Sonja Kowalewski
Jugenderinnerungen
Sonja Kowalewski

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IV

Das Leben auf dem Lande

Die Wanduhr im Unterrichtsraum schlug sieben. Diese sieben Schläge dringen im Schlaf bis zu meinem Bewußtsein und geben mir die traurige Gewißheit, daß das Dienstmädchen Dunjascha bald eintreten und mich wecken wird; aber es schläft sich so süß, daß ich mich zu überreden bemühe, diese widerlichen sieben Schläge seien bloß eine Sinnestäuschung gewesen. Indem ich mich auf die andere Seite drehe und mich fester in die Decke hülle, beeile ich mich, die kurz währende Glückseligkeit, welche die letzten Minuten des Schlafes bieten, auszunutzen, denn ich weiß, dem wird sehr bald ein Ende gesetzt sein.

Und wirklich; schon knarrt die Tür, und ich höre Dunjaschas schwere Schritte, die mit einer Ladung Holz ins Zimmer tritt. Dann vernehme ich das bekannte, an jedem Morgen sich wiederholende Geräusch: das zu Boden fallende Holz, das Streichen der Zündhölzchen, das Knistern des Leuchtspans, das Prasseln und Bullern des Feuers. Das alles höre ich im Schlaf, und es bemächtigt sich meiner das Gefühl einer angenehmen Verweichlichung und der Wunsch, mich nicht vom warmen Bett zu trennen.

Noch einen kleinen Augenblick, bloß ein kleines Weilchen noch schlafen! Aber im Ofen wird das Knistern der Flammen immer stärker und regelmäßiger und geht schließlich in ein gleichmäßiges Summen über.

»Fräulein, es ist Zeit, aufzustehen!« erschallt es hart an meinem Ohr, und erbarmungslos zieht Dunjascha die Decke von mir herab.

Draußen beginnt es zu tagen, und die ersten bleichen Strahlen eines kalten Wintermorgens vermengen sich mit dem matten Schein der Stearinkerze und verleihen allem ein gewisses totes, unnatürliches Aussehen. Gibt es etwas Unangenehmeres, als bei Kerzenlicht aufstehen zu müssen?

Ich setze mich im Bett auf und beginne mich langsam, mechanisch anzukleiden, mache aber die Augen unwillkürlich wieder zu, und mit dem Strumpf in der erhobenen Hand bleibe ich sitzen.

Hinter der spanischen Wand, wo das Bett der Gouvernante steht, hört man schon mit Wasser pritscheln, pusten und energisches Frottieren.

»Don't dowdle, Sonja! If you are not ready in a quarter of an hour, you will bear the ticket ›lazy‹ on your back during luncheon!« vernehme ich die grimmige Stimme der Gouvernante.

Mit diesen Drohungen darf man nicht scherzen. Körperliche Strafen waren bei unserer Erziehung ausgeschlossen, aber die Gouvernante hatte andere Maßregeln als Ersatz ausgedacht. Hatte ich irgend etwas begangen, so befestigte sie auf meinem Rücken einen Zettel, auf dem mit großen Buchstaben mein Vergehen bekanntgemacht wurde, und mit diesem Schmuck mußte ich bei Tische erscheinen.

Ich fürchtete diese Strafe wie den Tod, deshalb vermochte die Drohung der Gouvernante augenblicklich meine Schläfrigkeit zu verscheuchen. Ich springe rasch vom Bett. Beim Waschbecken erwartet mich schon das Dienstmädchen mit erhobenem Krug in der einen und mit einem großen Frottiertuch in der anderen Hand. Nach englischer Sitte begießt man mich jeden Morgen mit kaltem Wasser. Eine Sekunde lang versagt mir der Atem von der scharfen Kälte, hierauf rinnt es wie siedendes Wasser durch die Adern, und dann bleibt am ganzen Körper ein merkwürdig angenehmes Gefühl ungewöhnlicher Frische und Elastizität zurück.

Inzwischen ist es heller Tag geworden. Wir begeben uns ins Speisezimmer. Auf dem Tisch dampft der Samowar, das Holz im Ofen knistert, und die hellen Flammen spiegeln und brechen sich in den großen, gefrorenen Fensterscheiben. Ich bin gar nicht mehr schläfrig, im Gegenteil, mir ist jetzt so wohl, ohne Grund so froh ums Herz, ich möchte so gerne lärmen, lachen, herumtollen! Ach, wenn ich eine Freundin hätte, ein Kind meines Alters, mit dem ich Dummheiten treiben könnte – aber eine solche Freundin habe ich nicht; ich trinke den Tee allein mit der Gouvernante, denn die anderen Familienangehörigen, Bruder und Schwester nicht ausgenommen, stehen später auf. Mein Wunsch, mich über etwas zu freuen, zu lachen, ist so mächtig, daß ich sogar einen schwachen Versuch mache, mit der Gouvernante zu scherzen. Aber zum Unglück ist sie heute mißgelaunt, was bei ihr am Morgen oft vorkommt, weil sie leberkrank ist; deshalb hält sie es für ihre Pflicht, das Aufsprudeln meiner Fröhlichkeit zu dämpfen, indem sie mir bedeutet, daß jetzt die Zeit zum Lernen und nicht zum Lachen sei.

Der Tag beginnt bei mir immer mit einer Musiklektion. Im großen Salon in der oberen Etage, wo der Flügel steht, herrscht eine ziemlich kühle Temperatur, so daß meine Finger erstarren und anschwellen und die Nägel blaue Flecken bekommen. Anderthalb Stunden Tonleitern und Übungen, begleitet von den gleichmäßigen Schlägen des kleinen Stockes, mit dem die Gouvernante den Takt angibt, kühlen jenes Gefühl der Lebensfreude genügend ab, mit dem ich meinen Tag begonnen habe.

Dem Musikunterricht folgen andere Lektionen. Solange die Schwester auch noch lernte, fand ich an den Stunden ein großes Vergnügen; übrigens war ich damals zu klein, als daß man den Unterricht mit mir ernst genommen hätte, aber ich erbat mir die Erlaubnis, den Lektionen der Schwester beizuwohnen. Ich hörte mit großer Aufmerksamkeit zu. Anjuta, das große vierzehnjährige Mädchen, wußte oft die Aufgaben nicht, während ich, die siebenjährige Puppe, mich daran erinnerte und ihr triumphierend »einsagte«. Das amüsierte mich ungeheuer. Jetzt aber, da die Schwester zu lernen aufhörte und die Rechte der Erwachsenen besaß, verloren die Lektionen für mich die Hälfte ihres Reizes. Ich lernte ziemlich fleißig, aber wie würde ich erst gelernt haben, wenn ich neben einer Freundin gesessen hätte!

Um zwölf Uhr wird zu Mittag gegessen. Kaum hatte die Gouvernante den letzten Bissen heruntergeschluckt, wendet sie sich zum Fenster, um nach dem Wetter zu sehen. Ich folgte ihr mit bebendem Herzen, denn diese Frage ist für mich von großer Wichtigkeit. Wenn das Thermometer weniger als zehn Grad Kälte anzeigt und kein starker Wind geht, steht mir ein sehr langweiliger, anderthalbstündiger Spaziergang mit der Gouvernante in der vom Schnee gesäuberten Allee bevor. Wenn es aber zu meinem Glück sehr kalt oder windig ist, unternimmt die Gouvernante den nach ihren Begriffen unbedingt notwendigen Spaziergang allein, mich aber schickt sie hinauf in den Salon, um Ball zu spielen und so Bewegung zu bekommen.

Das Ballspielen habe ich nicht besonders gern; ich bin schon zwölf Jahre alt, halte mich für erwachsen, und ich empfand es als Zumutung, daß mich eine so kindische Unterhaltung wie das Ballspiel erfreuen könnte; dennoch gehorche ich dem Befehl mit großem Vergnügen, weil mir anderthalb Stunden Freiheit winken.

Die obere Etage gehört zwar ausschließlich der Mutter und Anjuta; jetzt aber weilen beide in ihren Zimmern, im großen Salon ist niemand. Ich laufe, vor mir den Ball herjagend, einige Male im Saal herum, aber meine Gedanken sind mit etwas ganz anderem beschäftigt.

Wie die meisten einsam heranwachsenden Kinder hatte ich mir bereits eine reiche Welt von Phantasien und Träumereien entworfen, deren Vorhandensein die Erwachsenen nicht einmal ahnten. Ich liebte leidenschaftlich die Poesie; schon die Form an sich, das Versmaß, bereitete mir großen Genuß; ich verschlang gierig die wenigen Verse russischer Dichter, die mir unterkamen, und ich muß bekennen – je hochtrabender das Gedicht, desto mehr entsprach es meinem Geschmack. Die Balladen von Shukowski waren lange die einzigen, mir bekannten Muster russischer Dichtkunst.

In unserm Hause hat sich keiner besonders für Poesie interessiert; wir besaßen wohl eine ziemlich große Bibliothek, doch enthielt sie vorzugsweise Bücher ausländischer Autoren; es gab da weder Puschkin noch Lermontow, noch Nekrassow. Ich konnte den Tag kaum erwarten, als man mir zum ersten Male das Lesebuch von Filinow gab, das auf Veranlassung unseres Lehrers gekauft wurde. Die Lektüre wurde eine Offenbarung für mich. Einige Tage ging ich wie eine Verrückte umher und rezitierte mit flüsternder Stimme Strophen aus Lermontows »Mziri« oder aus Puschkins »Der Gefangene im Kaukasus«, bis die Gouvernante drohte, mir das heißgeliebte Buch wegzunehmen.

Der Rhythmus von Gedichten übte eine solch zauberhafte Wirkung auf mich aus, daß ich schon vom fünften Lebensjahr an selbst Verse zu machen anfing. Aber meine Gouvernante billigte solche Beschäftigung nicht; sie hatte ihre eigene, ganz bestimmte Vorstellung von einem gesunden, normalen Kind, das sich später zu einer vorbildlichen Lady entwickeln sollte; das Dichten stand mit einer solchen Vorstellung gar nicht im Einklang. Deshalb verfolgte sie grausam alle meine dichterischen Versuche.

Wenn ihr zu meinem Unglück ein Stück Papier in die Augen fiel, das mit meinen Versen beschrieben war, heftete sie mir dasselbe auf den Rücken und deklamierte dann in Gegenwart meines Bruders oder der Schwester mein unglückliches Erzeugnis, indem sie es selbstverständlich unbarmherzig verdrehte und verstümmelte.

Allein diese Verfolgung meiner Verse half nichts. Mit zwölf Jahren war ich fest davon überzeugt, daß ich zur Dichterin geboren sei. Aus Angst vor der Gouvernante schrieb ich meine Verse nicht nieder, sondern dichtete sie im Geiste, wie die alten Barden es taten, und vertraute sie bloß meinem Ball an. Beim Spielen im Salon deklamierte ich laut zwei meiner poetischen Erzeugnisse, auf die ich besonders stolz war: »Der Beduine an sein Pferd« und »Die Empfindungen des Tauchers beim Perlensuchen«. Ich entwarf im Kopfe noch ein langes Poem, etwas zwischen »Undine« und »Mziri«, aber davon waren bloß die ersten zehn Strophen fertig, und ich wollte deren hundertzwanzig schreiben.

Aber die Muse ist, wie man weiß, kapriziös, und nicht immer stellte sich die poetische Eingebung beim Ballspiel ein. Wenn die Muse auf den Ruf nicht gleich erscheint, wird meine Situation bedenklich, weil mich die Versuchungen von allen Seiten umgeben.

Neben dem Salon befindet sich die Bibliothek, und dort liegen auf allen Tischen und Sofas verführerische Bände ausländischer Romane oder russische Zeitschriften herum. Es ist mir auf das Strengste verboten, in ihnen auch nur zu blättern; meine Gouvernante ist hinsichtlich meiner Lektüre sehr wählerisch. Ich habe nicht viele Kinderbücher und weiß die wenigen längst auswendig. Die Gouvernante erlaubt mir nie, ein beliebiges Buch zu lesen, auch wenn es für Kinder bestimmt ist, ohne es vorher selbst zu lesen, und da sie ziemlich langsam liest – sie hat nie Zeit –, befinde ich mich im Hinblick auf Bücher sozusagen in einem chronischen Hungerzustand; und hier plötzlich ein solcher Reichtum in greifbarer Nähe! Wie soll man da nicht verführt werden!

Einige Minuten kämpfe ich mit mir selbst. Ich nähere mich einem Buch und sehe es anfangs bloß an, blättere darin ein wenig, lese einige Sätze, dann laufe ich wieder mit dem Ball herum, als ob nichts geschehen wäre. Aber nach und nach zieht mich die Lektüre in ihren Bann.

Da die ersten Versuche so glücklich ablaufen, vergesse ich die Gefahren und verschlinge gierig eine Seite nach der anderen. Ich brauche nicht gerade auf den ersten Band eines Romans zu stoßen; ich lese mit demselben Interesse den zweiten oder dritten und kombiniere mir dann den Anfang. Von Zeit zu Zeit mache ich vorsichtigerweise einige Schläge mit dem Ball, damit die Gouvernante, wenn sie zurückkehrt, um nach mir zu sehen, hört, daß ich spiele, wie mir befohlen wurde.

Gewöhnlich gelingt meine List. Ich vernehme rechtzeitig die Schritte der Gouvernante auf der Treppe und beeile mich, ehe sie eintritt, das Buch wegzulegen, so daß sie überzeugt bleibt, ich habe mich die ganze Zeit mit dem Ball unterhalten, wie es sich für ein braves, wohlerzogenes Kind geziemt. Zwei- oder dreimal ließ ich mich allerdings von der Lektüre so hinreißen, daß ich nichts bemerkte und die Gouvernante wie aus der Erde gewachsen vor mir stand und mich auf frischer Tat ertappte.

Bei ähnlichen Anlässen, wie überhaupt nach jedem schwereren Vergehen, nahm die Gouvernante zu dem äußersten Mittel Zuflucht, das ihr zur Verfügung stand. Sie schickte mich mit dem Befehl zum Vater, ihm selbst zu erzählen, was ich begangen habe. Dies fürchtete ich mehr als andere Strafen.

Im Grunde war unser Vater mit uns gar nicht streng; ich sah ihn selten, bloß bei den Mahlzeiten. Er war mit uns nie zärtlich, es sei denn, eines der Kinder war krank. Da veränderte er sich gänzlich. Die Angst, eines von uns zu verlieren, machte aus ihm einen ganz anderen Menschen. In der Stimme, in der Art, mit uns zu sprechen, zeigten sich ungewöhnliche Zärtlichkeit und Weichheit. Keiner verstand es, uns so zu verwöhnen, wie er. In solchen Augenblicken vergötterten wir ihn geradezu, und wir bewahrten noch lange die Erinnerung an jene Momente. Sonst aber, wenn wir alle gesund waren, hielt er sich an den Grundsatz »Der Mann soll immer streng sein«, und deshalb geizte er außerordentlich mit Zärtlichkeiten.

Er liebte die Einsamkeit und hatte seine eigene Welt, zu der keiner von den Hausgenossen Zutritt hatte. Des Morgens ging er – allein oder in Begleitung des Verwalters – in der Gutswirtschaft nach dem Rechten zu sehen. Den übrigen Teil des Tages verbrachte er in seinem Arbeitszimmer. Dieses lag ganz abseits von den anderen Räumen und bildete gleichsam ein Allerheiligstes im Hause; selbst die Mutter betrat es niemals, ohne anzuklopfen. Uns Kindern kam es nicht in den Sinn, ohne Aufforderung hineinzugehen.

Deshalb war ich wahrhaft verzweifelt, wenn die Gouvernante einmal sagte: »Geh zum Vater, gesteh ihm, wie du dich aufgeführt hast!«

Ich weine, lehne mich auf, aber die Gouvernante ist unerbittlich, faßt mich an der Hand, führt oder schleppt mich vielmehr durch die lange Reihe der Gemächer zur Tür des Arbeitszimmers, überläßt mich da meinem Schicksal und geht fort.

Jetzt hilft kein Weinen mehr; im Vorzimmer des Arbeitsgemaches sehe ich auch schon die Gestalt des müßigen, neugierigen Lakaien, der mich mit beleidigendem Interesse betrachtet.

»Wie es scheint, haben Fräulein wieder etwas begangen!« höre ich hinter mir die halb mitleidige, halb spöttische Stimme von Ilja, Papas Kammerdiener.

Ich würdige ihn keiner Antwort und bemühe mich, mir ein Ansehen zu geben, als ob nichts vorgefallen sei, als käme ich aus eigenem Antrieb zum Vater. Ins Unterrichtszimmer zurückzukehren, ohne den Befehl der Gouvernante erfüllt zu haben, wage ich nicht. Das hieße, die Schuld durch offenkundigen Ungehorsam verdoppeln; hier an der Tür stehen, dem Diener eine Zielscheibe des Spottes – ist unerträglich. Es bleibt also nichts anderes übrig, als an die Tür zu pochen und meinem Schicksal tapfer entgegenzugehen.

Ich klopfe an, aber sehr leise. Es verstreichen noch einige Minuten, die mir wie Ewigkeiten vorkommen.

»Klopfen Sie stärker, Fräulein! Väterchen hört es nicht!« bemerkt der unausstehliche Ilja, den die ganze Sache augenscheinlich sehr belustigt.

Was läßt sich tun? Ich klopfe noch einmal.

»Wer dort? Herein!« vernimmt man endlich Papas Stimme aus dem Arbeitszimmer. Ich trete ein, bleibe aber im Halbdunkel an der Schwelle stehen. Der Vater sitzt mit dem Rücken zur Tür an seinem Schreibtisch und sieht mich nicht.

»Ja, wer ist denn dort? Was steht zu Diensten?« ruft er ungeduldig.

»Ich bin es, Vater. Margareta Franzowna hat mich hergeschickt!« antworte ich schluchzend.

Jetzt errät der Vater, um was es sich handelt.

»Aha! Du hast gewiß schon wieder etwas begangen?« sagt er und bemüht sich, seiner Stimme einen möglichst strengen Ausdruck zu geben. »Nun, erzähle! Was hast du angestellt?«

Und ich beginne schluchzend und stotternd die Anklage gegen mich selbst.

Der Vater hört mein Bekenntnis zerstreut an. Seine Begriffe von Erziehung sind recht einfach, und die ganze Pädagogik ist seiner Ansicht nach Sache der Frau und nicht des Mannes. Natürlich ahnt er auch gar nicht, welche komplizierte innere Welt sich bereits im Kopf des kleinen Mädchens entwickelt hat, das jetzt vor ihm steht und sein Urteil erwartet. Mit seinen »männlichen« Angelegenheiten beschäftigt, hat er auch gar nicht bemerkt, wie ich nach und nach aus dem rundlichen Kind, das ich noch vor fünf Jahren war, herausgewachsen bin.

Man sieht ihm an, wie schwer es ihm fällt, mir etwas zu sagen und in dem vorliegenden Falle etwas zu unternehmen. Mein Vergehen erscheint ihm bedeutungslos, aber er hält Strenge bei der Kindererziehung für unerläßlich. Im Innern grollt er der Gouvernante, daß sie es nicht verstand, eine so einfache Sache selber zu schlichten, und mich zu ihm schickte; aber da nun einmal zu seiner Intervention Zuflucht genommen wurde, muß er seine Macht bekunden. Und er bemüht sich, recht streng und unwillig dreinzublicken, damit er nichts an Autorität einbüße.

»Was für ein abscheuliches, böses Kind du bist! Ich bin mit dir sehr unzufrieden!« beginnt er und hält inne, weil er sonst nichts zu sagen weiß. »Geh und stelle dich in den Winkel!« entscheidet er sich endlich, da er sich von aller pädagogischen Weisheit nur gemerkt hat, daß man Kinder, die etwas begangen haben, in den Winkel stellt.

Man versetze sich in meine Lage: ein großes, zwölfjähriges Mädchen, ich, die vor wenigen Minuten mit der Heldin des heimlich gelesenen Romans die größten Seelenkonflikte durchlebt hatte, ich muß mich also wie ein kleines, unvernünftiges Kind in den Winkel stellen.

Der Vater arbeitet weiter an seinem Schreibtisch. Im Zimmer herrscht tiefes Schweigen. Ich stehe da, ohne mich zu regen, aber mein Gott, was habe ich alles in dieser kurzen Zeit durchdacht und gefühlt! Ich entsinne mich so genau, wie lächerlich und dumm mir meine Lage vorkam. Eine Mischung aus Scham und Stolz zwingt mich zu schweigen. Ich fühle mich jedoch tief verletzt; ohnmächtiger Zorn steigt in mir auf und schnürt mir die Kehle zu. »Welcher Unsinn! Was liegt daran, daß ich im Winkel stehe!« tröste ich mich heimlich, allein es tut mir weh, daß der Vater mich demütigen kann und will, derselbe Vater, auf den ich so stolz bin, den ich höher als alle anderen stelle! Es ist gut, daß wir allein sind. Da klopft jemand an die Tür, und im Zimmer erscheint unter nichtigem Vorwand der unausstehliche Ilja. Ich weiß sehr wohl, daß er einfach aus Neugierde gekommen ist, um zu sehen, in welcher Weise das Fräulein bestraft worden ist, er jedoch erledigt seine Angelegenheiten mit gespielter Gleichgültigkeit, beeilt sich keineswegs, als ob er gar nichts Besonderes bemerkte, und erst beim Hinausgehen wirft er einen spöttischen Blick auf mich. Oh, wie ich ihn da hasse!

Ich bin so still, daß der Vater mich vergißt und mich ziemlich lange stehen läßt; ich bin selbstverständlich zu stolz, um ihn um Verzeihung zu bitten. Endlich erinnert sich der Vater an mich und läßt mich mit den Worten frei: »Nun geh und sieh zu, daß du nicht wieder etwas anstellst!«

Er ahnt nicht im Entferntesten, welche seelische Tortur sein armes kleines Mädchen während dieser halben Stunde ausgestanden hat. Er würde sicherlich erschrocken sein, wenn er in mich hätte hineinblicken können. Nach einigen Minuten wird er diese unangenehme Kindergeschichte vergessen haben. Ich aber verlasse sein Zimmer mit dem Gefühl einer gar nicht kindlichen Schwermut wegen solch unverdienter Kränkung, wie ich sie später vielleicht bloß noch zwei-, dreimal in den schwersten Augenblicken meines Lebens erfahren mußte.

Still und bedrückt kehre ich ins Unterrichtszimmer zurück. Die Gouvernante ist mit den Resultaten ihrer pädagogischen Maßnahmen zufrieden, da ich noch viele Tage nachher so still und ergeben bin, daß sie mein Betragen nicht genug loben kann; sie wäre aber minder zufrieden gewesen, wenn sie gewußt hätte, welche Spuren diese Gefügigkeit in meiner Seele zurückließ.

Überhaupt zieht sich wie ein schwarzer Faden durch alle meine Kindheitserinnerungen das Bewußtsein, in der Familie nicht beliebt zu sein. Von den Gesprächen des Gesindes, die ich zufällig hörte, abgesehen, förderte das einsame Leben, das ich mit der Gouvernante führte, noch diesen Glauben.

Das Los der Gouvernante war auch keineswegs heiter. Vereinsamt, weder jung noch schön, fern von englischer Gesellschaft und sich in Rußland nie völlig heimisch fühlend, konzentrierte sie ihren ganzen Vorrat an Sympathie auf mich, so weit das ihrer festen, energischen, unbeugsamen Natur nur möglich war. Ich bildete tatsächlich den Mittelpunkt aller ihrer Gedanken und Sorgen und gab ihrem Leben eine Bedeutung; aber ihre Liebe zu mir war streng, eifersüchtig, prätentiös und bar jeder Zärtlichkeit.

Meine Mutter und die Gouvernante waren zwei einander so entgegengesetzte Naturen, daß keine Sympathie zwischen ihnen aufkommen konnte. Meine Mutter gehörte ihrem Wesen und Äußeren nach zu den Frauen, die nie alt werden. Zwischen ihr und dem Vater bestand ein großer Altersunterschied, und der Vater behandelte sie bis ans Lebensende wie ein Kind. Er nannte sie Lisa oder Lisok, während sie ihn stets mit Wassili Wassilijewitsch betitelte. Es kam sogar vor, daß er ihr in Gegenwart der Kinder einen Verweis gab. »Du sprichst schon wieder Unsinn, Lisitschka!« hörten wir nicht selten. Und die Mutter fühlte sich darüber gar nicht beleidigt, und wenn sie starrsinnig blieb, so tat sie es wie ein verzogenes Kind, das törichte Wünsche haben darf.

Die Mutter fürchtete sich regelrecht vor der Gouvernante, weil die unabhängige Engländerin nicht selten schroff auftrumpfte und sich als einzige, unbeschränkte Herrscherin in der Kinderstube betrachtete und die Mutter nur wie einen Gast empfing. Deshalb blickte die Mutter selten zu uns herein und mischte sich nicht in meine Erziehung.

Ich war von meiner Mutter bezaubert. Sie schien mir schöner und liebenswürdiger als alle uns bekannten Damen; gleichzeitig empfand ich eine gewisse Bitterkeit: warum liebt sie mich weniger als meine Geschwister?

Ich bin abends im Unterrichtszimmer. Alle meine Aufgaben für den nächsten Tag sind fertig, allein die Gouvernante läßt mich unter allerhand Vorwänden noch immer nicht hinaufgehen. Da vernimmt man von oben her, aus dem genau über dem Unterrichtsraum liegenden Salon, Musik. Die Mutter hat die Gewohnheit, abends Klavier zu spielen. Sie spielt stundenlang auswendig, phantasiert, improvisiert, von einem Thema zum anderen übergehend. Sie besitzt auch musikalischen Geschmack und einen merkwürdig weichen Anschlag, und ich höre ihr außerordentlich gern zu.

Unter der Einwirkung der Musik und der Müdigkeit vom Lernen überkommt mich ein Drang nach Zärtlichkeit, das Verlangen, mich zärtlich an irgend jemanden zu schmiegen. Erst wenige Minuten vor dem Abendtee gibt mich die Gouvernante endlich frei. Ich laufe hinauf und sehe folgendes Bild: Die Mutter, die zu spielen aufgehört hat, sitzt auf dem Sofa, Anjuta und Fedja zu beiden Seiten an sie geschmiegt. Sie lachen und plaudern so lebhaft, daß sie mein Eintreten nicht bemerken. Ich stehe einige Minuten schweigend da, in der Hoffnung, bemerkt zu werden. Aber sie sprechen weiter. Das genügt, um meinen Mut abzukühlen.

»Sie fühlen sich auch ohne mich wohl!« Ein bitteres Gefühl der Eifersucht zieht durch meine Seele, und anstatt zur Mutter zu stürzen, ihr die beiden weißen Hände zu küssen, wie ich es mir unten im Unterrichtszimmer gedacht habe, verberge ich mich in irgendeinem entfernten Winkel und schmolle, bis man zum Tee ruft. Dann schickt man mich bald schlafen.

 


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