so schmolle! Für dich ist es ja schlimmer, du wirst nichts erfahren!« sagte die Schwester und begann sich auszukleiden, als ob nichts geschehen wäre.
Ich erinnere mich, daß ich jene Nacht einen Traum hatte. Überhaupt ist das sehr seltsam: wann immer im Leben ein großer, schwerer Schmerz über mich hereinbrach, träumte ich stets in der darauffolgenden Nacht merkwürdig schöne und angenehme Träume. Aber wie schwer ist dafür der Augenblick des Erwachens! Die Träume sind noch nicht ganz verschwunden; im ganzen Körper, noch müde von den gestrigen Tränen, fühlt man nach einigen Stunden lebhaften Träumens eine angenehme Erschöpfung, ein physisches Wohlbehagen infolge der wiederhergestellten Harmonie. Plötzlich schlägt im Kopf wie mit einem Hammer die Erinnerung an jenes schreckliche, nicht wieder gutzumachende Ereignis von gestern, und das Bewußtsein der Notwendigkeit, weiterzuleben und sich zu quälen, legt sich wie Zentnerlast auf die Seele.
Viel Schlechtes gibt es im Leben! Alle Arten von Leiden sind widerwärtig! Schwer ist der Paroxismus der ersten, starken Verzweiflung, wenn sich das ganze Wesen empört und unser Herz sich weigert, die volle Größe des Verlustes zu ermessen. Sind jene langen, langen Tage, die folgen, denn nicht fast noch schlimmer, wenn die Tränen schon alle ausgeweint sind und die Erregung sich gelegt hat und der Mensch nicht mehr mit dem Kopf gegen die Wand rennen will, sondern bloß erkennt, wie sich in seiner Seele unter dem Druck des hereingebrochenen Schmerzes ein langsamer, für andere unsichtbarer Prozeß der Vernichtung und des Verfalles vollzieht? Alles das ist entsetzlich und qualvoll, aber dennoch sind die ersten Minuten der Wiederkehr zur traurigen Wirklichkeit, nach der kurzen Zwischenzeit der Bewußtlosigkeit, beinahe die allerschwersten.
Den ganzen nächsten Tag verbrachte ich in fieberhafter Erwartung: was wird geschehen? Die Schwester befragte ich über gar nichts. Ich fuhr fort, gegen sie den gestrigen Unwillen zu fühlen, allerdings schon in schwächerem Maße, und wich ihr deshalb überall aus. Als sie mich so unglücklich sah, versuchte sie, sich mir zu nähern, mit mir zärtlich zu sein, aber ich stieß sie unsanft, voll plötzlich aufsteigenden Zornes weg. Da war auch sie beleidigt und überließ mich meinen eigenen traurigen Gedanken.
Ich weiß nicht warum, aber ich erwartete, daß Dostojewski zu uns kommen und daß dann etwas Fürchterliches geschehen werde, aber er kam nicht. Wir setzten uns schon zu Tisch, und er zeigte sich noch immer nicht. Am Abend erfuhr ich, daß wir ins Konzert fahren sollen. Während die Zeit verstrich, ohne daß er kam, wurde mir immer leichter ums Herz, und in mir begann sogar eine dunkle, unbestimmte Hoffnung zu keimen.
Plötzlich fiel mir ein: »Sicherlich wird die Schwester auf das Konzert verzichten, zu Hause bleiben, und wenn sie allein ist, wird Fedor Michailowitsch kommen.« Mein eifersüchtiges Herz krampfte sich bei diesem Gedanken zusammen.
Allein, Anjuta verzichtete nicht auf das Konzert, sie fuhr mit uns und war den ganzen Abend sehr heiter und gesprächig.
Nach der Rückkehr, als wir uns schon zu Bette begeben hatten und Anjuta sich bereits anschickte, die Kerze auszulöschen, hielt ich es nicht mehr aus. Ohne sie anzusehen, fragte ich:
»Wann wird dich denn Fedor Michailowitsch besuchen?«
Anjuta lächelte. »Du willst ja doch nichts wissen, du willst ja mit mir nicht sprechen, du beliebst ja mit mir zu schmollen!«
Ihre Stimme war so mild und weich, daß mein Herz plötzlich schmolz, und sie mir wieder schrecklich lieb wurde.
»Wie soll er sie denn nicht lieben, wenn sie so bezaubernd ist! und ich – so schlecht und böse!« dachte ich bei mir in plötzlich überströmender Selbstdemütigung.
Ich kroch zu ihr ins Bett hinüber, schmiegte mich an sie und weinte. Sie strich mir zärtlich übers Haar.
»Na, hör doch einmal auf, Närrchen! Ist die aber dumm!« wiederholte sie zärtlich. Plötzlich konnte sie sich nicht länger beherrschen und brach in Lachen aus: »Was für eine Idee! Sich zu verlieben! Und in wen? In einen Menschen, der dreieinhalb mal älter ist als sie!«
Diese Worte, dieses Lachen erweckten in meiner Seele mit einem Mal eine unsinnige Hoffnung.
»Also wirklich, du liebst ihn nicht?« fragte ich flüsternd, vor Aufregung fast atemlos.
Anjuta wurde nachdenklich. »Ja, siehst du«, begann sie und hatte augenscheinlich Mühe, die richtigen Worte zu finden: »Ich, das versteht sich, liebe ihn sehr und ungeheuer, ungeheuer verehre ich ihn! Er ist so gut, so klug, so genial!« Sie belebte sich jetzt völlig, und mein Herz ward wieder beklommen. »Aber wie soll ich dir das erklären? Ich liebe ihn nicht so, wie er . . . nun, mit einem Wort, ich liebe ihn nicht so, um ihn zu heiraten!« entschied sie plötzlich.
Gott, wie hell wurde es in meiner Seele! Ich stürzte mich auf die Schwester und begann ihr Hände und Hals zu küssen. Anjuta sprach noch lange.
»Und siehst du, ich selbst wundere mich manchmal, daß ich ihn nicht lieben kann! Er ist ein so guter Mensch! Anfangs glaubte ich, daß ich ihn vielleicht lieben werde. Aber er braucht eine ganz andere Frau, als ich es bin. Seine Frau muß sich ihm ganz, ganz widmen, ihm ihr ganzes Leben hingeben und nur an ihn denken. Und das kann ich nicht; ich will selbst leben! Überdies ist er so nervös und anspruchsvoll. Er reißt mich förmlich an sich, neben ihm verschwinde ich; bei ihm bin ich niemals ich selbst.«
Das alles sagte Anjuta nur scheinbar mir, im Grunde aber, um sich selbst klar zu werden. Ich gab mir den Anschein, daß ich sie verstehe und mit ihr fühle, doch im Herzen dachte ich: »Gott! Welches Glück muß es sein, stets bei ihm zu weilen und sich ihm völlig unterzuordnen! Wie kann die Schwester ein solches Glück von sich stoßen!«
Wie dem auch sei, diese Nacht schlief ich lange nicht mehr so unglücklich ein wie am Abend vorher.
Nun war der für die Abreise bestimmte Tag schon ganz nahe. Fedor Michailowitsch kam noch einmal zu uns, um Abschied zu nehmen. Er blieb nicht lange und betrug sich Anjuta gegenüber freundschaftlich und unbefangen, und sie versprachen einander zu schreiben. Sein Abschied von mir war sehr zärtlich. Zu guter Letzt küßte er mich sogar, hatte aber sicher keine Ahnung, welcher Art meine Gefühle für ihn waren und wie viele Leiden er mir verursacht hatte.
Sechs Monate später erhielt die Schwester von Fedor Michailowitsch einen Brief, in welchem er ihr mitteilt, daß er einem wunderbaren Mädchen begegnet sei, das er liebgewonnen und das ihn heiraten wolle. Dieses Mädchen war Anna Grigoriewna, seine zweite Frau. »Wenn mir jemand das vor einem halben Jahr gesagt hätte, ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, ich hätte es nicht geglaubt!« bemerkte Dostojewski naiv am Schlusse seines Briefes.
Meine Herzenswunde heilte bald. Jene wenigen Tage, die wir noch in Petersburg blieben, fühlte ich noch einen ungewöhnlichen Druck im Herzen und ging trauriger und stiller als sonst umher. Aber die Reise verwischte die letzten Spuren jenes Sturmes in meiner Seele.
Wir reisten im April ab. In Petersburg herrschte noch der Winter; es war kalt und unangenehm. Aber in Witebsk begegnete uns schon der Frühling, der ganz unerwartet innerhalb zweier Tage in seine Rechte getreten war. Alle Bäche und Flüsse überfluteten die Ufer und bildeten riesige Seen. Die Erde taute auf, es war ein unglaublicher Schmutz.
Auf der Chaussee kam man noch einigermaßen vorwärts, jedoch um unsere Kreisstadt zu erreichen, mußten wir im Posthof unseren Reisewagen stehen lassen und zwei schlechte Tarantas mieten. Die Mutter und der Kutscher klagten und jammerten und sorgten sich, wie wir durch all den Schlamm hindurch kommen würden. Die Mutter befürchtete außerdem, der Vater werde ihr Vorwürfe machen, daß wir so lange in Petersburg geblieben waren. Allein, ungeachtet all der Klagen und des Jammerns war die Fahrt doch herrlich!
Ich erinnere mich, wie wir schon spät am Abend durch die Fichtenwälder fuhren. Weder ich noch die Schwester konnten schlafen. Wir saßen schweigend nebeneinander und durchlebten noch einmal alle die verschiedenen Eindrücke der letzten drei Monate, und wir sogen gierig den würzigen Frühlingsduft ein, von dem die Luft durchtränkt war. Uns beiden war das Herz von einer bangen Erwartung beklommen.
Es wurde nach und nach völlig dunkel. Wir fuhren im Schritt, weil der Fahrweg schlecht war; der Kutscher schien auf dem Bock eingeschlummert zu sein, man hörte keinen Zuruf an die Pferde mehr, nur noch das Klatschen ihrer Hufe im Kot und das leise Klingeln der Schellen. Der Fichtenwald dehnte sich zu beiden Seiten der Fahrstraße dunkel und geheimnisvoll und wie undurchdringlich. Als wir ins freie Feld gelangten, tauchte plötzlich hinter dem Wald der Mond auf und übergoß alles mit silbernem Licht, so hell und unerwartet, daß uns unheimlich wurde.
Nach der letzten Auseinandersetzung mit der Schwester in Petersburg berührten wir zwar keine persönlichen Fragen mehr, aber eine gewisse Gespanntheit verblieb, irgend etwas Trennendes stand zwischen uns. In diesem Augenblick jedoch drängten wir uns aneinander, umfaßten uns, und wir fühlten beide, daß es zwischen uns nichts Fremdes mehr gab, daß wir uns nahe waren wie einst. Uns ergriff das Gefühl einer unbewußten, undefinierbaren Lebensfreude. Gott! Wie lockte und winkte das vor uns liegende Leben, wie unbegrenzt, geheimnisvoll und herrlich erschien es uns in dieser Nacht.