Leopold Kompert
Neue Geschichten aus dem Ghetto
Leopold Kompert

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Die Prinzessin.

I.
Der Bauer.

Aus grüner Frühlingssaat hebt sich eine Lerche hoch in die klare Morgenluft; bald in engeren, bald in weiteren Kreisen dringt sie himmelan und singt dem ihr Loblied, der sein Auge mit Lust weilen läßt an jeder freien Regung seiner Kreatur, an der flatternden Mücke so gut, wie an dem im Waldesschatten spielenden Rehe. Weiß die Lerche, aus wessen Saat sie sich erhoben? wer mit dem Pflugeisen 188 die Furchen in diesen Acker geschnitten? Wer das goldene Korn hineingeworfen hat, daß es ihr eine bergende Wohnung geworden ist?

In Böhmen ist jetzt mancher Bauernhof, groß, hell und geräumig, mit Scheuern und Ställen, Äckern und Wiesen, Garten und Wald dazu, auf welchem Leute, die noch vor zehn Jahren in der dumpfen »Gasse« irgend einer Gemeinde gehaust haben, nun als wirkliche »Freiherren« sitzen, und zwar leiten sie diesen Titel nicht von einem vergilbten und verknitterten Pergamente, sondern von etwas ganz anderem her, was nicht verwischt und nicht zerrissen werden kann, was von Tag zu Tag altert und doch ewig jung bleibt, nämlich von der Mutter Erde selbst, von der einige freie Schollen ihnen gehören!

Ja, Land und Wiese, Acker und Garten, Wald und Boden gehört jetzt manchem aus der »Gasse«, und der Boden ist nicht verdorben, der Hof nicht verkommen; die Schwalbe nistet dort wie in früheren Zeiten, und wenn Gott ein gutes Jahr geben will, so gedeiht der Halm jetzt wie damals, als »Waclaw« und »Pawel« aufs Feld hinausfuhren, nicht »Anschel« oder »Ruben«. In Böhmen sitzt jetzt mancher hoch oben auf einem mit Garben belasteten Wagen und lenkt mit kundiger Hand seine Rosse durch das enge Hoftor ein, der noch vor einigen Jahren hinter verschossenen Westen und Kottonstoffen die Kunden anrief! Mancher steht im heißen Sonnenbrande auf dem Felde und schwingt die gewaltige Sense, der vor noch nicht langer Zeit in Hitze und Kälte um ein Hasenhäutchen feilschte. Mancher zimmert mit Axt und Säge im Hause herum, der ehedem bei dem kleinsten Gebrechen, das irgendwo zur Schau trat, um Zimmermann und Tischler rief. Manches Auge ist scharfblickend und mutig geworden, das nun ohne Erschrecken hoch oben auf dem Kirchturme den Dachdecker hantieren sieht, was es bekanntlich früher selten vermocht hat.

189 Fürwahr! Wie Opferduft steigt der Segen, der in der eigenen Scholle liegt, zum Himmel empor, und wie wenige auch verhältnismäßig unter so viel sehnenden Herzen sich dessen erfreuen, was wunderbar kräftigend in dem Worte: Hof und Acker liegt – die kleine Lerche freut sich doch darüber. Hebt sie sich doch aus freiem Felde himmelan! . . .

Gehen wir wieder aufs Dorf hinaus!

Von der Landstraße ab führt ein Seitenweg hinaus; es ist ein selten befahrener Weg, der sich da zwischen Kornfeldern rechts und links, zwischen Wiesen und teilweisem Waldland, wie es der Charakter der böhmischen Landschaft mit sich bringt, in jenes Dorf hinauszieht. Nur zweimal in der Woche, wenn es Wochenmarkt in der benachbarten Kreisstadt gibt, belebt sich die einsame Straße; große Wagenzüge bewegen sich dann in den tiefgefurchten Geleisen und bringen das Erträgnis des Feldes dahin, wo Absatz zu hoffen ist. Zweimal in der Woche läßt auch Feiwel »Bauer«, wie er weit und breit in der Umgegend heißt, seine Rosse anspannen, und dann fährt entweder er selbst, oder sein Sohn Josef zu Markt; zumeist aber liegt dieses Geschäft dem Sohne ob, der Wind und Wetter besser vertragen kann, als der alte Bauer.

Der alte Bauer! Wer sich unter ihm ein grauhaariges Männchen mit eingebogenen Knien und schlotternden Gliedern denken wollte, wie würde der sich täuschen und dem wirklichen Bilde ferne stehen. Feiwel ist ein kraftvoller alter Mensch in der besten Bedeutung dieses Wortes, und wiewohl schon hoch in den Sechzigen stehend, würde er jeden wie ein »Trenderl« wegblasen, der sich unterstehen wollte, ihm beim Aufladen des schwersten Sackes mit Getreide behilflich zu sein. Ja, das kann der »alte« Bauer, und er kann noch mehr. Das wildeste Pferd so mit der gewaltigen Faust zu packen, daß es steht und willig seinen Meister anerkennt, das wird ihm in den »Gassen« sobald keiner nachtun. Wenn 190 er angetan mit seiner Jacke von schwarzem Manchester und in den gelbledernen Hosen sich aufrichtet, oder wenn er beim Morgengebet die Tefillin von dem nervigen Arme herabnimmt, dann hat es ein Aussehen, als könnte er sich selbst von den Himmlischen nichts gefallen lassen, als tue er nur gleichsam seine Schuldigkeit und weiter auch nichts mehr.

Freilich, der alte Bauer hat sein ganzes Leben auf diesem Dorfe zugebracht; der Hof, auf dem er jetzt als selbsteigener Herr sitzt, ward seit undenklichen Zeiten von seinen Vorfahren als Pächtern bewirtschaftet. Mit den feinsten Fibern seiner Seele wurzelt er auch in dem Boden seiner Heimat, in der er groß und stark geworden war. Selten kam er über die Gemarkung seines Dorfes hinaus, er mußte denn zur Kreisstadt hin; vor den Leuten in den »Gemeinden« hatte er eine besondere Scheu, er fühlte sich nicht wohl, wenn ihn Geschäfte einmal zu ihnen führten. Er war wirklich ein Bauer nach innen und außen und verdiente diesen Beinamen so gut, als er nur je einem war beigelegt worden. Wenn er einmal im Jahre in einer »Kille« erschien, der in Sprache, Benehmen und Kleidung ungeschlachte Mann, dann ward er fast mit Blicken betrachtet, als sei er einer Menagerie entsprungen, und jedes ging dem »Bauer« gern aus dem Wege.

Wer die Augen öffnen will, nicht mit aller Gewalt vor dem Lichte verschließen, der kann bald gewahr werden, daß Gestalten wie unser Feiwel Bauer schon längst jene allzeit fertige Doktrin zerstört haben: die Leute aus den »Gassen« könnten niemals eins mit dem »Ganzen« werden, und in ihrem Blute stecke etwas, das sie gewaltsam scheide von der anderen Trachten und Anschauung. Natürlich! Wer sich Gottes lebendige Welt so kleinlich vorstellen kann, daß er die gesamte Menschheit gleichsam nur auf einer Tonart spielen lassen will, dem wird Feiwel eben kein »Bauer« sein. Er wird tausend und abermal tausend Unterschiede herausgrübeln, 191 einen feiner als den anderen, und wenn das trotz allem dem nichts nützt, weil dagegen viel siegreichere Gründe ausgestellt werden können, wird er mit der Faust auf den Tisch schlagen und ausrufen: Zur eigenen Scholle sei er doch nicht befähigt! Da ist denn Schweigen besser als Reden, und Leute wie Feiwel Bauer mögen zusehen, wie sie mit jener geballten Faust fertig werden.

Einstweilen wird er auch zur Genüge fertig. Er läßt seine gefüllten Scheuern, das brüllende Rind in den Ställen, den Pflug, den sein eigener Sohn führt, und endlich die kleine Lerche für sich sprechen, die sich in seinem Felde heimisch fühlt. Daß es aber anders sein könne, daran denkt er nicht! Feiwel Bauer ohne Acker und Dorf! ohne Manchesterjacke und Lederhosen! mit einem Hasenhäutchen auf dem Rücken durch die Dörfer hausieren gehend, er, der stolze, reckenhafte Bauer! Sagt ihm doch das, die ihr ihm die eigene Scholle mißgönnt, es wäre nicht unmöglich, daß eine solche Figur wieder aus ihm werden könnte. . . . Er wird euch nicht auslachen, er wird es einfach nicht glauben, denn er ist eben kein »politischer« Kopf. Kann man wohl einem Menschen Arme und Beine abhauen und ihm dann zurufen: »Jetzt geh, und hebe einen Sack Getreide auf! springe und tanze.« Einen ähnlichen Gedanken vermöchte Feiwel Bauer zu denken, vielleicht auch nicht.

Es ist besser, wenn er überhaupt nicht zu denken hat.

II.
Ein Brief.

Unter einem Kirschenbaume, der fast bis zum Boden fruchtbeladene Äste herabgesenkt hatte, saß auf einer Bank eine stattliche Frau, in halb städtischer, halb bäuerlicher Kleidung. Sie hielt einen Brief und schien darin eifrig zu lesen. Oben in den Zweigen über ihrem Haupte krachte es 192 zuweilen, zuweilen kollerte auch eine rotwangige Kirsche zu ihren Füßen nieder, was sie aber im Lesen nicht sonderlich zu stören schien. Mehr taten es die glitzernden Sonnenstrahlen, die wie aufgelöste goldene Fäden über ihr Antlitz und das Papier fielen. Sie rieb sich öfters die Augen, rückte den Brief näher an sie, aber es schien eben nicht, als förderte sie dies in dem schwierigen Geschäfte. Verdrießlich legte sie das Schreiben endlich zusammen und sprach halblaut vor sich hin:

»Ich weiß gar nicht, was die Sonn' heut' will, sie scheint mir fast die Augen heraus.«

Jemand mußte diese Worte gehört haben, denn in den Zweigen des Kirschbaumes krachte es stärker, und ein Kichern ward vernehmbar, das der stattlichen Bäuerin nicht entging.

»Lachst mich aus?« rief sie ärgerlich zum Baume hinauf.

Wieder krachte es in den Ästen, und eine wurmstichige Kirsche fiel gerade vor der Bäuerin in das Gras. Sie bückte sich nieder und warf sie weit weg von sich.

»Ich lach' die Sonn' aus, Mutter!« erscholl eine Stimme vom Baume.

Die stattliche Frau schien einen Augenblick über diese Antwort nachzudenken, dann rief sie mit einer Art strenger Entschiedenheit:

»Komm ein bissel herunter, Korporal, ich brauch' dich.«

»Gleich, mein Herr Oberst,« kam es aus den dichten Zweigen des Baumes zurück, und es dauerte nicht lange, so stand ein kräftiger brauner Bursche, man wußte fast nicht, war er aus der Luft oder aus dem Boden gestiegen, vor der Bäuerin. Er trug eine »Kommiskappe«, die ihn als ehemaligen Soldaten bezeichnete; übrigens war er nach landesüblicher Sitte gekleidet.

»Was wünschen der Herr Oberst?« sagte er, indem er sich kerzengerade vor die Bäuerin hinstellte und militärisch grüßend die eine Hand an die Kappe legte.

193 Über das Antlitz der Bäuerin flog ein breites Lächeln; sie sah den braunen Burschen einen Augenblick mit Wohlgefallen an.

»Bist noch immer der Alte,« rief sie, »meinst, du bist noch in deiner Kaserne, Josef. Wann denn einmal wirst du das vergessen?«

»Niemals, Mutter,« rief Josef mit Bestimmtheit und ließ die Hand von der Kappe los. »Ich hab' einmal einen Feldwebel gehabt, der hat immer gesagt, in jedem Haus sollt' der Mann der Regimentsinhaber, von welchem das Regiment den Namen führt, sein, die Frau aber der Oberst, der eigentlich kommandiert. Mutter, du bist der Oberst!«

Die Bäuerin lachte hell auf, daß es weithin durch den Garten scholl.

»Soll ich leben und gesund sein,« rief sie und stemmte ihre Arme in die Seiten, »dein Feldwebel muß einen Kopf von Eisen und Stahl gehabt haben.«

»Ein rechter Feldwebel muß auch einen Kopf haben!« meinte der ehemalige Soldat im Tone der tiefsten Überzeugung.

Auf Ostern war es erst ein Jahr geworden, daß Josef seine achtjährige Dienstzeit vollendet hatte; weil er lesen und schreiben gelernt, hatte er es schon in den ersten Monaten bis zum »Korporal« gebracht, und diesen Namen behielt er bei, als er nach erlangtem Abschied in das väterliche Haus heimgekehrt war. Man hatte seiner in dem großen Bauernhofe bedurft, und trotzdem er beim Militär hatte bleiben wollen, waren die Eltern darauf bestanden, daß er den rechtmäßigen Abschied bekam. Seitdem war der Korporal im Hause eine unumgängliche Notwendigkeit geworden.

»Gut,« sagte die Bäuerin, »du hättest ja auch einmal können ein Feldwebel werden, folglich mußt du doch Kopf haben. Vielleicht kennst du dich da in dem Brief aus; ich les' und les', und Gott der Lebendige weiß, wie das zugeht! 194 Wenn ich von einer Zeile den Sinn herausgebracht habe, so find' ich den Weg zu der andern nicht, es ist mir immer, als möcht' einer vor meinen Augen mit einer Peitsche herumknallen. Dazu schreibt die heutige Welt eine Schrift, die ist so fein, wie wenn sie mit lauter Sand geschrieben wär'! Da sieh her, ob das zu lesen ist, und zu guter Letzt ist's noch deutsche Schrift . . . wie ich die habe anfangen wollen zu lesen, hat die Sonne mit einer Gewalt geschienen . . . die Augen hat sie mir fast herausgebrannt.«

Die letzten Worte hatte die Bäuerin, halb abgewandt, beinahe mit Verschämtheit gesagt.

Der ehemalige Korporal nahm den Brief, den ihm die Bäuerin gab, mit einer etwas ungeschickten Handbewegung; es fehlten ihm nämlich an der rechten Hand die zwei mittleren Finger, die irgendwo in Ungarn auf dem Schlachtfelde begraben lagen. Der Bäuerin zuckte es bei diesem Anblicke wie ein jäher Schmerz über das volle Antlitz.

»Kannst auch vor der Sonn' nicht lesen?« fragte sie nach einer langen Pause, während welcher der einstige Soldat den Brief nach dessen ganzem Inhalte durchzufliegen die Zeit hatte. »Geht's dir wie mir?«

»Das nicht, Mutter,« meinte Josef, »die Sonn' liegt mir nicht auf, aber da am End' vom Brief steht etwas, das könnt' selbst mein Feldwebel nicht verstehen, der doch einen Kopf von Eisen und Stahl gehabt hat.«

»Du meinst das Deutschgeschriebene,« rief die Bäuerin. »Kannst du denn Deutsches nicht lesen? Ich mein' doch, du hast's gelernt?«

»Mir nichts, dir nichts wird man kein Korporal,« sagte der Soldat mit einem leicht erklärlichen Stolze.

»Setz dich her zu mir, Josef,« sagte die Bäuerin rasch, »und lies mir den Brief vor, wie er geht und steht. Zwei Köpf' wie ich und du werden doch herausbringen, was man da schreibt. Erst aber lies' das Feine, dann das Deutsche.«

195 Sie meinte mit dem Feinen die »jüdische« Kurrentschrift, deren man sich noch jetzt in der »Gasse« bedient, und in welcher der erste Teil des Briefes abgefaßt war.

Der Soldat setzte sich neben sie hin und begann nach einer Weile:

»Herzliebste Gitelleben!«

»Von wem ist denn der Brief?« unterbrach ihn die Bäuerin, ohne zu bedenken, daß sie eigentlich ihre etwas mangelhafte Lesekunst verriet.

»Unterschrieben steht: Hannele Ehrenfeld,« sagte der Soldat gleichgültig.

»Gott! Lebendiger,« rief die Bäuerin und tat fast einen Sprung von ihrem Sitze weg, »ist das nicht die Hannele, die mit mir vor dreißig Jahren in die Schule gegangen ist?«

»Es steht nur unterschrieben: Ihre aufrichtige Freundin Hannele Ehrenfeld,« sagte der Soldat trockenen Tones.

»Nun, dann ist sie es gewiß,« schrie die Bäuerin, »möcht' sie sich denn unterschreiben: Ihre aufrichtige Freundin, wenn sie's nicht wär'? Ich möcht' meinen Kopf darum geben, daß es dieselbe Hannele ist, die vor dreißig Jahren meine beste Freundin gewesen war; es kann gar keine andere sein. Nicht zehn Schritte auseinander haben wir gewohnt; ich hab' den ganzen Tag bei ihr gesteckt und sie bei mir, wir waren wie Zwillinge. Später sind wir auseinander gekommen, wie das schon unter Mädchen zu gehen pflegt, das eine muß dahin, das andere dorthin. Hat denn ein Mädchen einen Willen? Ich hab' deinen Vater genommen und bin aufs Dorf heraus, sie ist in der »Gasse« geblieben und hat den reichen Ehrenfeld geheiratet, den ich auch hätte haben können. Ich hab' aber nicht gewollt, weil mir dein Vater lieber war. Seitdem hab' ich sie nicht gesehen – und jetzt schreibt sie mir nach dreißig Jahren! Hannele Ehrenfeld schreibt mir zuerst! Da muß etwas ganz Außerordentliches vorgegangen sein.«

196 So hatte die Bäuerin in ununterbrochenem Redeflusse ihrer Verwunderung über die Briefschreiberin Luft gemacht; der Sohn hatte sie reden lassen, denn es lag wahrscheinlich in seiner Disziplin, seinen Vorgesetzten in dessen Rede nicht zu unterbrechen. Dennoch konnte er nicht umhin, als die Mutter nun geendigt hatte, lächelnd zu fragen:

»Darf man schon lesen, Herr Oberst?«

»Um Gottes des Lebendigen willen,« rief die Bäuerin mit einem Male fast entsetzt aus, »Hannele Ehrenfeld wird doch in kein Unglück gekommen sein . . . sie wird mich doch nicht etwa brauchen?«

»Sei ruhig, Mutter,« sagte lächelnd der Sohn, »brauchen will sie dich wohl, aber mit dem Unglück sieht es gar nicht so arg aus.«

Ein tiefer Seufzer kam aus der geängstigten Seele der wackeren Frau, es schien, sie glaubte der Versicherung des Sohnes nicht ganz recht. Dann aber ermannte sie sich.

»Und jetzt lies, Josef,« rief sie mit großer Entschiedenheit.

»Herzliebste Gitelleben!« begann dieser –

»Sie erinnern sich gewiß nicht mehr an eine gewisse Hannele, die vor mehr als dreißig Jahren Ihre beste und treueste Freundin gewesen ist. Es war uns aber beiden von Gott bestimmt, daß wir nicht sollten beisammen bleiben; denn wie hat meine gute Mutter (mit der der Friede sei!) immer gesagt, wenn die Red' auf die Bestimmung eines Mädchens gekommen ist? Ein Mädchen, hat sie gesagt, ist wie ein Federl, man weiß nicht, wo es aus der Luft niederfällt. Und noch eins, herzliebste Gitelleben, wenn man endlich den Mann bekommen hat, und wenn das Federl endlich niedergefallen ist – dann erst hat man Beispiele auf Beispiele in allen möglichen Sorten und Gattungen, daß das Federl gern wieder aufgeflogen und ganz verschwunden wär'! Besonders wenn einem Gott das Unglück zugeschickt 197 hat und macht einen vor der Zeit zur Witwe. Dreißig Jahre habe ich mit meinem seligen Ehrenfeld in Leid und Freud zugebracht, Sie haben ihn ja gekannt, herzliebste Gitel, was er ›zur Buß' gesagt‹, für ein elend Leben auf der Welt geführt hat; er hat nicht eine gesunde Stunde gehabt, und wie er vor zwei Jahren (einen Tag vor Purim hab' ich Jahrzeit) leider Gottes gestorben ist, da haben die Doktors gesagt, das, was ihm gefehlt hat, ist ein zu großes Herz gewesen. Gitelleben! da haben Sie keinen Begriff davon, wie Schweres mir durch den Tod von meinem seligen Mann geschehen ist. Ich hätt' ihn gern noch gepflegt und gewartet, noch einmal und zweimal so lange, denn was tut man nicht alles für einen kranken Mann, aber so bald hätt' ihn Gott doch nicht zu sich rufen müssen. Was hab' ich jetzt davon, daß ich in der ganzen Welt die reiche und angesehene Hannele Ehrenfeld heiße? Zu leben hätte ich genug gehabt, dafür hat mein guter Ehrenfeld nicht zu sterben gebraucht, und mit dem, was ich, Gott sei Lob und Dank! von ihm habe, hätt' er und ich noch bis zu hundert Jahren können auskommen und hätten uns nicht brauchen ein grau Haar wachsen lassen. Es hat aber nicht so sein sollen, und so steh' ich jetzt ohne meinen guten Mann mutterseelallein auf der Welt, und weiß nicht, was ich mit dem einzigen Kinde anfangen soll. Die Doktoren zerbrechen sich den Kopf, was meiner Rosel fehlt; der eine rät dies, der andere jenes, aber keiner hat noch gemacht, daß sie besser aussieht und frisch und gesund wird. Wenn man sie fragt: ›Rosaleben, wo leidest du? wo tut's dir weh?‹ dann schüttelt sie den Kopf und zeigt aufs Herz! Leider Gottes! Ich will's gar nicht aussprechen, was meine Meinung über die Krankheit meiner Rosa ist, ich glaub' aber, ihr fehlt, was ihrem Vater gefehlt hat, nämlich ein zu großes Herz. Neulich hat mir gar einer von den Doktoren, der Dr. Prager, gesagt – seinen Vater werden Sie gewiß noch gekannt haben, er hat ›Schimme 198 Dorfgeher‹ geheißen – des Kindes Krankheit, hat er gesagt, kommt von Überspannung und von dem vielen Bücherlesen her, und wenn ich nicht wollt', daß sie langsam dahinschwinde, so müßt' ich sie auf ein Dorf schicken, unter einfache Leute und in gesunde Luft, da könnt' ihr vielleicht noch gut werden. Da hab' ich ihn aber mit allem Respekt, den ich vor ihm habe, ganz gut ausgelacht, wie beschwert auch mein Herz war.

Mein Kind, Hannele Ehrenfelds Tochter, soll auf ein Dorf? Und von den Büchern sollt' sich ihre Krankheit herschreiben? So viele Pfund wiegt sie gar nicht, was sie an Silber schon gekostet hat, und Französisch kann sie besser noch als Deutsch. Es soll eine auftreten und soll so einen Brief schreiben, oder aus einem Buche so vorlesen, wie meine Rosa! Eine Prinzessin ist auch nicht feiner aufgezogen worden wie mein Kind! Ich hab' ihn also gut ausgelacht meinen Herrn Dokter, und hab' das Kind nicht auf ein Dorf unter die Küh' und Hühner geschickt, weil das für meine Tochter nichts ist. Dazu hat sie ihr Französisch und Deutsch nicht gelernt, daß sie in ihrem achtzehnten Jahr soll unter einfache Leute gehen! Hab' ich nicht recht, herzliebste Gitel? Lebt sie denn nicht unter einfachen Leuten? Ich versteh' den Doktor gar nicht, was er damit meint. Weil er mich aber in einem fort ängstigt und mir Tag und Nacht vorhält, dem Kind könnte nicht besser werden, und es geht mir zugrunde, so hab' ich mich doch als Mutter dazu entschlossen, und will mir keine Vorwürfe machen. Und wie eine Stimme vom Himmel ist mir dabei eingefallen, daß ich sie nirgends besser aufgehoben hätte als bei Ihnen, herzliebste Gitel. Tun Sie mir aus alter Freundschaft den Gefallen und nehmen Sie mein Kind zu sich, es soll bei Ihnen gesund werden. Viel Mühe wird Ihnen das Kind nicht machen, wenn es nur einen Platz hat, wo es ein Buch lesen kann, ist es zufrieden. Ich verlass' mich darauf, daß 199 ich keine Fehlbitte getan habe, und schließe als Ihre aufrichtige Freundin

Hannele Ehrenfeld.

Nachschrift. Sie haben doch gewiß Roß und Wagen? Da könnt' einer von Ihren Leuten bis Brandeis kommen, das ist die Hälfte Weges. Da möcht' ich mit meiner Rosa warten, weil ich von meinem Geschäft nicht lang' abwesend sein kann. Schreiben Sie mir mit umgehender Post, und ich werde nicht ermangeln, danach das Meinige einzurichten. Die Obige.«

Lautlos hatte die Bäuerin das lange Schriftstück angehört, unverwandt hatten dabei ihre Blicke an den Lippen des Vorlesers gehangen. Als er jetzt innehielt, seufzte sie tief auf; sie war heftig bewegt!

»Das ist ein Rapport! Die versteht's fast so gut wie unser Feldwebel,« sagte Josef, indem er sich wie erschöpft an den Baum lehnte.

»Weil du nicht weißt, wie einer Mutter ums Herz ist,« fuhr es heftig aus der Bäuerin, »weil du gar nicht bedenkst, was Hannele Ehrenfeld leidet.«

»Wie kommt das dazu?« fragte lächelnd der Soldat. »Du bist also schon fertig mit deinem Beschluß?«

»Wieso?« entgegnete die Bäuerin und errötete, als wäre sie auf einem verborgenen Gedanken ertappt worden.

»Ich seh' dir's an,« sagte Josef und sah sie dabei forschend an.

»Ich soll sie also nicht ins Haus nehmen?« fragte sie hastig, »ich soll also von Hannele Ehrenfeld, von meiner alten Freundin, mich umsonst bitten lassen?«

»Bittet sie dich denn?« meinte Josef mit einem leichten Anflug von Hohn. »Sie will ihre Tochter nicht zu ›einfachen‹ Leuten aufs Dorf geben, unter die Küh' und Hühner – weil ihr's aber der Doktor streng kommandiert, so tut sie's doch, und schickt sie zu uns. Sonst hättest du in deinem ganzen Leben kein Wort von Hannele Ehrenfeld gehört.«

200 »Geh! geh!« eiferte die Bäuerin, »was hätt' sie mir schreiben sollen? Wenn man einmal Haussorgen hat, setzt man sich zu keiner Korrespondenz hin und schreibt lange Briefe. Hab' ich ihr denn geschrieben? Jetzt braucht sie mich – da schreibt sie mir.«

»Du willst sie also wirklich –?« fragte der Soldat nach einer Weile.

»Ich versteh' dich gar nicht, was du dagegen hast,« sagte die Bäuerin; »aufs Essen und Trinken kommt es bei uns nicht an. Was soll mich also abhalten?«

»Hat der Vater den Brief gesehen?« fragte dann hastig der Sohn.

»Er hat mir ihn ja gegeben,« entgegnete sie.

»Hat er ihn gelesen?« rief er hastig.

»Er hat gar nichts gesagt,« erwiderte sie, »als: Tu, was du willst, Gitel. Du weißt ja, wie er ist! Er verliert nicht gern ein übriges Wort, nicht einmal, von wem der Brief ist, habe ich aus ihm herausgebracht.«

»Und ich, Mutter, sage dir,« rief der einstige Soldat mit starker Röte im Gesicht, »ich sage dir, wenn mir Hannele Ehrenfeld den ganzen Weg bis zu unserem Dorfe mit Gold pflastern möcht', so tät' ich's auch nicht.«

»Um Gottes willen, warum nicht?« sagte die Bäuerin erschrocken.

Josef schien nach einem passenden Ausdrucke für seine Erregtheit zu suchen, seine Lippen zuckten wie vor innerem Grimm.

»Weil uns die reiche Hannele Ehrenfeld verachtet,« fuhr es böse aus ihm heraus, »weil ich's nicht ertragen kann, daß man Bauersleute, wie wir sind, mit Kühen und Ochsen in eine Reih' stellt, und endlich zuletzt, weil ich nicht möcht', daß so eine Prinzeß, wie ihre Tochter ist, sich über uns lustig macht.«

»Wo macht sie sich lustig?« fragte die Bäuerin mit ungläubiger Miene, »ich hab' nichts gehört.«

201 »Weil ich dir den deutschen Brief noch nicht vorgelesen habe,« rief Josef höhnisch, »du wirst deine Wunder erleben, wenn du ihn hörst.«

»So lies ihn!« sagte die Bäuerin bestimmt.

Josef setzte sich neben die Mutter. Er las die in kühngeschwungenen deutschen Buchstaben geschriebene Zuschrift des Mädchens; sie lautete:

»Sehr neugierig bin ich schon darauf, was ich auf dem Dorfe für ein Gesicht machen werde. Es ist mir eigentlich ganz kurios zumut, daß ich da unter Kühe und Erdäpfel kommen soll. Enfin (Josef sprach dieses Wort mit deutscher Akzentuierung aus), was soll ich tun? Schiller sagt: Es gibt im Menschenleben Augenblicke, und solch ein Augenblick ist jetzt für mich gekommen. Leben Sie wohl, und empfangen Sie mit Wohlwollen Ihre sehr ergebene Dienerin Rosa Ehrenfeld.«

Ein minutenlanges Stillschweigen waltete zwischen den beiden nach der Vorlesung dieser Zeilen. Der Sohn unterbrach es zuerst.

»Und die willst du dir ins Haus nehmen, Mutter?« fragte er und lächelte sehr spitzig dazu.

Gitel, die Bäuerin, saß anscheinend in tiefem Sinnen da und hatte offenbar die Frage überhört. Mit einem Male stand sie auf, ihr Antlitz war tief gerötet, und ihre noch immer schönbraunen Augen leuchteten in einem ungewöhnlichen Feuer.

»Gerad' die!« sagte sie in kraftvollstem Tone, »gerad' die! Das Mädchen ist kränker, als du denkst!«

Mit raschen Schritten verließ die stattliche Frau den Garten. Der einstige Soldat sah ihr verblüfft nach.

III.
Die Prinzessin.

Gitel, die Bäuerin, mochte den Einfluß ihres einmal ausgesprochenen Willens auf Haus und Gesinde kennen; 202 Frauen bleiben sich in dieser Hinsicht überall und unter allen Umständen gleich. Als ihr Mann, der »alte« Bauer Feiwel, mittags vom Felde heimkehrte, trat sie ihm sogleich mit der Erklärung entgegen, es müsse »stantepe« (stantepede) an Hannele Ehrenfeld geschrieben werden, und in den nächsten Tagen müsse einer nach Brandeis, um das junge Mädchen von dort abzuholen.

»Warum nicht?« entgegnete Feiwel in einem Tone, der sein vollstes Einverständnis voraussetzen ließ, »warum nicht? Am Montag fahr' ich ohnehin mit Erdäpfeln nach Brandeis, da kann ich die Prinzessin gleich von dort mitnehmen.«

»Bist du auch so wie dein Sohn,« schrie sie dagegen fast entsetzt, »und willst eine kranke Person auf deine Erdäpfelsäcke setzen? Ich will nicht einmal sagen, daß es Hannele Ehrenfelds Tochter ist. Vielleicht verkaufst du die Erdäpfel nicht.«

Der alte Bauer kannte die Hofverhältnisse des Kaisers der Birmanen fast genauer als die der Freundin seiner Frau. Lustig versetzte er:

»Es ist schon manche auf einem Erdäpfelsack gesessen, die's mit Hannele Ehrenfeld mitsamt ihrer Tochter aufgenommen hätte.«

»Auf die Erdäpfel wirst du sie nicht setzen,« eiferte Gitel, »da könnt' sie den Tod davon haben. Und wenn ich selbst nach Brandeis kutschieren müßt' . . . Hanneles Tochter muß mit Ehren bei uns aufgenommen werden; man soll nicht sagen, wir hätten wie Bauern an ihr gehandelt.«

Mit großer Bestimmtheit erklärte sie sodann, wie sie diese ehrenvolle Aufnahme ins Werk setzen wolle. Vor allem müsse das neue »Kutschel«, das sie jüngst aus dem Nachlasse des Pfarrers gekauft, geputzt und hergerichtet werden; dann müßte man die zwei »Schimmel« vorspannen, die besser zögen als die arbeitgewohnten »Braunen«, und besonders 203 müsse man darauf sehen, daß sie weich sitze und nicht zu sehr geschüttelt werde.

Der alte Bauer brummte etwas vor sich hin, was niemand verstand, es mochte eben nicht voll Feinheit gewesen sein. Dennoch meinte er nach einer guten Weile, Gitel sollte zufrieden sein, er wolle zugleich Glöckchen an die Pferde binden, damit man schon von weitem wüßte, daß er mit Hannele Ehrenfelds Tochter komme.

»Das laß ja sein, Feiwel,« sagte hierauf die Bäuerin, die dies für Ernst nahm, »das Klingen mit den Glocken könnt' die Kranke erschrecken. Das laß ja sein!«

Da schlug der Bauer ein Gelächter auf, daß es wie der Widerhall eines schweren Geschützes klang, und auch Josef, der seit dem Vorlesen des Briefes mürrisch im Hause umherging, stimmte herzhaft darein.

»Lacht nur,« sagte Gitel ohne jede Bitterkeit, »keiner von euch beiden weiß, wie man mit einem Kranken umgehen muß – und leider Gottes hat keiner von euch Gefühl.«

Was den ehemaligen Korporal betrifft, so hatte die Bäuerin auch vollkommen recht; es war eine merkwürdige Erregtheit über ihn gekommen, seine ganze Natur schien mit einem Male eine tiefe Wandlung erfahren zu haben. Was seiner soldatischen Anschauung am meisten wehe tat, war, daß die Eltern, besonders aber die Mutter, so leicht auf das »Kommando« jener Hannele Ehrenfeld »pariert« hatten. Was ging sie jene Frau mit all ihrem Reichtume an? Warum hatte sie der Mutter, deren Freundin sie gewesen, in dreißig langen Jahren nicht geschrieben? Jetzt erst, wo sie ihrer dringend bedurfte, jetzt erst erinnerte sie sich der ehemaligen Kameradschaft. Habe die reiche Hannele das Recht, in einem solchen Tone mit der Mutter zu sprechen, bloß weil diese eine Bäuerin sei? Überhaupt müsse man zuerst fragen, was mehr wert sei: das Gewölbe der reichen Frau, oder der Hof mit allen Äckern, Pferden und Kühen dazu, worauf die 204 Eltern keinen Kreuzer schuldig sind. Des Briefes, den das kranke Mädchen geschrieben, gedachte er übrigens gleichfalls mit Zorn. Wie sich die »Putznase« unterstehen könne, über ihre Kühe und Ochsen zu spotten? Weil sie Französisch spreche und wisse, was Schiller sagt (Josef wußte es nicht), deswegen habe sie noch nicht das Recht, sich über ihr Dorf lustig zu machen. Er werde ihr aber zeigen, wie ein »Landmotz« mit solchen Geschöpfen umzugehen wisse. Zeitlebens werde sie an ihn gedenken.

Josef hütete sich übrigens wohl, diese rebellischen Gedanken vor der Mutter zu offenbaren; er wußte, daß an der Sache nichts mehr zu ändern sei. Sein ganzer Widerstand beschränkte sich also darauf, daß er ganz gegen seine Natur unwirsch im Haus sich herumtrieb, auf Fragen die Antworten schuldig blieb und zuweilen sogar träumerisch vor sich niedersah, als beschäftigten ihn Gedanken, die nicht gern erraten werden wollten.

Am Montag in aller Frühe fuhr der alte Bauer wirklich nach Brandeis; wie Gitel es gesagt, so war's geschehen. Das »Kutschel« war frisch gewaschen worden, und die zwei Schimmel standen so glänzend gestrählt da, als hätten sie ihr Lebenlang »herrschaftliches« Futter genossen. Mit eigenen Händen trug dann Gitel noch Polster und Kissen herbei, damit die Kranke weich sitze.

»Und gib gut acht auf sie,« ermahnte sie den Mann, während dieser die Zügel zur Hand nahm, »daß mir Hannele keinen Vorwurf zu machen hat. Ich möcht' ihr die Tochter gern ganz gesund zurückschicken. Hörst du?«

Der Bauer rückte statt aller Antwort seine ungeschlachte Gestalt auf dem Wagen zurecht, Josef hielt indessen die etwas unruhigen Rosse; er verfolgte das Tun der Mutter, die immer neue Stärkungen für die Kranke herbeibrachte, mit stummen Blicken.

»Auf eins, Vater, vergiß nicht!« rief er endlich.

205 »Das ist?« meinte dieser kurz.

»Daß du mit ihr französisch red'st, sonst versteht sie dich nicht.«

»Ich werd' mit ihr schon deutsch reden,« lachte der Bauer hell auf und fuhr durch das offene Hoftor hinaus.

Es war später Abend geworden; Sterne begannen bereits am Himmel hie und da zu glänzen. Es war noch nicht lange nach Pfingsten, die Frühlingszeit blühte im ganzen Lande. Das Getreide stand schon überall hoch in Ähren und versprach eine gesegnete Ernte.

Die Bäuerin begann schwere Sorgen zu empfinden, da sich die Ankunft ihres Mannes mit dem neuen Gaste verzögerte. Sie ging öfters voll Ungeduld vor das Haus hinaus und lugte die Dorfgasse hinab, ob sie nicht kämen. Mit wunderbarer Gewalt hatten sich in ihrer Seele die Farben der ehemaligen Freundschaft aufgefrischt; sie war wieder jung geworden. Halb war es das Mitleid mit der unglücklichen Lage der reichen Witwe, die sie mit ihrem Frauenherzen besser begriff als die harten Männer, mehr aber noch das Bild einer längst entschwundenen Zeit, die ihr nun heute in der Gestalt des jungen Mädchens entgegentreten sollte. Es gab Augenblicke, wo ihr die Gestalt, die Bewegungen, ja selbst einzelne Szenen, die sie mit Hannele Ehrenfeld zusammen erlebt, so greifbar vor der Seele sich sammelten, daß der dreißigjährige Zeitraum ihr wie eine Minute dünkte. Dann schrumpfte dieses Bild der Vergangenheit wieder so unkenntlich zusammen, daß sie mit aller Mühe und Pein keines Zuges aus dem Antlitze ihrer Freundin sich erinnern konnte. In diesem Zustande von Sehnsucht und Gedankenseligkeit erwartete sie die Tochter Hannele Ehrenfelds.

Dazwischen hatte sie nicht vergessen, für die Beherbergung des Gastes die nötigen Voranstalten zu treffen. Sie hatte in der Eile ein nach dem Hofe hinausgehendes Hinterstübchen, das man füglich als die »gute« Stube des Hauses 206 betrachten konnte, wohnlich herrichten lassen: das Stübchen war ihr selbst stets wie ein Heiligtum erschienen, in das sie sich nur am Sabbat und an Feiertagen zurückzog. Jetzt kam es ihr fast unwürdig eines solchen Gastes vor; nun trug sie das Schönste aus dem ganzen Haushalte zusammen, um damit die vermeinte Armseligkeit zu schmücken. Es war ihr auch wirklich gelungen, und mit freudigem Stolze mußte sie sich selbst gestehen, daß keine »Prinzessin« sich schämen dürfe, in der Stube zu wohnen. Den schönsten Schmuck bildeten aber unstreitig die altmodischen Porzellanschalen, die sie in die Wirtschaft gebracht, und die noch nie berührt worden waren.

»Geh doch mal vors Dorf hinaus und sieh, wo sie bleiben,« rief sie endlich dem unwirschen Sohne zu, »ich vergeh' fast vor lauter Sorgen, und du kannst dasitzen wie ein Träumer. Du kommst mir wie ausgewechselt vor. Warum bist du nicht schon längst über alle Berge? Kann denn dem Vater nichts geschehen sein?«

»Es wird immer so spät, wenn er nach Brandeis fährt,« bemerkte Josef trocken.

»Aber Hanneles Tochter!« rief die Bäuerin, »an die denkst du nicht?«

Nach einigem Zögern ging Josef dennoch. Der Vater mochte wegen der »Prinzessin« etwas langsamer gefahren sein, dachte er sich, daher die späte Zurückkunft. Er trat in die stille Nacht hinaus, ein zerschnittener Streifen Mondes wandelte am Himmel droben. Ein eigentümliches Leuchten ging von ihm aus; es war Josef, als ob er das zum ersten Male schaute. Er ging die Dorfgasse hinab; überall war Ruhe und Schlummer, nicht ein Federchen konnte zu Boden fallen, daß man es nicht vernommen hätte. Da kam etwas über sein Wesen, das er nie gekannt hatte; es dünkte ihn, als müsse er jetzt stundenlang in die stille Nacht hineingehen, über sich den Mond und sonst keinen Menschen zum 207 Begleiter. Aus einem benachbarten Dorfe trug die reine Luft den Klang der neunten Nachtstunde herüber; er horchte auf. Jeder Schlag der Uhr fand einen eigentümlichen Widerhall in seiner Seele. Eine Empfindung, die von der Angst nicht ferne lag, hatte den ehemaligen Soldaten überkommen.

»Es wird ihm doch nichts geschehen sein,« dachte er vor sich hin, mehr als er sprach. Er horchte wieder auf. Nicht das leiseste Geräusch, das fernem Wagenrollen glich, gelangte an sein Ohr. So war er an das Ende des Dorfes zum Mühlbach gekommen, über den ein schmaler Steg führt. In demselben Augenblicke betrat eine weibliche Gestalt das andere Ende des Steges. Der volle Strahl der Mondessichel fiel auf sie. Aus Josefs Brust rang sich ein Schrei der Überraschung herauf; es mochte ihm sein, als stünde er, der ausgediente Soldat, auf einer einsamen Wache und plötzlich träte ihm aus der Nacht ein Gefährliches entgegen.

»Wer da!« rief er mit durchdringender Stimme.

»Um Gottes willen, ich bin's ja!« tönte eine feine Mädchenstimme zurück.

An der Aussprache und dem Klange dieser Stimme erkannte Josef sogleich, wen er vor sich hatte.

»Sie sind also Rosa Ehrenfeld, die wir für heute abend erwarten?« rief er, aber keineswegs im soldatischen Tone.

Die Gestalt machte einige Schritte vorwärts auf dem Stege. Unwillkürlich tat Josef das gleiche, so waren sie einander ganz nahe gekommen.

»Sind Sie aus dem Hause des Bauers, der mich von Brandeis hierhergebracht hat?« fragte sie jetzt, minder ängstlich.

»Ich bin sein Sohn,« sagte Josef und trat ihr ganz nahe.

Das Mädchen ließ ein Tuch fallen, das bis dahin zur Hälfte ihren Kopf bedeckt hatte; etwas Lieblicheres und Feineres hatte der Sohn des alten Bauers noch nicht gesehen; er starrte die Erscheinung an, als ob sie aus dem Boden herausgewachsen wäre.

208 »Sind Sie wirklich der?« fragte sie nach einer Weile.

»Wer soll ich denn sein?« meinte der Soldat beinahe furchtsam.

»Weil Sie gar nicht wie ein Bauer aussehen,« sagte das Mädchen, dem eine flüchtige Prüfung genügt hatte, um zu diesem Schlusse zu gelangen.

Josef war so verwirrt von diesem eigentümlichen Begegnen mitten in der Nacht, daß er die so naheliegende Frage zu tun vergaß, wie sie ohne den Vater hierher gekommen.

In demselben Augenblicke ward Wagengerassel von der Straße her vernehmbar.

»Kommen Sie schnell,« rief das Mädchen hastig, »da hinter uns kommt Ihr Vater, und ich wollte auf einem Sack Gerste und Erdäpfeln nicht sitzen und so ins Dorf hereinfahren. Dazu bin ich nicht genug Bäuerin.«

Mit diesen Worten eilte sie über den Steg hinweg, Josef folgte ihr zögernd. Ein Leuchtkäferchen flog vor ihnen her, als wollte es den beiden mit seiner Laterne den Weg zum Hause zeigen. Josef aber war es, als schwirrten hunderte und tausende von diesen Leuchtern um ihn her. So kamen sie in das Haus.

IV.
Die Ankunft.

Gitel, die Bäuerin, schrie nicht hell auf, als die sehnlichst Erwartete endlich mit Josef in die Stube trat; sie war eine Frau von starken Nerven und konnte einen Riß daran schon ertragen. Sie stellte sich nicht entzückt, ja nicht einmal verwundert über den neuen Gast, sondern benahm sich, wie es in der großen Welt heißen würde, »den Umständen« gemäß.

»S' Gotts willkomm, Roselleben,« rief sie der Eintretenden mit ihrer starken Stimme entgegen, und ohne sich lange zu besinnen, nahm sie das Mädchen beim Kopf und 209 drückte ihm einen herzhaften Kuß auf die Lippen. Dann nahm sie den Leuchter mit der brennenden Kerze vom Tische und hielt das Licht gerade vor des Mädchens Angesicht hin.

»Soll ich leben und gesund sein,« rief sie dann, und der Ton dieses Ausrufes zitterte vor tiefer Bewegung, »die ganze Hannele, wie sie leibt und lebt! So hat sie vor dreißig Jahren ausgesehen.«

War es das Seltsame dieses Empfanges, das Fremdartige der neuen Umgebung, die Unbefangenheit der stattlichen Bäuerin – das Mädchen begann plötzlich laut aufzuweinen und wandte sich, als wenn es fliehen wollte, zur Türe.

»Ich will nicht dableiben« rief sie dazwischen, »ich will wieder fort; keine Minute bleib' ich länger hier . . . ich will wieder zu meiner Mutter!«

Gitel, die Bäuerin, fühlte wohl, wie ihr diese Worte ans Herz griffen, aber als eine Frau von Verstand faßte sie sich schnell; sie sah in aller Raschheit ein, um was es sich jetzt handle.

»Ich halt' dich nicht, mein lieb' Kind,« sagte sie, »du kannst gehen, wie's dir beliebt, und wenn du willst, lass' ich sogleich einspannen, und mein Sohn führt dich wieder zurück. Gitel hält keinen zurück, der nicht bei ihr bleiben will.«

Die Wirkung dieser wenigen Worte auf das Gemüt des Mädchens mochte keine geringe sein: langsam wandte sie sich von der Türe ab, deren Klinke sie bereits ergriffen hatte, und zeigte ihr tränenbenetztes Gesicht in seiner ganzen Lieblichkeit und Feinheit. Gitel hätte nicht sagen können, wie ihr bei diesem Anblick ward, auch Josef nicht, der in einer Art von Verzauberung noch immer als Zeuge dieses seltsamen Vorganges dastand. Aber bei Gitel kam zu dem Gefühle tiefsten Mitleides, das sie mit den Tränen des Kindes empfand, denn Schönheit im Schmerz ist immer rührend, noch das volle Bewußtsein, daß Hannele Ehrenfelds Tochter vor 210 ihr stand, daß deren Ebenbild so zu ihr spreche, und in demselben Augenblicke, wo sie ihr Haus betreten, schon Miene machte, es zu verlassen. Sie selbst war nicht länger imstande, ihre Tränen zurückzuhalten, und mit vor Wehmut zitternder Stimme sagte sie:

»Sieht es denn gar so schrecklich bei uns aus, oder meinst du, man könnt' nicht einmal eine Nacht bei uns aushalten? Probier's nur, mein Kind . . . ich kann dich ja bei Nacht und Nebel nicht fortschicken. Fürchtst du dich denn nicht?«

»Gerad' weil ich mich fürchte, will ich fort,« rief schluchzend das Mädchen.

Die Bäuerin horchte hoch auf.

»Du fürchtest dich? Vor wem denn?«

»Vor dem Bauer –«

»Vor dem da?« rief Gitel und zeigte auf ihren Sohn.

Das Mädchen warf hinter den Augenwimpern einen flüchtigen Blick auf den Bezeichneten, und tat fast unsichtbar mit dem Kopfe eine verneinende Bewegung.

»Vor dem also nicht?« sagte Gitel, »vor wem also denn?«

In diesem Augenblicke rasselte der Wagen in den Hof, und die laute Stimme Feiwels ward vernommen. Unwillkürlich hatte sich das Mädchen wieder der Türe zugewandt, ihre Hand lag bereits wieder auf der Klinke. Das war den scharfen Augen der Bäuerin nicht entgangen.

»Mir scheint, du fürchtst dich gar vor meinem Mann?« rief sie. »Ist das so?«

Das Mädchen entgegnete nichts, Gitel rief aber voll Lustigkeit:

»Schämst du dich nicht? Vor meinem guten Feiwel dich zu fürchten, der keine Katz' beleidigen kann! Was hat er dir denn getan? Es lebt gar kein besserer Mensch auf der Welt, um den Finger kann ihn ein kleines Kind wickeln, und du fürchtst dich vor ihm?«

211 Es war gut, daß um diesen Augenblick die großgestreckte Gestalt des alten Bauers zur Türe herein erschien. Scheu, als habe es etwas Fürchterliches erblickt, flüchtete sich das Mädchen an der Bäuerin Seite und hielt ihren Arm fest, während sie auf den Bauer zaghaft ihre Augen richtete.

»Da ist ja die Prinzessin!« rief er mit heiserem Lachen. »S' Gotts willkumm, Prinzessin, wie hat dir der Spaziergang geschmeckt? Weißt du, Gitel, was das ›Prinzessel‹ angestellt hat? Vom Wagen ist sie heruntergesprungen und ist mir auf und davon. Was sagst du dazu? Über eine halbe Stunde ist sie gelaufen.«

»Um Gottes willen,« schrie Gitel im Tone des tiefsten Entsetzens, »und das hast du zugeben können! Feiwel, wo hast du deinen Kopf gehabt?«

»Hätt' ich ihr nachlaufen und die wilden Pferde allein stehen lassen sollen?« sagte Feiwel gleichgültig.

»Lebendiger Gott!« schrie die Bäuerin wieder verzweifelt, »das Kind hätt' ja den Tod davon haben können! Und warum hast du das angestellt, mein Kind?«

»Ich hab' nicht länger auf dem Sack Erdäpfel sitzen können,« schluchzte das Mädchen, »darum bin ich lieber abgestiegen und zu Fuß gegangen.«

»Feiwel!« rief Gitel, und ihr sonst so gutmütiges Antlitz überflog die dunkelrote Farbe des Zornes, »das soll dir Gott verzeihen, was du mir an dem Kinde getan hast. Hab' ich dich nicht himmelhoch gebeten, du sollst mir auf das Kind acht geben, wie auf einen Augapfel, und du läßt mir's eine halbe Stunde weit laufen, die Füße sich wundgehen, Hannele Ehrenfelds Tochter, die so etwas nicht gewöhnt ist! Den Tod kann das Kind davon haben, und wer könnte das verantworten vor Gott und vor den Menschen? Feiwel, um Gottes willen, was hast du denn getan?«

Die Stimme der Bäuerin versagte vor Schmerz; sie brach in lautes Weinen aus.

212 »Ich versteh' dich nicht, Gitel,« rief dagegen hell auflachend der alte Bauer, »ich schwör' dir darauf, es ist nicht ein Erdapfel im Wagen gelegen. Wie ich sie von Hannele Ehrenfeld in Brandeis übernommen habe, so bring' ich dir sie wieder. Nicht ein Erdapfel ist in meinem Wagen gewesen; ich schwör' dir darauf!«

»Und weswegen beklagt sich denn das Kind? So aus dem hohlen Faß wird sie doch nicht reden?« fragte Gitel.

»Weiß ich,« entgegnete Feiwel achselzuckend, »was das kleine Prinzessel gespürt hat? Du weißt, in dem »Kutschel« vom Pfarrer könnt' eine Gräfin fahren, so weich und gut gepolstert ist es. Kann ich etwas dafür, daß es für die Tochter Hannele Ehrenfelds zu hart ist?«

Gitel wußte, daß ihr Mann keiner Lüge fähig sei; und ebenso schnell begriff sie als eine Frau von Verstand, daß das Recht eigentlich auf beiden Seiten sei. Rasch einlenkend sagte sie daher, indem sie mit ihrer Hand über das Gesicht Rosas fuhr:

»Du wirst müd' sein, mein Kind, von dem Fahren und Laufen! Komm auf dein Stübel, da findest du ein Bett, das ist weicher als der Sitz in meines Mannes Wagen. Da schläfst du dich gut aus, und wenn du früh aufstehst, da wirst du schon sehen, daß sich's auch bei Leuten aus dem Dorfe leben läßt.«

Sie führte sie hinaus, das Mädchen sprach kein Wort dazu.

»Etwas Schönes hat sich die Mutter da eingewirtschaftet,« sagte der alte Bauer, als sie draußen waren, zu Josef. »Was? Wer sich eben nicht raten läßt, dem ist nicht zu helfen. Was meinst du dazu, Josef?«

Josef blieb diesmal die Antwort schuldig.

V.
Eine kühne Tat.

Der Schlaf floh in dieser Nacht die wackere Gitel; der Morgen graute bereits, und ihre Augen hatten sich noch 213 nicht geschlossen. Sie horchte auf den Atemzug der in der angrenzenden Stube Schlummernden; bei dem leisesten Geräusche fuhr sie im Bette auf und lauschte, ob man nicht ihrer Hilfe bedürfe, und ob das »Kind« nicht weine. Schwere Sorgen waren über die arme Frau gekommen, die manches minder ernste Gemüt von sich abgeschüttelt hätte; aber sie, in der ganzen Tüchtigkeit ihres Wesens, rang mit ihnen und sah ihnen ins Auge. Oft seufzte sie tief auf aus tiefster Seele, die Größe der Verantwortlichkeit, die sie mit der Aufnahme des Mädchens in ihr Haus übernommen, stand vor ihr drohend, sie wußte sich keinen Rat. Mann und Sohn waren dazu nicht zu gebrauchen, sie hatten sich ja, der eine gleichgültig, der andere aber mit unverhohlenem Widerwillen gegen den Gast ausgesprochen. Wenn das Mädchen wirklich krank war, wie die Doktoren behaupteten, und in ihrem Hause nicht gesund würde, welche Qualen für die Zukunft hatte sie sich aufgebürdet! Wenn das Kind fern von seiner Mutter bei ihr stürbe! Man sieht, die wackere Bäuerin hatte den Mut, selbst dem Äußersten ins Gesicht zu sehen; aber trotzdem brachte ihr der bloße Gedanke eisige Schauer. Doch dagegen sprach sich auch eine andere Stimme, die der Hoffnung, aus. Das Kind sei gar nicht so krank, als wofür es ausgegeben werde, flüsterte ihr diese nimmermüde Trösterin zu; es sehe zwar blaß und fein aus, das käme aber von dem vielen Lernen und Bücherlesen her. Wenn man ihr das abgewöhnen könnte . . . Wahrlich! Gitel hätte nicht sagen können, wie sie das anstellen wollte; sie war keine gelernte Pädagogin. Alles, worauf sich ihre Beweisgründe gestützt hätten, wäre der Satz gewesen: »Dem Kinde muß geholfen werden.« Man hatte es ihr anvertraut, seine Mutter hatte es ihr, einer Mutter, übergeben – und wir wissen, daß die wackere Bäuerin ihre Freundin nicht vergessen hatte!

Der Morgen war längst herangebrochen, im Hause rumorten 214 Knechte und Mägde herum, und dazu lachte die freundlichste Sonne am Himmel. Auch die Bäuerin war längst an ihre Geschäfte gegangen, kummervollen Gemütes, denn der Morgen hatte ihr keinen Rat, keine Erlösung gebracht. Das Mädchen schlief noch, unbekümmert um den Lärm, den die Bäuerin trotz alles Zuredens nicht beschwichtigen konnte. Gitel freute sich über diesen Umstand; wer so ruhig schlafen konnte in den geräuschvollen Morgen eines Bauernhofs hinein, konnte doch nicht gar so krank sein! Als aber die Sonne immer höher und höher stieg, der Mittag nicht mehr ferne und das Mädchen noch immer nicht aus dem Stübchen gekommen war, da erfaßte große Angst die wackere Gitel. Von einem so lange währenden Schlafe hatte die tätige Bäuerin keinen Begriff. Mit unhörbaren Schritten nahte sie sich dem Stübchen und horchte zuerst. Nichts regte sich. Da drückte sie auf die Klinke und trat ein.

Da lag das Mädchen und schlummerte noch. Die Sonnenstrahlen hatten sich breit und weit einen Weg durch das Fenster gebahnt und spielten um das feine Antlitz des »Kindes«, daß es eine anmutige, fast durchsichtige Röte angenommen hatte. Die Bäuerin stand vor Verwunderung eine Weile da und wagte kaum zu atmen, denn ein so holdes Bild jungfräulicher Schönheit hatte sie noch nie erblickt. Jenes Gefühl seligen Mitleids, wie es Mütter beim Anblick eines schlafenden Kindes empfinden, das sie nicht gerne wecken wollen, durchzog auch sie. Sie hatte nicht den Mut, die Ruhe dieses Kindes zu stören.

Aber mit dem scharfen Blicke einer Mutter entdeckte sie auch sogleich die Ursache dieses in den vollen Tag hineindauernden Schlafes. Von der ganzen Kerze, die sie vor dem Schlafengehen angezündet, war ein winziges »Stümpchen« übrig, und auf dem Kopfkissen lag ein offenes Buch, auf welchem ein Arm des Mädchens ruhte, als wollte sie es schützen.

215 »Lebendiger, großer Gott,« schrie es innerlich in dem Herzen der Bäuerin auf, »und die soll nicht krank sein! Sie muß ja die ganze Nacht gelesen haben . . . woher soll dem Kind dann Kraft kommen? Was hat sich Hannele Ehrenfeld nur gedacht, daß sie das hat zugeben können? Lebendiger Gott! wenn mir so eine Tochter wär' beschert worden, ich hätt' sie ja behütet wie mein eigenes Leben.«

Du täuschtest dich, gute Gitel, in diesem Augenblicke! Du standest wirklich vor deiner eigenen Tochter, und die eigene Mutter hätte nicht milder und weicher denken können.

Zuerst wollte sie in einer Aufwallung von Zorn das Buch vom Kopfkissen wegnehmen; es war ihr, als sähe sie Feuer und Flamme neben dem Haupt des Kindes, und dies mußte vor allem gelöscht werden. Aber schon in der nächsten Minute bedachte sie sich eines anderen, sie durfte das Kind ja nicht wecken!

»Sie soll schlafen, solang' sie will,« murmelte sie vor sich hin, und leise, wie sie gekommen war, entfernte sie sich wieder aus dem Schlafstübchen.

Das Mittagsessen mußte gerüstet werden. Mitten im Mahl fragte mit einem Male Rebb Feiwel, als ob ihm die Sache erst jetzt einfiele:

»Wo bleibt denn das Prinzessel? Verschmäht sie unsere Kost?«

»Sie schläft noch,« entgegnete Gitel mit gesenkten Augen, als schäme sie sich dieses Geständnisses.

»Gitel!« rief der alte Bauer und legte vor starrem Erstaunen Messer und Gabel vor sich hin, »das ist menschenunmöglich!«

»Warum hast du sie eine Stund' weit laufen lassen, zu Fuß, so ein verwöhnt feines Kind?« sagte die Bäuerin in beinahe gereiztem Tone; er sollte wahrscheinlich das Unzulängliche dieser Anklage übertönen.

»Ich kann dir schwören, Gitel,« sagte der alte Bauer, 216 »sie ist nicht eine Viertelstunde weit gelaufen. Beim heiligen Johannes ist sie ausgestiegen, und von da lauft man doch nicht eine Stunde bis in unser Dorf?«

»Die Mutter hat recht,« meinte Josef und hielt die Augen auf seinen Teller geheftet; »wenn man etwas nicht gewöhnt ist, so kommen einem zehn Schritte wie eine Meile vor.«

Gitel warf einen dankbaren Blick auf den Sohn, den dieser jedoch nicht bemerkte.

»Sie wird schon anders werden,« sagte sie mit tiefster Überzeugung. »Man wird nicht auf einmal eine Bäuerin!«

»Und zum Essen gibst du ihr gar nichts?« fragte Feiwel.

»Laß sie lieber schlafen,« meinte die Bäuerin kurz, »das tut ihr besser als alles Essen.«

»Essen muß der Mensch, das ist meine Meinung,« sagte der Bauer mit großer Ruhe.

Weiter war von dem Mädchen nicht mehr die Rede, dafür sprach Rebb Feiwel von den Vorbereitungen zum morgigen Wochenmarkt. Rosa Ehrenfeld schlief indessen auch in den Nachmittag hinein; der Abend war gekommen, die Nacht hereingebrochen, und nichts deutete an, daß sie aus ihrem Schlummer erwacht war. In ihrem Stübchen regte sich nichts, so oft Gitel auch nachsah. Aber nicht der Bäuerin war die schwere Sorge wegen dieses allen unerklärlichen Zustandes an der Stirne zu lesen; sie hatte auf jede Frage stets das allbereite: »Laß sie lieber schlafen« zur Antwort. Jemand strich unausgesetzt um Gitel herum und schien etwas auf der Seele zu tragen, für das er keinen Ausdruck finden konnte. Es war Josef.

Als Gitel einmal wieder an der Tür lauschte, ob sich noch nichts in dem Stübchen rege, sagte er mit einem Male:

»Sollt' ich denn nicht um den Doktor gehen, Mutter?«

»Warum?«

217 »Sie will ja gar nicht aufwachen!« rief er überlaut. »Mir kommt das zu besonders vor.«

»Meinst du?« fragte Gitel und sah den Sohn dabei ängstlich forschend an.

»Wie kann ein Mensch hintereinander so lange schlafen, ohne krank zu sein? Ich gehe um den Doktor.«

»Eine Stunde weit gehen!« rief die Bäuerin abwehrend. »Nein, nein,« setzte sie nach einer Weile wie beruhigt hinzu, »laß sie lieber schlafen, Schlaf ist der beste Doktor.«

Trotzdem ging jetzt die Bäuerin mit dem festen Willen an die Tür, um dem unnatürlichen Zustande ein Ende zu machen. Sie drückte stärker an die Klinke und trat ein. Da saß Rosa aufrecht im Bette, den Kopf in die beiden Hände gestützt, als wäre sie gerade aus dem Schlummer erwacht. Freudigen Tones rief Gitel:

»Nun, wie geht's dir, Rosel? Dein lang' Schlafen hat mir schon Sorgen gemacht.«

Das Mädchen richtete langsam ihr Haupt auf und blickte mit verwunderten Augen um sich.

»Habe ich denn so lange geschlafen?« fragte sie in langgezogenen Lauten.

»Mehr als vierundzwanzig Stunden, mein Kind,« sagte Gitel, »und jetzt ist wieder Nacht.«

»Ich bin noch schläfrig,« sagte Rosel nach einer Weile und gähnte.

»Willst du denn gar nichts essen?« fragte die Bäuerin, »du wirst dich ja auf den Tod abmatten. Ist denn heute Jom Kippur (Versöhnungstag), daß du mit Gewalt fasten willst?«

»Essen?« wiederholte gedehnt Rosel, dann nickte sie still mit dem Kopfe.

Die wackere Bäuerin war darauf bereits gefaßt. Ohne langes Besinnen eilte sie in die Küche hinaus und holte von dem warm gehaltenen Herde die Speisen herbei, die sie für 218 das Erwachen Rosels aufbewahrt hatte. Es waren nach Gitels Meinung Leckergerichte, wie sie auf einer»Grafentafel« sich nicht zu schämen brauchten, und sie hatte sich in dieser Überzeugung auch nicht getäuscht. Anfangs langte das Mädchen mit schlaftrunkenem Widerwillen danach; bald aber forderten die erwachten Lebensgeister ihr Recht. Gitel bemerkte mit inniger Freude, daß der Appetit des »Kindes« ganz wie der einer »gesunden« Person sei; sie glaubte das Klügste zu tun, wenn sie Rosel so wenig als möglich mit Fragen und Antworten unterbrach. Auch Rosel schien nicht große Lust zum Sprechen zu haben. So kam es, daß das kleine Mahl in wenigen Augenblicken verschwunden war, zu der Bäuerin großer Freude, die sich dadurch von der Angst, das Kind könnte »sich aushungern«, befreit sah.

»Bist jetzt satt, Roselleben?« fragte sie unnötigerweise.

Rosel nickte statt aller Antwort nur mit dem Kopfe und langte nach dem Buche, das auf dem Kopfkissen lag.

»Was willst du jetzt tun, Rosel?« rief die Bäuerin wahrhaft erschrocken.

»Lesen will ich,« sagte das Mädchen gleichgültig und begann in dem Buche zu blättern.

Gitel fühlte, wie ihr alles Blut aus dem Herzen zum Kopfe schoß, sie wurde feuerrot im Gesichte. Zorn war es, der in ihr überwallte gegenüber dem unvernünftigen Verlangen dieses Kindes. Dennoch war die Scheu, dem Kinde ihrer Freundin wehe zu tun, so überwiegend in ihr, daß sie in sich selbst das Maß fand, um dieser Gereiztheit Herr zu werden.

»Mein Kind,« sagte sie anscheinend ruhig, »in meinem Hause muß vor dem Schlafengehen alles Feuer gelöscht sein.

Rosel schaute verwundert auf; sie begriff wahrscheinlich nicht, in welchem Zusammenhange das Feuer im Hause mit ihrem Buche stand.

»Lesen kannst du, wann du willst,« fügte Gitel als 219 Erläuterung hinzu, »nur nicht jetzt. Die Nacht hat Gott eingesetzt, daß man sich ausruhe, nicht aber, daß man sich abmatte und die Augen verderbe. Ich weiß zwar nicht, was da im Buche steht; aber wär' es noch so schön, die Gesundheit an einem Mädchen ist doch tausendmal schöner – und du bist nicht gesund, mein lieb' Kind!«

»Mir fehlt nichts,« entgegnete Rosel trotzig, »und meine Mutter hat mir das Lesen niemals verboten.«

»Deine Mutter!« rief die Bäuerin voll Wärme, »deine Mutter ist eine arme Witwe mit all ihrem Geld, und konnt' sich um dich nicht umsehen. Sie hat dir alles nachgeben müssen und in allem deinem Kopf folgen. Darin, mein lieb' Kind, liegt deine Krankheit; glaub das mir, Rosel, denn ich kenne mich aus in diesen Sachen und habe auch Kinder gehabt. Jetzt aber bist du mir anvertraut, und ich bin deine Mutter! Und so sage ich dir, mein Kind, wir sind zwar Bauersleute, und bei uns nimmt man das Wort nicht so genau und legt's auf die Wage. Bei uns, sag' ich dir, folgt das Kind seiner Mutter und lehnt sich nicht dagegen auf, und wenn die Mutter etwas anbefiehlt, so schweigt das Kind und denkt sich: Die Mutter muß das besser verstehen. Wo käme die Welt hin, wenn jung' Blut klüger sein wollte als alte Leut'? Ich, meine liebe Rosel, bin schon eine alte Frau und stell' jetzt deine Mutter vor. Wie ich noch so jung war wie du, hab' ich nicht gewußt, was auf ein Quentel geht; in deinem kleinsten Finger hast du mehr gelernt als ich in meinem ganzen Leben! Dessentwegen darfst du aber doch nicht glauben, daß ich nicht weiß, was dir gut tut. Drum folg, mein lieb' Kind, glaub mir, du wirst's nicht bereuen.«

Lautlos hatte das Mädchen diese lange Rede der stattlichen Gitel vernommen, und als diese jetzt, mehr aus Erschöpfung als aus Mangel an Stoff, innehielt, denn ihr Herz war übervoll, drückte Rosel das Buch an sich, als fürchte 220 sie, es könnte ihr entrissen werden. Sie blickte dabei starr vor sich hin; sie hatte kein Auge für ihre herzliche Ratgeberin.

»Nun, hast du mir nichts zu sagen?« fragte Gitel nach einer Weile, während sie das Mädchen scharf beobachtet hatte.

»Meine Mutter hat's mir nicht verboten,« brachte endlich Rosel heraus, indem sie das Buch heftiger an sich drückte.

»So verbiet' ich dir's,« rief die Bäuerin mit lautschallender Stimme, und mit einer raschen Handbewegung entriß die kräftige Frau das Buch.

Erst schaute Rosel, entsetzt über dieses ungeheuerliche Tun, mit weitaufgerissenen Augen zur Bäuerin; dann sank sie leise wimmernd in sich zusammen.

»Ich will's vor Gott und vor deiner Mutter schon verantworten,« sagte die Bäuerin noch in der Heftigkeit ihres Tuns und wandte sich zum Gehen.

Aber an der Tür wäre sie fast umgekehrt; das Weinen des Mädchens schnitt ihr durchs Herz. Vielleicht durchzuckte sie der Gedanke, ob sie denn auch das Recht habe, so willkürlich, so herrisch in das Wesen dieses Mädchens einzugreifen; aber wie unter der Gewalt einer inneren Stimme rief es in ihr: »Laß dich nicht irre machen, Gitel, was du tust, kannst du verantworten!«

Und sie ging; das Buch nahm sie mit sich,

VI.
Zum Lichte!

Wenn Naturen, wie die unserer Gitel, einmal aus dem Kreise gewöhnlichen Tuns heraustreten, fällt es ihnen meistenteils schwer einzulenken; denn in der Selbständigkeit eines Charakters liegt es eben, daß er nicht so leicht zum Geständnis eines etwaigen Übergriffes zu bewegen ist. Die Bäuerin war sich wohl bewußt, daß sie zu weit gegangen; sie hatte 221 Rechte ausgeübt, die nur der wirklichen Mutter zukamen; aber sie bereute ihr Verfahren nicht. Wie heiß auch die Tränen des Mädchens auf ihrer Seele brannten – das Buch hätte sie ihr nicht zurückgestellt, und hätte man ihr große Schätze dafür geboten. An einem Buche sollte es liegen, daß ein Mensch gesund werde? Hatte man sie darum aufs Dorf geschickt, daß sie da Bücher lese? Gesund sollte sie werden, und ihr hatte man sie anvertraut! Konnte sie weniger tun, als was jede Mutter getan hätte?

So beschwichtigte Gitel die einzelnen Stimmen, die ihr wegen des gewaltsamen Verfahrens denn doch Vorwürfe machten; und eine Genugtuung, die nahezu an Triumph grenzte, füllte ihre Seele aus.

»Besser ist's, sie weint jetzt als später,« sagte sie bei sich, indem sie selbst zur Ruhe ging. »Hannele ist eine arme Witwe, die sich nicht zu helfen weiß. Läßt das Kind Französisch lernen und Gott der Lebendige weiß was noch alles, aber daß sie zur Zeit folge und nicht rebellisch ist, das hat sie ihr leider Gottes nicht durch Lehrer beibringen lassen! Jetzt spürt man es erst, und das Holz läßt sich vielleicht nicht mehr gerade biegen!«

Die Bäuerin schlief in dieser Nacht so ruhig und sanft, wie Menschen, deren Gewissen kein Fleck trübt, nur immer schlafen können.

Aber als sie in aller Frühe das dicke Gebetbuch hernahm, da mußte der, zu dem sie die heiligen Worte hinaufschickte, denn doch manchen tief aus der Brust geholten Seufzer vernehmen; das Geschehene trat erst jetzt in seinen möglichen Folgen vor ihren Geist. Wie alles Gebet nur Demütigung ist vor einem Höheren, ein Klären und Reinigen des Niedersatzes im Gemüte, so trat auch bei der Bäuerin das Gefühl der selbständigen Tat, die sie in der Nacht fast über sich selbst erhoben hatte, vor dem Gedanken zurück, wieviel sie über sich genommen, wieviel sie zu verantworten 222 habe! Klar war sie sich dessen bewußt, nicht in nebelhaften Umrissen, daß, was sie begonnen, auch zu Ende geführt werden müsse.

Sollen wir es geradezu heraussagen? Die gute Bäuerin schämte sich gewissermaßen, daß sie wieder vor Rosels Angesicht treten sollte. Ängstlich überlegte sie, wie sie ihr, die sie so tief gedemütigt glaubte, entgegengehen, ob sie im Tone der Strenge, oder in den milden Lauten der Versöhnung mit ihr reden solle. Sie rang nach einem Entschlusse, und je mehr sie darüber nachsann, desto zweifelhafter war ihr die Art des zu beobachtenden Benehmens. Die Bäuerin war nie in einer solchen Lage gewesen; jede Verstellung lag ihr fern! Zum ersten Male in ihrem Leben machte sich in ihr eine Macht geltend, deren sie in ihren einfachen Verhältnissen nie bedurft hatte.

Aber diese Stimmung hielt nicht lange an. Plötzlich kam ihr der Gedanke: Wie, wenn das Mädchen, erzürnt über die Behandlung, die ihr gleich am ersten Tage ihrer Ankunft geworden, den Entschluß gefaßt hätte, wieder heim zu wollen? Ob sie sie zurückhalten könne und dürfe? Gitel war darauf gefaßt, daß Rosel ihr mit diesem Antrage entgegenkommen werde; es war gar nicht anders möglich! . . .

Was sollte sie ihr in diesem Falle antworten? Sie durfte nicht heimkehren, bis Befehl von ihrer Mutter eingetroffen; darüber war sie im ersten Augenblicke mit sich im klaren – sie brauchte nur ein entschiedenes: Nein! zu sagen. Aber wenn Rosel nicht gehorchen wolle, sollte sie das Mädchen mit Gewalt zurückhalten, ihr eigenes Haus zum Gefängnisse für eine sich hinaussehnende Seele machen? Minder starke Gemüter wären, von dieser Aussicht erschreckt, bereit gewesen, sich sobald als möglich von der Unruhe einer unangenehmen Lage zu befreien; aber das tüchtige Wesen unserer Bäuerin erhob und stärkte sich gerade unter dieser Last. Der Gedanke, daß das Mädchen Widerstand leisten könne, erhitzte ihr Blut 223 und machte, daß sie sich zur vollen Höhe ihrer tief sittlichen Anschauung erhob. Eine Mutter ist für die andere verantwortlich! so sagte sie zwar nicht, aber es war der Kern ihres innersten Denkens, »was der einen nicht gelang, das sollte die andere versuchen«. Und in dieser Lage befand sich Gitel, die Bäuerin, soeben! Hinweg war nun jedes Gefühl von Scheu; aufgerichteten Hauptes schritt die Bäuerin über den Hof nach dem Garten; dort auf der Bank unter dem Kirschbaum, wo sie gewöhnlich saß, wollte sie Rosel erwarten. Dahin wollte sie das Mädchen rufen lassen und gedachte mit ihr zu reden, wie es sich geziemte!

Aber wie ward ihr, als sie beim Eintritt in den Garten auf derselben Bank unter dem Kirschbaume, wohin sie Rosel kommen lassen wollte – sie selbst sitzen sah. Sie traute ihren Augen nicht und glaubte zu träumen. Nun sah sie schärfer hin, und in der Tat saß dort das Mädchen mit dem Rücken ihr zugewandt und in beide Hände den Kopf gestützt, fast in derselben Stellung, wie sie sie gestern verlassen hatte. Gitels Herz schmolz bei diesem Anblick vor Wehmut; sie hatte Trotz und Widerstand erwartet, und nun fand sie das Mädchen in solcher Lage.

»Rosel!« konnte sie sich nicht enthalten in den weichsten Tönen zu rufen.

Da ließ das Mädchen die Hände vom Gesichte herabgleiten und schaute sich um. Doch kaum gewahrte sie die Bäuerin, als sie aufs neue den Kopf in beide Hände vergrub. Es schien zugleich, als weinte sie.

»Rosel, mein Kind!« rief die Bäuerin noch einmal und war ihr nun ganz nahe gekommen.

Trotz dieses milden Zurufs blieb das Mädchen in derselben Stellung und stand nicht auf, um der Bäuerin entgegen zu gehen.

»Bist auf mich bös, Rosel?« sagte Gitel und legte ihre Hand auf den Kopf des Mädchens.

224 Rosel zuckte von dieser Berührung zusammen.

»Ich sollt' bös sein?« rief sie schluchzend und ließ die Hände vom Antlitz fallen, »ich bin ja in dieser Nacht ganz anders geworden.«

»Mein Kind! mein lieb' Kind!« rief die Bäuerin in so herzaufschreienden Lauten, wie sie sich nur dem höchsten Glück oder dem tiefsten Leid entringen.

»Ich bin ganz anders geworden in der Nacht,« wiederholte Rosel noch einmal, und es lag eine solche Wahrheit in diesem Geständnisse des jungen Mädchens, daß selbst ein ungläubiges Gemüt davon wäre getroffen worden.

Die Bäuerin fand keine Worte für die Empfindungen dieses Augenblickes; die Hand, die noch immer auf Rosels Kopfe lag, zuckte und zitterte, und ihre Lippen zitterten ebenfalls wie ihr Herz unter dem Eindrucke des Gehörten.

»Gott! Lebendiger!« rang es sich endlich mit Innigkeit aus ihr, »wie hab' ich nur das erleben können, was ich gar nicht gehofft habe? Ich verdien' ja gar nicht, was du mir da beschert hast!«

Dann nach einer Weile sagte sie:

»Wie ist nur das geschehen, Rosel? Ich habe ja geglaubt, du wirst bei uns nicht bleiben wollen und wirst fortgehen, und jetzt redst du so zu mir!«

»Wenn Sie mich nicht fortschicken, so geh' ich nicht!« rief Rosel und schaute zur Bäuerin auf.

»Einziger Gott!« schrie Gitel mit der ganzen Gewalt ihrer Stimme, »wir sollten dich fortschicken! Wir wollen dich ja halten, wie ein Stück Gold! Tu' mir aber nur gleich einen Gefallen.«

»Was denn?« sagte Rosel und lächelte.

»Red per du mit mir.«

»Mutter!« sagte das Mädchen mit Innigkeit und wandte ihr volles Antlitz in seiner ganzen Lieblichkeit und Feinheit gegen die Bäuerin.

225 »Und du bist mein Kind! meine Tochter!« rief die Bäuerin in tiefster Erregtheit.

Sie mußte sich auf die Bank niederlassen; es war eine körperliche Schwäche ungewöhnlicher Art über die sonst starke Frau gekommen.

Dann nahm sie die Hand des jungen Mädchens in die ihre und hielt sie minutenlang umschlossen.

»Und jetzt sag, Rosel, mein Kind,« begann sie wieder, »was ist mit dir geschehen? Wie bist du auf einmal so ganz anders worden? Ich mein' fast, es ist ein Wunder vor meinen und deinen Augen vorgegangen?«

»Ich schäm' mich, Mutter!« sagte Rosel mit gesenkten Blicken. »Wie du gestern in der Nacht von mir fortgegangen bist, da war mir's, als sollt' ich nicht mehr den heut'gen Tag erleben. Ich hätte vor Scham sterben mögen. Denn so hat noch kein Mensch mit mir gesprochen wie du, nicht einmal meine Mutter. Besonders die nicht! Und auch kein anderer hätte sich unterstanden, mir etwas zu verweigern, oder gar wegzunehmen. Alles hat sich von jeher bemüht, mir gefällig zu sein, niemals hat jemand ein ernstes Wort mit mir gesprochen, als fürchtete man, mir wehe zu tun. Wie sollt' ich da nicht verwöhnt und verzogen werden? Du, Mutter, bist die erste gewesen, die ohne Scheu mit mir gesprochen hat, wie man immer mit mir hätte reden sollen. Mein Ankommen bei euch war eine Beleidigung schon; ich bin deinem Mann weggelaufen, als wäre er mein Bedienter und ich eine Prinzessin, und auch deinen Sohn habe ich beleidigt.«

»Wieso?« fragte Gitel.

Ein flüchtiges Erröten flog über das liebliche Antlitz des Mädchens, die Bäuerin bemerkte es aber nicht.

»Euch alle habe ich verletzt und beleidigt, dich vor allen, Mutter, die du mir doch so liebreich entgegengekommen bist. Du aber hast dich daran nicht gekehrt, du hast dich nicht 226 gescheut, mich gerade da anzugreifen, wo mich kein anderer zurechtgewiesen hätte! Du hast mir mein Buch weggenommen!«

»Laß gut sein, Rosel,« meinte Gitel, und es klang fast wie eine Entschuldigung, »laß gut sein, ich hab' es dir weggenommen, weil ich nicht wollte, daß du in der Nacht daraus lesen sollst.«

»Nein, nein, Mutter,« rief Rosel, »nicht für die Nacht allein! Meine Bücher passen überhaupt nicht hierher; ich habe unrecht gehabt, sie mitzubringen! Was soll ich hier auf dem Dorfe damit? Davon werd' ich hier nicht gesund!«

»Laß gut sein, Rosel,« rief Gitel wieder, »werde du nur gesund.«

»Mutter, mir fehlt nichts mehr!« sagte Rosel.

VII
Ein Brief Rosels nach acht Wochen.

»Liebe Mutter bis zu hundert Jahren!

Bevor Du in diesem Briefe weiter fortfährst, sei so gut und schicke um meinen früheren Lehrer Herrn Julius Arnsteiner; er möchte aber sogleich kommen.

Ich seh ihn schon, wie er in seinen schokoladfarbigen Rock, an dem immer zwei Knöpfe fehlen, hineinschlüpft und sein weißes Halstuch sich zurecht rückt, das immer aussieht, als hätte er es am letzten Rosch-ha-schana (Neujahr) zuerst angezogen. Wenn er nun bei Dir ist, sag ihm: ›Herr Arnsteiner, Sie haben einmal eine Schülerin gehabt, die hat Rosa Ehrenfeld geheißen (ich heiße aber jetzt Rosel). Ich weiß, Sie haben sich alle Mühe genommen, um ihr etwas in den Kopf hineinzubringen, aber es hat gar nichts genützt und sie macht Ihnen keine Ehre. Seit den acht Wochen, die sie auf dem Dorfe lebt, hat sie alles Lernen rein vergessen; sie weiß nicht mehr, was die schlechteste unter Ihren 227 Schülerinnen kann. Sehen Sie sich z. B. dieses ’Geschreibsel‘ an! Sollte man nicht meinen, eine Fliege sei ins Tintenfaß gefallen und dann übers Papier hingekrochen? Wo ist die schöne Schrift, die sie von Ihnen erlernt hat, und die ihr der beste ’Buchhalter‘ nicht nachgemacht hat?‹ Liebe Mutter bis zu hundert Jahren! Es kommt noch etwas viel Ärgeres und was Herrn Julius Arnsteiner noch besonders ärgern wird. Ich weiß nämlich gar nicht mehr, ob es in der Welt eine ’Grammaire‘ von J. B. Machat gibt, woraus ich alle die schönen Aufgaben gemacht habe, und die mir doch nicht in den Kopf gegangen sind. Alles ist fort, nicht eine ’Vokabel‘ ist in meinem Gehirn geblieben. Mit wem sollt' ich französisch reden? Mit Rebb Feiwel, oder mit Josef? Auch von der deutschen Sprachlehre weiß ich kein Wort mehr, und ob ich in der halbvergangenen Zeit spreche, wie Herr Arnsteiner immer wollte, oder in der zukünftig vergangenen, das ist mir jetzt alles gleichgültig. Und besonders die ’Partizipialkonstruktion‘ ist mir verloren gegangen. Der redliche Finder kann sie aber behalten.

Ja, liebe Mutter bis zu hundert Jahren, das alles ist aus Deiner Tochter geworden, und meinst Du, sie grämt sich darüber? Dafür lerne ich jetzt andere Dinge, und frag nur einmal meinen Lehrer Josef, wie er mit mir zufrieden ist? Was kann man aber alles wissen ohne J. B. Machats französische Grammatik und ohne Herrn Arnsteiners Partizipialkonstruktion? Das erleb' ich jetzt alle Tage! Da gehe ich z. B. mit Josef durch ein Feld; plötzlich bleibt Josef stehen und fragt mich: ›Fräulein Rosa! (ich weiß nicht, warum er mich nicht Rosel nennt) wissen Sie, was auf diesem Felde wächst?‹ – Wie soll ich das wissen? Habe ich das von Herrn Arnsteiner gelernt? Da reißt er einen Halm ab und erklärt mir, das sei Sommerfrucht; dann bleibt er wieder bei einem andern Felde stehen und sagt mir: Das da ist Winterfrucht! Oder es fliegt ein Vogel 228 mitten aus der Saat auf. ›Fräulein Rosa,‹ fragt er wieder, ›hören Sie dort die Amsel? Sehen Sie, wie dort jener Specht nach Nahrung ausgeht?‹ Oder wir gehen durch einen Wald! Mutter, wie schön ist's in so einem Walde! Jeden Baum, jeden Strauch kennt Josef, und neulich, wie ich recht anmaßend von einem Baume sage: ›Da auf der Eiche hoch oben zu sitzen, muß etwas Schönes sein!‹ hat er mich ausgelacht, und als ich ihn fragte, warum er so lache, meint er: ›Rosa, das ist ja eine Buche!‹ Liebe Mutter bis zu hundert Jahren! ich will Dir etwas vertrauen, Du darfst es aber nicht weiter sagen. Ich habe Herrn Julius Arnsteiner, der doch gewiß ein sehr geschickter Mensch ist, im Verdacht, daß er selber nicht weiß, was eine Buche oder eine Eiche ist. Woher soll er das auch wissen? Ich glaube, seit den vierzig Jahren, die Herr Julius Arnsteiner auf der Welt ist, hat er nicht Zeit gehabt, sich eine Blume oder ein grünes Feld anzusehen. Dem Feld kann er ja keine Lektionen geben, jeder Vogel auf dem Baum möcht' ihn auslachen!

Überhaupt, liebe Mutter, haben die Leute in der ›Gasse‹ gar keinen Begriff davon, was so ein Bauer alles wissen muß; es geht in manchen Kopf nicht hinein. Und merkwürdig ist's, wie die Leute nichts vergessen, was sie einmal gelernt haben. Von Rebb Feiwel nimmt mich das nicht wunder, der ist ein alter Bauer; aber Josef ist durch fünf Jahre unter den Soldaten gewesen und weiß heutzutage noch alles mit Namen zu nennen, was da blüht und wächst, was fliegt und kriecht im Feld und Garten. Er hat einen Feldwebel gehabt, von dem erzählt er immer, und im ungarischen Kriege sind ihm zwei Finger abgeschossen worden, nämlich dem Josef, nicht dem Feldwebel . . . Wer weiß, wo sie liegen. Ich wußte lange nicht, daß sie ihm fehlen, es ist mir wie ein Stich durchs Herz gegangen, wie ich es vor einigen Tagen bemerkt habe. Da erst hat er mir erzählt, daß er Soldat gewesen, und wie es ihm in der Schlacht 229 ergangen. ›Josef,‹ sagte ich zu ihm, ›das muß Ihnen ja sehr wehe getan haben; nicht wahr, Sie haben geweint?‹ – ›Ein Soldat weint nicht,‹ sagte er darauf, ›und dann hab' ich die Finger für meinen Kaiser verloren! Hat der befohlen, daß mein Vater Haus und Hof zu eigen haben darf, so kann ich auch die paar Finger für ihn hergeben! Aber eines hat mich doch dabei zumeist geschmerzt!‹ – ›Was?‹ habe ich gefragt. – ›Wie ich im Spital im Wundfieber gelegen bin, ist mir's alleweil vorgekommen, als hätte ich noch alle meine zehn Finger und ginge hinter einem Pflug einher, den ich drehte und wendete, je nachdem es der Boden erforderte. Wenn ich dann aufwachte und spürte, daß die zwei Finger mir fehlen, und daß ich vielleicht durchs ganze Leben ein Krüppel bleiben und keinen Pflug werde mehr anrühren können, da hätte ich darüber bald geweint.‹

Denk Dir nur, Mutter, auf seinem Schmerzenslager, mit zwei abgeschossenen Fingern, träumt er von nichts anderem, als wie er hinter dem Pflug wieder geht!

Übrigens hat's ihm, gottlob! nicht geschadet. Der Josef hebt selbst mit der Hand, woran ihm die zwei Finger fehlen, einen Sack Getreide auf den Wagen, wovon Herr Julius Arnsteiner augenblicklich den Tod haben möchte. Die Wunde ist längst zugeheilt, und mir scheint, Josef ist stolz darauf!

So, liebe Mutter bis zu hundert Jahren! jetzt mach' ich in meinem Geschreibsel einen Atemzug und will schließen. Morgen wird zum ersten Male auf Rebb Feiwels Feld geschnitten, das wird ein heißer Tag werden, und ich freu' mich schon seit vier Wochen darauf. Wie ich aufs Dorf kam, sind mir die grünen Halme desselben Feldes bis ans Knie gegangen; jetzt sind sie goldgelb und so hoch, daß ich mich darin verbergen kann. Es wird heuer ein gutes Jahr, sagt Josef. Im Hof schleift der Knecht Pawel die Sense. Früher wäre mir ein solches Geräusch durch die Seele gegangen und 230 Schauer hätten mich erfaßt, jetzt hör' ich und lausche – und ich weiß selbst nicht, was ich daran so gern höre . . .

Jetzt beginnen die großen Arbeiten bei uns. Wer es nicht mit eigenen Augen sieht, würde es nicht glauben, welche Mühe und Plage meine Hausleute haben. Unsere Hausierer und Dorfgeher plagen sich gewiß auch . . . Was ist aber der größte Pack mit altem Zinn oder Hasenhäutchen gegen das, was Josef in einer Stunde eines Sommertages vollbringt? Dabei ist er stark und frisch, und die Gesundheit lacht ihm aus den braunen Augen. Warum sieht keiner unserer Hausierer aus wie mein Rebb Feiwel? Wenn Du mich nicht bald von hier fortnimmst, werde ich noch eine ganze Bäuerin. Ich bin Deine Dich aufrichtig liebende Tochter

Rosel, früher Rosa Ehrenfeld.

P. S. Sag mir nur, warum hast Du mir früher so gar nichts von Deiner Freundin Gitel erzählt? Die soll eine Bäuerin sein? Mutter, von der werde ich Dir erzählen, wenn ich einmal wieder bei Dir bin! Noch eines! Frühmorgens, zu Mittag und abends bet' ich jetzt täglich aus Gitels dickem ›Sidur‹! Sie will's so, und ich tue, was sie schafft. Schade, daß keine deutsche Übersetzung dabei ist! Aber Gitel meint, sie bete daraus schon über fünfundvierzig Jahre ohne Übersetzung.

Die Obige.«

Als Hannele Ehrenfeld diesen Brief zu Ende gelesen, schüttelte sie gar bedenklich den Kopf. Rosel hatte während ihres Aufenthaltes auf dem Dorfe schon mehrere Briefe geschrieben, sie waren alle kurz und nichtssagend, enthielten nur die Hauptsache, daß das Mädchen sich wohler fühle; aber sie hatten sie weit mehr befriedigt als dieses langatmige Schreiben. Es war in dem Briefe etwas, was nicht nach dem Geschmacke der reichen Frau sich lesen ließ. Sie las den Brief mehrmals durch, aber er zeigte sich ihr von keiner besseren Seite . . .

231 Nur auf wenige Augenblicke müssen wir das Dorf verlassen. Wir kommen zeitlich genug wieder zurück, um bei der Ernte gegenwärtig zu sein, auf die sich Rosel so freut.

Das schönste »Gewölbe« unter den »Lauben« des Ringplatzes hatte Hannele Ehrenfeld inne. Sie saß darin wie eine Königin, breit und mächtig, die Kunden kamen von selbst, und sie hatte nicht nötig, nach ihnen auszuspähen oder sie gar mit Schmeichelworten hineinzulocken. Wer bei Hannele Ehrenfeld kaufte, mußte sich nach ihren eigenen Worten eine Ehre daraus machen, und längst hätte sie das »Geschäft« aufgegeben, wenn es ihr nicht eben um dieser Ehre willen leid getan hätte.

Es war kurz vor der Ernte, und die »Lauben« sind da auf dem Marktplatze immer leer. Der beste Käufer, der Bauer nämlich, fehlt, und die Geschäftsfrauen haben manche lange Weile. Hannele hatte den Brief ihrer Tochter vom Hause mit sich genommen, um ihn in dem kühlen Gewölbe in aller Gemütsruhe noch einmal zu lesen und danach die Antwort abzufassen.

Ein Gefühl von Scham hielt sie dabei ab, den Brief anderen, etwa ihren Nachbarinnen mitzuteilen; er enthielt zu viel des Beleidigenden, und konnte Herrn Julius Arnsteiner zu Ohren kommen. Eines besonders schnitt ihr durch die Seele, daß Rosel sich nämlich über die Unwissenheit der Leute in der »Gasse« lustig machte, und dagegen die Bauern, bei denen sie weilte, hervorhob. Dicke Schweißtropfen perlten auf der Stirne der reichen Frau, während sie dieses las, und nicht die Hitze des Sommers, sondern die Angst, daß so etwas unter die Leute kommen und dem Mädchen einen schlechten Ruf verschaffen könnte, hatte sie ihr entlockt. Sie sah nicht ab, wohin das führen könne, wenn Rosel länger auf dem Dorfe bliebe; eine Verwilderung ohnegleichen, daß man sie kaum zu erkennen imstande sein würde, stand drohend vor ihrer Seele. Sie hatte sie aufs Dorf geschickt, damit 232 sie dort gesund werde – und nun rühmte sich Rosel, daß sie das teure »Französisch« und die »Sprachlehre« vergessen hätte.

Es traf sich gut, daß um diese Zeit ein alter Bekannter unserer »Gasse«, nämlich der Doktor Emanuel Prager, über den Marktplatz daherkam. Vielleicht erinnert sich noch mancher der Rolle, die er in der Blitzableitergeschichte unseres wackeren Schlossermeisters Trenderl gespielt hat, der kurz zuvor zu namenlosem Erstaunen von »halb Böhmen« die Tochter der reichen Mindel Brandeis als Frau heimgeführt hatte. Hannele erschien er in diesem Augenblicke ihr wie vom Himmel zugeschickt; dem Doktor war sie gewohnt alles zu vertrauen. Sie winkte ihn zu sich, und er zögerte auch nicht zu kommen.

»Lesen Sie nur gleich den Brief da, Herr Doktor,« rief sie ihm beim Eintritte ins »Gewölbe« in großer Aufregung entgegen, »nur gleich! Der Brief macht mich ganz verzweifelt.«

»Ein Schuldner ausgeblieben?« fragte der Doktor etwas neckisch.

»Möcht' ich darum Sie befragen?« sagte Hannele in übler Laune. »Von Rosa ist er.«

Alsbald legte sich die Stirne des Doktors in ernste Falten, sein vorhin lächelndes Gesicht gewann einen Ausdruck nachdenkender Strenge.

Er nahm den Brief und las. Währenddem waren die Augen der reichen Gewölbsfrau unausgesetzt auf sein Antlitz gerichtet; nicht das leiseste Spiel einer Miene konnte ihr entgehen. Der Doktor schien Rosels Brief mit großer Aufmerksamkeit, ja manche Stellen sogar wiederholt zu lesen; dennoch regte sich dabei kein Muskel in seinem Gesichte. Hanneles Unruhe stieg von Minute zu Minute . . . . solch ein großer Brief ging ohne Eindruck an ihm vorüber? Endlich war er zu Ende gekommen; ein anmutiges Lächeln spielte um seine feingeschnittenen Lippen, indem er ihr das Schreiben zurückgab.

233 »Nun, Herr Doktor, was sagen Sie dazu?« fragte Hannele und sah ihn dabei ängstlich an. »Ist er nicht merkwürdig?«

»Sehr merkwürdig!« meinte der Doktor kurz.

»Wie verstehen Sie das, Herr Doktor?« rief Hannele voll Unruhe und griff nach seinem Arme.

»Er ist darum merkwürdig,« sagte der Doktor, »weil ich nicht hoffen durfte, daß sie in so kurzer Zeit gesund wird.«

»Meinen Sie, Herr Doktor?« rief Hannele mit ungläubigem Lächeln.

»Die wird gesund, Frau Ehrenfeld,« sagte er mit dem vollen Klange seiner männlichen Stimme.

Die Freude über diesen trostvollen Ausspruch des Doktors lockte für einen Augenblick ein sonniges Lächeln auf das Antlitz der Mutter; dennoch war dieses nicht siegreich genug, um alle die Bedenken, die sich in ihr Gemüt seit dem mehrmaligen Durchlesen des Briefes geworfen hatten, mit einem Male zu überwinden.

»Gott, lebendiger!« rief sie mit einem dankbaren Blick auf den Doktor, »wer wäre denn glücklicher als ich, wenn meine Rosa wieder gesund heimkäme? Ich habe ja nichts anderes auf der Welt als sie! Soll ich mir aber es nicht zu Herzen nehmen, daß sie so übermütig schreibt? Und wird es ihr nicht Schaden bringen, wenn sie zu lange auf dem Dorfe bleibt?«

»Schaden!« rief der Doktor erstaunt, »wie soll ihr das schaden, was ihr Gesundheit bringt?«

»Sie verstehen mich nicht, Herr Doktor. Ich meine nur, daß sie das Französische so vergessen kann, womit sich Herr Arnsteiner so viel Mühe gegeben hat, und die Sprachlehre und die . . . Wie heißt doch, was so schwer sein soll?«

»Die Partizipialkonstruktion!« ergänzte der Doktor.

Hannele wollte das schwierige Wort nochmals aussprechen, aber sie brachte es nicht zustande. Wehmütig blickte sie den Doktor an.

234 »Also all das schöne Lernen soll rein verloren sein? Das, was mein Stolz war, woran ich mich in meinen Leiden aufgerichtet habe, das soll ich jetzt mir nichts dir nichts auf dem Dorfe unter den Bauern aufgegeben sehen, und nichts dazu tun?«

»Gar nichts,« rief der Doktor, und sein ernstes Auge ruhte mit bannender Gewalt auf der reichen Frau. »Wollen Sie Ihre Tochter kränker, als sie zuvor war, in Ihr Haus zurückerhalten? Sie ist jetzt in der ersten Genesung begriffen, hüten Sie sich hineinzugreifen.«

»Da sei Gott zuvor!« rief Hannele tief erschrocken. »Wie werde ich etwas tun, was gegen das Glück meines Kindes ist? Meinetwegen soll Rosa dort noch ein Jahr bleiben, bis sie ganz genesen ist.«

»Und wenn diese Genesung ein ganzes Leben dauern würde?« fragte der Doktor, indem er sie forschend anblickte.

Die Frau verstand offenbar den Sinn dieser Frage nicht und schwieg.

Der Doktor empfahl sich darauf und wollte gehen. Da rief ihm Hannele zu:

»Noch eines, Herr Doktor,« sagte sie, »es liegt mir so vieles auf dem Herzen, und ich weiß gar nicht, wo ich früher anfangen soll.«

»Was wollen Sie, Frau Hannele? Ich warte schon!« rief der Doktor.

»Sie redt da in ihrem Brief in einem fort von einem gewissen Josef . . . das dritte Wort im Brief heißt: Josef. Was soll das vorstellen?«

»Nichts, Frau Hannele. Auch das gehört zu ihrer Genesung –« sagte der Doktor und lächelte dabei.

»Ich versteh' Sie nicht –«

»Sie werden es schon einmal verstehen!« rief er bedeutungsvoll. »Einstweilen lassen Sie Ihre Tochter nur gesund werden. Sie ist in guten Händen.«

235 Damit empfahl er sich und ging. Hatte sie ihn begriffen? In seiner offenen, verständnisreichen Seele trug der Doktor das Geheimnis einer jungen Seele, ihr selbst noch unbekannt, das sich ihm aber in dem Briefe in feinsten Umrissen geoffenbart hatte.

VIII.
Drei Erbsen.

Schneller, als wir gedacht, kommen wir wieder auf das Dorf zurück.

Im Hause Feiwel des Bauers war in diesem Augenblicke ein merkwürdiges Treiben und Bewegen; die Zeit der Ernte war gekommen. Das Jahr hatte mehr gehalten, als es im Anfange versprochen hatte; man konnte es ein gesegnetes nennen. Wagen auf Wagen brachten die goldene Feldlast ins Haus; knarrend waren sie ausgezogen, leise, weil sie ob der schweren Wucht nicht klagen konnten, waren sie zurückgekehrt. Für Rosel war die Ernte ein neues, nie gesehenes Schauspiel. In der Gasse, in der sie geboren und erzogen war, konnte mit Mühe kaum ein gewöhnlicher Wagen, geschweige ein mit Garben hochaufbelasteter gewendet werden.

So oft eine neue Ladung durch das Hoftor lenken wollte, sprang sie vors Haus hinaus, und wie die Garben mit kraftvoller Hand von den Knechten geschwungen, auf den Boden fielen, wie die Wagen wieder fortfuhren . . . dem allem folgten Rosels leuchtende Blicke, die mehr als Neugierde verrieten.

Wer das Mädchen jetzt so dastehen sah und die Stunde verglich, in der es dem zu harten Sitze auf Feiwels »Kutschel« entflohen war, hätte sich kaum überreden können, es sei noch ein und dasselbe. Sie war in der Tat sichtlich erstarkt; ihre Wangen blühten im Schimmer einer gesunden Röte; dabei war das Mädchen größer und kräftiger geworden, und auf den 236 ersten Anblick ward man gewahr, daß mit seinem ganzen Wesen eine merkwürdige Änderung vorgegangen sein mußte. Es lag ein Hauch innerlicher Freiheit über ihm . . . es war mit einem Worte im Zustande selbständiger Entwickelung.

Wir müssen es übrigens aufgeben, die Geschichte dieser Wandlung erzählen zu wollen. Alles Lebendige folgt dem naturgemäßen Drange, daß es nur in dem ihm am meisten zusagenden Boden wurzeln und gedeihen will. Luft und Licht, Wasser und Erde, wie sie sich auch gegenseitig in ihrem Ringen nach Herrschaft befeinden und bekriegen, und keines dem anderen einen Fuß weit Raumes abzutreten geneigt ist – wenn etwas wachsen und in die Höhe aufsteigen soll, müssen sie sich dennoch brüderlich die Hände reichen, und eines dem anderen das Wort des Verständnisses zuflüstern. Jeder Gärtner weiß das! Und hier war eine Menschenpflanze in ein Erdreich versetzt worden, das ihr wohltat!

Auf dem Bauernhof hatte man für das Wunder dieser Wandlung, wie es sich von Tag zu Tag lieblicher offenbarte, die Augen nicht verschlossen. Knechte und Mägde staunten es an, am meisten aber der alte Bauer, über den sich ein Geist der Redseligkeit ergoß, wenn er auf das fremde Mädchen zu sprechen kam, wie man es an dem behäbig gleichgültigen Manne selber für ein Wunder ansehen mußte. Er schlich hinter dem Mädchen her, etwa wie ein Verliebter, und recht wie Sonnenschein klärte es sich auf seinem breiten Antlitze auf, wenn er ihm nachblicken konnte, wie es behende über den Hof schritt, oder frühmorgens mit klaren Augen in die Stube trat. Trotzdem daß er da noch gewöhnlich die »Tefillin« um Kopf und Arm geschlungen trug, und jedes andere Wort außer der heiligen Gebetsprache Zions ihm verwehrt war, so konnte er sich doch niemals des Aufrufs enthalten:

»S' Gotts willkumm, Prinzessele!«

Rosel erblickte übrigens in dieser Benennung keine Beleidigung, was ihr beim Eintritte in dieses Haus 237 allerdings als solche geschienen hatte. Das klang ihr jetzt jedesmals wie eine neue Bestätigung, daß sie auf dem Bauernhofe wirklich willkommen und nicht bloß gut gelitten war. Dennoch mochten in dem Bauer manchmal Bedenken zweifelnder Natur aufsteigen, ob er auch recht daran tue, und ob das Mädchen am Ende nicht doch beleidigt werden könnte. Rosel stand einmal mitten im Hofe und fütterte die junge Hühner- und Gänsewelt des Hauses. Da kam der alte Bauer, nachdem er dem Tun des Mädchens lange zugesehen hatte, breitspurig dahergeschritten, daß die zaghaften Vögelchen, die ihn nur wenig kannten, erschreckt auseinander fuhren, und das eine hier, das andere dort eine Zuflucht suchte.

»Um Gottes willen,« schrie Rosel, »was stellen Sie an, Rebb Feiwel?«

»Ich hab' dir nur sagen wollen, Rosel,« meinte dieser mit seltsam bewegter Stimme, »warum ich dich immer Prinzessele heiß' und niemals anders.«

»Ich sehe darin nichts Schlechtes,« sagte Rosel, die trotz der Störung ihres Lieblingsgeschäftes lächeln mußte. Sie rief hierauf die Hühner noch einmal an sich, die denn auch auf ihren Ruf sich allmählich wieder um sie sammelten.

»Sollst du leben und gesund sein,« rief der alte Bauer, »du magst anfangen und dich stellen wie du willst, du bist doch ein Prinzessele.«

»Kann ich dafür, wenn ich so ungeschickt bin? und wenn die schlechteste Magd mehr kann als ich?« entgegnete Rosel in einem fast traurigen Ton.

»Wirst du gleich schweigen und kein Wort weiter reden?« rief Feiwel; »du hast mich ja gar nicht verstanden, du Narrele! Gerad' weil du alles so fein und geschickt anstellst, als wärst du dein Leben lang auf einem Bauernhof gewesen; gerad' darum kommst du mir wie ein Prinzessele vor.«

»Meinen Sie, Rebb Feiwel?« sagte Rosel und errötete vor Verlegenheit.

238 »Weißt du was, Rosel,« begann der alte Bauer wieder in seiner Redseligkeit, die heute stärker über ihn gekommen war als sonst. »Wie ich noch ein Kind war, da hat mir meine Babe (mit ihr sei der Friede) am Sabbatabend, so in der Zeit, wenn man noch kein Licht anzünden durfte, manche Geschichte erzählt, an die ich mich noch jetzt erinnere, wie wenn es erst gestern am Abend geschehen wär'. Manche von diesen Geschichten waren dir so schrecklich und haarsträubend, daß mein Vater einmal mit einer großen Rute gekommen ist, weil ich in derselbigen Nacht vor lauter Furcht nicht habe einschlafen können. Manche Geschichte wieder war lustig und so schön, daß mir noch heutzutage das Herz davon aufgeht. Zum Beispiel von dem Prinzessele mit den drei Erbsen.«

Rosel wurde erst jetzt recht aufmerksam; sie hielt in der Fütterung ihrer beflügelten Untertanen inne und richtete ihre großen Augen erwartungsvoll auf den alten Bauer.

»Das Prinzessele nämlich,« fuhr Feiwel fort, »hat durchaus von keinem Mann hören wollen, nicht mit Güte, nicht mit Gewalt hat man sie dazu bereden können. Da hat sich ihr Vater, der ein König war, gedacht: »Wart, ich will dich auszahlen! Sind dir die schönsten Prinzen nicht recht, so wirst du dir einen nehmen müssen, der etwas weniger ist als ein Prinz, meinetwegen einen Bauer.« Darauf hat er sie fortgetrieben, und sie ist fort. Blutigwund hat sie sich die Füße gegangen, denn sie war das nicht gewohnt, bis sie in der Nacht, todmüde, vor einem Hause in einem großen Walde angekommen ist. »Macht's mir auf,« hat sie geschrien, »macht's mir auf, ich bin eine Prinzessin.« »Eine Prinzessin bist du?« sagt ein Weib zu ihr, die ihr die Tür aufgemacht hat, »wart, ich will dich probieren.« Drauf nimmt sie alles Bett, was sie im Hause hat, und schichtet es auf, daß es bis an die Decke reicht, ganz zu unterst legt sie aber drei Erbsen, und nun sagt sie zu ihr: »Jetzt leg dich schlafen.« Frühmorgens kommt sie zu ihr, da sitzt das Prinzessele auf 239 dem Bett und weint bitterlich. »Was weinst du?« fragt sie die Frau, die übrigens selbst eine Königin war. »Wie soll ich nicht weinen,« entgegnete das Prinzessele, »ich bin die ganze Nacht auf lauter Steinen gelegen, mein ganzer Körper ist wund davon.«

»Denk dir nur, sie hat die drei kleinen Erbsen für Steine gehalten. Darauf sagt die Frau:

»Du hast mich nicht belogen, jetzt seh' ich, daß du eine wirkliche Prinzessin bist.«

Rosel lachte laut auf.

»Und so eine Prinzessin bin ich auch, Rebb Feiwel?« rief sie lustig.

»Gewesen,« sagte der Bauer beinahe ernst. »Bist du mir nicht vom Wagen heruntergesprungen und fortgelaufen, weil du geglaubt hast, du sitzest auf einem Sack Erdäpfel? Ich schwör' dir's aber noch jetzt zu, Roselleben, du bist auf lauter Roßhaar gesessen, wie der verstorbene Herr Pfarrer, der sich auf einen guten Sitz etwas verstanden hat.«

»Und jetzt bin ich also kein Prinzessele mehr?« meinte Rosel.

»Wart, ich bin noch nicht fertig,« sagte der alte Bauer mit einem gewissen schalkhaften Lächeln zwischen seinen beiden Mundwinkeln, »meinst du denn, jene Prinzessin hat gar nichts mehr zu erleiden gehabt? Das war zwischen ihrem Vater und der Frau, die sie aufgenommen hatte, so verabredet worden, daß sie sollte nämlich die Gänse hüten, die Hühner füttern, die Kühe melken, Gras vom Felde heimbringen, stricken und kochen, kurz alles tun, was einer gemeinen Magd zukommt. Und richtig! aus der schönen Prinzessin, die auf drei Erbsen gelegen ist, ist eine ganz prächtige Bäuerin geworden!«

Plötzlich wandte sich Rosa bei diesen Worten zur Seite; darum vermochte Rebb Feiwel auch nicht die feine Röte zu bemerken, die in diesem Augenblick ihr liebliches Antlitz überzogen hatte.

240 »Das Prinzessele nämlich,« fuhr der alte Bauer fort, »hat den Sohn von der alten Frau gern bekommen, der war ein Schäfer und hat die Schafe aufs Feld getrieben, wie sie die Gänse. Ich bitt' dich, Rosel . . . was geschieht, wenn junge Leute lang' beisammen sind? Die schönsten Prinzen hat sie nicht haben wollen, und jetzt hat ihr ein einfacher Bauerssohn besser gefallen, daß sie ihn allen anderen vorgezogen hat. Erst da hat es sich herausgestellt, daß er auch ein Prinz ist, und so ist mein Prinzessele zu einem Mann gekommen.«

Er hatte diese Worte kaum geendigt, als Josef in das Hoftor eintrat, der große, schlanke Junge mit den klugblickenden braunen Augen. Plötzlich warf Rosel die ganze Ladung von Gerstenkörnern, die sie in der Schürze hatte, den Hühnern hin und floh eiligst ins Haus. Diese Flucht traf so auffallend mit Josefs Kommen zusammen, daß sie diesen selbst verblüffte.

»Hast du ihr vielleicht etwas gesagt, Vater, was sie beleidigt hat?« fragte er, während eine dunkle Röte, wie von unterdrücktem Zorne, sein Antlitz bedeckte.

»Ich?« lachte Rebb Feiwel. »Ich hab' ihr nichts als von dem Prinzessele mit den drei Erbsen erzählt, und wie die zu guter Letzt glücklich war, daß sie einen Bauer zum Mann bekommen hat.«

»Das hast du ihr, Vater, erzählt?« rief Josef, indem er ganz nahe an den Bauer trat, damit ihn kein anderer höre. »Und da willst du, daß sie nicht auf und davon soll?«

Da zuckte über das Antlitz des alten Bauers ein Licht von Verschlagenheit und schlauem Verständnis, daß es mit einem Male wie beleuchtet von einer inneren Flamme erschien. Selten hatte der eigene Sohn diesem Gesichtsausdrucke begegnet; denn der Alte war ziemlich gehämmert für Gemütswallungen.

»Meinst du denn, mein Jüngelleben,« sagte er langsam, 241 und jedes seiner Worte mit Nachdruck betonend, indem er dabei mit dem linken Auge zwinkerte, »meinst du denn, dein Feldwebel ist allein ein kluger Mensch gewesen, und außer ihm ist die ganze Welt ein Narr? Da drauf kannst du dich verlassen, mein Jüngel: deinem Vater, Feiwel Bauer, braucht man auch nicht den Finger in den Mund zu stecken. Er kann auch beißen.«

Laut lachend ging er von dannen, während der einstige Soldat wie am Boden festgenagelt dastand und dem Davoneilenden nachsah. Dann schlich er in den Garten, obwohl er eigentlich im Hause zu tun hatte. – Folgen wir ihm nach.

Da steht der kräftige Junge vor dem Kirschenbaum, unter dem er vor einigen Wochen jenen Brief seiner Mutter vorgelesen hatte. Warum hat sein Antlitz einen so traumhaft zerstreuten Ausdruck, indem er in das grüne Laub hineinschaut? Fällt es ihm ein, daß damals, als er jene Zeilen der reichen Hannele las, der Baum in voller Blütenpracht stand, und daß jetzt nicht einmal für einen hungrigen Sperling das armseligste Kirschlein daran hing? Mußte Blüte und Fruchtzeit so schnell vorüberrauschen? Mit einem Male begann auf dem Baume ein Vogel laut zu pfeifen. Oft sind diese Naturstimmen nur die Verkündiger und Verräter dessen, was siebenfach bedeckt und verhüllt in solchen Momenten in unserer Seele singt und klingt. So mochte es auch Josef sein. Er horchte auf den Gesang des Vogels, als sei es zum ersten Male, daß er ihn zu Ohren bekam. Er sah den Vogel nicht, er hörte nur dessen Sprache aus den Blättern zu sich dringen – aber tief bis ins Herz hinein. Plötzlich verstummte der Gesang, der Vogel flog mit leichtem Geräusche auf und ließ sich auf einem benachbarten Baume nieder. Nun bekam ihn Josef ganz zu Gesichte; er erwartete, ob das kleine Tierchen von neuem beginnen würde. Aber der Vogel schien seine Lust daran zu haben, die Erwartungen Josefs zu täuschen. Er sang nicht mehr, 242 und endlich flog er auf und davon, weit weg über den Zaun des Gartens.

Mit einem Blicke tiefer Traurigkeit blickte Josef dem Davoneilenden nach. Dann schien mit einem Male ein Geist der Ermannung über sein seltsam zerstreutes Wesen zu kommen, gleichsam von innen heraus trat eine sichtliche Erhebung über die Schwäche dieses Augenblickes auf seinem Gesichte hervor; und an die Stelle der früheren Schlaffheit war die Miene siegreicher Entschlossenheit getreten. Rasch, als wollte er einen müßig verträumten Augenblick wieder einbringen, verließ er den Garten.

Im Hofe lag eine Ladung Baumklötze für den kommenden Winter. Wußte Josef, was er tat, als er einen dieser Klötze mit den Händen umfaßte und aufhob und ihn dann weit von sich über den Hof schleuderte? Was bedeutete diese Kraftprobe? Seine Mutter Gitel sah in diesem Augenblicke aus der Küche in den Hof; sie hatte das anscheinend unsinnige Treiben ihres Sohnes wohl gemerkt.

»Josef, was stellt das vor? Bist du nicht mehr sinnedig?«

Er schaute auf; dunkelrot war sein Gesicht, sei es von der Kraftprobe oder von dem wogenden Gefühle, das ihn beherrschte.

»Ich habe nur sehen wollen, Mutter, ob noch ein bissele Kraft ist in mir,« rief er, und mit einem mächtigen Fußtritt schob er den Baumklotz wieder an dessen frühere Stelle zurück.

Einem Mutterauge, sagt man gewöhnlich, ist die Kunst gegeben, in der Seele des Kindes selbst da zu sehen und sich auszukennen, wo für jedes andere Dunkelheit und Finsternis ist. Diesmal jedoch machte Gitel, die Bäuerin, davon eine Ausnahme. Ihr Auge, ihr geistiges sowohl wie ihr leibliches, ruhte seit der Ankunft Rosels auf keinem anderen Wesen, als auf dieser; für die kleinste Regung dieser ihr 243 anvertrauten Pflanze hatte sie die Aufmerksamkeit eines Gärtners; aber in ihrer Freude an dem neuen Kinde, in ihrem Glücke, daß Rosel in ihrem eigenen Hause der Gesundheit an Leib und Seele entgegengehe, vergaß sie nachzuforschen, was die verdrossene Miene ihres Sohnes Josef, sein unlustiges Wesen und eine gewisse Bitterkeit, die man sonst an ihm nicht kannte, zu bedeuten hatten.

Die Bäuerin ging nämlich von der irrigen Ansicht aus, daß Josef noch immer gegen die Aufnahme des fremden Mädchens sei. Sie hatte es nicht vergessen, wie er dagegen geeifert und in seinem Zorne sogar harte Worte gegen die eigene Mutter gebraucht hatte. In Wahrheit jedoch war es Gitel in dieser Hinsicht gleichgültig, was Rebb Feiwel oder ihr Sohn über Hanneles Tochter dachten. In der Ausschließlichkeit ihrer Liebe wollen so kraftbewußte Naturen, wie die unserer Gitel, nicht beirrt sein; selten gewahren sie, wenn sie irgend einmal ein Wesen in den Kreis ihrer Tätigkeit gezogen haben, was zur Rechten oder zur Linken vorgeht; ja sie wollen sogar nichts gewahren. Gitel war es sich bewußt, daß sie erfolgreich in das ganze Leben Rosels eingegriffen, daß ihr energisches Auftreten zum guten Teile mit daran schuld war, wenn sich das neue Wesen des Mädchens so vorteilhaft entwickelt hatte. Zudem war es der Bäuerin niemals vergönnt gewesen, sich einer Tochter zu erfreuen . . . Nun war ihr eine, halb vom Zufall, halb vom Glück geschenkt worden. Wie sollte sie das Geschöpf ihres kräftigen Willens, das unter den Schmerzen der Angst ans Licht getretene Kind, nicht mit aller Eifersucht einer wirklichen Mutter behüten? . . .

Mehr als jedes weitläufige Erzählen hat es vielleicht Rosels Brief an ihre Mutter dargetan, welche Lust und überströmende Heiterkeit über die Seele des verwöhnten Kindes gekommen war. Gitel konnte auf diesen Erfolg ihrer Erziehungskunst wahrlich stolz sein. Mitten aus einer müßigen 244 Tätigkeit bei Herrn Julius Arnsteiner, aus dem zerstreuenden Dunste halbverstandener Romane hatte sie Rosel zum selbständigen Eingreifen in das Hauswesen gewöhnt, und was Hannele Ehrenfeld, die reiche Gewölbsfrau, versäumt, das holte Gitel während der wenigen Monate im Fluge ein. Sie führte Rosel in die Küche ein, sie erschloß ihr das innerste Wesen eines Bauernhofes; sie verbarg ihr nichts, und wie man ein Kind mit Bändern und roten Korallen ausschmückt, daß es weithin glänze und leuchte, so schmückte Gitel auch die Tochter ihrer Freundin, um sie ihr einst völlig gesundet wieder zurückzugeben, mit allen Kunstgriffen und Lehren der Haushaltung aus. Niemals ist eine Erziehung reicher belohnt worden. »Gott Lebendiger!« sprach es manchmal in ihr mit aller Glut erkennender Dankbarkeit, wenn sie sah, wie das Mädchen immer mehr zunahm an Gedeihen und Wohlsein, an Tätigkeitstrieb und Erkenntnis, »wie ist das nur möglich, daß das alles ein Buch soll zuwege gebracht haben? Und wenn ich es ihr nicht weggenommen hätte? Was wäre daraus geworden?« Auf solche Fragen, gute Gitel, gibt es keine Antworten. Aber wenn du den letzten Brief Rosels an ihre Mutter hättest lesen können – so wäre dir klar geworden, daß sich eine Macht in die Erfolge deiner Erziehung geteilt hatte, die außer deiner Berechnung lag.

Irren wir, wenn wir diese andere Macht »Josef« nennen?

IX.
In die Kaserne zurück.

Die Ernte war eingeheimst worden; was man während des Schnittes nur annäherungsweise als Erträgnis berechnet hatte, das stellte sich jetzt, seitdem man die ersten Proben der neuen Frucht für den nächsten Wochenmarkt vorbereitete, 245 als über jede Erwartung günstig heraus. Auf keinem Gebiete menschlichen Schaffens zeigt sich der Gewinn von einer reinern Seite, als wo er unmittelbar aus den Händen der Natur kommt; sie gibt ihn ungebeten, ohne Feilschen und Schreien, denn sie selbst ist voll Ruhe und ohne Leidenschaft. Ein Schimmer schweigsamen Glückes war über das Haus gebreitet, das ihm sehr wohl anstand.

Es war am Abend eines Sabbats in den letzten Ausgängen des Sommers. Da saß Gitel, die Bäuerin, mit Josef draußen vor dem Hause auf der hölzernen Bank, der gewöhnlichen Zusammenkunft der Familie an diesem Tage der Ruhe, an dem alles ringsum im Dorfe in lebendiger Tätigkeit sich regte, sie selbst aber der süßen Behaglichkeit beschaulicher Muße sich hingaben. Beide hatten von gewöhnlichen Dingen gesprochen. Da kamen aus der Dorfschenke, die nicht fern dem Hause lag, einige Burschen, denen man an den »Kommißkappen« und den blauen Hosen beurlaubte Soldaten ansah. Es waren zumeist Söhne von Bauern, die für die Erntezeit in ihre Heimat entlassen waren und jetzt wieder zu ihrer Kompagnie zurückkehrten.

»Wo mögen die jetzt hinziehen?« fragte Gitel gleichgültig.

Statt aller Antwort nahm Josef die eigene Kommißkappe vom Kopf, die er seit dem Abschied noch immer trug, und schwenkte sie gegen die dahinziehenden Kameraden, die diesen Gruß bemerkten und durch lauten Zuruf beantworteten.

»Was soll das vorstellen, Josef?« rief die Bäuerin.

Der ehemalige Korporal in der Armee schwenkte noch mehrmals die Kappe und hörte nicht eher auf, als bis die Urlauber durch eine Biegung der Straße aus dem Gesichte verschwunden waren. Sie hatten einen Gesang angestimmt, der sich leise, je weiter sie sich entfernten, verlor. Erst jetzt wandte sich Josef um; aber zum Erschrecken der Bäuerin bot seine Miene in diesem Augenblicke eine so auffallende 246 Veränderung, daß sie auch ein minder geübtes Auge, als das unserer Gitel, gewahren mußte. Der einstige Soldat hatte nämlich Tränen im Auge!

»Josef! was ist dir?« rief Gitel, »was geht mit dir vor?«

»Nichts, Mutter,« entgegnete der Soldat, der sich zu ermannen suchte. »Nichts,« sagte er, indem er die Kappe mit einer gewissen Heftigkeit auf den Kopf drückte, dabei aber eine solche Stellung einnahm, daß ihm Gitel nur von der Seite ins Gesicht blicken konnte.

»Josef, das glaub' ich dir nicht,« rief Gitel um so dringender, »da hast du zum ersten Male in deinem Leben eine Lüge gesprochen. So umsonst, wenn nichts vorgeht, hat man nicht das helle Wasser in den Augen.«

»Nun gut, Mutter,« sagte Josef nach einer Weile mit mühsam gefestigter Stimme, »ich habe mir nur gedacht, wie ich da meine ehemaligen Kameraden habe vorbeiziehen gesehen: Die haben es gut! Könntest du nur mit ihnen!«

»Josef!« schrie die Bäuerin und riß den einstigen Soldaten mit einem so kräftigen Rucke herum, daß er ihr gerade von Angesicht zu Angesicht stand.

»Was geht mit dir vor? Wirst du gleich reden?«

»Ich habe es dir ja gesagt, Mutter –«

»Du möchtest also wieder in deine Kaserne gehen?« rief die Bäuerin mit dem Ausdrucke des Entsetzens in jeder Gebärde.

»Warum nicht, Mutter?« meinte der Soldat mit gesenkten Blicken. »Der Feldwebel, unter dem ich gestanden bin, hat schon dreimal so lange gedient, als er eigentlich hätte dienen sollen. Der wird auch als Soldat begraben werden. Es gibt manchen, der den Rock des Kaisers nicht mehr auszieht, wenn er ihn einmal angezogen hat.«

Die Bäuerin rang nach einem Ausdrucke. Das, was sie jetzt vernahm, war so erschreckender Natur, daß es uns 247 nicht wundernehmen kann, wenn der sonst so redekundigen Frau zum ersten Male das Wort versagte.

»Dein Feldwebel ist dir also lieber als dein Vater und deine Mutter,« rief sie nach einer guten Weile mit gebrochener Stimme, »und die Kaserne ziehst du unserem gesegneten Hause vor? Das habe ich an dir erleben müssen, der mein einziger Sohn ist.«

Sie konnte nicht weiter, die Stimme versagte jeden Laut.

»Mach mir das Herz nicht schwerer, Mutter, als es mir ohnehin ist,« sagte der Soldat, ohne aufzublicken, indem er mit der Hand über sein Gesicht fuhr. »Ich habe ja nichts gesagt, als daß ich meine Kameraden beneidet habe?«

»Mit deinen zwei fehlenden Fingern wird man dich wieder zum Soldat nehmen?« rief Gitel mit einem merkwürdigen Gemische von Triumph und Angst in Wort und Gebärde.

»Zum Fuhrwesen nimmt man mich immer gerne an,« meinte der Soldat.

»Josef, mit dir geht was vor,« schrie Gitel wieder, »du willst es nur deiner Mutter nicht sagen. Ist dir im Hause etwas nicht recht? Gradezu heraus, möchtest du auf die Beschau gehen, dir ein Weib nehmen? Du weißt, wir haben genug für dich, und daß noch eine Familie davon lebt. Warum tust du es also nicht? Meinst du denn, wir hätten was dagegen, wenn du ein Mädchen nach deinem Sinne dir aussuchst?«

»Ich denk' nicht daran, Mutter,« sagte der Soldat kurz.

»So ist dir etwas anderes im Hause nicht recht?« rief die Bäuerin wieder. »Was kann denn das sein? Kann es einer besser haben als du, tut man dir nicht, was man dir an den Augen ansieht? Du meinst also, die da vorübergezogen sind wieder in ihre Kaserne zurück, die haben es besser als du?«

Josef entgegnete nichts.

248 »Wart, jetzt weiß ich, was dir fehlt,« rief Gitel wieder nach einer Weile im raschen Gedankenflug. »Du warst gleich vom Anfang dagegen, daß ich Hannele Ehrenfelds Tochter ins Haus nehme, und seitdem hast du deinen Zorn darüber nicht abgelegt. Ich will gar nicht fragen warum? Wenn dir aber Rosel nicht recht ist, so brauche ich ja nur ihrer Mutter zu schreiben, und sie nimmt sie sogleich nach Hause. Willst du, daß ich sie fortschicke?«

»Dann gehe ich erst recht unter das Fuhrwesen,« sprach der Soldat mit kaum vernehmbarer Stimme.

In der Aufregung, die diese Unterredung über die Bäuerin gebracht hatte, überhörte sie, was doch eigentlich nicht mißverstanden werden konnte.

»Du sagst das nur, um mir nicht wehe zu tun,« rief sie wieder, in der die fürchtende Mutter vollständig die Obergewalt eingenommen hatte. »Du weißt, daß mir das Mädchen ans Herz gewachsen ist, und daß ich sie nicht gerne so bald verlieren möchte. Aber deiner Mutter kannst du aufs Wort glauben: Wenn es dir nicht recht ist, daß Rosel länger im Hause bleibt, so schreibe ich gleich morgen an Hannele Ehrenfeld. Sie wird es mir schon verzeihen . . . und eine Ausrede ist bald gefunden. Ich kann ja doch nicht den eigenen Sohn fortziehen lassen . . . und eine Fremde dafür behalten?«

Der Soldat hielt seinen Kopf tief gesenkt, um seine Lippen spielte jedoch ein Zug von Trotz, der gewaltig dasjenige zurückhielt, was doch nicht länger verschwiegen werden konnte.

»Dringe nicht länger in mich, Mutter,« sagte er endlich finster, »ich kann es dir doch nicht sagen. Ein Soldat muß fasten können, aber auch schweigen. Und am besten wäre es doch, wenn ich mit meinen Kameraden fortziehen könnte!«

Jetzt kam über das Wesen der Bäuerin ein solcher Grimm, wie er nur aus den Tiefen eines tief beleidigten Gemütes hervorzuquellen vermag.

249 »So geh!« rief sie mit vor Erregtheit zuckenden Lippen, »geh wieder zu deinem Feldwebel, wenn er dir lieber ist als Vater und Mutter. Geh meinetwegen zur Kavallerie oder zur Artillerie oder zum Fuhrwesen – ich werde dir kein nasses Auge nachweinen. Läßt in sich hineinreden von einer Mutter wie in ein Faß, und wie ein hohles Faß bleibt er stumm! Meinst du denn, du bist noch der Soldat, der seinen Feldwebel vor sich hat, vor dem er nicht ›muxen‹ darf? Ich bin deine Mutter, Josef, also mehr als dein Feldwebel! Und jetzt geh! Ich halte dich nicht auf!«

So ungewohnt diese Vorwürfe und der Ton, in welchem sie vorgebracht wurden, für Josef waren – er ertrug mit gesenktem Kopfe die ganze Last. Ohne ein Wort der Widerrede wandte er sich von ihr ab und ging langsamen Schrittes ins Haus hinein.

Die Bäuerin blieb mit ihrem Zorne und ihren Gedanken über des Sohnes seltsames Tun allein. Der erste schwirrte noch eine Zeitlang in ihr, bald jedoch traten die andern mildernd und beruhigend in den Vordergrund ihrer mütterlichen Sorge. Was mochte es sein, das ihren Sohn in so kurzer Zeit derart umgestalten konnte? Sollte es in der Tat der Haß gegen Hannele Ehrenfelds Tochter sein? Was hatte ihm diese aber zuleide getan? Es mußte so sein. Denn nun erst kam es ihr in den Sinn, daß die »Auswechslung« Josefs mit dem Augenblicke begonnen, da Rosel ins Haus kam. Aber jetzt gab es keine andere Wahl; entweder ging der einzige Sohn wieder unter die Soldaten – oder Rosel mußte das Haus verlassen!

Heiße Tränen flossen bei dieser Betrachtung über Gitels Wangen; sie sollte von ihrem Herzen so Liebgewonnenes scheiden lassen! Schon jetzt, wo sie den Gedanken an Rosels Weggang bloß dachte, war es ihr, als scheide etwas Leuchtendes, etwas unendlich Wohltuendes aus ihrem Hause, und als bliebe darin nur Finsternis und Beklemmung zurück. Jetzt 250 erst fühlte sie sich recht als die Mutter auch dieses Kindes; es war ihr nicht anders, als müßte sie eine Tochter in die weite fremde Welt ziehen lassen. Aber ihr blieb ja keine Wahl; Rosel mußte aus dem Hause!

Lange saß sie so in tiefem Sinnen. Da kam unversehens die, deren Wesen so mächtig in die Ruhe dieses Hauses gegriffen, Rosel selbst, über den Weg daher. Gitel hatte sie zu dem kranken Kinde einer Bäuerin mit einem Stücke Sabbatbrot geschickt, um es zu »erlaben«. Als sie ihrer ansichtig ward, ging es tief schmerzlich durch ihre Seele; denn als eine Frau von kräftigem Willen, wie wir sie bereits kennen gelernt haben, wollte sie Rosel sogleich ihren Entschluß kund tun. Der Augenblick dazu war gekommen.

»Rosel . . .!« rief sie ihr entgegen, da sie noch einige Schritte von ihr entfernt war, »was hat denn das Kind dazu gesagt?«

»Es hat sich ordentlich daran erquickt,« meinte Rosel und war in einem Satze bei der Bäuerin angelangt.

»Sie haben geweint, Gitel!« rief sie sogleich erschrocken. »Was ist vorgefallen?«

»Was liegt dir dran, mein Kind,« sagte die Bäuerin, indem sie sich die Tränen trocknete, »ob du es weißt oder nicht. In jedem Hause kommt etwas vor, worüber eine Mutter sich kränken muß; der deinigen wird es nicht besser ergehen. Reden wir lieber von etwas anderem. Wann schreibst du wieder einen Brief an deine Mutter?«

»Eigentlich erwarte ich einen von ihr,« entgegnete Rosel.

»Schreib du ihr zuerst,« rief Gitel mit einer gewissen Hastigkeit. »Auf einen Brief der Mutter muß ein Kind zwei und drei schreiben.«

»Ich versteh' Sie nicht, Gitel,« meinte Rosel kopfschüttelnd; »erst weinen Sie, dann heißen Sie mich, ich soll an meine Mutter schreiben. Sind Sie vielleicht nicht mit mir zufrieden?«

251 »Rosel, um Gottes willen,« rief die Bäuerin mit neuen Tränen in den Augen, »mach mir das Herz nicht beschwerter, als es ohnehin ist. Soll ich dir denn geradezu heraussagen, daß du deiner Mutter schreiben mußt?«

»Warum, warum?«

»Ich kann dir's nicht verschweigen, Rosel . . . es muß ausgesprochen sein. Ich weiß nicht, ob wir noch länger beieinander bleiben können . . . Mein Sohn Josef will wieder unter die Soldaten gehen – und du mußt wieder zu deiner Mutter zurück.«

»Er will wieder unter die Soldaten?« rief das Mädchen nicht erschrocken, doch überrascht.

»Was willst du tun?« sagte die Bäuerin, der das Aussprechen des Schwersten außerordentlich das Herz erleichtert hatte, »wenn so einem eisernen Kopfe, wie mein Sohn ist, einmal eine Idee beigekommen ist, dann bringen sie ihm zwanzig Bauern mit Roß und Wagen nicht heraus. Er meint, er ist noch immer bei seinem Feldwebel in der Kaserne. Kurz und gut, er will wieder fort, mit seinen zwei abgeschossenen Fingern will er wieder fort. Ich fürcht', ich fürcht', wie ich ihn kenne, der Gedanke wird ihm schwer herauszubringen sein, wenn du mir nicht den einen Gefallen erweisest – und gehst wieder nach Hause.«

»Ich soll wieder fort?« sagte Rosel, noch immer anscheinend ruhig.

»Rosel . . .,« rief die Bäuerin in überwallendem Schmerze, »laß mich mit dir mich aussprechen . . ., ich muß dir alles sagen. Mein Josef hat einen unglückseligen Haß gegen dich gefaßt, wofür ich nichts kann. Gleich wie ich dich habe ins Haus nehmen wollen, war er dagegen. ›Wozu willst du dir so eine Prinzessin aufnehmen,‹ hat er gesagt, ›die uns verachtet und keinen Begriff davon hat, was ein Bauer ist? Lies ihren Brief und den von ihrer Mutter, und sieh! was Leute sind, die mit Kühen und Erdäpfeln nichts 252 wollen zu tun haben.‹ Roselleben! ich hab' auf seine Worte nichts gegeben und danke meinem Gott im siebenten Himmel dafür! Als eine Prinzessin bist du gekommen und warst verwöhnt und verzärtelt, aber von dem Augenblicke an, wo ich dir das Buch weggenommen habe, bist du eine andere geworden. Du hast ein Geschick zu allem . . . man kann auf und ab gehen in halb Böhmen, so wird man keine zweite Rosel finden. Nicht nur hast du deine Natur geändert, du bist mir auch im Hause behilflich gewesen, wie die beste Bauerstochter. Das alles weiß ich und habe es gesehen; nur mein Josef hat für dich blinde Augen. Da kannst du tun, was du willst, er meint noch immer, du verachtest uns, weil du Hannele Ehrenfelds Tochter bist, und wir nur ungezogene Bauern. Und weil er sieht, wie du mir und meinem Feiwel, denn auch der ist gegen dich ein anderer geworden, so ans Herz gewachsen bist, gerade darum setzt er seinen eisernen Kopf auf und ist dir ein Feind. Sonst, das kann ich als Mutter schon sagen, ist das Kind gut, brav und tüchtig; er trinkt nicht, er spielt nicht und gibt keinen Kreuzer unnütz aus. Nur gegen dich hat er die unglückselige Idee, da ist er wie ausgetauscht . . . Soll ich das einzige Kind wieder Kommißbrot essen lassen und auf einem harten Brett in der Kaserne schlafen? Soll ich zugeben, daß er in einer Winternacht irgendwo Wache steht, wo er, Gott behüte, mir erfrieren kann? Ich frag' dich selbst, Rosel . . . du hast ja so viel gelernt und so viele Bücher gelesen. Ist es da nicht besser, du gehst zu deiner Mutter wieder zurück, damit ich und mein Feiwel ihren Sohn behalten?«

»Es wird nicht ganz so sein,« sagte das Mädchen nach einer guten Weile, und ein seltsames Lächeln glitt dabei über ihr liebliches Antlitz.

»Du wirst mir sagen, mein Kind, wie Josef von dir denkt?« eiferte Gitel, »dem seh' ich's auf hundert Schritte an den Augen an, ob er einem Menschen wohl will oder 253 nicht. Ich sag' dir, Rosel, deinetwegen will er aus dem Hause, deinetwegen will er wieder zu seinem Feldwebel.«

»Meinetwegen?« sprach das Mädchen langsam nach.

Dann saß sie einige Augenblicke, wie nachsinnend demjenigen, was sie jetzt soeben vernommen. Holde Lichter spielten dabei auf ihrem Antlitze, nicht die der untergehenden Sonne, sondern die aus dem Gemüte herausleuchten, wenn es sich zu irgend einer bedeutenden Tat erhebt.

Mit einem Male stand sie von der Bank auf.

»Ich schreibe nicht an die Mutter,« sagte sie mit Innigkeit, »und Josef wird nicht unter die Soldaten gehen . . .«

Diese merkwürdige Sicherheit des Mädchens verblüffte die Bäuerin derart, daß sie, keines Wortes mächtig, ihr nur in das feingerötete Gesicht starrte.

»Verlassen Sie sich darauf,« beteuerte leise Rosel, »die Prinzessin wird schon mit ihm reden.«

»Roselleben! wenn du das könntest! Wie glücklich möchtest du mich machen!« seufzte Gitel.

Rosel sprach kein Wort mehr; sie schaute auch nicht auf. Nur ein Lächeln war auf ihrem Antlitz leuchtend geblieben. Was sollte es bedeuten?

X. 
Ein Gespräch zwischen Nacht und Morgen.

Die Nacht, die diesem an Erschütterung so überreichen Abend folgte, sollte nicht vorübergehen, ohne für die Bäuerin noch eine Begebenheit von bedeutungsvoller Art gebracht zu haben. Mitten in der Nacht wachte nämlich ihr Mann Feiwel auf, was ganz gegen den gewöhnlichen Gang seiner Natur war; denn nach Gitels Ausspruch war es nur einmal während ihrer dreißigjährigen Ehe, daß er von seinem Schlaf, worin er ganz und gar einem zugebundenen Sack Erdäpfel 254 glich, eine Ausnahme gemacht, nämlich als er die »große« Krankheit (zur Buße gesagt) überstand.

»Gitel,« rief er erst leise, dann immer lauter, »bist du auf, daß man mit dir ein Wörtel reden kann?«

»Gott Lebendiger! Du bist doch nicht etwa krank geworden?« schrie die Bäuerin, schlaftrunken in die Höhe fahrend; sie war erst kurz zuvor, nachdem sie in Sorgen und Kummer lange dagelegen, in einen leichten Schlummer gesunken.

»Mir fehlt nichts,« sagte Feiwel mit klarer Stimme, was in der Nacht gleichfalls zu den Seltenheiten gehörte, »aber unserem Josef fehlt etwas, und das will mir nicht aus dem Kopfe.«

»Hat er dir auch gesagt,« rief Gitel, »daß er wieder unter die Soldaten will?«

Den alten Bauer schien diese Mitteilung nicht im geringsten zu überraschen. Nach einer guten Weile schlug er ein lautes Gelächter auf.

»Will er wieder?« rief er dazwischen, »du wirst sehen, er wird sich seinen Feldwebel schon aus dem Kopf schlagen.«

»Du wirst ihn doch nicht mit Gewalt zwingen wollen?« weinte Gitel trocken. »Dazu ist das Jüngel doch ein zu großer Jung'!«

»Wenn er es nicht gutwillig tut,« sagte Feiwel lustig, »w muß man ihn zu seinem Glücke zwingen.«

»Red deutsch mit mir, Feiwel,« sprach Gitel.

»Ich hab' ihm eine Prinzessin zur Frau bestimmt,« meinte der Bauer, dessen Stimme zum leisen Flüstern geworden war.

»Mir scheint, Feiwel,« sagte die Bäuerin, »du hast einen Traum gehabt, und jetzt meinst du, du träumst noch immer. Du weißt nicht, was du redest.«

»Wenn ich von einer Prinzessin rede,« meinte Feiwel, »so mein' ich damit das Prinzessele, was wir im Hause haben!«

255 Die Bäuerin schrie nicht auf vor Entsetzen, als sie diese abenteuerliche Mitteilung aus dem Munde ihres Mannes vernahm, sie ergriff nur ein Schwefelholz und zündete damit die Kerze an.

»Ich muß dich beim Licht sehen, Feiwel,« sagte sie, indem sie die Kerze aufhob und dem Bauer damit ins Angesicht leuchtete.

Das behäbig volle Antlitz des alten Bauers lachte ihr aus der Umhüllung einer riesigen Schlafmütze entgegen.

»Ich mein's im Ernst, Gitel,« rief er lustig, »ganz im Ernst. Warum? soll das Prinzessele für unseren Sohn zu schlecht sein?«

»Feiwel Narr!« schrie Gitel erst jetzt auf, »nicht Feiwel Bauer sollt' man dich heißen. Schläfst du oder bist du wach? Oder hältst du mich selbst für einen Narren?«

»Lösch das Licht nur wieder aus, Gitel,« sagte der Bauer sich streckend, »ich seh' im Dunkeln auch und weiß, was ich weiß.«

»Was weißt du?« rief Gitel hastig.

»Daß das Prinzessele für unseren Josef das prächtigste Weib auf der Welt wär',« meinte Feiwel.

»Sag mir nur, Feiwel,« rief die Bäuerin nach einer langen Pause, während welcher sie ihre Geister nur mühsam zu sammeln vermochte, »sag mir nur, was hast du dir in deinen alten Kopf für eine Fliege gesetzt? Weißt du denn, was du redest? Ich will gar nicht davon sprechen, daß Josef gegen das Mädchen mit Leib und Seele ist, aber bedenkst du nicht, wer sie ist und wer er? daß wir nur einfache Bauersleute sind, und sie Hannele Ehrenfelds Tochter?«

»Das Prinzessele in der Geschichte von meiner Babe war zuletzt auch froh, daß sie einen Bauernsohn zum Manne bekommen hat. Freilich war's auch ein Prinz,« sagte der Bauer, den alle Ausrufe und Aufschreie Gitels nicht beirrten, »aber ist unser Josef nicht auch ein Prinz – unser Prinz?«

256 »Spaß treiben kannst du auch bei der Narrheit?« rief die Bäuerin mit Bitterkeit.

»Hör an, Gitel,« begann mit einem Male der alte Bauer in einem Tone, den sie an ihm nicht gewohnt war, denn er klang ernst, fast bittend, »glaubst du denn, ich werde in solchen Dingen Spaß treiben mit dir, oder dich sonst zum Narren halten? Ich weiß, ein gescheites Weib fügt sich in alles, in Ernst so gut, wie in Spaß; aber wie es einmal auf das Kapitel kommt, daß man sein eigenes Kind gut versorgen möchte, da sind sich alle Weiber gleich. Sie verlieren nämlich den Kopf!«

Zu der Bäuerin größtem Erstaunen fuhr der Bauer in diesem Tone zu sprechen fort. Seine Rede war ein einziger Lobspruch auf das Prinzessele. Das hätte er nie geglaubt, und wenn es ihm der erste Rabbiner in der Welt gesagt hätte, daß aus einem verwöhnten und verzärtelten Mädchen werden könne, was aus Rosel geworden. Man müsse nur sehen, wie sie etwas anrühre, welch einen besonderen »Geschmack« das alles habe. Beim Trinken verschütte sie nichts, beim Essen beschmutze sie nicht das Tischtuch oder stecke gar die Finger in die »Tunke« hinein. Alles geschehe mit »Tam« (Anmut) und mit Geschick. Er habe sie oft im stillen betrachtet, nie habe er etwas Unebenes an ihr bemerkt, das Herz gehe ihm auf, wenn er ihr goldiges Antlitz schaue. Zu denken, das Kind könnte wieder aus dem Hause gehen, und er hätte dann nichts weiter von ihm, das gehe ihm wie ein Messerstich durchs Herz! Da sei ihm einmal der Gedanke gekommen, ob man Rosel denn nicht fürs ganze Leben hier auf dem Dorfe behalten könnte. Das Kind sei schon in dem Alter, wo man an solche Dinge denken könne, und passe zu Josef, wie nur in der Welt etwas zusammenpassen könnte. Kurz und gut, das Prinzessele müßte im Hause bleiben, es gehe, wie es gehe.«

Namentlich die letzten Worte hatte der Bauer mit einer 257 so markigen Entschiedenheit gesagt, daß sie Gitel im ersten Augenblicke ganz einschüchterten. Welches Mutterherz folgt nicht willig dem Zuge solcher Rede, wenn sie zuletzt auch in einen lustigen Traum endigt!

»Sag nur, Feiwel,« meinte sie nach einer Pause . . . »Glaubst du im Ernste, Hannele Ehrenfeld wird uns einfachen Bauersleuten ihre Tochter geben? Gott der Lebendige weiß, was Rosel ›nachbekommt‹!«

»Weiber! Weiber!« rief der Bauer beinahe zornig, was jedenfalls von einer merkwürdigen Aufgeregtheit seines Wesens zeigte. »Geht denn das in euren Kopf nicht hinein, daß ein Bauer in heutiger Zeit mehr gilt als sie alle dort, wie sie in den Buden und Gewölbern sitzen und sich gegenseitig die Kunden abjagen? Weißt du denn, daß ich, Feiwel Bauer, mit keiner Hannele Ehrenfeld auf der ganzen Erde tausche? Ich, der ich dasitze auf meinem Hof und meinen Äckern und bin keinen Kreuzer darauf schuldig, ich bin mehr als die Leut' in den Gassen mit all ihrem Geld und Geldeswert. Sie haben ihre Schuldner über die halbe Welt ausgestreut, wie einen verschütteten Sack mit Erbsen – ich, ich habe sie alle beisammen! Mein Feld, meine Wiesen, meine Kühe und Ochsen, das sind meine Schuldner, und dazu brauche ich keinen Advokaten, sondern meine eigene Hand, daß sie mir zur Zahlzeit nicht schuldig bleiben. Gott allein im siebenten Himmel ist mein Borger, einmal leiht er mir mehr, das andere Mal weniger, aber immer doch so viel, daß ich und meine Familie davon leben können. Laß sie dich auslachen, Gitel, wenn du einmal zur ›Jahrzeit‹ zu ihnen kommst und hast eine altmodische Haube an. Laß sie lachen und spotten! Du bist doch Gitel, die Bäuerin, und dein Mann heißt Feiwel Bauer; das will, wie es mir vorkommt, beinahe so viel heißen, als wenn man in der ›Gasse‹ sagen könnte: ›Gitel die 258 Gräfin ist da!‹ Denn was ist's, warum man von einem Grafen mit so großem Respekt zu reden gewohnt ist? Man denkt sich, der hat soviel und soviel Einkünfte; hat Äcker und Wiesen, Kühe und Schafe, Fasanen und Hasen, und seiner Väter Väter haben auch das gehabt. Sieh, Gitel, es kommt mir vor, als wäre es im kleinen so auch mit mir. Mein Vater und Großvater und vielleicht schon dessen Väter sind Bauersleut' gewesen und haben in diesem Hause gewohnt. Warum sind sie nicht fortgezogen? oder haben sich in ein ›Gewölb‹ gesetzt, um Kunden zu bedienen? Weil es gegen ihre Ehre war! Und doch haben sie die Felder und den Hof nur in Pacht gehabt. Ich aber, ich habe das alles zu eigen, mein Name ist wirklich: Feiwel Bauer! Und da sollte ich viel darum mich kümmern, ob Hannele Ehrenfeld mir ihre Tochter für meinen Sohn geben will oder nicht? Wenn mir das Prinzessele nicht so überaus gefallen möchte, meinst du, ich möchte nur den Mund auftun, um mit Hannele zu reden über die Sache? Die Hand möcht' ich mir ender (eher) abhacken! So denk' ich aber, es geschieht ihr ebensogut ein Gefallen damit und eine Ehre wie uns. Und so, Gitelleben, wollen wir die Sache ihren Gang gehen lassen, wie es Gottes Wille und Schickung ist. Du weißt jetzt, was ich im Kopfe trage . . . tu mir nur das eine zulieb' und red mir nicht ab! Ich habe die Sache zu gut überlegt – und das Prinzessele gefällt mir als Schwiegertochter wie sonst gar nichts auf der Welt.«

So mächtig wirkte diese lange Rede auf die Einbildungskraft der Bäuerin, daß sie eine geraume Zeit sprachlos nur ihren eigenen Empfindungen zu horchen schien. Alle ihre Geister waren in Aufruhr geraten, wild klangen sie durcheinander. Sie, die sonst Klarbewußte, hatte in diesem Augenblicke keinen einzigen Beweisgrund vorzubringen, der es siegreich mit ihres Mannes Rede aufnehmen konnte. Einerseits fühlte sie sich gehoben von dem Stolze, den der Bauer in 259 seine Stellung als solche setzte, anderseits tat ihr selbst die fernliegende Möglichkeit, daß er in seiner Hoffnung recht behalten könnte, unendlich wohl.

»Es wär' zu schön! zu schön!« sprach sie freudig, »wenn ich Rosel hier behalten könnte und Josef nicht unter die Soldaten müßte.«

»Der geht dir unter die Soldaten so wenig, wie es mir einfallen könnte, noch ein Feldwebel zu werden,« meinte Feiwel.

»Du kennst ihn nicht, welchen Kopf er aufhat!« eiferte die Bäuerin und fügte dann, weil sie fürchten mochte, dem Sohne zu nahe getreten zu sein, noch eiligst hinzu: »Und weißt du denn, ob es beider Wille ist, sich einander anzugehören? Vielleicht will keines von beiden!«

»Einen Blinden muß man führen und einem Lahmen einen Stock in die Hand geben,« sagte der Alte lustig. »Meinst du denn, ich bin blind und lahm, daß ich nicht sehe und begreife, was zwischen den beiden vorgeht? Da wette ich meinen Kopf darum, daß das Jüngel von dem Prinzessele ganz anders denkt, als du dir einredest. Du warst nicht dabei, wenn Rosel zuweilen aufs Feld hinausgekommen ist, du hast die beiden nicht angesehen, wie sie miteinander geredet haben. Ich aber habe die Augen weit offen gehabt, und mir ist nichts entgangen. Ich sage dir, Gitel, sie werden ein Wort mit sich reden lassen.«

Damit war der Bauer wieder auf den Boden seiner gewöhnlichen Stimmung niedergestiegen. Trotz aller Bitten Gitels, er möge doch erzählen, was er gesehen, blieb er standhaft dabei, er dürfe nichts verraten. Im Grunde jedoch übermannte ihn der Schlaf.

»Gut' Nacht, Gitel,« sagte er mit einem Male, »und lösch das Licht aus. Ich meine, du hast jetzt genug gesehen, und morgen ist auch ein Tag!«

Als die Bäuerin in den nächsten Minuten wieder eine 260 Frage an ihn richtete, erfolgte keine Antwort mehr; er schlief bereits.

Gitel blieb aber zwischen Nacht und Morgen wachend in einem Seelenzustand zurück, der sich nur schwer beschreiben läßt. Das Ungewöhnliche, das aus der Mitteilung ihres Mannes sie so sehr überwältigt, trat jetzt vor der klaren Unmöglichkeit des Gelingens zurück. In diesem Augenblicke war Hannele Ehrenfeld die Mutter einer wirklichen Prinzessin, sie selbst aber eine arme unerzogene, verlassene Bäuerin!

XI.
Auf dem Stege des Mühlbaches.

Der Sonntag nach diesem bewegten Sabbat verlief still, ohne daß irgendwie im Hause jene Unruhe hervortrat, unter der doch vier Menschen mit einem Male wie unter einem Banne standen. Der alte Bauer tat gleichgültig, als waltete nicht zwischen ihm und Gitel das Geheimnis der Nacht ob. Nur als gegen Mittag Rosel wieder im Kreise ihrer Hühnerwelt stand, kam er über den Hof und stellte sich neben sie. Es war offenbar nicht darum, um zu sehen, wie den Hühnern das von Rosels Hand ausgestreute Futter mundete, es war ihm darum zu tun, mit dem Mädchen zu sprechen, so oft es anging. Dem Bauer war dies zu einem Bedürfnis geworden.

Als er lange zugeschaut, wie die Vögel fraßen, sagte er plötzlich, indem er mit dem Finger auf eine weiße Henne deutete, die sich zunächst in Rosels nächster Nähe gefiel:

»Du, Rosel, die weiße Henne wirst du auch nicht mehr lange haben.«

»Warum nicht?<

»Am Dienstag kommt der Rebb Wolf, der Schächter, der wird die weiße Henne nehmen und sie –«

»Das darf nicht sein, Rebb Feiwel!« rief das Mädchen lebhaft.

261 »Weswegen nicht?«

»Die Henne ist mein Liebling und ich habe sie aufgezogen.«

»Narrele,« meinte der Bauer lachend, »glaubst du denn, ich werde dir etwas wegnehmen lassen, was dir lieb und teuer ist? Meinetwegen kann die weiße Henne ein Alter erreichen wie meine Urbabe, die in ihrem hundertundzehnten Jahre gestorben ist.«

Ganz anders benahm sich Gitel an diesem Tage gegen Rosel. Sie wich ihr aus, wo sie nur konnte, und sie, die Frau mit dem reinen Gewissen, senkte betroffen ihr Auge, wenn sie zufällig mit dem Mädchen zusammentraf. Denn aus aller Pein und Aufregung der verflossenen Nacht hatte sich in ihr ein sonderbarer Gedanke festgesetzt und der lautete am frühen Morgen: »Wenn Hannele Ehrenfeld von der Sache hören wird, ist's ein Wunder, wenn ich dann wie eine Diebin vor ihr stehen werde? Sie gibt mir ihre Tochter aufzuheben und denkt an nichts Schlechtes – und jetzt, da die Zeit der Rückgabe gekommen ist, will ich mir sie behalten, . . . weil sie mir gefällt. Wird sie mir nicht mit Recht ins Gesicht hineinsagen können, ich hätte das mit ›Fleiß‹ angestellt, hätte die Tochter nur darum ins Haus genommen, weil ich einen großen Sohn habe und . . . weil mir die reiche Mitgift gefällt?«

Seit sie die Absichten ihres Mannes erfahren, kam sie sich gleichsam als dessen Mitschuldige vor, als Teilnehmerin an einer Verabredung, die nicht so gegen das »Prinzessele«, als gegen ihren eigenen Sohn gerichtet war. Wie sollte sie ihm unter die Augen treten, wenn die Stunde der Lösung gekommen war?

Es war gut, daß Josef an diesem Tage von dem alten Bauer in ein benachbartes Dorf geschickt worden war, um dort eine »Kalbin« zu beschauen.

Erst spät am Abend kam er unverrichteter Sache zurück. Es sei nichts damit, meinte er kurz, fast unwirsch. – 262 Dann sagte er allen eine Gute Nacht und ging auf sein Stübchen, er müsse sich ausschlafen für den morgigen Wochenmarkt, fügte er wie zur Entschuldigung dazu.

In aller Frühe fuhr Josef mit einer Ladung neuer Frucht auf den Wochenmarkt. Die Nacht rang noch mit dem erwachenden Tage, graues Zwielicht lag über dem Dorfe. Einer von den Knechten hatte das Hoftor aufgetan, und Josef war eben im Begriffe sich auf den Wagen zu schwingen, als er hinter sich eine feine Mädchenstimme vernahm, die aus Rosels Stübchen kam, denn dieses lag nach dem Hofe. Er blickte nach dem Fenster hin, da sah er das Prinzessele völlig angekleidet vor sich.

»Guten Morgen, Josef!« rief sie ihm zu.

»So zeitlich steht eine Prinzessin auf?« konnte Josef sich nicht enthalten scherzhaft ihr zuzurufen, indem er sich auf den Wagen schwang.

»Ich bin schon lange keine Prinzessin mehr,« meinte Rosa, und es war gut, daß sie im Zwielicht stand; sie errötete nämlich, indem sie dieses sprach.

»Warum sind Sie denn aber so zeitlich aufgestanden, Fräulein Rosel?« sagte Josef, ohne nach dem Fenster hinzusehen.

»Ich habe nicht schlafen gekonnt,« sagte Rosa. Wir müssen hier gelegentlich erwähnen, daß Josef noch immer nicht anders als »per Fräulein« Rosa Ehrenfeld ansprach.

»Warum nicht?« fragte Josef so von obenhin.

»Im Stall hat die schwarze Kuh mit dem weißen Stern vorn auf der Stirne die ganze Nacht so geschrien, daß ich kein Auge schließen konnte. Ist sie denn krank?«

»Nein,« sagte Josef, »aber am Freitag war ein Fleischhauer im Stall und hat sich ihr Kalb angesehen. Das mag ihr denn jetzt nicht aus dem Kopfe gehen, und sie fürchtet sich vielleicht, man könnte es ihr wegnehmen. Sie ist seitdem auch wirklich unruhig.«

263 »Meinen Sie wirklich darum?«

»So ein Tier,« sagte Josef, »hat seinen Kummer wie ein Mensch . . . Nur hat es dafür einen einzigen Ton, während die Menschen auf verschiedene Art das, was sie drückt, aussprechen können. Ganz gewiß weiß die Kuh, daß der Fleischhauer zum zweiten Male kommen wird, dann wird . . . er das Junge an den Strick nehmen, und unter dem Gebelle seines Hundes wird er es von der Mutter fortführen. Drum ist sie so traurig.«

»Ich danke Ihnen, Josef,« sagte nach einer kurzen Weile das Mädchen.

»Wofür?« meinte Josef und blickte erstaunt nach dem Fenster hin.

»Daß Sie mich etwas so Schönes gelehrt haben,« meinte Rosel rasch.

»Ich bin kein Lehrer,« sagte der einstige Soldat fast rauh.

»Nämlich, daß die Tiere es auch wissen, wenn ihnen ein Leid zugefügt wird. Was soll erst ein Mensch, z. B. eine Mutter dazu sagen, wenn ihr ein Kind geraubt wird?«

»Wer raubt denn einer Mutter ihr Kind?«

»Das Kind kann ja auch von selbst fortgehen, gegen den Willen der Mutter,« meinte Rosel scharf betont.

»Adies, Fräulein Rosel,« sagte Josef und ergriff die Zügel. »Ich komme sonst zu spät auf den Wochenmarkt. Adies!«

Rosel vergaß für dieses Lebewohl zu danken.

Nochmals wandte sich Josef gegen das Fenster zu, während er die schon unruhig gewordenen Pferde mit kräftiger Hand straff anhielt.

»Ich hätte bald etwas vergessen,« sagte er. »Was soll ich sagen, wenn ich Leute aus Ihrer Gemeinde auf dem Wochenmarkt treffe und man mich nach Ihnen fragt?«

Rosel zögerte einen Augenblick mit der Antwort; dann rief sie rasch:

264 »Daß ich gesund bin und bald zurückkommen werde.«

»Es ist gut,« sagte Josef, und nur das Scharren der ungeduldigen Pferde ließ überhören, daß seine Stimme dabei unsicher geklungen hatte. Dann ließ er den bekannten Zuruf an seine Tiere ergehen, das Gefährte zog kräftig an, und ehe noch Rosel ein Wort der Gegenrede finden konnte, war er zum Hoftor hinaus.

Schön ist ein grüner Wald, wenn man zum ersten Male nach langem Siechtum hineintritt in seine Blätterpracht; schön ist alles dort bis auf das kleinste Würmchen, das sich wohlgemut an einen Stamm hinaufbemüht; schön ist überhaupt das Erwachen alles Lebenden im Reiche der Natur – aber schöner, sprechender und ergreifender ist doch der Blick in ein Mädchenherz, das zwischen Drang und Schüchternheit auf und nieder wogt, das den Lippen gebieten möchte zu reden, und es doch nicht bezwingen kann, daß sie sich öffnen. Nichts offenbart sich so lieblich geheimnisvoll! Der Wald ringt sich nur langsam von der ersten Knospe zur vollen Blätterpracht hindurch; mancher Sturm fährt durch ihn mit brausender Gewalt, der den erwachten Frühling wieder zurückdrängen möchte in die kaum abgeworfenen Winterfesseln, und manches Reis, das voreilig die Äuglein aufgeschlagen, muß sie wieder schließen. Aber in einer liebenden Mädchenseele ist Knospe, Blüte und Frucht vereint: wenn es einmal seine Augen aufgetan, dann sind alle Gewalten der Erde nicht mächtig genug, um sie wieder zu schließen.

Wen wird es befremden, wenn er am späten Abend Rosa Ehrenfeld aus dem Hause herauskommen sieht, der Straße zu, woher heute Josef vom Markte kommen soll?

Die Nacht war sommerwarm, und der Mond stand in voller Pracht am Himmel, als Rosel an den Steg, der über den Mühlbach führte, kam. Wie das doch ganz anders geworden, seitdem sie zum ersten Male gerade auf diesem Stege – Josef begegnet war! Damals hatte sie sich 265 gefürchtet, war im kindischen Trotz vom Wagen entsprungen und hatte ihren Eintritt in den Bauernhof durch ihr lächerliches Benehmen bezeichnet. In der Erinnerung brannte ihr die Scham auf den Wangen. Bloß davon? . . . Noch andere lichtere Bilder und Erinnerungen zogen durch ihre Seele.

Allmählich waren die meisten Bauern, die gleichfalls zum Wochenmarkte gefahren, heimgekehrt. Die Straße ward stille und leer, weithin glänzte sie in der ihr während des Sommers so eigentümlichen Farbe weißen Staubes. Über diese weiße Fläche kam in langsamer Bewegung ein dunkler Punkt einher, der immer größere Umrisse annahm, bis er sich deutlich zu einem Wagen mit zwei Rossen daran gestaltete. Er kam näher; Rosel hielt sich an das Geländer des Steges fest; sie glaubte Josefs Gefährte erkannt zu haben.

In diesem Augenblicke hatte der Müller plötzlich das große Mühlrad gestellt, es klapperte nicht mehr . . . Dadurch ward es noch stiller in der Luft; jetzt erst vernahm man deutlich das Rollen des langsam daherziehenden Wagens. Jetzt nur noch die Biegung um die Mühle herum, die ihn auf eine kurze Weile den Augen entzog . . . nun hielt er am Stege!

»Gott im Himmel!« ertönte ein lauter Ausruf vom Wagen. »Ist das nicht Fräulein Rosel?«

Es war Josef, der das Mädchen im klaren Mondeslichte erkannt hatte.

»Ich bin's,« sagte Rosel und ließ das Geländer los.

Mit einem kräftigen Rucke brachte Josef die Pferde zum Stillstehen und schwang sich vom Wagen herab.

In der Mitte des Steges traf er mit Rosel zusammen.

Trotzdem prallte er vor Staunen zurück und schien seinen Augen kaum zu trauen, als er fand, daß es wirklich Rosel war.

Da rief er: »Wie kommen Sie daher in der Nacht, Fräulein Rosel?«

266 »Ich fürcht' mich ja nicht –«

»Aber in der Nacht –«

»Ich habe auf einen gewartet, der des Weges daherkommen solle.«

»Wer ist das?«

»Er ist schon da –«

»Um Gottes willen!« rief Josef, daß es wie ein Aufschrei aus den Tiefen der Brust klang. »Ich soll das sein, den Sie erwartet haben?«

Plötzlich wandte sich Rosel um und hielt sich beide Hände vor die Augen.

»Ich habe mit Ihnen reden wollen,« kam es in flüsternden, halb schämigen Worten aus ihrem Munde hervor, »ob es wahr ist, daß Sie wieder unter die Soldaten gehen wollen, . . . zu Ihrem Feldwebel zurück, und . . . ob es wahr ist, daß Sie meinetwegen das Haus Ihrer Eltern verlassen wollen, und dann . . . ob denn gar nichts imstande ist, Sie zurückzuhalten?«

»Wer hat das gesagt?« rief der junge Soldat leidenschaftlich.

»Eine, die es mit Ihnen gut meint, Ihre Mutter!« sagte das Mädchen.

»Dann ist es also wahr!« rief Josef, »meine Mutter bringt kein lügenhaft Wort über ihre Lippen!«

»Es ist also wahr, daß Sie meinetwegen das Elternhaus verlassen wollen, ja meinetwegen? Denn sonst hätte Ihr Weggehen keinen Sinn!«

Josef blieb darauf die Antwort schuldig.

Da wandte sich Rosel allmählich um, bis sie ihm wieder gegenüberstand.

»Da bleibt mir nichts anderes übrig, als ich gehe auch,« sagte sie.

»Wohin?«

»Nach Hause zu meiner Mutter!«

267 Da rief Josef mit leidenschaftlicher Heftigkeit: »Möchten Sie nur nicht Rosel Ehrenfeld heißen!«

»Wie soll ich denn heißen?«

»Was weiß ich?« rief er wieder, »aber der Name kommt mir vor als wie ein breiter Graben. Wenn man nicht Flügel hat wie eine Schwalbe, kommt man drüben nicht an.«

Ein minutenlanges Stillschweigen herrschte hierauf zwischen diesen zwei jungen Herzen, und Rosel war es, die es wieder brach.

»Kann ich denn etwas dafür, daß ich so heiße?«

»Der Name allein ist's nicht,« meinte Josef weniger heftig, »aber was in dem Namen drin alles steckt. Darum habe ich ja aus dem Weg gehen wollen!«

Ein eigener schelmischer Zug schwebte auf Rosels Antlitz, als er dies sprach.

»Mein Name ist ganz gut,« sagte sie, »er ist der meines verstorbenen Vaters und meiner Mutter, und ich schäme mich nicht seiner. Aber Ihr habt mir einen Spitznamen beigelegt, und ich bin bei Euch eine Prinzessin, und da habt Ihr Euch in den Kopf gesetzt, ich bin eine wirkliche! Ich aber . . . ich will ja keine sein!«

»Rosel, um Gottes willen, ist denn das möglich!« rief Josef, »da fällt ja eher ein Stern vom Himmel herunter.«

»Die Sterne können nicht herunterfallen,« sagte Rosel schalkhaft, »denn dazu hat sie Gott dahin gestellt; aber daß aus einer Prinzessin eine Bäuerin wird . . . das steht nicht nur in Ihres Vaters Geschichte, die ihm seine Babe erzählt hat – das kann im Leben wirklich geschehen!«

»Versteh' ich recht, Rosel?« jauchzte Josef auf, dem nun alles klar ward.

»Josef!«

Ein Freudenschrei durchzitterte die Luft, daß er selbst das Rauschen des in diesem Augenblicke wieder in Bewegung 268 gesetzten Mühlrades übertönte. Kein Wunder! Hatte sich das Märchen von der Prinzessin nicht zu holder Wirklichkeit belebt? Die verschwiegene Nacht wußte von zwei Herzen mehr, die sich gefunden hatten auf den rätselhaften Irrwegen dieses Lebens, um sich niemals zu verlieren!

XII.
Nach Hause.

Nicht weit von dem Bachsteg steht eine uralte Linde, mit einem Heiligenbilde daran. Dorthin hatten die zwei, Arm in Arm, in seliger Unbewußtheit den Weg gefunden, als ahnten sie, daß es sich unter dem weiten Laubdache des Baumes besser spreche als auf dem offenen Stege, unter dem das Wasser zerstäubt und zerschlagen, wie es vom Mühlrad herabgestürzt wird, noch unberuhigt dahinrauscht.

»Eins ist doch merkwürdig, Rosel,« sagte zuerst Josef mit mühsam niedergekämpfter Erregtheit.

»Was denn?« fragte Rosel.

»Als du in unser Dorf kamst, da war's auf dem Steg dort, daß ich dir begegnet bin; denn ich war dir entgegengegangen. Jetzt bist du mir entgegengekommen und auf demselben Platze wie damals.«

»Damals bin ich vom Wagen deines Vaters heruntergesprungen und bin zu Fuß eine Strecke Weges gelaufen, bis ich dich gefunden habe,« rief Rosel lachend, »jetzt hast du vom Wagen steigen und mir entgegengehen müssen. Das ist noch merkwürdiger.«

»Aber damals,« rief Josef im gleichen Tone, »warst du ein kleines Prinzessele und jetzt –«

»Nun und jetzt?«

»Bist du die schönste und feinste Bäuerin, die es auf der Welt noch gegeben hat.«

»Schweig, schweig, Josef, ich schäme mir ohnehin die 269 Augen heraus, wenn ich an die erste Zeit meines Hieherkommens denke.«

»Du hast dich nicht zu schämen, Rosel . . .« sagte Josef mit inniger Wahrheit. »Und dann hast du schon damals bewiesen, daß du eigentlich kein echtes Prinzessele bist.«

»Wieso?«

»Du bist ja eine halbe Stunde weit zu Fuß gelaufen. Tut das ein echtes Prinzessele?«

Rosel lächelte schelmisch.

»Und noch eins,« sagte der Soldat, »glaubst du denn, du hättest uns allen, und mir besonders, so gefallen, wenn du weniger fein und lieblich bei uns aufgetreten wärst?«

»Red mir nichts ein,« rief Rosel, plötzlich ernst werdend, »red mir nicht etwas ein, was ich erst jetzt ganz verstehe, wie verkehrt und töricht es gewesen. Gott hat es mit mir gut gemeint, daß er mich gerade zu euch geschickt hat. Wäre ich zu anderen Leuten gekommen, . . . sie hätten mich entweder geschont und mir geschmeichelt, oder mich ausgelacht. Beides hätte mich noch mehr verdorben, als ich schon war. Weißt du, wer eigentlich schuld daran ist, daß ich so geworden bin? Mein armer Vater, der war jahrelang krank, und meine Mutter hatte sich wenig um mich kümmern können. Da war ich mir allein überlassen und konnte tun, was ich wollte, lernen und auch nicht lernen, stricken und nähen und auch nicht, wie es mir gerade in den Sinn gekommen ist. Ich habe einen Lehrer gehabt, er heißt Julius Arnsteiner, der sagte immer, wenn ich einen Fehler in der Sprachlehre oder im Diktando machte: »Wollen Sie eine Bäuerin einmal werden, die nichts weiß als Erdäpfel essen und keine andere Kenntnis im Kopfe hat, als wieviel Milch sie von der Kuh bekommt?«

»Der war dein Lehrer, Rosel?« unterbrach sie Josef zornig. »Ein schöner Lehrer! Dem sollte man ja das von Amts wegen verbieten, daß er seinen Schülern solche Dinge 270 vorsagt. Wie sollen denn die Leute Lust haben, sich ein Feld zu kaufen, wenn ein Lehrer ihnen solche Lügen einredet? Wenn es noch wahr wäre! Aber sieh dir meine Mutter an. Ist das eine Bäuerin, die nur so beschaffen ist, wie sie dein Herr Julius Arnsteiner hat?«

»Deine Mutter,« fiel das Mädchen ein, »ist's ja eben, die mir gezeigt hat, was ich werden soll.«

»Ja, sie verdient's, daß man sie lobt,« meinte Josef.

»Wie hätte ich aber auch anders werden sollen,« fuhr das Mädchen fort, dem es ein Bedürfnis war, vor Josef keine Falte ihrer Seele verhüllt zu bewahren. »Wenn man das ganze Jahr nichts anderes sieht als Geldzählen, und von nichts anderem hört als von schlechten Schuldnern und guter oder schlechter Kundschaft, und der eigene Lehrer es einem noch bei jeder Gelegenheit einprägt, daß man Sprachlehre, Diktando und Rechnen nur darum lernt, damit man keine Bäuerin werde – wie hätte ich da anders werden sollen, als Tausende von Mädchen, die lieber ihrem Manne ins Elend folgen als auf ein Dorf?«

»Die Lehrer, die Lehrer!« sagte Josef zähneknirschend. »Warum führen sie die Kinder nicht alle Tage im Frühling auf das grüne Feld hinaus? zeigen ihnen da, wie das Korn wächst, wie es in die Höhe schießt, und dann endlich im Sommer, wie es zum Brot wird, das sie essen? Wäre denn das gar so schwer? Ich möcht' den Leuten in der ›Gasse‹ schon ihren Bauernhaß austreiben, mein Wort darauf.«

»Wie möchtest du das anfangen?« fragte Rosel lachend.

»Sie müßten alle ohne Ausnahme Felder kaufen,« rief er in einem Tone, der den verabschiedeten Korporal nur zu gut erkennen ließ.

»Das läßt sich nicht erzwingen,« fiel Rosel ihm ins Wort. »Du siehst es ja an mir!«

»Bei dir ist es etwas ganz anderes gewesen,« meinte Josef, »du warst krank.«

271 »Krank? Ich weiß nicht, ob man meinen Zustand so nennen konnte. Aber daß der Doktor recht hatte, mich aufs Dorf zu schicken, trotzdem mir eigentlich nichts gefehlt hat, ist das nicht wie ein Wunder? Ich habe mich genug dagegen gesträubt, er hat aber nicht abgelassen. Soll ich dir etwas sagen, Josef? An dem Tage, wo ich meinen Koffer für die Abreise packte, kam Herr Julius Arnsteiner, mein Lehrer, zu mir. ›Haben Sie auch alles, was Sie gelernt haben, eingepackt?‹ fragte er mich. ›Ja, Herr Lehrer,‹ sage ich, ›alles, bis auf die Partizipialkonstruktion!‹ ›Gerade die Sprachlehre müssen Sie einpacken,‹ meinte er, ›und müssen sie öfters wiederholen, denn wie wollen Sie sonst auf dem Dorfe Ihre hochdeutsche Sprache von den Bauersleuten unterscheiden?‹ Ich habe also die Sprachlehre eingepackt zu all den andern Büchern, und immer waren sie dem Herrn Julius Arnsteiner viel zu wenig; er hätte verlangt, daß ich alles andere zu Hause lassen und nur Bücher und Papier mitnehmen sollt'. Wie sich das aber merkwürdig schickt! Mit einem Male kommt unser Doktor Prager . . . Wie der die Bücher sieht, lacht er erst laut auf und sagt dann: ›Was soll mit den vielen Büchern da geschehen?‹ ›Die nehme ich aufs Dorf mit, Herr Doktor!‹ sage ich. Da sieht der Doktor erst mich, dann Herrn Arnsteiner mit einem ernsten Blicke an und sagt feierlich: ›Rosa geht nicht aufs Dorf, um dort zu lesen . . . es darf nicht ein Buch mitgenommen werden.‹ Vor dem Doktor haben wir uns beide sehr gefürchtet, Herr Arnsteiner noch mehr als ich; wir haben nicht gewagt ihm zu widersprechen. Aber wie der Doktor fort war, habe ich's doch aus Trotz und Eigensinn gewagt, und ganz auf den Grund des Koffers habe ich einen Roman gelegt, den mir Herr Arnsteiner geliehen hatte. Das Buch war's, in welchem ich die erste Nacht gelesen habe, als ich zu euch kam – auch aus Trotz und Eigensinn, denn ich habe euch damit zeigen wollen, daß ich Bücher lesen kann, ihr aber nicht! Mit dem Buch in 272 der Hand habe ich mich schützen wollen gegen euch, damit ihr mir nicht zu nahe kommt. Weißt du aber, was damit geschehen ist? Deine Mutter ist gekommen und hat es mir mit Gewalt weggenommen!«

»Davon habe ich ja nie gehört!« rief Josef verwundert.

»Die Mutter hat mich nicht beschämen wollen!« sagte Rosel. »Sie hätte dir sagen müssen, wie ich mich damals kindisch und trotzig betragen habe. Erst habe ich geweint und gejammert, habe mich so unglücklich gefühlt, daß ich den Tod vorgezogen hätte! Einmal hatte ich schon das Fenster aufgerissen und habe mitten in der Nacht aus eurem Hause entfliehen wollen. Wie ich aber zum Fenster hinausgreife, da schnuppert draußen euer großer Hund herum, daß ich erschrocken zurückfuhr. Merkwürdig! Von diesem Augenblicke an bin ich ruhiger geworden; ich habe nicht mehr geweint, ich habe angefangen zu überlegen. Was soll ich dir viel erzählen? In dieser Nacht bin ich um einige Jahre älter geworden. Bis dahin bin ich nur die Schülerin des Herrn Julius Arnsteiner gewesen, jetzt war ich ihm gleichsam weggelaufen. Deine Mutter hat zu mir gesagt: ›An einem Buch sollt' es liegen, ob ein Mensch gesund wird oder nicht?‹ Und – siehst du, Josef, ich glaube, diese Worte waren es eigentlich, die mich gesund gemacht haben. Wie ich am andern Tage deiner Mutter unter die Augen getreten bin, da war ich eine andere geworden. Von da an hat mein neues Leben begonnen.«

»Ja, ein neues Leben für uns alle, für dich, für mich, für Vater und Mutter,« rief Josef freudig. »Mein Prinzessele wird die allerschönste Bäuerin werden.«

Rosel drohte ihm schalkhaft mit dem Finger.

»Jetzt bist du im siebenten Himmel,« sagte sie, »vorgestern am Sabbat hast du aber Lust gehabt, wieder Kommißbrot zu essen und auf die Weisheit deines klugen Feldwebels zu horchen!«

273 »Ich will dir das erklären, Rosel,« fiel sogleich Josef ein. »Freilich kann ich die Worte nicht so schön setzen, denn ich habe keinen Herrn Arnsteiner zum Lehrer gehabt, so wie du! Sieh an, Rosel! ich habe zweierlei Stolz in mir. Zuerst, daß ich Soldat gewesen bin, und ich habe es bis zum Korporal gebracht, und dann, daß ich der Sohn von jüdischen Bauersleuten bin. Wer mir diese zwei Sachen verspottet oder beschimpft, dem soll Gott beistehen! Gelernt habe ich nicht viel, nur bis zu meinem dreizehnten Jahre; bis dahin ist wöchentlich zwei- oder dreimal ein Lehrer zu mir gekommen, der in dem nächsten Dorfe beim Randar im Dienste war. In meinem siebzehnten Jahre bin ich zum Militär gekommen, habe da meine Zeit bis auf die letzte Minute abgedient, und kaum habe ich den Abschied in der Tasche gehabt, so eilt' ich nach Hause in unser Dorf! Jetzt ist's ein Jahr, daß ich zurückgekommen bin mit zwei fehlenden Fingern!«

»Gottlob! Gottlob!« rief Rosel tief aufatmend und zog die Hand Josefs an sich.

»Ich bin bald fertig,« fuhr dieser fort. »Von nun an habe ich gearbeitet, als stünde ich bei meinem Vater im Dienst als Knecht, und mehr noch als ein solcher. Das Feld und die Wiese gehört ja auch mir! Da ist mir jeder Grashalm auf dem Felde, jeder Winkel auf unserem Hofe so lieb geworden – ich hätte noch einen Finger daransetzen können, wenn jemand sich unterstanden hätte, daran was anzurühren. Da bist du gekommen, Rosel –«

»Das laß aus!« rief das Mädchen. »Es kommt nichts Gutes dabei heraus, wenn du erzählst, wie ich dir als Prinzessin vorgekommen bin. Ich weiß jetzt nur zu gut, was in dir vorgegangen sein muß, als so eine, wie ich, bei euch sich einquartierte.«

»Ich will dir's nicht verhehlen! Es war so, wie du es sagst. Mit einem fürchterlichen Hasse habe ich dir entgegengesehen, nachdem ich deinen Brief gelesen – kaum treffe 274 ich dich dort auf dem Steg, war das alles fort, wie weggeblasen. Denk dir nun dich so täglich in all deiner Lieblichkeit und Feinheit vor sich zu sehen, mit dir durch Feld und Wiese zu gehen, neben dir zu sitzen, dir hier und da zu erklären, was das für ein Baum ist, wie der Vogel heißt, der dort fliegt –«

»Du warst ein guter Lehrer, Josef,« unterbrach ihn Rosel.

»Und sich dabei doch fragen müssen, täglich und stündlich: Wird das eine rechte Bäuerin? Verstellt sie sich nicht? Ist es ihr wirklich Ernst damit? Sieh, Rosel, das war ja mein Leiden von der ersten Minute an, das hätte mich zuletzt noch dazu getrieben, wieder Soldat zu werden. Ich habe nicht gewußt: ist's dir Ernst oder bloßer Spaß mit allem; spottest du uns im stillen nur aus und machst dich lustig über uns oder – bist du wirklich das Prinzessele nicht mehr, als welches du zu uns gekommen bist –«

Rosels Augen füllten sich mit Tränen.

»Geh, Josef,« sagte sie, und es klang fast wie unterdrückter Zorn hindurch, »so wie ich gegen dich – von der ersten Minute an, warst du doch nicht gegen mich. Wie hätte dir in den Sinn kommen dürfen, daß ich aus Falschheit und Lüge zusammengesetzt bin?«

In diesem Augenblicke mochte ein tiefer, vielleicht unheilbarer Riß durch die so unbarmherzig angegriffene Seele Rosels geschehen. Wer kann sagen, wie ein scharfes Wort, zur unrechten Zeit gesprochen, in das Gemüt eine Wunde schneidet, wovon es nie genesen kann? Beide, Rosel und Josef, standen erst jetzt an einem Wendepunkte ihres Lebens; er hatte Worte gesprochen, die im Grunde selbst eine weniger stolze Seele hart berühren mußten; dagegen bedurfte es nur eines geringen Anstoßes, nur eines willfährigen Nachgebens dieser Erregtheit von seiten Rosels – und ein Bund war zerrissen, der unter so eigentümlicher Entwickelung entstanden, zwischen diesen zwei Herzen trat der lebendige Tod ein!

275 In der Tat hatte es auch den Anschein, als ob Rosel dem Gefühle gekränkter Mädchenhaftigkeit, dem, was an das Beste ihres Lebens so mitleidlos griff, nämlich an ihre Wandlung, nachgeben wollte. Sie rang sichtlich nach einem Entschlusse; laut schluchzend hatte sie sich abgewendet, indem sie dabei ihre Hand, die Josef gefaßt hatte, losriß.

Das dauerte eine lange, fürchterliche Weile. Tiefatmend stand indes Josef da.

Da drehte sich mit einem Male Rosel zu ihm um, und halb lachend, halb weinend rief sie:

»Josef, ich bin Rosel und nichts anderes als Rosel . . . Glaub mir aufs Wort! Ich habe in dir ja auch nur den Josef erkannt!«

»Rosel! goldene Rosel!« jauchzte er auf, und federleicht hob er das Mädchen zu sich auf, zwischen Himmel und Erde! Der böse Augenblick, um den lichte und schwarze Engel gekämpft, war ohne Verheerung vorübergezogen!

Jetzt mahnte Rosel zum Aufbruch, die Mutter wüßte nicht, wohin sie gegangen, und würde wahrscheinlich in Sorgen sein. So gingen sie wieder zu dem Stege, an dem die Rosse, ohne ein Zeichen von Ungeduld, warteten.

»Jetzt fährst du mit mir nach Hause!« rief er überlustig. »Unterstehe dich, jetzt mir fortzulaufen, wie du meinem Vater fortgelaufen bist.«

»Erst will ich sehen, wie ich sitzen werde,« sagte Rosel im gleichen Tone.

Plötzlich rief Josef:

»Da hätte ich bald auf etwas vergessen, was ich dir mitgebracht habe.«

»Etwas Schönes?«

»Einer aus deiner Gemeinde, den ich auf dem Wochenmarkt getroffen, hat mir ein Paket übergeben. Ich soll dir sagen, meinte er, es käme von deinem Lehrer Arnsteiner.«

»Was kann der mir schicken?«

276 Josef ging an den Wagen und holte von dort ein in weißes Papier sorgfältig gelegtes und mit unzähligen roten Siegeln versehenes Päckchen.

»An das wohl- und hochgeborene Fräulein Rosa Ehrenfeld, d. Z. auf dem Dorfe M . . .,« so lautete die in schönen Lateinbuchstaben geschriebene Aufschrift, die Josef lachend vorlas.

»Laß uns doch gleich sehen, was Herr Arnsteiner mir schickt,« rief Rosel und hatte in rascher Bewegung das Päckchen seiner Siegel entledigt.

»Bücher!« riefen beide in einem und demselben Augenblicke.

»Und da ist ein Brief für dich!« sagte Josef, indem er ein während des heftigen Aufreißens zu Boden gefallenes Papier vom Boden aufhob und es Rosel einhändigte.

»Soll ich ihn auf der Stelle lesen?« meinte Rosel.

»Ja, tu das!« rief Josef. »Ich will doch hören, was dir ein Herr Arnsteiner schreibt.«

Rosel faltete den Brief auseinander und las bei dem klarsten Mondlicht, das selbst die kleinsten Gegenstände ringsum bis zur Deutlichkeit überflutete, folgendes:

»Mein hoch- und wertgeschätztes Fräulein Rosa!

Ihre sehr verehrte Frau Mutter teilte mir jüngst sub rosa mit (es ist dies eben kein Witz, sondern lateinisch, und will so viel bedeuten als: im geheimen, oder was man im gewöhnlichen Leben so nennt: unter der Hand), daß Sie während Ihres aus Gesundheitsrücksichten auf das Dorf unternommenen Ausflugs Ihre bisher mit so vielem Talente und Begabtheit erlernten Lehrgegenstände zu vernachlässigen, die ausgesprochenste Intention zeigen. Seitdem geht mir diese Mitteilung wie ein finsteres Gespenst auf allen Schritten und Tritten nach; bei Tag und Nacht, in jeder Lektion, die ich erteile, schreckt es mich auf. Wenn ich einer Schülerin eine Feder schneide (ich wiederhole immer und immer: 277 Seitdem man Stahlfedern hat, ist jede schöne Schrift zu Grabe getragen worden, und unser Jahrhundert kann darum füglich ein eisernes genannt werden), muß ich daran denken: ›Wie sieht jetzt Rosa Ehrenfelds Schrift aus?‹ Wenn ich dann einer anderen Schülerin den schwersten Kettensatz (welcher eigentlich nur als eine Ausgeburt der mit Recht als goldene Regel, sonst auch Regeldetri von den Italienern benannten Rechnung betrachtet werden kann) erkläre, so geht es mir wie ein Stich durchs Herz, daß Rosa Ehrenfeld in diesem Augenblicke vielleicht zusieht, wie man einen Sack Erdäpfel aufladet, und nicht weiß, wie man den Ansatz zu einer einfachen Interessen- oder Gesellschaftsrechnung, selbst ohne Brüche macht. Und besonders, wenn ich an die schwierige Partizipialkonstruktion gelange, die von jeher als mein Steckenpferd (ich gestehe dieses offen, weil sie es wirklich verdient) von mir gepflegt wurde, dann erst möchte ich blutige Tränen weinen, daß Rosa Ehrenfeld vielleicht (wie würde ich der Göttin Hoffnung danken, wenn dem nicht so wäre) an ein Butterfaß angeschmiedet ist, während meine dreizehnjährige Schülerin Sidonia Winterfeld die schönsten Partizipialkonstruktionen macht und auflöst. Von der französischen Grammaire darf ich gar nicht reden, da bekomme ich gleich Herzweh, und als ich neulich mit Herrn Koppel Brandeis ältester Tochter den Télémaque begann, der, wie Ihnen ›vielleicht‹ (wenn ich diesen Brief drucken ließe, so würde ich dem Setzer dabei bemerken, er möge dieses Wort durchschießen) noch bekannt sein dürfte, mit den Worten anfängt: ›Calypso ne pouvant se consoler du départ d'Ulysse‹ (zu deutsch, weil ich doch nicht weiß, ob Sie das noch verstehen: Kalypso konnte sich nicht trösten über die Abreise des Ulysses), da rief ich bei mir selber aus: ›Unglücklicher Arnsteiner! auch du kannst dich über die Abreise deiner Rosa Ehrenfeld nicht trösten,‹ und dabei hat Ulysses doch nur der Stimme einer Göttin gefolgt, die ihm seinen ruhmlosen Müßiggang vorhielt, während 278 Sie auf Befehl des Doktors in die Verbannung gingen, als wenn es gar keinen Julius Arnsteiner auf der Welt gäbe! Sie wissen, ich habe den Doktor immer respektiert; aber seitdem er mir das getan hat, habe ich angefangen, von meiner Bewunderung für ihn (weil er doch der einzige von der ganzen Gemeinde ist, mit dem man über etwas anderes reden kann, als über Wolle und Hasenhäute) um einige Perzente zurückzukommen, und ich sehe in ihm allenfalls keinen ungewöhnlichen Menschen mehr. Trotzdem und vielleicht darum, wertgeschätztes Fräulein Rosa, habe ich, Julius Arnsteiner, mich unterstanden, gegen die kategorischen Befehle des Herrn Doktors, die ich wohl in medizinischer, aber nicht in pädagogischer Hinsicht als maßgebend und diktatorisch anzusehen gewillt bin, offen und ohne Furcht zu handeln, und habe mir erlaubt, Ihnen beiliegend zwei der wichtigsten Bücher zu schicken. Zuerst: Die deutsche Sprachlehre, wo ich in das Kapitel von der ›Partizipialkonstruktion‹ ein Ohr hineingedrückt habe, und zweitens den Télémaque. Das Kapitel im ersteren Buche ist die beste Abwehr gegen alle Anfechtungen des Dorflebens (denn ich möchte sagen, der Unterschied zwischen einem gebildeten und ungebildeten Menschen bestehe eben darin, daß jener in Partizipialkonstruktionen, dieser aber in einfachen, sogenannten ›nackten‹ Sätzen spricht), und das zweite Buch gewährt neben der unterhaltenden Lektüre eine vortreffliche Übung für die verbes réguliers und irréguliers. Wertgeschätztes Fräulein Rosa! Schiller sagt einmal in seiner Ballade: Der Taucher:

—   ›Unter Larven die einzig fühlende Brust‹   —

Brauche ich mich näher zu erklären? Habe ich nötig zu sagen, auf welchen Umstand sich diese göttlichen Verse beziehen? Nein! Nein! Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, so lesen und wiederholen Sie öfters in diesen beiliegenden Büchern! Dann werden diese Verse mitten unter den Menschen, zu denen Sie der Befehl des Doktors 279 verbannt hat, an Ihnen zur Wahrheit werden . . . wo nicht, so sagt Julius Arnsteiner – verdienen Sie eine Bäuerin zu werden.

Ihr seiner Schülerin beraubter und darum
bemitleidenswerter ehemaliger Lehrer
Julius Arnsteiner.
       

Nachschrift. Ich sehe zwar stets bei meinen Schülerinnen darauf, daß sie von diesem dem weiblichen Geschlecht namentlich so eigentümlichen Anhängsel eines Briefes so wenig als möglich Gebrauch machen; diesmal muß ich aber selbst meine Zuflucht dazu nehmen. Ich wollte Ihnen nämlich noch ein drittes Buch schicken, das man, wenn man schon auf dem Dorfe leben muß, erst recht begreifen und würdigen lernt, nämlich Geßners unsterbliche Idyllen. Aber zu meinem tiefsten Bedauern hat neulich das kleine Kind meiner Hausvermieterin, als sie gerade am Freitag ›Barches‹ (Sabbatbrot), buk (nicht backte), einigen Papiers zum Unterzünden bedurft, und riß in seiner Unkenntnis des kostbaren Schatzes etliche zwanzig Blätter heraus.

Der Obige.«

Als Rosel diese langatmige Klageschrift ihres ehemaligen Lehrers zu Ende gelesen hatte, entstand eine minutenlange Pause zwischen ihr und Josef. Sie sahen sich gegenseitig an, denn der Eindruck, den das Schreiben auf jeden einzeln hervorgebracht, war ein verschiedener. Da mit einem Male brach Rosel in ein unbändiges Gelächter aus und tanzte auf dem Mühlsteg zur großen Verwunderung Josefs hin und her, den Brief dabei in die Höhe haltend.

»Was treibst du, Rosel?« fragte er ernst. »Macht dich der Brief so lustig? Es kommt mir doch vor, soviel ich davon verstanden habe, sagt er dir einige tüchtige Wahrheiten – und dann? Willst du ihm denn nicht den Gefallen tun und aus seinen Büchern lesen?«

Da hielt Rosel in ihrem Lachen plötzlich inne.

280 »Josef!« rief sie in einem Tone, der wie Vorwurf klang.

»Drin in dem Briefe,« sagte dieser nach einer Weile finster vor sich hinblickend, »da steht es geschrieben, daß man nichts ist, gar nichts, wenn man nicht Kettensatz und Sprachlehre kann, oder ein französisches Buch versteht –«

»Nun?« fragte Rosel tiefatmend, da Josef innehielt.

»Wie leicht kannst du es doch bereuen,« sagte er, »daß du dem Rate des Herrn Arnsteiner nicht gefolgt hast – wird sich's dann in dir nicht rühren und regen, daß du bei uns geblieben bist, bei »ungebildeten« Menschen, wie dein Lehrer sagt, während du –«

»Bücher und Bücher hättest lesen können, nicht wahr, das willst du sagen?« rief Rosel laut lachend und legte ihm die Hand auf den Mund.

»Da sieh her, was mir an den Büchern liegt,« rief sie, indem sie an das Geländer des Mühlsteges sprang.

Lautschallend fiel ein Gegenstand in das unter ihm dahinströmende Wasser.

»Das ist die Partizipialkonstruktion!« rief sie, und noch einmal holte sie zum Wurfe aus.

»Und das die Kalypso mit ihrem Herrn Ulysses, ich brauche sie beide nicht.«

Auch das zweite Buch fand seinen Weg ins Wassergrab. Vom Mondlicht beleuchtet, trieben die Bücher des Herrn Arnsteiner noch eine Zeitlang auf der Oberfläche der Fluten hin, bis sie den Blicken entschwanden.

»Rosel, was treibst du?« schrie Josef, indem er sie kräftig an der Hand faßte.

»Sei ruhig, Josef,« sagte sie milde lächelnd. »Es liegt an den Büchern nichts. Ich habe mir dafür etwas Besseres eingetauscht.«

»Du bist ein merkwürdiges Mädchen,« sagte Josef, mit der Hand über die Augen fahrend. »Du sollst es aber nie bereuen.«

281 Josef hatte den Sinn ihres Tuns wohl verstanden.

»Und jetzt komm, es ist spät!« mahnte Rosel.

Josef geleitete sein Mädchen zum Wagen, oder er trug sie vielmehr. Mit einem kräftigen Schwunge hob er sie hinauf, dann schwang er sich selbst hinan und ergriff die Zügel.

»Sitzest du gut, Rosel?« fragte er, ehe er abfuhr.

»Ich sitz' wie eine wirkliche Prinzessin –«

»Willst du wissen, worauf du sitzest? Einen einzigen Sack Korn habe ich auf dem Wochenmarkt nicht verkauft – auf dem sitzest du.«

So fuhren sie nach Hause. Welch eine Heimfahrt! Stille und atemlose Ruhe, wohin sie blickten und horchten, Feld und Wald und Dorf im fahlen Dämmerlichte, das allen Gegenständen ringsum ein wahrhaft zauberisches Aussehen verlieh, und durch alle diese Herrlichkeit der Natur das junge Paar hinfahrend, in Gesprächen über den Augenblick, der ihnen jetzt bevorstand, wo sie den Eltern ihr gefundenes Glück verkündigen sollten!

Das Hoftor lehnte schon weit offen, als Josef vor dem Bauernhof anfuhr. Die Zügel dem Knechte zuwerfend, der seiner im Hofe harrte, und Rosel vom Wagen herunterzuheben und dennoch sanft niederzulassen, war das Werk eines Augenblickes. Arm in Arm gingen sie zur Stube, in der sie die Eltern zu finden hofften.

Josef riß die Tür weit auf und schrie sogleich beim Eintritt: »Vater und Mutter! Da bring' ich euch die Tochter, auf die ihr euch so lang' gefreut habt. Rosel und ich sind miteinander einig geworden.«

Rebb Feiwel und Gitel saßen beim Scheine einer einzigen Kerze am Tische.

»Rosel! Rosel!« rief die Bäuerin und wollte von ihrem Sitze aufspringen; aber sie vermochte es nicht, kraftlos sank sie wieder zurück. Da stürzte Rosel auf sie zu und fiel ihr laut weinend um den Hals.

282 »Mutter, Mutter!« rief sie, »bist du's zufrieden, daß ich deine Tochter werde?«

»Gitel! was habe ich gesagt?« rief nun seinerseits der alte Feiwel. »Habe ich nicht gesagt, sie sind jetzt beisammen und werden miteinander eines Herzens? S'Gotts Willkumm, mein Prinzessel! Gott soll dir's zahlen, was du an uns tust und daß du in unserem Hause bleibst.«

Seine Stimme brach fast in tiefer Bewegung.

Aus Gitels Umarmung richtete sich jetzt Rosel auf und reichte dem alten Bauer ihre Hand, die er herzhaft ergriff. Zwischen Tränen lächelnd sagte sie:

»Deiner Babe Märchen hat doch recht gehabt. Aus der Prinzessin ist eine Bäuerin geworden.«

»Wie ein Prinzessel sollst du aber auch gehalten werden,« sagte Feiwel.

Endlich ermannte sich auch Gitel.

»Kinder, meine Kinder!« rief sie, »ich frage gar nicht, wie das so gekommen ist – und wenn ich auch nicht absehe, wie euer Zusammenfinden zu einem glücklichen Ende führen soll – ich frage nicht weiter darum und beschwere mir nicht mein Herz in dieser gesegneten Stunde! Ich überlass' das Gott, der mag tun, wie ihm wohl gedünkt. Einstweilen aber will ich euch meinen Segen geben. Komm her, Josef, und stell dich da neben meine Tochter Rosel. Ich will euch benschen.«

Stille ward es in der Stube; der Segen einer alten guten Frau und Mutter stieg lautlos zum Himmel auf.

* * *

Fast sollte man sagen, es verstehe sich von selbst, daß, sobald Rosels Liebesgeschichte aus dem eng umfriedeten Kreise des Bauernhofes in die Öffentlichkeit trat, Hindernisse auf Hindernisse sich türmten.

283 Kann man der Welt die zarten, geheimnisvoll gesponnenen Fäden zeigen, aus denen solch ein Gewebe besteht? Sie greift daran mit plumper Hand, und ob es reiße oder nicht – sie fragt wenig darum. Nur langsam löste sich das Entsetzen, in das Hannele Ehrenfeld von dem Briefe, der die offene Mitteilung des Geschehnisses enthielt, versetzt worden war. Sie selbst war aufs Dorf hinausgekommen, und Rosel hatte ihr in die alte Heimat folgen müssen. Wie eine Löwin, der man ihr Junges geraubt, hatte sie das Mädchen aus dem Schoße des Bauernhauses gerissen. Von der ehemaligen Freundschaft war nicht mehr die Rede; nur die beleidigte Mutter, die gekränkte reiche Frau ließ sich hören. Nie waren so viele Tränen, niemals so böse Worte auf dem Bauernhofe gefallen als damals.

Nicht Spott, nicht Hohn, nicht das bald schmeichelnde, bald gewaltsame Zureden der Mutter vermochte Rosel abtrünnig zu machen von dem, dem sie sich aus freier Wahl und selbständiger Anschauung zugesellt hatte. Aber als sechs Monate vorüber waren, war das Aussehen Rosels ebenso, als es vor ihrer Abreise aufs Dorf gewesen. Diesmal konnte Hannele beinahe mit mehr Recht sagen als früher: das, was ihrer Tochter fehle, sei ein »zu groß« Herz . . . .

Es bedurfte des ganzen Ansehens, dessen der Doktor Prager vermöge seiner Stellung in der Gemeinde genoß, um Hannele im entscheidenden Augenblicke, indem er ihre Hartnäckigkeit für die Folgen verantwortlich machte, endlich umzustimmen.

»So mag sie denn eine Bäuerin werden!« rief sie, »wenn sie Lust dazu hat!«

Ein ganzes Jahr lang kam Hannele Ehrenfeld nicht zu der einzigen und doch so geliebten Tochter aufs Dorf; sie schrieb ihr auch nicht und ließ sich nicht schreiben. Zu hoch gingen noch die Wogen ihrer aufgeregten Stimmung. Wenn man fragte, wie es ihrer Tochter gehe, konnte sie bitterböse werden, oder sie antwortete:

284 »Jetzt wird sie gerade Erdäpfel aufsetzen,« oder: »Wollen Sie vielleicht von ihr ein paar Pfund Butter kaufen? Soll ich Ihnen den Einkauf versorgen?«

Aber als das erste Töchterchen auf dem Bauernhofe geboren ward, konnte sie sich schon aus Rücksicht für die »Welt«, die jetzt nach vollendeter Tatsache für Rosel entschieden Partei ergriff – und ihrer lange zurückgedrängten Sehnsucht nicht mehr entziehen. Sie kam. In der Fülle des Wohlseins, der Liebe und des Glückes, von denen sie ihre Tochter umgeben fand, ging ihr das Herz vor Wonne auf; sie gewann die Anschauung, daß Rosel einem Zuge gefolgt war, der sie mitten in eine von Gott und Menschen gesegnete Häuslichkeit versetzt hatte. Erst jetzt erfolgte aus tiefster Überzeugung ihre volle Einwilligung.

Das Töchterchen aber, die erste Blüte am Baume der neu sich verjüngenden Familie, nennt der alte Bauer in seiner Liebe und Erinnerung an Rosels Eintritt in sein Haus nicht anders als: »Mein kleines Prinzessele«.


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