Sonja Kowalewski
Jugenderinnerungen
Sonja Kowalewski

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VI

Onkel Fedor Fedorowitsch Schubert

Meine Liebe für den anderen Onkel, den Bruder meiner Mutter, Fedor Fedorowitsch Schubert, war ganz anderer Art.

Dieser Onkel, meiner seligen Großeltern einziger Sohn, war um vieles jünger als meine Mutter; er lebte in Petersburg und genoß als einziger männlicher Repräsentant der Familie Schubert bei seinen Schwestern, ebenso bei seinen zahlreichen Tanten und unverheirateten Cousinen, grenzenlose Sympathien.

Seine Ankunft bedeutete jedesmal ein großes Ereignis. Als er zum ersten Male zu uns kam, war ich neun Jahre alt. Schon viele Wochen vorher wurde davon gesprochen. Man bestimmte für ihn das beste Zimmer, und die Mutter sah selbst darauf, daß die bequemsten Möbel hineingestellt wurden. Man sandte ihm in die Hauptstadt des Gouvernements, die 150 Werst von unserem Gut entfernt war, den Wagen entgegen mit einem Pelz, einer Fußdecke und einem Plaid, daß der Onkel sich ja nicht erkälte – es war bereits Spätherbst.

Am Vorabend des Tages, an dem der Onkel eintreffen sollte, hält plötzlich vor der Haustür ein gewöhnlicher Postwagen, mit drei jämmerlichen Pferden bespannt, und heraus springt ein junger Mann mit einem leichten Stadtmantel und mit einer Reisetasche über der Schulter.

»Mein Gott! Das ist ja Bruder Fedja!« schrie die Mutter, die aus dem Fenster geblickt hatte.

»Onkelchen, Onkelchen ist angekommen!« erschallte es im ganzen Haus, und wir alle liefen in die Halle, ihm entgegen.

»Fedja, armer, wie konntest du nur im Postwagen fahren? Bist du denn nicht der Equipage begegnet, die wir dir entgegengeschickt haben? Du mußt ja ganz durchgerüttelt sein!« sagte mitleidig die Mutter, indem sie ihren Bruder umarmte. Es stellte sich heraus, daß der Onkel Petersburg 24 Stunden früher verlassen hatte, als bestimmt war.

»Christus mit dir, Lisa!« sagte er lachend und wischte sich die Eiszäpfchen vom Schnurrbart, um die Schwester zu küssen.

»Ich dachte nicht, daß du dir meiner Reise halber so viel Umstände machen würdest! Wozu mir den Wagen entgegenschicken? Bin ich denn ein altes Weib, daß ich nicht 150 Werst im Postwagen zurücklegen könnte!«

Der Onkel hatte eine angenehme Tenorstimme. Er sah noch sehr jung aus. Kastanienbraunes, ganz kurz geschorenes Haar stand dicht und sammetartig wie bei einem Biber auf seinem Kopfe. Die roten Wangen glänzten vom Frost, die braunen Augen blickten feurig und fröhlich drein, und zwischen den vollen, hellroten Lippen mit dem schönen Schnurrbart schimmerte jeden Augenblick eine Reihe großer weißer Zähne hervor.

»Das ist einmal ein fescher Onkel!« dachte ich, indem ich ihn entzückt betrachtete.

»Wer ist das? Anjuta?« fragte er, auf mich deutend.

»Was fällt dir ein, Fedja, Anjuta ist schon erwachsen, das ist bloß Sonja!« berichtigte die Mutter beleidigt.

»Mein Gott! Wie bei dir die Töchter heranwachsen! Gib acht, Lisa, eh du dich dessen versiehst, machen sie dich zur alten Frau!« sagte der Onkel lachend und küßte mich. Unwillkürlich schämte ich mich und wurde des Kusses wegen feuerrot.

An der Mittagstafel nimmt der Onkel natürlich den Ehrenplatz neben Mama ein. Er ißt mit großem Appetit, was ihn jedoch nicht hindert, die ganze Zeit ununterbrochen zu sprechen. Er erzählt allerhand Petersburger Neuigkeiten und Klatschgeschichten, bringt jedermann zum Lachen und schüttelt sich selbst in hellem, fröhlichem Gelächter. Alle hörten ihm aufmerksam zu; selbst der Vater behandelte ihn mit großer Achtung, ohne eine Spur von Hochmut und gönnerhafter, spöttischer Herablassung, wie er sie so oft den zu uns kommenden Leuten unserer Verwandtschaft zeigt, die er nicht so recht leiden kann.

Je mehr ich meinen Onkel ansehe, desto besser gefällt er mir. Im Nu hat er sich gewaschen und umgekleidet, und niemand hätte es seinem gesunden frischen Aussehen angemerkt, daß er soeben von einer Reise angekommen ist.

Der Rock aus festem, glänzendem englischen Tuch kleidet ihn besonders gut, viel besser als andere Männer. Am besten aber gefallen mir seine Hände, große, weiße, gepflegte Hände mit glänzenden Nägeln, die großen rosigen Mandeln ähnlich sind.

Während der ganzen Mahlzeit wende ich meine Augen von ihm nicht ab und vergesse selbst zu essen – so sehr bin ich damit beschäftigt, ihn anzusehen.

Nach Tische nimmt der Onkel auf dem kleinen Sofa in der Ecke des Salons Platz und hebt mich auf seinen Schoß.

»Nun laß uns Bekanntschaft machen, mademoiselle, ma nièce!« sagt er.

Der Onkel fragt, wer mich unterrichtet, was ich lese.

Kinder wissen gewöhnlich viel besser, als Erwachsene glauben, was ihre starken und schwachen Seiten sind. So wußte ich sehr wohl, daß ich rasch lerne und daß alle der Meinung waren, ich sei für meine Jahre in den Kenntnissen sehr avancée. Deshalb bin ich sehr zufrieden, daß der Onkel auf den Einfall gekommen ist, mich über den Unterricht zu befragen, und ich beantworte alle seine Fragen sehr gern und ohne Schüchternheit. Ich bemerke, daß der Onkel mit mir sehr zufrieden ist. »Sieh' mal, was für ein kluges Kind! Was sie alles schon weiß!« wiederholt er alle Augenblicke.

»Onkel, erzählen Sie mir auch etwas!« dränge ich ihn, »nun sind Sie an der Reihe.«

»Gern, doch darf man einem so klugen Fräulein wie dir nicht Märchen erzählen!« sagte er scherzend, »mit dir kann man bloß von ernsten Dingen sprechen.«

Und er erzählt mir von Infusorien, Wasserpflanzen und von der Entstehung der Korallenbänke. Der Onkel hat erst unlängst die Universität verlassen, so daß ihm alle diese Kenntnisse noch frisch im Gedächtnis sind; er erzählt sehr hübsch und hat seine Freude daran, daß ich mit weit aufgerissenen Augen aufmerksam zuhöre.

Das wiederholt sich seit diesem ersten Tage allabendlich. Nach Tische gehen Mutter und Vater aus dem Zimmer, um ein halbstündiges Schläfchen zu machen. Der Onkel hat nichts zu tun, setzt sich auf mein kleines Lieblingssofa, nimmt mich auf den Schoß und beginnt allerlei zu erzählen. Er fordert auch meine Geschwister auf zuzuhören; meine Schwester aber, die die Schulbank soeben verlassen hat, hält es als erwachsenes Fräulein für unter ihrer Würde, so belehrende Dinge anzuhören, die »bloß den Kleinen interessant erscheinen«. Der Bruder, der einmal dabeistand und zuhörte, fand es nicht lustig und lief davon, um Pferdchen zu spielen.

Mir wurden die wissenschaftlichen Unterhaltungen, wie sich der Onkel scherzweise ausdrückte, unsäglich teuer. Die liebste Zeit des Tages waren mir jene halben Stündchen nach Tisch, da ich allein mit dem Onkel blieb. Ich vergötterte den Onkel wirklich; ehrlich gesagt, ich kann eigentlich nicht dafür gutstehen, daß mit diesem Gefühl nicht eine Art von kindlicher Verliebtheit verbunden war, deren kleine Mädchen fähiger sind, als Erwachsene annehmen. Ich empfand jedesmal eine gewisse eigenartige Verlegenheit, wenn ich den Namen des Onkels aussprechen sollte, wenn ich fragen wollte: »Ist der Onkel zuhause?« Bemerkte jemand bei Tische, daß ich ihn unaufhörlich ansah und fragte dann: »Nun, Sonja, du scheinst deinen Onkel sehr lieb zu haben?« errötete ich bis über die Ohren und brachte kein Wort hervor.

Während des ganzen Tages begegnete ich ihm so gut wie gar nicht, da sich mein Leben fern von dem der Erwachsenen abspielte. Allein während des Unterrichts und der Erholungspause dachte ich fortwährend: »Wird bald der Abend kommen? Werde ich bald mit dem Onkel allein sein?«

Während er bei uns zu Gast war, kam einmal der Gutsnachbar mit Frau und Tochter zu uns. Olga war das einzige Mädchen meines Alters, mit dem ich verkehrte. Indessen brachte man sie nicht häufig zu uns, dafür blieb sie dann aber den ganzen Tag da, mitunter übernachtete sie sogar bei uns.

Sie war ein sehr lustiges, lebhaftes Mädchen. Obgleich unsere Charaktere und unser Geschmack auseinandergingen, so daß wahre Freundschaft zwischen uns nicht entstehen konnte, freute ich mich gewöhnlich ihres Besuches sehr, da man ihr zu Ehren den Unterricht ausfallen ließ und mir den ganzen Tag freigab.

Jetzt aber war mein erster Gedanke, als ich Olga erblickte: »Wie wird es denn nach Tische sein?«

Den größten Reiz meiner Unterhaltungen mit dem Onkel bildete gerade dies, daß wir zu zweien blieben, daß ich ihn ganz für mich allein hatte, und ich fühlte schon von vornherein, daß die Anwesenheit der dümmlichen Olga mir alles verderben würde.

Ich begrüße deshalb meine Freundin mit geringerem Vergnügen als sonst: »Ob man sie wohl heute früher abholen wird?« dachte ich in heimlicher Hoffnung während des ganzen Morgens. Aber nein! Es stellte sich heraus, daß Olga erst spät abends fortfahren würde. Was war zu tun? Zagenden Herzens beschloß ich, mich meiner Freundin zu entdecken und sie zu bitten, uns nicht zu stören.

»Höre, Olga!« sagte ich leise. »Ich will mit dir den ganzen Tag spielen und buchstäblich alles tun, was du nur wünschen wirst. Aber dafür sei so gut, gleich nach Tisch irgendwohin zu gehen und mich in Ruh zu lassen. Nach Tische unterhalte ich mich immer mit meinem Onkel, und wir brauchen dich dabei gar nicht.«

Olga nahm meinen Vorschlag an, und ich erfüllte im Laufe des ganzen Tages getreulich mein gegebenes Versprechen. Ich spielte mit ihr alle Spiele, die sie nur erdachte, übernahm alle Rollen, die sie mir zuteilte, verwandelte mich auf ihren Befehl aus einer Herrin in eine Köchin und aus einer Köchin in eine Gnädige. Endlich rief man uns zum Essen. Bei Tische saß ich wie auf Nadeln. »Wird Olga wohl ihr Wort halten?« dachte ich bei mir und blickte verstohlen und voller Unruhe auf meine Freundin, die ich mit ausdrucksvollen Blicken an unsere Abmachung mahnte.

Nach Tische küßte ich wie gewöhnlich Papachen und Mamachen die Hände, eilte zum Onkel und wartete, was er sagen würde.

»Nun, Kindchen, werden wir uns heute unterhalten?« fragte der Onkel, mich zärtlich am Kinn fassend.

Ich hüpfte vor Freude, erfaßte fröhlich seine Hand und schickte mich schon an, mit ihm unser heiliges Winkelchen aufzusuchen. Da bemerkte ich plötzlich, daß die wortbrüchige Olga dieselbe Richtung einschlug.

Es zeigte sich, daß meine Abmachung die Sache bloß verdorben hatte. Wenn ich ihr gar nichts gesagt und sie bemerkt hätte, daß ich mit dem Onkel nur über ernste Dinge sprach, so wäre sie, die vor allem, was an Lernen gemahnte, eine heillose Angst hatte, vielleicht rasch davongegangen. Als sie aber merkte, welchen Wert ich den Erzählungen des Onkels beilegte und daß ich sie um jeden Preis loswerden wollte, dachte sie sich, daß wir sicherlich von etwas außerordentlich Interessantem sprechen würden, und bekam auch Lust zuzuhören.

»Darf ich auch mit Ihnen gehen?« fragte sie mit bittender Stimme, indem sie ihre blauen, sanften Augen zum Onkel erhob.

»Selbstverständlich, mein Liebchen!« erwiderte er und blickte sie sehr zärtlich an, da ihm offenbar ihr hübsches, rosiges Gesichtchen gefiel. Ich warf Olga einen unwilligen Blick zu, der sie jedoch keineswegs verwirrte.

»Aber Olga kennt doch diese Dinge nicht. Sie wird davon ohnehin nichts verstehen!« warf ich sichtlich böse ein. Allein, auch dieser Versuch, mich von der zudringlichen Freundin zu befreien, führte zu nichts.

»Nun, dann werden wir heute von einfacheren Dingen sprechen, damit auch Olga ihre Freude hat!« sagte der Onkel gutmütig und ging, uns beide an den Händen fassend, zum Sofa.

Ich ging finster schweigend mit. Diese Unterhaltung zu dreien, die obendrein noch Olgas Neigungen und Verständnis angepaßt werden sollte, war gar nicht nach meinem Geschmack. Es kam mir vor, als hätte mir jemand etwas mir allein Gehörendes, Unantastbares und Teures geraubt.

»Nun, Sonja, willst du auf meinen Schoß kommen!« sagte der Onkel, der meine üble Laune gar nicht zu bemerken schien.

Ich fühlte mich jedoch so beleidigt, daß dieser Vorschlag mich auch nicht milder stimmte.

»Ich will nicht!« erwiderte ich böse und schmollte. Der Onkel sah mich erstaunt, doch lächelnd an. Ob er erriet, welches eifersüchtige Gefühl meine Seele bewegte oder ob er mich necken wollte, weiß ich nicht – er wandte sich zu Olga und sagte: »Also, wenn Sonja nicht will, setze du dich zu mir auf den Schoß!«

Olga ließ sich das nicht zweimal sagen, und ehe ich noch überlegte und fassen konnte, was geschehen war, war sie auch schon auf Onkels Schoß geklettert. Das hatte ich nun gar nicht erwartet. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, daß die Sache eine so schreckliche Wendung nehmen könnte.

Ich war zu bestürzt, um Einspruch erheben zu können. Ich schwieg und sah mit weit aufgerissenen Augen meine glückliche Freundin an, und sie saß, ein wenig verlegen zwar, aber sehr vergnügt auf meines Onkels Schoß, wie wenn es sich so gehörte. Ihr kleines Mündchen drollig verziehend, bemühte sie sich, ihrem runden, kindlichen Gesichtchen den Ausdruck von Ernst und Aufmerksamkeit zu geben. Sie war ganz echauffiert, sogar der Hals und die nackten Arme waren gerötet.

Ich sah sie lange an und plötzlich – ich schwöre, ich weiß noch heute nicht, wie es geschah – ereignete sich etwas Entsetzliches. Gerade als hätte mich jemand gestoßen und ohne zu wissen, was ich tat, mir selbst ganz unerwartet, grub ich plötzlich meine Zähne in ihren nackten vollen Arm oberhalb des Ellenbogens und biß so heftig zu, daß er zu bluten anfing.

Mein Überfall geschah so plötzlich, so unerwartet, daß wir alle drei im ersten Augenblick wie versteinert waren und einander nur schweigend anstarrten. Dann weinte Olga plötzlich auf, und das brachte uns zur Besinnung.

Scham, bittere verzweifelte Scham überfiel mich. Ich lief Hals über Kopf aus dem Zimmer.

»Abscheuliches, böses Mädchen!« hörte ich des Onkels erzürnte Stimme.

Meine Zuflucht in allen gefährlichen Situationen meines Lebens war gewöhnlich das Zimmer, das früher Maria Wassiliewna gehörte und jetzt die Njanja bewohnte. Dort suchte ich auch jetzt Schutz und Hilfe. Den Kopf in den Schoß der guten Alten verbergend, schluchzte ich lange und heftig, und die Njanja, als sie mich so völlig aufgelöst sah, befragte sie mich nicht erst, sondern streichelte mir das Haar und überhäufte mich mit Kosenamen. »Gott mit dir, mein Vögelchen! Beruhige dich, mein Schatz!« sprach sie zu mir, und es tat mir so wohl, mich in meiner Aufregung gehörig in ihrem Schoß auszuweinen.

Zum Glück war die Gouvernante an jenem Abend nicht zu Hause; sie war für einige Tage zu Nachbarn gefahren. Deshalb hatte ich Ruhe und konnte ungestört bei der Njanja bleiben. Als ich ein wenig ruhiger wurde, reichte sie mir Tee und brachte mich zu Bette, und ich verfiel sofort in einen festen, bleiernen Schlaf.

Als ich am nächsten Morgen erwachte und mich des Vorfalls vom vergangenen Tag erinnerte, schämte ich mich aufs neue so sehr, daß es mir unmöglich schien, einem Menschen in die Augen zu sehen.

Indessen lief alles besser, als ich erwartete. Olga war noch an demselben Abend fortgebracht worden. Sie war offenbar so edel gewesen, sich nicht über mich zu beklagen. An den Gesichtern der anderen ließ sich erkennen, daß niemand von der Sache wußte. Niemand machte mir Vorwürfe, niemand neckte mich. Auch der Onkel gab sich den Anschein, als sei nichts Besonderes vorgefallen.

Seltsamerweise änderte sich mit jenem Tage mein Gefühl für den Onkel völlig. Die Abendunterhaltungen wurden nicht mehr aufgenommen. Der Onkel reiste bald nach dieser Episode nach Petersburg zurück.

Obgleich wir einander später öfter begegneten und er immer sehr gütig zu mir war und ich ihn sehr gern hatte, empfand ich für ihn doch nicht mehr die abgöttische Liebe von einst.

 


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