Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Auf schwanker Woge schwimmt jenes sonderbare Wesen einher, das wir Glück nennen. Von allen gesehen, an allen vorübergleitend, oft so nahe, daß es ein zarter Lufthauch wegzuwehen droht, ist es doch nur einer, an den es kommt. Wie man das Fischlein im Wasser berücke, daß es der Angel folgt, das Vöglein im Walde umgarne, daß es nicht entrinnen kann, dem Wilde nachstelle, daß es dem schlauen Menschen zur Beute werden muß – das erzählen wunderbarerweise Bücher auf Bücher, und wer es besser versteht, ist der Meister! Aber wie man jenem sonderbaren Wesen den Weg verrammt, daß es stehen und sich halten lassen muß, kann nicht gelernt werden: keine Kunst offenbart, wie sich das Glück fangen läßt. Tausende stehen am Ufer, sehen es mit leiblichen Augen, greifen danach, wie sie nach dem Messer greifen; denn tausendfältig und tausendgestaltig, wie der Menschen Seele und Sinn, spricht sich die Art aus, wie sie das Glück erzwingen. Der wirst sich mit weit ausgestreckten Armen in die hochgehende Flut und will sehen, wer stärker sei: die Welle oder seine Kraft. Der andere scheut solche Mühe; in sich gebückt, unscheinbar, furchtsam, in steter Sorge, es könnten ihn Augen erblicken, die nicht zu schweigen verstehen, tritt er leise auf, lugt nach allen Seiten, und das Glück ist sein, bevor der starke Schwimmer es noch erreicht hat.
Wenn die Menschen erzählen wollten und dürften, wie jeder von ihnen an das Glück herangekommen: der eine mit heiler Haut, der andere zerschlagen und abgeworfen, man hörte dann Geschichten, wie sie noch nie gehört wurden. Aber nicht nur den mutigen Schwimmer und Jäger müßte man erzählen lassen, die aller Künste voll sind und mit 69 Freikugeln und Freiangeln umzugehen wissen, vielmehr den still in sich gebückten, scheinlos Dahinwandelnden, dem niemand es abfragen will, warum zuweilen ein so leuchtender Glanz aus seinen Augen fällt, warum ein so eigentümlich vergnügtes Lächeln manchmal um die Lippen spielt. Mit einem Worte: – einen »Min«.
Es ist doch gut, daß jeder ein »zu Hause« hat, und wahrhaftig, nicht grade darum, um damit seine »Gemeindezuständigkeit« ausweisen zu können. Aber bei mir zu Hause, in Böhmen, werden die Leute sogleich wissen, was so ein »Min« zu bedeuten hat, und ich habe ihnen so gut als gar keine Erklärung zu geben. Wieviel besser ist das, als die andern erst auf ein vielleicht nicht befriedigtes Warten vertrösten zu müssen!
In der langen und ziemlich gedehnten Gasse, die sich vom »Ring« bis zum »Wasser« hinabzieht, hart am äußersten Ende derselben, steht ein altes, einschichtiges Haus. Es ist eines jener Bauwerke aus einer ferneliegenden Zeit, in der die »Baupolizei« noch nicht den Maurer auf Kosten des Zimmermanns begünstigt hatte. Das Haus ist nämlich ganz aus rohen Balken zusammengezimmert, zwischen deren Fugen der gelbe Lehm allein beweist, daß hier nicht ausschließend die Axt gewaltet. Drei weitschattige Nußbäume stehen davor. Wer sie gepflanzt? Wer überhaupt das Haus gebaut hat? Für die Leute in der Gasse wäre das eine müßige Frage gewesen; sie wußten nur das eine, daß in dem Hause immer »einerlei« Menschen gewohnt hatten; es hatte für sie keine Geschichte. Seit undenklichen Zeiten nämlich war jeder, der aus diesem Hause kam, von dem Knaben an, der sich am Trenderlspiel ergötzte, bis zum Greise herab, den der Todesengel in merkwürdiger Vergeßlichkeit stehen gelassen hatte, denn sie wurden in diesem Hause alle sehr alt, also alles und jedes, was da drin lebte und webte, selbst die Frauen mit eingeschlossen, war den Leuten – ein »Min«. Wenn 70 sich einmal die Maschen eines Zunamens um eine Familie gelegt, dann gehört die Riesenstärke himmlischer Geister dazu, ein solches Netz zu zerreißen. Unsichtbar über allen Lagen und Verhältnissen des Lebens hängt und schwebt es, um alles Tun schlingt es sich, klammert sich an Leib und Seele, begleitet den Kommenden und den Gehenden, das Geborene und das Sterbende. Das stärkste Schiffstau ist dagegen ein dünner Spinnfaden im Sturme. Ein solches Netz war über jenes Haus geworfen . . . es hieß eben »Min«.
Es wäre schwer zu sagen, was alles in dem engen Rahmen dieser wenigen Laute liegt. Vor allem meinen die Leute in der Gasse darunter einen stillen Menschen ohne Schein und Bedeutung, ohne das geringste Geltendmachen seiner Person, einen, der auf der geradesten Straße, wo ihrer zehn Raum haben, ausweicht, damit der Nachbar nur nicht beengt und am Ellenbogen gestreift werde. Das hätte den Leuten noch gefallen; denn wo wird einer gefunden, dem es nicht fast stolz ans Herz greift, daß sich der andere niederer dünkt als er selbst? Dazu gehört das volle und ganze Wissen vom eigenen Menschtum, wenn das anders sein sollte, als es wirklich ist. Was aber die Leute nachtrugen jenem Hause war eben gerade, daß jeder darin . . . ein »Min« war. Hinter jener Stille und Bedeutungslosigkeit, meinten sie, lag etwas Lauerndes und Verstecktes; man müsse immer auf seiner Hut sein, könne sich mit ihnen nicht tief einlassen, nie wisse man, wie das endige, ob im Guten oder im Bösen. So durchscheinend die Lebensverhältnisse in der »Gasse« gewöhnlich sind, so sehr auch alles vor aller Augen liegt, was man doch nicht verbergen kann – von jenem Hause konnte man das nicht sagen. War Wolf »Min« reich? Ging es ihm gut? Man sah keine Regsamkeit, man hörte keinen Lärm, der weder das eine noch das andere behaupten ließ. Der »Min« blieb sich immer gleich. Die drei alten, weitschattigen Nußbäume, die vor dem Hause ein so 71 undurchdringliches Grün ausbreiteten, wer hatte sie gepflanzt? Wahrscheinlich der, der das Haus gebaut, und schon er war ein »Min«! Und warum ließ sie der Sohn, und wieder der Sohn dieses Sohnes stehen? Etwa, weil sie so gute Früchte gaben? Es kam nicht der zehnte Teil davon auf den Tisch und in die Tasche des Hauses; Koppel Friedmanns Sohn, das wilde »Davidl«, der jetzt nach den letzten Berichten aus Amerika »Mayor« in einer Stadt am Ohio ist (das wilde Davidl!) schlug sie herab, wenn sie noch in der grünen Hülle steckten. Also nicht darum, sondern weil »sie« nicht wollten, daß man ihnen durch die Fenster sehe. Die Welt hätte dann erfahren, wie Wolf »Min« und seine Familie innerhalb seiner vier Wände lebe!
Von jener katzenartigen Stille im Auftreten, die man den »Mins« besonders nachtrug, müssen wir nur etwas erzählen. Es war wirklich merkwürdig, wie lautlos, gleichsam in geölten Türangeln, sich ihr ganzes Tun und Treiben bewegte. Man konnte mit Bestimmtheit voraussagen, wenn Wolf einen neuen Rock anzog, oder wenn sein Weib, die fast noch stillere »Perl« in einer neuen Haube erschien. Es geschah dies nur am ersten Tage des Osterfestes, sonst nie. Da verschwand aber dieser ungewöhnliche Glanz in dem von allen andern in der Gasse zur Schau ausgestellten, er verletzte niemanden und tat niemanden wehe. Diese Selbstverleugnung erstreckte sich auch sonst auf jeden Tritt und Schritt. Bei Gemeindewahlen nahm Wolf »Min« jene Stellung ein, die man in dem neuesten Hochdeutsch das »Zentrum« oder in der Sprache des Ghettos – »den Min« nennt; er hielt sich weder zur Rechten noch zur Linken, und am liebsten war es ihm, wenn er gar nicht mitzustimmen brauchte. Trotzdem ereignete sich einmal etwas, was in dem Andenken der »Gasse« noch lange leben wird. Man sagt, daß es Koppel Friedmann gewesen, eben derjenige, dessen wildes »Davidl« jetzt Mayor in Amerika am Ohio ist, der 72 im geheimen eine so ungeheure Tätigkeit entwickelte, daß bei einer Gemeindewahl sich die Mehrheit der Stimmen für Wolf »Min« aussprach. Mit einem Male sah sich das balkengezimmerte Haus hinter den drei Nußbäumen von einem Glanze umflossen, von dem es nie geträumt. Was Koppel Friedmann bewirkt, war freilich nur zum »Spaß« geschehen, er wollte nämlich das Experiment versuchen, wie sich so ein »Min« in dem neuen Wirkungskreise ausnehmen würde, – aber das machte die Wahl nicht rückgängig.
An demselben Tage soll aus dem Hause der »Mins« ein langgezogenes schmerzliches Weinen erklungen sein, wie man es von dort nie vernommen. Wer aufmerksamer hinter die Nußbäume sah, konnte sogar den Schatten der sonst so stillen Perl in heftiger Bewegung die Stube auf- und niederwandelnd sehen, die Hände gerungen, hie und da auch heftig weinen hören. Dazwischen konnte man die fast bittend klagende Stimme Wolfs vernehmen, der diesen Jammer zu beschwichtigen schien. Es war das erstemal, daß das Haus der »Mins« in eine so traurige Bedeutsamkeit trat; es war allen, als tönte Perls Weinen durch die ganze Gasse. Alles fragte sich: »Perl, Wolfs Frau, kann also auch weinen? So ist er also doch nicht der Min, für den man ihn gehalten hatte?« Andere sagten wieder: »Hätt' man nicht darauf geschworen, in Wolf »Mins« Hause geht's wie bei Gott im Himmel zu, vor lauter Herzfreud und Händedrücken? Jetzt sieht man, wie es bei ihnen zugeht.«
Nur wenige ahnten den richtigen Zusammenhang zwischen Perls Tränen und – der Gemeindewahl. Aber am andern Tage ließ Wolf erklären, er könne die auf ihn gefallene Würde nicht annehmen, er bedanke sich dafür, und lieber bezahle er die ihm auferlegte Strafe, als daß er sich eine Last auferlege, für die seine Kräfte nicht gewachsen seien.
»Der Min« hieß es nun, »der Min!«
Jemand, der dieser Geschichte und noch anderen aus der 73 »Gasse« sehr nahe steht, war zugegen, als am Abende desselben Tages nach »Schul« das wilde »Davidl« einen ziemlich blöde aussehenden Jungen fragte:
»Kobi! Warum hat denn dein Vater die ›Gabbe‹stelle (Kassierer der Gemeinde) nicht angenommen?«
»Es wäre ihm eine zu große Last gewesen,« sagte der Knabe mit merkwürdigem Augenspiel. »Warum soll er sich für nichts und wieder nichts eine Last auflegen? Er hat »so« genug zu tragen.«
Diese Antwort machte offenbar das wilde Davidl verblüfft; doch erholte er sich bald und sagte lachend:
»Soll ich dir sagen, warum er sie nicht angenommen hat? Weil dein Vater ein »Min« ist, weil deine Mutter eine Min ist, und du bist auch einer!«
Der künftige Mayor in Amerika hatte recht. Von dem jungen »Min« wollen wir eben erzählen.
Das war ein schöner brauner Bursche mit schwarzen Haaren, kühngeschwungenen Augenbrauen, eher groß als klein, dabei von gedrungener, fester Gestalt, die er aber durch lange Gewohnheit etwas »heraus«, d. h. gebückt trug, so daß man ihn für klein gelten ließ.
Aber dafür galt »Kobi« nur auf der Gasse und unter den Leuten; wenn er aber über die Schwelle seines Hauses trat, reichte er fast bis zur Blätterkrone eines der Nußbäume hinauf. Überhaupt hielt man nicht viel von ihm; den meisten erschien er blöde und nichtsheißend. Ein schön bemaltes Stück Fleisch, sagte man von ihm, aber was dahintersteckt, ist nicht viel wert. Immer jedoch gibt es Leute, die mit schärferen Augen versehen sind als die anderen, und so kann es uns nicht befremden, wenn der Vater des wilden »Davidls«, Koppel Friedmann, schon frühzeitig das Urteil 74 über »Kobi«fällte: »Ihr werdet sehen, das Jüngel wird sich ganz auf Wolf »Min« hinauswachsen; heißt mich einen Lügner, wenn der nicht ein noch ein größerer »Min« wird, als sie alle zusammen sind.«
Es ist merkwürdig, wie solch ein Ausspruch, wenn er halbwegs ein Recht zum Leben hat, sich an dieses Leben klammert und immer höher und höher schwillt. Als »Kobi« vierundzwanzig Jahre alt geworden war, stand das Urteil der scharfsichtigen »Gasse« fest; es lautete gerade so wie bei Koppel Friedmann.
Nur zwei Personen gab es in der Welt, die, wie sich von selbst versteht, in dieser Hinsicht anderer Meinung waren. Es waren dies Kobis Eltern selbst. Ihnen war der Sohn in seinem ganzen Wesen eben recht; leuchtete ihnen doch ihr eigenes daraus entgegen. Was die Leute bespöttelten und verlachten, das war ihnen ja selbst eigen, das besaßen sie selbst. Kobi war dazu im »Geschäft« wohl erfahren, ging nicht müßig, und was er ins Haus schaffte, das hatte »Hand und Fuß«. Dennoch blieben auch hier die Meinungsverschiedenheiten nicht aus, selbst Wolf »Min« fand seinen Kobi zu still; er hatte ihm nicht Mut genug, er war ihm nicht »Barjin« genug, wie jene selbständigen, auf sich und ihren Kopf angewiesenen Naturen des Ghettos heißen, die eine Welt erobern könnten – wenn sie nicht eben der»Gasse« angehören würden!
»Hast du schon von ihm einmal gehört,« hieß es in manch traulicher Stunde zu Perl, seiner Frau, »daß er auf etwas Größeres denkt? Hast du von ihm schon gehört, daß er auf die »Beschau« gehen will? So ein schöner Jung' . . . gewachsen wie ein Baum und schon vierundzwanzig Jahre alt, und läßt jüngere Leute, fast Kinder gegen ihn, sich vorangehen?«
»Geh, geh!« sagte dann jedesmal Perl darauf mit verdrießlicher Miene, »möchtest du nicht haben, er soll sich schon 75 jetzt die Sorgen von einer Familie aufladen? Laß ihn doch sein Leben genießen, es läuft ihm nicht fort . . . und wenn ihm »eine« bestimmt ist, so lebt sie gewiß schon.«
»Das meinst du nur so,« widerlegte Wolf gewöhnlich lächelnd. »Wenn ich gewartet hätte, hätte ich dich dann bekommen? Tausende wären mir zuvorgekommen.«
»Spaß nur,« meinte dann Perl dennoch mit einem leisen Anflug von Schamröte, die ihr gut stand.
»Wer sagt dir, daß ich spaß'?« rief er gegen seine Natur fast heftig. »Ich sag' dir, das Kind wird's zu nichts bringen. Still sein, und in der Welt kein Gelärm machen, das ist recht, und ist auch meine Natur . . . aber zu still darf der Mensch nicht sein!«
»Laß ihn nur seinen Weg gehen,« fiel dann Perl beschwichtigend ein. »Auf meinen Kobi laß ich nichts kommen, was auf ein Quentel geht. Du wirst sehen, in dem Jüngel steckt mehr, als du und die Welt glaubt. Still ist er, das ist wahr, aber willst du, er soll ein Flausenmacher sein, soll den »Barjin« spielen und etwas aus sich machen, was er nicht ist? Denk daran, dein Weib hat es gesagt, aus unserem Kinde, wenn es auch jetzt sich noch nicht dazu schickt, wird etwas werden, an was du gar nicht denkst.«
»Er ist zu still,« wiederholte stets Wolf, »wer gar kein Gelärm macht, von dem weiß man nicht, ob er auf der Welt ist. Er braucht ja nur die Hand auszustrecken, so gibt ihm Gitel Hann ihre Tochter mit zweitausend Gulden und setzt ihn noch in ihr Geschäft ein.«
»Das rotköpfige Vögele soll er sich nehmen?« rief Perl, der sonst jeder Spott ferne lag, mit einer Art von Hohn aus. »Solang' man's denkt, ist in unserer Familie niemals ein rot Haar angetroffen worden. Und gerade bei meinem Kobi soll das anfangen? Ja, dafür ist mir doch mein Jüngel zu gut.«
»Setz ihm nur solche Sachen in den Kopf,« meinte 76 dann verdrießlich Wolf. »Du wirst noch erleben, wie er sich als ›alter Jung‹ wird himmelhoch freuen müssen, wenn ihn eine alte ›Mad‹ oder eine Witwe mit fünf unversorgten Kindern wird nehmen wollen. Daran denk an mich.«
Das Mutterherz ist ein eigentümlich Ding. Stark und todesmutig, wie kein Held in der Schlacht, wenn es gilt, ein Kind zu verteidigen, sei es vor wirklicher Gefahr, oder selbst vor der kleinsten Nachrede, wird es doch zaghaft, feige beinahe, wenn es die Gefahr erst ahnt. Als Perl die Zukunft ihres »Jüngels« in solcher Weise festgestellt hörte, konnte sie sich doch eines leichten Schauers nicht erwehren; sie erschreckte sie mehr, als sie sich den Anschein geben wollte.
»Meint man nicht, wenn man dich so reden hört,« rief sie eifernd, »unser Kobi muß sich eine große Pauke um den Leib schnallen, um damit die alten ›Maden‹ zusammenzutrommeln?«
»Ich sag' dir, er ist zu still,« endigte gewöhnlich eine solche Beratung, die wie die meisten solcher Art, jeden Teil nur fester in seiner Überzeugung bestärkte.
Belauscht und unbelauscht kamen solche Reden an Kobis Ohren, aber sie machten ihn nicht lauter und schienen ihm wenig anzuhaben. Ein Lächeln, ein Achselzucken war oft die ganze Antwort. In gutgearteten Häusern hat man vor Kindern keine Geheimnisse; man läßt sie mitraten und mitreden, soweit dies angeht; läßt sie aussprechen, was sie drückt und bewegt, und lernt sie so frühzeitig kennen mit allen Tugenden und Unarten. Gewöhnlich wird dann ihr Sinn so ausgebildet, daß sie auf halbem Wege erraten und ahnen, was in der Eltern Seele vorgeht, woran sie nicht teilgenommen haben. So wußte Kobi jedesmal, wenn von ihm die Rede gewesen; er erriet haarscharf den Gegenstand ihrer Besprechung, aber er »machte sich davon nichts wissen«. Kobi war ein schlauer Junge; er wußte, sein Vater würde 77 doch nie Zwangsmittel anwenden und wenn das rotkopfige Vögele noch zweitausend Gulden mehr hätte. Die Mutter aber stand auf seiner Seite; im bittersten Kampfe, hoffte er, würde sie ihn mit dem Schilde ihrer Liebe decken. Jedermann wird wissen, was eine solche Schutzwehr in brennenden Augenblicken zu bedeuten hat; die größten Schlachten sind damit gewonnen worden.
Vielleicht wußte Kobi aber selbst nicht, warum er sich den Plänen seiner Eltern widersetzte. Wer kann in der Seele eines »Mins« deutlich lesen? Seit einiger Zeit war jedoch eine Art Waffenstillstand eingetreten; Vater Wolf ließ das zu »stille Jüngel« den Weg gehen, den es grade ging, und das rotköpfige Vögele war allmählich in den Hintergrund getreten; es war »Ruhe« in das ohnehin so ruhige Haus gekommen.
Aber eine Zeit kam, die die stille Wunde Wolfs wieder bluten machte. Es war nämlich wieder »Cholemoed« gekommen, jene schöne Halbfesttagszeit, die zweimal des Jahres wiederkehrt, am Ostern- und Laubhüttenfest. Fröhlich, lustverheißend, mit glänzenden Schwingen gleitet sie nieder in die »Gasse«, weckt Tausende von Herzen, junge und alte, Mütter mit Söhnen und Mütter von Töchtern. Ängstlich frohen Gefühles, unter Bangen und Hoffen wird sie erwartet, sieht man sie allmählich kommen. Ist sie endlich da, so ist's beinahe, als wäre unsichtbar und ungekannt ein Fürst eingezogen, zu dessen Ehren man den Stuben und Fenstern und sich selbst das schönste Feiertagskleid anzieht. Bei wem wird er einkehren? In welcher Gestalt wird er erscheinen? Manche Mutter, manch zagendes Mädchenherz möchte das wissen, begnügt sich aber, weil sie es nicht kann, damit, die »Ausstattung« wieder und noch einmal durchzumustern; denn von Augenblick zu Augenblick kann an der Tür gepocht werden. Es ist nämlich die Zeit der »Beschau« gekommen.
78 Frühmorgens an diesem Tage fragte Wolf seinen Sohn so von oben aus, das eine Auge forschend auf ihn gerichtet, während das andere sich sorgfältig geschlossen hielt.
»Nun? und du, gehst du heut' nirgends hin? Weißt du nicht, was heut' für ein Tag ist?«
»Soll ich das nicht wissen?« warf Kobi leicht lächelnd hin. »Cholemoed ist.«
»Und?« sagte Rebb Wolf und hielt dann inne.
Kobi aber ertrug diese lauernde, wie ein jäher Pfeil auf ihn gedrückte Frage; ganz gelassen sagte er:
»Nun, und was ist dann?«
»In den Gasthäusern,« meinte Wolf schlau, »wimmelt's heute von lauter ›Gelegenheiten‹, es wird bald kein Platz mehr dort sein.«
»Was du nicht sagst!« rief Kobi verwundert aus.
»Und heute in aller Frühe, man hat noch nicht in ›Schul‹ geklopft, habe ich schon drei oder vier vorbeifahren sehen,« fuhr Wolf fort, ohne sich durch die verstellte Miene der Verwunderung stören zu lassen.
»Werden etwas vorhaben,« meinte Kobi ganz trocken.
»Und du, leider Gottes, hast gar nichts vor,« brach es endlich mit gewaltigem Ärger aus Rebb Wolf, »da mag ich reden bis mir der Hals zerspringt, du rührst dich von dem Flecke nicht weg, als hätte dich einer mit Wachs angeklebt. Die ganze Welt kommt, geht auf die Beschau; wer aber nicht geht, das bist du. Warum nimmst du dir keine Gelegenheit, ziehst dich schön an, sagst zum Kutscher: Führ mich dahin oder dorthin? Ich will mir eine beschauen?«
»Wohin soll ich denn fahren?« fragte Kobi unschuldig.
Jetzt wurde Rebb Wolf ganz zornig. Mit einer Stimme, wie man sie in dem stillen Hause der »Mins« selten hörte, rief er:
»Stell dich nur, als wenn du nicht drei zählen könntest. Ich weiß ja doch, daß du es kannst! Meinst du, dein Vater 79 weiß nicht, daß du ihn verstehst? Willst du mich etwas lehren? Da mußt du früh aufstehen, mein Jüngelleben.«
»Auf die Beschau soll ich gehen, soviel verstehe ich davon,« meinte Kobi gelassen.
»Und warum gehst du nicht?« rief Wolf eifrig, »warum machst du dich nicht auf und davon? Die ganze Welt rührt sich; wer nur Füße hat und Augen, geht heute, und sieht sich etwas an, ob es ihm paßt. Wie lange willst du dich denn besinnen?«
Auf diese feurige Ansprache seines Vaters war Kobi doch nicht gefaßt; einen Augenblick schien es sogar, als sei er erschrocken. Doch faßte er sich bald, und mit halbironischem Lächeln meinte er:
»Besinnen? ich habe mich schon lange besonnen.«
»Also doch,« rief hastig Wolf, »da siehst du, Perl! Gott der Lebendige weiß, an wen er sein Herz gehängt hat.«
»Das ist auch ganz wahr, Vater,« rief Kobi mit Ernst. »Mein Herz – das habe ich schon lange angehängt; mich wundert's nur, daß du es noch nicht bemerkt hast.«
»An wen? An wen?« schrie beinahe Wolf und trat einen Schritt näher auf den Sohn. »Wirst du es gleich sagen? Ich hab' mir das lange schon gedacht . . . Jetzt muß es heraus!«
Perl sagte kein Wort; sprachlos lauschend blickte sie auf den Sohn. Wer vermöchte es zu deuten, oder mit Gewißheit behaupten, was in dieser Mutter jetzt einen schwereren Kampf kämpfte, ob die Neugierde des Weibes oder das schmerzliche Gefühl, daß ihr Kind mit einem Geheimnisse in der Brust so lange Zeit in dem Bereiche ihres Atems leben konnte?
Kobi sah die Eltern gegenseitig mit einem Blicke an, aus dem der »Min« herausblickte; dann, nachdem er sich sattsam geweidet an des einen Eifer, an der anderen lauschender Erwartung, meinte er schelmisch:
80 »An wen ich mein Herz gehängt habe? An wen anders als an Vater und Mutter?«
Es ist unbeschreiblich, welche Wirkung diese geschickte Wendung Kobis auf die Eltern hatte. Gleich einem heftigen Windstoße hatte sie den ganzen Himmel, so dicht er mit Gewölke umzogen schien, befreit; blau und klar trat er wieder hervor.
»Alt sollst du werden, mein Jüngel,« rief Perl mit Tränen in den Augen. »Ist das aber recht, seine Eltern so zu foppen?«
»Und ich sage dir, was ich immer sag'. Er ist zu still,« meinte Wolf mit einem unentschiedenen Lächeln, und um nicht waffenloser zu erscheinen, als er wirklich war, entfernte er sich lieber eiligst aus dem Hause.
Als der Vater fort war, fragte Perl den Sohn:
»Jetzt hast du recht gehabt, mein lieb Kind! Frag dich aber selber, ob dein Vater nicht auch recht hat? Warum machst du ihm nicht die Freude und gehst auf irgend eine Beschau?«
»Mutter,« sagte Kobi nun mit wahrem Ernste, »kann es dir recht sein, wenn ich, sei es was es will für ein Mädchen, wie einen Sack Wolle anzusehen komme, den man für mich schon hergerichtet hat, zu oberst die feine, unten aber versteckt und verdeckt die schmutzige und schlechte? Obenauf ein güldig »Glänzel« und unten und inwendig alles voll Staub und Ekel? Was möchtest du da von deinem Sohne halten? Wie oft hast du mir selbst erzählt, der Vater hätte dich ohne Beschau genommen, auf dein lieb Gesicht hin? Lebt ihr darum nicht glücklich? Hat eins zu klagen über das andere?«
Jetzt erst staunte Perl gewaltig; solche tiefe Weisheit hatte sie noch nie vernommen, seitdem sie das Jüngel ihr Kind nannte. Wie ein goldener Strom floß sie aus seinem Munde; sie hätte horchen und lauschen mögen stunden- und 81 tagelang, so bezaubernd, so umstrickend klangen alle diese Worte. Wo das Jüngel nur alle diese Weisheit her hatte? Wenn man ihn hörte, so war es ja nicht anders, als hörte sie den ersten Landesrabbiner von der Welt sprechen!
»Ob wir glücklich leben, ich und dein Vater?« rief sie in einer Art Begeisterung. »Jedem Judenkind ›gesagt‹, was ich und der Vater für ein Leben führen, es braucht sich's keine Fürstin besser zu wünschen . . . Und weißt du, Kobi, mein Sohn, das alles ist ohne Beschau geschehen! Dein Vater hat nicht gewußt: hab' ich sechs Schnupftücher in meinem Vermögen oder gar keins? Dein Vater hat mich gesehen und ich ihn, alles ohne Beschau! Und wie ich an einem Sabbatabend von meiner hundertundzehnjährigen Urbabe Milke gekommen bin, die du nicht mehr gekannt hast und die damals krank gelegen ist, da hat er mir hinter Süßkind Turnauers Keller aufgewartet. Wie ich damals erschrocken bin! ›Erschreck nur nicht, Perl,‹ hat er gesagt, ›und mach keinen Lärm, was brauchen die Leute zu wissen, was zwischen mir vorgeht und dir? Ich will ja nur, daß du mir sagst, ob du mich willst?‹ – Und siehst du, Kobi, mein Sohn, ich hab' ihn gewollt und wir sind, Gott im siebenten Himmel sei dafür gelobt und gepriesen, fertig miteinander geworden, alles ohne Beschau! Wie hat sich aber das heutzutage alles verändert! Recht hast du, mein Jüngel, geh du nur auf keine Beschau!«
»Das verschwör' ich nicht, Mutter,« rief Kobi lachend, »daß ich auf gar keine Beschau gehen werde. Aber zu einem Sack Wolle laß ich mich nicht schicken. Wenn ich einmal gehe, will ich das ›Schadchingeld‹ (Lohn für den Brautwerber) selber an mir verdienen. Was brauche ich einen Fürsprecher?«
Freudig überquellenden Herzens stimmte Perl dieser Ansicht bei. Gestand sie sich doch im Innern, daß ihr Verstand weit unter dem ihres Kindes stand. Welch ein neidloser Stolz, welches süße Befriedigtsein lag in diesem Geständnisse!
82 Zum Mittagessen kam heute Rebb Wolf zeitlicher nach Hause, als er sonst pflegte. Gleich bei seinem Eintritte bemerkten Mutter und Sohn, daß auf seinem Antlitze ein eigentümlicher Ausdruck spiele. Lange Gewohnheit und inniges Zusammenleben bewirkten, daß sie sich in dieser Sprache besser wie mancher in einem gedruckten Buche zurecht fanden. Aber sie drängten sich mit keiner Frage auf, sie wußten aus Erfahrung, daß diese Sprache schon ihre Töne finden werde.
Bei Tische saß Wolf lange in tiefem Sinnen; mit einem Male begann er:
»Soll ich euch sagen, Kinder, woher ich komme?«
»Wenn du willst, sag's,« meinte Perl, »übrigens zwingen tut dich keiner.«
»Ich komm' von keinem andern, als von unserem Vorsteher! Ihr werdet erstaunt sein, wenn ihr hört, was der von mir will,« sagte Rebb Wolf.
»Wollen sie dich vielleicht wieder zu etwas machen? Zu einem Stück Gabbe (Kassierer) oder so etwas?« rief Perl wirklich erschrocken.
Wolf schüttelte sich vor Lachen.
»Ach!« rief er lustig, »deswegen brauchst du nicht zu sorgen, ich nehm' es nicht an, und wenn sie mich morgen zum Bürgermeister machen. Es ist wegen etwas ganz anderem, und ich will euch nicht lange warten lassen. Ich soll für seinen Sohn auf die Beschau gehen.«
»Du?« meinte Perl mit einem etwas ungläubigen Lächeln, »wie kommst du dazu?«
Kobis Antlitz zeigte in diesem Augenblicke eine merkwürdige Veränderung; es war lauschend, fast spitzig vor lauter Aufmerksamkeit geworden.
»Helf dir!« . . . sagte Rebb Wolf achselzuckend, »er will keinen andern als mich.«
Nun begann Wolf, der nicht zu den kürzesten Sprechern gehörte, zu erzählen, wie er mit dem Vorsteher auf dem 83 »Ring« zusammengetroffen, dieser ihn unter den »Arm« genommen und er nicht gewußt habe, wie er zu der Ehre komme, mit diesem stolzen Menschen, dem man auf eine halbe Meile anhöre, wie das Geld in seiner Tasche klinge, auf der Gasse herumzuspazieren. Nach und nach sei der Vorsteher mit der Sprache herausgekommen, und das habe anfangs ausgesehen, als stecke ihm eine Fischgräte im Halse. So habe sich dieser geräuspert und gezuckt, bis er endlich auf das eigentliche Wesen gelangt sei. »Was soll ich dich lange im Finstern lassen, Wolf,« habe der Vorsteher endlich gesagt, »ich such' für meinen Sohn eine ›Partie‹ und du bist der Mann, der mir dazu verhelfen kann.«
»Du?« rief Perl aufs neue voll Staunen.
Ebenso verwundert habe auch er gefragt, fuhr Wolf fort, aber das habe ihm wenig genützt. Nun sei der Vorsteher weitergegangen und habe ihm als Geheimnis anvertraut – aber vor Weib und Kind habe er kein Geheimnis – daß sich sechs Meilen von hier ein Mädchen befinde, d. h. eine »Partie«, die sich für seinen Sohn wie nur etwas in der Welt schicke; Geld sei da, mehr als nötig, Schönheit und guter Ruf auch, aber was das Hauptsächlichste sei, man »sehe bei ihr auf nicht viel Geld«, man wolle nur einen tüchtigen Menschen. Ganz außer sich habe er gefragt, wo denn dieses Wunder Gottes versteckt sei? Erst nach langer Zeit habe er die gehörige Auskunft erhalten. Das Mädchen sei die Tochter von Josel Süß, von jenem reichen Randar, dem man nachsage, er habe mehr in seinem Vermögen, als er selbst wisse. Der Reichtum liege daselbst aufgespeichert wie ein Haufen Getreide; wohin man blicke, erschaue das Auge, was es freut und ihm wohltut. Das seien noch Leute von altfränkischem Schlage. Die Tochter sei ein einziges Kind, Söhne hätte man keine, und so würde die Tochter nach des Vaters Tode eine Erbschaft antreten, wie sie jedes Judenkind sich wünschen könnte. In halb »Pehm« (Böhmen) 84 könne man herumreisen, bis man einen Josel finde, und ein Mädchen, das seiner Tochter gleichkomme.
»Und was braucht er dich dazu?« fragte Perl, deren Neugierde wie ein junges Füllen auf der Weide durchging.
Das werde sie sogleich hören, gab Wolf zur Antwort; er habe dieselbe Frage an den Vorsteher gerichtet und lange auf die Entgegenrede warten müssen. Endlich habe dieser ihm anvertraut; so wünschenswert und ein so großes Glück es auch wäre, wenn die Partie zustande käme, so schwer sei es, an sie heranzukommen. Er könne sich denken, von seiner Seite sei nichts im Wege, desto mehr von der »anderen Seite«. Von dem Vater nämlich, dem Randar Josel gehe das Gerede, er hüte sein Kind wie ein Löwe und wolle es nicht herausgeben; er sei überhaupt ein Mensch von der fürchterlichsten Art; so reich er sei, so wild und ungeschlacht sei er, ganz wie die Bauern auf dem Dorfe, mit denen er jahraus jahrein verkehre. Hunderte der schönsten und reichsten Jungen wären bei der Tochter schon auf der Beschau gewesen; keiner hätte etwas ausgerichtet. Wenn sie der Tochter schon gefallen, so hätten sie ihm mißfallen. Das Schönste an der Sache sei aber, wenn man die Leute schon abwiese, so täte man das auf dem Randarhofe nicht, wie es in anderen gesitteten Häusern Manier sei, nämlich mit feinen und delikaten Worten, sondern mit Spott und Schande würden sie aus dem Hause gejagt; man erzählte sich in dieser Hinsicht die merkwürdigsten Dinge. Manchem sei es gar übel schon ergangen; von einigen dieser jungen Leute, die nichts getan, als daß sie auf die Beschau gekommen, gehe sogar die Sage, der Randar habe sie beim »Flügel« genommen und ihnen einen Weg zum Hause hinausgewiesen, auf dem sie schwerlich wieder zurückkommen würden.
»Lebendiger Gott!« schrie Perl in wirklicher Angst, »ist das ein Mensch oder ein Wolf?«
»Die Leut' halten ihn eher für einen Bären,« meinte Wolf.
85 »Ich versteh' aber noch immer nicht, was der Vorsteher von dir will?« sagte Perl nach einer Weile. »Was kannst du ihm dabei helfen?«
Eben jetzt, hieß es dann weiter, komme die eigentliche Sache. Der Vorsteher habe nicht den Mut dazu, oder vielmehr dessen Sohn, der ein feingebildeter und studierter Mensch sei, habe nicht den Mut dazu. Was würde die Welt dazu sagen, wenn es heiße: der Sohn des Vorstehers sei mit Schimpf und Spott aus dem Hause eines halben Bauers gejagt worden. Ob man so etwas riskieren könne? Da sei er, nämlich der Vorsteher, auf den Gedanken gekommen, ob es nicht das Gescheiteste wäre, die Sache früher durch einen klugen Menschen vorzubereiten? Der hätte zum Randar zu gehen, hätte ihm eindringlich vorzustellen, welch ein Glück seine Tochter mache, wenn sie in des Vorstehers Familie käme, kurz, hätte alles zu tun, damit sein Sohn dann nur zu kommen und die Sache in Ordnung zu bringen habe. Dazu scheine ihm nun kein Mensch in der ganzen Welt klüger und gewitzter als er, nämlich Wolf; von keinem erwarte er mehr Gelingen, als von ihm. Wenn er die Sache in die Hand nehme, sei er des Erfolges so gewiß, als hätte man bereits die »Schale« zerbrochen. Er biete ihm für dieses Geschäft von seiner Seite bare 400 Gulden.
»Jetzt weiß ich, was der Vorsteher will,« sagte Perl, nachdem ihr Mann geendet, »man hat lang' genug darauf warten müssen. Und was hast du ihm zur Antwort gegeben, Wolf?«
»Ich hab' ihm gesagt,« meinte dieser, »ich möchte mir's überlegen. Das war ihm aber nicht recht; wenn ich die Sache in die Hand nehmen wollte, müßte ich mich ›stantepe‹ entschließen. Aufschub sei nicht möglich, Cholemoed sei da, und wer wisse, ob nicht einer schon auf die Beschau gekommen, der glücklicher gewesen, als die anderen? »Gut!« sag' ich 86 drauf, »wenn's bei dem Anbot mit den 400 Gulden bleibt, so will ich's unternehmen, aber ich wüßt' noch etwas Gescheiteres. Ich hab' einen Sohn, wie Sie wissen, sag' ich, der kann mehr als essen; der hat einen Kopf auf sich, da ist der meinige nichts dagegen. Wie, wenn wir ihn hinschickten?« Da hat er gelacht und gesagt: »Sollst leben, Wolf! Du hast da Gottesrecht, denn dein Kobi ist noch ein größerer ›Min‹ als du. Wenn du also willst, so schick' deinen Sohn, der ist zu dem Geschäft wie geschaffen.« Und so sind wir auseinander gegangen, ich und der Vorsteher. Jetzt frag' ich dich, Kobi! Willst du, oder willst du nicht?«
Zu unerwartet kam die plötzliche Wendung dieses langen Berichtes, als daß sie nicht eine wahrhaft betäubende Wirkung auf Perl hätte hervorbringen sollen. Weniger war sie bei Kobi sichtbar; dieser saß unbeweglich da, spielte mit dem Messer oder sah dem sprechenden Vater auf die Lippen. Als Wolf nun mit seiner Aufforderung an ihn sich wendete, flog ein rasches Erröten über seine Züge; es schien fast, als wäre er etwas überrascht worden.
»Um Gottes willen, du wirst doch das Jüngel nicht zu dem Bären schicken wollen,« schrie nun Perl, die sich einigermaßen erholt hatte.
»Er wird ihn nicht aufessen, drauf geb' ich dir mein Wort,« sagte Wolf lustig, »und wenn auch? Um 400 Gulden kann man sich auch ein ›bissele‹ aufessen lassen.«
»Und ich geb's nimmer zu,« rief Perl mit großer Entschiedenheit, »daß mein Jüngel zu dem Wolf geht! Das geb' ich nimmer zu!«
»Erst ist er bei dir ein Bär, dann ein Wolf! Was wird er noch alles werden!« meinte ihr Mann.
»Zu einem so wilden Menschen sein eigen Kind schicken!« wiederholte die sonst so sanfte Perl mit einer Art von Bitterkeit mehrmals, »hat man das schon gehört? Und wenn er ihm einen Fuß zerbricht oder eine Hand, so ein Bär, der 87 er ist, wird dir das der Vorsteher mit all' seinem Gelde ersetzen können?«
»Was das betrifft, Mutter,« begann mit einem Male Kobi selbst und lächelte dabei, schlau wie gewöhnlich, »so sei ganz außer Sorgen. Man läßt sich nicht so krumm schlagen, mir nichts, dir nichts. Dazu müssen immer zwei sein. Einer, der sich schlagen läßt, und der andre, der schlägt. Und warum soll man wegen 400 Gulden nicht so etwas Kleines unternehmen? Tut man doch viel Größeres um viel kleineren Gewinn! Und noch dazu macht man sich den Vorsteher zum guten Freund; man kann nicht wissen, wie man ihn einmal brauchen kann.«
Eine minutenlange Stille herrschte, nachdem Kobi so gesprochen, in der Stube.
»Du willst also wirklich gehen? Kobi, mein Kind, weißt du, was du willst?« rief dann Perl, indem sie die Augen mit angstvollem Erstaunen auf ihren Sohn richtete.
»Warum nicht, Mutter?« meinte dieser trocken. »Warum soll ich ein so schönes Geschäft ›auslassen‹? Man verdient nicht sobald ein so schönes Stück Geld.«
»Jetzt red' ich nicht mehr,« sagte Perl nach einer langen Pause. »Du mußt das besser wissen als ich.«
Perl hatte einen so hohen Begriff von der Weisheit und dem »Kopfe« ihres Kindes, daß sie wirklich von dem Augenblicke an, wo Kobi seinen Entschluß zu gehen in so entschiedenen Ausdrücken aussprach, Mut und Besinnung zurückerhielt.
»Da hast du, wie er ist,« sagte Wolf, »für andere will er auf die Beschau gehen und wird die Sache gut zu Ende führen; dahingegen, wenn er für sich selbst gehen soll, bleibt er zu Hause und ist zu still. Ich hab' das gleich im voraus gewußt.«
Perl wagte wirklich keinen Widerspruch; sie begnügte sich damit, die beiden Männer über die Art und Weise, wie 88 der Gang zu dem »Bären« ausgeführt werden sollte, beraten zu hören. Sie selbst »drängte« sich mit keinem Worte hinein; aber sie hörte genug, um vollauf Beschäftigung für ihre Seele zu haben. Es war merkwürdig, wie Wolf seinen Sohn belehrte, wie er ihm den Weg zeigte, auf dem er gehen müsse, um an den Randar zu kommen. Diplomaten und andere Leute hätten da lernen können, wie eine so schwere »Mission« zu behandeln sei. Wolf zeigte sich in dieser Unterredung wirklich als den klugen und gewitzten »Min«, wofür er galt; eine solche Fülle von Weisheit hatte selbst Perl nie aus dem Munde ihres Mannes gehört; sie war voll Bewunderung. Leider müssen wir über diese im geheimnisvollsten Geflüster gehaltenen Verhandlungen einen Schleier ziehen, eben weil sie geheim sind . . . Aber das können wir sagen, die Welt würde, wenn sie ihr vor die Augen kämen, mit vollem Rechte Perl beistimmen, die in ihrem Manne einen »großen Mann« sah.
»Ja, wenn man's so anfängt,« meinte sie in ihrer Befriedigung, »so muß er's zustande bringen. Und dann? Ist er nicht unser Kind?«
In tiefster Stille wurde nun der ganze Angriffsplan zu Ende geführt; nur das eine können wir verraten, daß Wolf eine »Gelegenheit« für morgen frühe bestellen ließ, die draußen vor dem »Ort« auf Kobi warten sollte. Was brauchte die Welt zu wissen, wohin er am Cholemoed fuhr? Wolf verfügte sich sodann zum Vorsteher, um demselben anzuzeigen, daß Kobi die Sendung angenommen. Als die Männer fort waren, überkam es das mütterliche Herz Perls doch wie Furcht und Grauen. Solange ihr Sohn da war, schöpfte sie aus seinen Worten und Blicken Beruhigung.
»Lebendiger Gott,« seufzte sie aus der Tiefe ihres Herzens, »wenn der wilde Bär ihm nur nichts tut! Unser einziges Kind! Ich hätte doch nicht zustimmen sollen!«
89 Am andern Morgen zeitlich in der Frühe war Kobi schon vollständig gerüstet, ehe die Eltern noch aufgestanden waren. Er hatte sogar schon »gebetet« und legte gerade die »Teffilin« (die ledernen Gebetriemen) zusammen. Wie nun Perl aus der Schlafkammer heraustrat und des Sohnes ansichtig ward, wußte sie sich vor Staunen und Bewunderung fast nicht zu fassen. So schön hatte sie ihren Sohn noch nie gesehen! Kobi hatte sich nämlich in seinen festtäglichen Anzug geworfen; es war ihr, als stünde ein »Prinz« vor ihr! Jetzt erst wurde sie ganz inne, was er für ein feiner Jung' sei; groß, schlank, wie aus einem Stück gegossen, stand er vor ihr. Es war wunderbar, wie dieser Anblick sie stärkte und ermutigte; sie hatte die halbe Nacht nicht schlafen können, die andere Hälfte in wirren, bösen Träumen zugebracht, worin es ganz fürchterlich zuging. Ein »Bär« mit einem fürchterlich menschlichen Angesicht spielte darin die größte Rolle; auch sah sie zuweilen ihren Kobi auf einem Fuße hinken, bald darauf ging er wieder kerzengrade auf beiden Füßen, aber dafür hatte er nur einen Arm; der andere war ihm wahrscheinlich im Kampfe mit dem Untier abhanden gekommen.
Auch Wolf war der Meinung, Kobi sehe wenigstens so gut wie ein »Graf« aus.
»Da siehst du wieder, wie er ist,« meinte er, »er könnt' sich nicht schöner anziehen für die eigene Beschau! Man kann gar nicht feiner aussehen, wenn man für sich selbst geht.«
Kobi sagte gar nichts, weder zur Bewunderung seiner Mutter, noch zum Vorwurf des Vaters; er bat nur, man möchte eiligst das »Anbeißen« (Frühstück) bereiten, sonst käme er unter die Leute, die zur »Schul« gingen.
Als das Anbeißen vorüber war, brach Kobi sogleich auf. Perl war in außerordentlicher Bewegung; sie tat sich Gewalt an, um dem Kinde »das Herz nicht zu erschweren«, wie sie innerlich meinte; aber ihre aufgeregt ängstlichen Züge verrieten gerade das Gegenteil.
90 »Wirst du's aber auch gut ausrichten?« fragte noch zu guter Letzt Wolf, den bei allem Vertrauen zu der Geschicklichkeit Kobis erst jetzt die Furcht, daß er den Schultern des Sohnes eine zu große Last aufgebürdet habe, zu überkommen schien.
»Ich denk',« sagte Kobi trocken.
Perl wollte nun mit aller Gewalt den Sohn bis vor den Ort hinausbegleiten. Nur mit Mühe vermochte sie Wolf zu bereden, das nicht zu tun. Dann erst wüßte man recht, meinte er, was Kobi vorhabe.
»Eines aber versprich mir,« sagte sie zu Kobi mit bebender Stimme, als sie schon in der Haustüre standen, »daß du dich mit ihm nicht weiter einlassest, wenn du siehst, daß mit ihm nichts zu machen ist, und daß du mit ihm nicht aufbegehrst, ihn nicht reizest, sobald du siehst, daß er dir etwas tun will. Versprichst du mir das?«
»Ja, Mutter,« sagte Kobi lächelnd, »ich versprech' es dir.«
Drauf nahm er kurzen Abschied von den Eltern. Die Mutter legte, nachdem sie ihn geküßt, noch die Hand auf seinen Kopf und »benschte« ihn.
»Das kann dir gewiß nicht schaden,« sagte sie.
Kobi berührte noch mit der Hand die »Mesuseh« an der Türpfoste und ging dann. Als er schon unter den Nußbäumen stand, wandte er sich noch einmal um, seine Lippen zuckten, es schien, als wollte er noch etwas sprechen.
»Hast du was vergessen?« fragte Perl.
»Nein, nein,« sagte Kobi mit einem vielbedeutenden Lächeln, das an der Mutter haften blieb, »es hat Zeit, bis ich zurückkomme!«
Perl sah dem dahinwandelnden Sohne so lange nach, bis er ihren Augen entschwunden war. Traurig kehrte sie in das Haus zurück.
»Einziger Gott!« seufzte sie vor sich hin, »behüt und beschütz ihn. Ich hätt' ihn vielleicht doch nicht von mir 91 lassen sollen! Das einzige Kind, was uns Gott beschert hat, und das man wie den Augapfel behüten sollt' – und jetzt geht es, man kann gar nicht wissen, wohin? Und wie es ihm ergehen wird. Hätt' ich's nur nicht zugegeben! Aber leider Gottes! so sind wir unglücklichen Weiber! Es kann uns so ein Mann, wenn der seinen Kopf aufsetzt, umblasen! Zu so einem Tiger und Elefanten ihn zu schicken! So auszusetzen sein eigen Blut und Fleisch! Wenn er ihm nur nichts tut! Wenn er ihm nur nichts tut!«
»Narrele,« tröstete sie Wolf, »dem geschieht nichts, und wenn er müßt' . . . geradezu auf einen Turm hinaufsteigen.«
Verabredetermaßen fand Kobi die bestellte »Gelegenheit« draußen vor dem »Ort« auf ihn warten. Er stieg rasch ein; ohne Aufschub ging es fort. Die dichte Leinwand, die über den Wagen gespannt war, entzog ihn den Blicken der Vorüberkommenden, entzog das sinnende Gedankenleben, das sich bald in einem versteckten Lächeln, bald in der zusammengezogenen Lippe aussprach, jedem forschenden Auge. Wie könnten wir es erraten? Das beste ist, wir denken nicht lange nach, und folgen dem Brautwerber für des Vorstehers Sohn, gleiten ihm nach und klammern uns an ihn, wie an den Körper der Schatten!
Gleich zu Anfang der Fahrt nahm sich Kobi vor, den ihm vom Vater vorgeschriebenen Angriffsplan in etwas abzuändern. Wie ein kühner General wollte er selbständig handeln, wenn auch im ganzen den Befehlen des Feldherrn getreu.
Vater Wolf hatte ihm vorgeschrieben, geradezu auf den Randarhof loszugehen, oder eigentlich, er hatte das selbstverständlich, ohne davon zu sprechen, so gemeint. Bei reiflicher Überlegung fand jedoch Kobi, es sei besser, den Feind nicht in der »Fronte«, sondern auf den »Flügeln« anzugreifen, nicht auf gradem Wege, sondern auf Umwegen. Kannte er denn diesen Feind so vollständig?
92 Aus der Schilderung seines Vaters hatte Kobi nur ein ganz unbestimmtes Bild entnommen; wenn aber der Angriff rasch und kräftig geführt werden sollte, so mußte er alle Schwächen und Stärken des Feindes kennen, mußte wissen, ob man ihn rechts oder links, bei seinem Kopfe oder bei seinem Herzen fassen sollte. »Er wird doch nicht gar so ein Unmensch sein,« beriet er in sich selbst, »daß man ihm von keiner Seite zukann? Ich hör's ja immer sagen, wie jeder Mensch einen ›Zipf‹ hat, daran man ihn halten und niederwerfen kann. Sollte der Randar nicht auch so einen ›Zipf‹ haben?«
Man sieht, Kobi wäre zu einem General nicht grade unpassend gewesen; er verstand sich nicht schlecht auf die Regeln der Kriegskunst. Sobald er mit sich einig geworden, lag auch der ganze Plan fertig vor ihm. Kobi schloß nämlich mit Recht, daß, je enger der Kreis um den Randarhof wurde, desto genauer und zuverlässiger mußten auch die Berichte über denselben werden; je weiter aber, desto toller und verwirrter. Er ließ daher in der nächsten Gemeinde halten, und die »Gelegenheit« in ein Wirtshaus einstellen; er selbst ging zu Fuß in die »Gasse«, wo er ein oft gesehener Gast war. Er aber hielt sich nicht lange auf, stand wohl jedem Rede und Antwort, aber nicht zu viel; er wußte, daß er hier in einem besonders bekannten Hause die beste Auskunft erhalten werde. In dieses Haus trat er; Kobi hatte es besonders ausersehen, weil es eines von jenen Häusern war, wo man über alles belehrt werden konnte: über einen Sack Wolle so gut, wie über den guten oder schlechten Ruf der Leute auf zehn Meilen im Umkreis.
Man schrie vor Verwunderung auf, als man ihn, den man immer von der »Geschäftskleidung« her kannte, plötzlich so festtäglich, in so außerordentlichem Aufputz vor sich stehen sah.
»S'Gotts willkum',« ertönte es von allen Seiten, »haben gewiß heute etwas vor?«
93 »Wenn Sie nichts dagegen haben,« meinte Kobi bescheiden, »so sag' ich: ja.«
»Sich doch also besonnen!« hieß es dann weiter in jenem höhnisch-lustigen Tone, den man bei solchen Gelegenheiten am liebsten anstimmt. »Und wo soll ›sie‹ denn sein? Kann man's wissen?«
»Warum nicht,« meinte Kobi, »da und da.«
Er nannte eine benachbarte Gemeinde, hütete sich aber wohl, Namen oder Stand der Beschau zu nennen. Daß er den Randarhof nicht nannte, läßt sich denken. Die Leute, die zum Glück nicht unbescheiden sein wollten, drängten nicht weiter und begnügten sich mit dieser Auskunft.
Nachdem Kobi sich auf diese Weise den Rücken gesichert hatte, wußte er durch eine geschickte Drehung auf den Randar zu kommen, ohne daß eine lebende Seele in der Stube auch nur leise geahnt hätte, dahinter liege etwas mehr. Er habe ein »Geschäft« mit ihm vor, eigentlich nicht er, sondern ein anderer, in dessen Namen er es vollbringen solle; sie würden aber wissen, wie sehr es »einen« erleichtere, wenn man sofort denjenigen kenne, mit dem man es zu tun habe. Er bitte sie daher, ihm mitzuteilen, was sie in dieser Hinsicht wüßten; den Dank sollten sie im voraus dafür nehmen.
Lebendiger Gott im Himmel! Was mußte Kobi da für Dinge vernehmen! Er glaubte in ein Wespennest gestochen zu haben, so wild und ungezügelt flogen ihm die üblen Nachreden um die Ohren. »Vor dem,« hieß es, »solle er sich in acht nehmen, der sei imstande, wenn er bemerke, daß man ihn um zwei Kreuzer Wertes ›überhalten‹ wolle, fuchswild zu werden und einem Arm und Beine zu zerschlagen. Es sei ihm dann jeder gleich, ob reich, oder arm, ob Jud' oder Christ; wenn der ›anfange‹, solle einen Gott behüten!« Zum abschreckenden Beispiel wurden noch einige wahrhaft schaudervolle Geschichten zum besten gegeben, aus denen allen die Lehre hervorging: man solle sich mit ihm in nichts 94 einlassen. Dem einen hatte er das Haus verboten für immer, weil er ihn bei einem Sack Haber um einen Kreuzer übervorteilt, den andern, der zu seiner Tochter auf die Beschau gekommen, habe er schimpflich zum Hause hinausgejagt, weil er beim Eintritt die »Mesusah« zu küssen vergessen, auf einen dritten hätte er sogar die Hunde hetzen lassen, weil er bei Tisch einen Fehler im »Benschen« (Tischsegen) begangen. Eines müsse man ihm aber doch nachsagen, was wahr sei: Wenn man den Randar in einer günstigen Zeit treffe und ihn zu behandeln wisse, so lasse sich ganz gut mit ihm auskommen, dann sei er die gute Stund' selber, wie ein ganz gewöhnlicher Mensch, und »ließe sich um den Finger herumwickeln«.
Kobi war mit dieser Auskunft nicht unzufrieden; sie war ihm reichlicher geflossen, als er selbst gehofft hatte. Unter einem Vorwande machte er sich los, dankte, aber nicht so, daß irgendwie ein herzlicher Ton hätte aufmerksam machen können, daß man ihm eine große Verbindlichkeit bewiesen, und empfahl sich dann. Mit der »Gelegenheit« fuhr er hierauf weiter, aber schon im zweiten Dorfe, durch das er kam, ließ er wieder halten; daselbst wohnte ein armer »Bestandmann«, von dem er zuweilen im Vorbeigehen, mehr aus Mitleid als aus wirklichem Bedürfnisse manches kaufte. Der Bestandmann kam weit herum, und Kobi schloß mit Recht, auch hier müsse er Bericht erhalten. Die nämlichen Bewillkommnungen, dieselben Ausrufe der Verwunderung, dieselben Fragen, wohin die »Beschau« sich richte, tönten ihm auch hier entgegen. Kobi beantwortete sie ganz in der nämlichen Weise, wie er dies kurz vorher getan hatte; er machte kein Hehl daraus, daß er wirklich »etwas« vorhabe, und wußte auch hier den Bestandmann so herumzuführen, daß dieser ohne die leiseste Ahnung mit einem Male im Randarhof stand und von dem zu reden und zu schnurren anfing, als wäre er eigens dafür bezahlt worden!
95 »Der sei,« hieß es, »der größte ›Grobian‹, der auf Gottes Erdboden existiere, sage den Leuten unaufgefordert Wahrheiten ins Gesicht, die sie lieber nicht hören möchten, geniere sich vor keinem Menschen, mache sich auch nichts aus Gott und der Welt. Damit wolle er aber nicht sagen, daß es im Randarhof etwa ›unjüdisch‹ zugehe: im Gegenteil, weit und breit, in halb Böhmen gäbe es kein so frommes Haus. Aber ein Grobian und ein Flegel sei er doch wie kein zweiter lebe; man müsse sich außerordentlich in acht nehmen, um ihn nicht zu erzürnen. Er selbst, der Bestandmann nämlich, habe mit ihm ein ›Stückl‹ vorgehabt, an das er sein Lebetag denken würde. Er habe einmal eine gute Partie Wolle von einem Bauern kaufen können, aber das Geld habe ihm dazu gefehlt! Da habe er gedacht: in der Nähe wohne Rebb Josel Süß, der Randar, dem's auf sechzig oder achtzig Gulden nicht ankomme, bei dem wolle er es versuchen. Wie der ihn aber angeschnauzt habe, das solle seinem größten Feinde nicht zukommen. Er wolle ihm das Geld in längstens drei Tagen wieder zurückbringen, habe er ihm in aller Demut und Bescheidenheit versprochen; er aber, der Randar nämlich, habe ihn fast nicht einmal ausreden lassen, geschrien und gelärmt mit ihm, als hätte er sein sämtliches Hab und Gut begehrt. »Meinst du, Jud',« habe er gesagt, »ich hab' mein Geld nur für dich? Ich hätte mit meinem Geld nur Schnorrer zu füttern? Und weiß ich nicht, daß ich mit deinen drei Tagen bis auf den letzten Pilsner Markt warten müßt'?«
»In dieser Stunde,« hieß es dann weiter, »hab' er ausgestanden, um alle Sünden abzubüßen, er hätte an Leib und Leben gezittert. Zuletzt sei die Tochter dazugekommen, auf die er große Stücke halte, und da sei er plötzlich ein ganz anderer geworden. Ob er sich vor dem Mädchen 96 geschämt, oder ob Gott eine bessere Laune über ihn geschickt hatte, könne er nicht angeben. Er sei aber über den Schreibtisch gegangen und habe ihm ohne ein weiteres Wort das Geld hingeworfen. Zuletzt habe er noch zu Tisch bleiben müssen. An den Tag werde er aber noch auf seinem Sterbebette denken.«
So erzählte der Bestandmann. Auch mit dieser Auskunft war Kobi zufrieden und dankte herzlich dafür. Wenn er es genau betrachtete, so lautete der Bericht, den er jetzt erhalten, doch ganz anders, als den er in der ersten Gemeinde empfangen. Der Randar hatte also bei all' seiner Wildheit und Grobheit doch einen »Zipf« – seine Tochter?
Noch in der dritten Gemeinde, der nächsten zum Randarhof, stellte sich Kobi ein; er wollte sichergehen. Mußte man da den Mann nicht am besten kennen? beriet er wieder in sich, wo man ihn öfter zu sehen bekam; wohin er doch gewiß an Sabbat und Feiertagen in die »Schul« kam? Auch in dieser dritten Gemeinde, deren Einwohner aus hier unberührten Ursachen die »Spöttler« hießen, fand Kobi bald Leute, die ihn nicht lange im Dunkeln ließen. Nachdem Kobi das übliche Kreuzfeuer der Fragen und Antworten glücklich überstanden hatte, gebrauchte er die nämliche Taktik, um zu seinem eigentlichen Zwecke zu gelangen. Auch hier, wo es zumeist der größten Kunst bedurfte, denn die »Spöttler« hatten feine Nasen, blieb er vollkommener Meister des Feldes.
»Zu dem ›Bauer‹ wollen Sie gehen?« hieß es mit mitleidig aufgeworfener Lippe, »mit dem ein Geschäft machen? Ist denn das ein Mensch, wie jeder andere, der Art und Sitte hat? Das ist so ein ›Sprostak‹, der nur mit seinesgleichen umzugehen versteht. Bauern sind ihm seine liebste Gesellschaft, mit einem ›ordentlichen‹ Menschen hält er es gar nicht aus. Schad' ist um seine Tochter, die verdient 97 etwas Besseres, als jahraus jahrein unter Bauern und Bäuerinnen ihr Leben zuzubringen. Wenn nur die schon aus dem Hause und versorgt wäre! Aber der ›Sprostak‹ wartet gewiß darauf, bis er ihr wieder einen Bauer geben kann, der nichts anderes kann, als mit ihm einen ›Franzefuß‹ spielen, oder sich darauf versteht, wieviel ›Stein‹ ein Ochs wiegt.«
Kobi war es sich sehr wohl bewußt, in welchen Abstufungen und Abweichungen das Lob des Randars bisher an sein Ohr geklungen. Von einem »Bären« und »Unmenschen« an, als den ihn sein Vater geschildert, bis herab auf den »Sprostak«, der »Franzefuß« mit sich spielen ließ, wieviel der merkwürdigsten Farben und Lichter gab es da nicht! All das zusammengenommen bewirkte aber für einen Augenblick, daß ihn ein Schwindel überfiel; es verwirrte ihn mehr, als es ihn aufhellte. Nachdem er so viel über eine und dieselbe Person hatte hören müssen, Dinge, von denen wir nicht den hundertsten Teil erzählen konnten, kam es ihm bisweilen vor, als wisse er eigentlich noch gar nichts über den Randar! Ja, wir müssen es offen gestehen, es überflog ihn einmal ein Gefühl von Furcht und Grauen; sein Unternehmen stieg dann vor ihm in fabelhaft großen Umrissen auf: es erschien ihm als ein Wagnis, dem vielleicht alle seine Kräfte nicht gewachsen seien!
Zum Glücke dauerte diese böse Anwandlung nicht lange. In Kobis Wesen lag etwas, was federgleich aufsprang, wenn es auch eine Zeitlang gedrückt worden; wir meinen sein frischer Mut. Er erholte sich auch bald von dieser Betäubung, und als er aus der Gemeinde der »Spöttler« wieder fortfuhr, war auch jede Spur des beengenden Gefühles verschwunden. Der einzige Gedanke: »Was möcht' mein Vater sagen, der mich klüger hält, als sich selbst,« verscheuchte wie ein reinigendes Gewitter die bösen Dünste der Entmutigung.
Es war der Abend niedergesunken, als Kobi in des 98 Randars Dorf einfuhr. Schon aus der Ferne erkannte er das Haus an der breiten behäbigen Fronte, die es gegen die Gasse bildete; es war eine Art Palast gegen die anderen Bauernhäuser, wie denn die alten Randarhöfe stets ein gewisses vornehmes Wesen an sich trugen. Jetzt begann in Kobis Brust sich wieder eine Beängstigung zu regen, die sein Herz pochen machte; lag doch das Lager des »Feindes« vor ihm! Dem Kutscher befahl er langsam an dem Hause vorzufahren, dann aber sogleich herabzuspringen und die Pferde auszuschirren. Pünktlich wurde der Befehl ausgeführt; die »Gelegenheit« schob sich langsam vorwärts, endlich stand sie.
In demselben Augenblicke trat aus dem Hause eine große vierschrötige Gestalt heraus, der man auf tausend Schritte den Randar angesehen hätte. Der Mann hatte ein wahres Löwenangesicht, kühne grau gefärbte Augenbrauen hingen ihm dräuend herab, während noch zum Überfluß ein breiter grauer Backenbart seine starkknochigen Züge umrahmte. Wenn man ihn ansah, mußte man denken, so hätte Simson »der Held« ausgesehen, wenn der nicht so frühe seiner Haare beraubt worden wäre.
Der Mann war überdies in Hemdärmeln und hatte über die Schulter ein blaues Schnupftuch geworfen, was ihn merkwürdigerweise viel größer und furchtbarer erscheinen ließ.
Kobi sprang rasch auf der Gelegenheit . . . er stand vor dem Feind!
»Guten Abend, Rebb Josel,« rief er laut, aber doch nicht unbescheiden. »Ich bin doch bei Rebb Josel Süß?«
»Den guten Abend zurück,« tönte es aus dem Munde des Mannes, aber so gewaltig und tief, daß Kobi um zwei Schritte zurückwich. »Was willst und begehrst du, Jüngel?«
Diese Anrede machte auf Kobi einen eigentümlich bewältigenden Eindruck. Daß ihn der Mann mit »per du« und mit »Jüngel« ansprechen würde, hatte er nicht erwartet. Aber zugleich überkam ihn einer jener wunderbaren 99 Gedankengriffe, die den Menschen oft in äußerster Gefahr an der Seele fassen und sie stille stehen und die Augen weit zu öffnen heißen!
Blitzschnell sah er ein, wie hier nur Entschiedenheit, ein festes und sicheres Wesen, ein furchtloses Auftreten etwas vermögen; er fühlte, mit dem Manne müsse man wie ein Ebenbürtiger verkehren, Stirn gegen Stirn, und vor allem es nicht durchblicken lassen, daß man sich vor ihm »fürchte«.
»Ich hätt' ein Geschäft mit Ihnen, Rebb Josel,« sagte Kobi mit sicherer Stimme, »wenn Sie nämlich Lust dazu haben.«
»Am Cholemoed mach' ich kein Geschäft,« sagte der Mann kurz, aber scharf betont, »komm nach Jontef (Feiertag), Jüngel.«
»Solange werd' ich kaum warten können,« meinte Kobi mit Freimut. »Ich gehöre zu den Leuten, die nicht gern etwas aufschieben. Lieber etwas heute, als morgen gar nichts.«
»Hast du auch die Maxim', Jüngelchen?« rief der Randar, aber mit einer Stimme, die wie das Geschmetter einer Trompete klang. Kobi war wahrhaft erschrocken. Hatte er etwas gesagt, was dem Randar mißfiel? Oder lag in diesen Donnerworten eine gewisse Billigung? Dennoch faßte er sich sogleich; er hielt es für das beste, in dem angeklungenen Tone fortzufahren.
»Ja, das ist meine Maxim',« sagte Kobi mutig, aber keineswegs altklug, »und ich hab' immer gefunden, daß man sich dabei am besten steht.«
Der Randar sprach darauf kein Wort; aber dafür kam hinter den buschigen Augenbrauen ein Blick hervor, so prüfend und zersetzend, daß ein anderer zehnmal in einem Atemzuge die Augen würde niedergeschlagen haben. Aber Kobi hielt ihn aus, trotzdem ihn dabei eine grimmige Eiskälte durchrieselte.
100 »Wenn das deine Maxim' auch ist, Jüngel, so kann von einem Geschäft schon die Rede sein,« sagte der Randar nach diesem Blicke, der nicht zu Kobis Ungunsten ausgefallen sein mochte; denn die Stimme klang jetzt bei weitem nicht mehr so grauenhaft; sie schien wie geölt. Kobi wollte auch bemerkt haben, daß eine Art Lächeln dabei über die harten Züge flog; alles das gab ihm höheren Mut, er fühlte, wie es ihm wieder warm wurde in den Adern.
»Spann aus!« rief Kobi dem Kutscher zu, der, dieses Befehles gewärtig, währenddem die Hälfte dieser Arbeit bereits vollführt hatte.
»Was soll's?« meinte der Randar, aber durchaus nicht unfreundlich. »Sind wir denn mit dem Geschäft nicht bald fertig? Es wird nicht soviel dran sein?«
»Das können Sie nicht wissen, Rebb Josel,« sagte Kobi, »einer, der sichergehen will, muß sich zu einem Geschäft Zeit nehmen. Ich lass' daher ausspannen; die Pferde sind ohnehin heut' schon sechs Meilen gelaufen.
Wieder fiel ein Blick unter den Augenbrauen des Randars auf Kobis ganzes Wesen; es mochte dem bärenhaft starken Manne sonderbar vorkommen, wie so ein »Jüngel« den Mut haben konnte, in dieser Weise mit ihm zu sprechen.
»Meinetwegen,« sagte er darauf, »aber jetzt mach, daß du hereinkommst.«
Das war für Kobi ein Zeichen voll guter Bedeutung; wenigstens legte er es sich so aus. Dennoch folgte er nicht sogleich der Einladung des Randars, wie ein anderer wohl eiligst getan hätte. Er blieb stehen.
»Nun, warum kommst du nicht?« rief der Randar plötzlich, als er dies merkte, barsch und grob. »Soll man dir das zweimal sagen?«
»Ich geh' nicht, Rebb Josel,« sagte Kobi mit großer Festigkeit, »und wenn ich Tausende an Ihnen zu verdienen 101 hätte. Ich bin in dem Hause hier nicht aufgenommen worden, wie ein Jud' den andern aufnehmen soll.«
»Wie meinst du das, Jüngel?« rief der Randar mit der ganzen Fülle seiner schreckhaften Stimme. »Bin ich etwa kein Jud'?«
»Verzeihen Sie mir, Rebb Josel, und nehmen Sie mir's nicht übel,« meinte Kobi, ohne im mindesten erschrocken aufzusehen, »ich bin's vom Hause aus gewohnt: Wenn ich in ein Judenhaus komme, so gibt man mir einen ›Scholem Alechem‹ (Friedensgruß).«
Da drang aus der breiten Brust des Randars etwas heraus, was man ferne grollendem Donner hätte vergleichen können; es dauerte eine geraume Weile, bis es den Weg aus den tiefsten Tiefen des gewaltigen Körpers herausgefunden, und als Lachen zum Munde hervorquoll.
»Meinst du das?« rief er übermächtig, »ich habe nicht geglaubt, Jüngel, daß du auch darauf etwas hältst. Meinetwegen also! Da hast du meinen ›Scholem Alechem‹.«
Er trat damit Kobi entgegen und streckte ihm die übergroße Hand entgegen.
»Alechem Scholem,« sagte Kobi freudig und schlug in die dargereichte Hand ein.
Das war ein Händedruck. Manche Leute hätten zwar gesagt, so könne nur ein grober »Sprostak« drücken; für Kobi war er aber in diesem Augenblicke unbezahlbar. Der Händedruck, so mußte er sich's innerlich sagen, den hatte er sich verdient! Er hätte dafür vieles nicht gegeben, daß er gerade so und nicht anders ausgefallen.
»Und jetzt komm und setz ab,« sagte der Randar und ging ihm voraus ins Haus.
Das ließ sich jetzt Kobi freilich nicht zweimal sagen. Er folgte dem riesigen Manne, der ihn durch ein großes Vorhaus führte, das von oben bis unten mit Getreidesäcken vollgestopft war, bis sie an die eigentlichen Wohnzimmer 102 kamen. Ehe sie eintraten, hatte Kobi schon die Stelle erspäht, wo an der Türpfoste, mit einem gläsernen Fensterchen versehen, die »Mesusah« glänzte, und sie mit der Hand berührt, die er dann andächtig zum Munde führte. Wieder fiel der Blick des Randars auf ihn; er fühlte die drohenden Augen auf sich ruhen, aber der Blick brannte nicht mehr, jagte ihm auch keine Eiskälte ein; er war fast milde.
Die erste Stube, durch die er mit dem Randar kam, war die »Schenkstube«. Neben trinkenden Bauern fand er allerlei hergewandertes »Schnorrervolk«, wie es jeder Abend aus allen vier Weltenden in den Randarhof zusammenwehte, Männer, Weiber und Kinder. Es waren das grauenhafte, vom Schmutze des Elends und des Weges verwitterte Gestalten, die da zur Nachtherberge versammelt waren. Dennoch nahm Kobi keinen Austand, trat auf jeden der Männer zu, sie mit einem herzlichen »Scholem Alechem« begrüßend, und das alles mit jener gewinnenden Freundlichkeit, die in dem »Schnorrer« nur den ärmeren Mitbruder sah.
Rebb Josel sah diesem Tun mit einer Art Erstaunen zu; es mochte ihm noch nicht vorgekommen sein, daß sich ein »feines Jüngel« so mit dem Schnorrervolke »herstelle«. Die stark gehämmerten Züge seines Antlitzes nahmen dabei einen eigentümlich beobachtenden Ausdruck an.
In der eigentlichen Wohnstube angekommen, sagte der Randar:
»Jetzt setz dich, Jüngel, und laß uns von deinem Geschäft reden. Ist etwas daran zu verdienen?«
»Je nachdem . . .« sagte Kobi, »wenn's nicht für beide von Vorteil sein könnte, wär's dann ein Geschäft?«
Das sprach Kobi übrigens nicht mit dem bisher behaupteten Mute. Daß der Randar wirklich das Geschäft verhandeln wollte, erschien ihm keineswegs als ein gutes Zeichen.
»Da hast du wieder recht,« lachte der Randar. »Zu 103 einem Geschäfte gehören zwei: einer, der gewinnt und der andre, der gewinnen läßt.«
»Wie aber, wenn alle zwei gewinnen?« entgegnete Kobi wieder beherzter.
»Das versteh' ich nicht, das ist mir zu hoch,« sagte der Randar grob. »Mit mir, Jüngel, mußt du deutsch reden.«
»Verzeihen Sie, Rebb Josel,« meinte Kobi bescheiden, »wenn ich Ihnen heute darüber keine Auskunft geben kann; morgen aber, wenn das Geschäft vorüber, will ich es Ihnen gleich sagen.«
Dem Randar schien diese Ausflucht einzuleuchten; er brach von dem berührten Gegenstande ab.
»Es wird heut' zu spät sein, vom Geschäft zu reden,« meinte er sodann. »Wenn du willst, kannst du hier bleiben über Nacht, Jüngel, es soll dir und dem Kutscher an nichts fehlen. Das Pferd werd' ich in den Stall führen lassen.«
»Ich nehm's mit Dank an,« sagte Kobi bestimmt, »ich glaub' selbst, es ist besser, wir lassen das Geschäft bis morgen ruhen; über Nacht kann man vieles ausschlafen.«
Sein Herz schlug nach diesen Worten wieder freier; er hatte nun das Recht, die Erlaubnis, hier zu bleiben. Ohne daß ihm der Feind den geringsten Widerstand entgegensetzte, hatte er sich mitten im Lande festgesetzt. »Wird er dich von hier vertreiben können?« fragte er sich.
»Hast du Hunger, Jüngel?« fragte ihn hierauf der Randar.
»Ich komm' heute schon weit her, und in die ›Garküchen‹, wo ich durchgekommen bin, hab' ich nicht gehen wollen,« meinte Kobi, der in diesem Augenblick wohl wußte, warum er dieses sagte.
»Warum nicht, Jüngel?« rief der Randar wieder mit seiner schreckhaften Stimme, aber zugleich mit einem gewissen lauernden Blick hinter den Augenbrauen. »Warum nicht? Kochen dir die Garküchen vielleicht nicht gut genug? Bist du vielleicht an ›auswärtige‹ Kost gewöhnt?«
104 Kobi verstand den Randar recht gut, was dieser unter »auswärtiger« Kost meinte.
»Ich will die Kost und jene nicht,« sagte er mit dem wahrsten Ausdrucke in Stimme und Gebärde, »mir ist am liebsten, wenn ich zu Hause mein Essen haben kann. Darüber geht nichts, und dann kostet es auch nicht so viel.«
Dem Randar mochte diese Antwort nicht mißfallen haben: seine Stimme stieg wieder von den tiefen Tönen der Grobheit zu den etwas höhern seiner gewöhnlichen Barschheit hinauf.
»Zu essen sollst du bekommen, Jüngel,« sagte er, »daß du genug hast, und schmecken soll's dir auch, wie ich hoffen will, denn es ist alles von meiner Tochter gekocht.«
So sehr Kobi bis zu diesem Augenblick als Meister des Schlachtfeldes sich behauptet hatte, so verlor er beinahe durch die einzige Nennung der Tochter alle bisher errungenen Vorteile, ein Umstand, der, wie dies die Kriegsgeschichte aller Zeiten dartut, auch bei den größten Feldherren aller Jahrhunderte sich findet.
»Ihre Tochter, Rebb Josel, kocht?« rief er unüberlegt heftig, in einem Tone, der zu dem bisher eingehaltenen in zu lautem Gegensatze stand, als daß er nicht hätte auffallen sollen.
»Was hast du, Jüngel?« fragte der Randar, »kommt dir das so sonderbar vor, daß ein Mädchen kocht?«
Kobi hatte wieder die alte Fassung errungen; er hatte sich nur in einem unbewachten Augenblick weiter fortreißen lassen in das Schlachtgewühl, als es die Klugheit erlaubte.
»Sonderbar kommt es mir nicht vor,« meinte Kobi ruhig, »weil es sich von selbst versteht; aber doch ist es mir wie ein Wunder. Wissen Sie, Rebb Josel, wie es unsere Mädchen in den Gemeinden jetzt anfangen mit dem Kochen? Vier Wochen vor der Hochzeit läßt man aus Prag sich ein dickes Kochbuch bringen, und nun werden sie von der Mutter 105 in die Küche hinausgenommen – und dann werden sie für ausgelernte Köchinnen ausgegeben. Wenn dann der Bräutigam zufällig kommt, so findet er sie mit dem Kochlöffel in der Hand, oder das Gesicht eingerußt. Haben da unsere Weisen nicht recht, daß sie einem Manne erlauben, sich von seinem Weibe zu scheiden, wenn sie ihm eine ›angebrinzelte‹ Suppe auf den Tisch setzt?«
»Sagen das wirklich unsere Weisen?« rief der Randar und lachte dabei so überlaut, daß der Lehnstuhl unter ihm Zuckungen bekam.
»Es steht im Talmud,« beteuerte Kobi.
Der Randar lachte noch unbändiger.
»Da sieht man,« rief er, »welche Köpfe sie vor alten Zeiten auf sich gehabt haben. Sie haben schon damals nicht gern eine ›angebrinzelte‹ Suppe gegessen; darum haben sie das angeordnet. Nun, Jüngel, meine Tochter wird dir nichts Angebrinzeltes auf den Tisch setzen, da drauf kannst du dich verlassen.«
»Mir?« klang es fragend in Kobis Innern. »Was meint er damit?« Aber er hatte nicht Zeit, diesen Gedankenfaden weiter fortzuspinnen.
»Du sollst das gleich sehen,« sagte der Randar. »Mirl,« rief er mit Donnerstimme, »komm 'n bissel herein, Mirl!«
Gleich darauf öffnete sich eine Tür, und auf der Schwelle erschien ein Mädchen, schön und groß, von der Glut des Feuers lieblich gerötet, wie Kobi nie eines gesehen. Alles Blut sprang ihm vom Herzen zum Kopfe, sein Gesicht mußte selbst in die tiefste Röte getaucht sein; die Augen brannten ihm. Einen solchen Anblick hatte er nicht erwartet!
»Mirl,« sagte der Randar, »koch uns etwas, wir wollen bald essen. Das Jüngel da ist unser Gast, und bleibt auch über Nacht da. Aber laß dich nicht beschämen; das Jüngel da kommt aus einer Gemeinde, wo die Mädchen, wenn sie kochen wollen, ein Kochbuch aus Prag müssen holen lassen. 106 Da nimm dich also in acht, denn er wird's besser gewöhnt sein, als wir Bauern.«
»Ja, Vater,« sagte Mirl mit wohlklingender Stimme, die wunderbar an Kobis Herz griff; »das Essen ist auch bald fertig, du weißt, ich koch' immer etwas mehr für etwaige Gäste.«
Damit wandte sie sich ab; im Fortgehen glitt ein flüchtiger Blick über Kobi. Erriet sie, wer er war? Was er wollte? . . .
Als das Mädchen sich entfernt hatte, entstand eine gefährliche Stille zwischen den beiden Männern. Kobi wäre es unmöglich gewesen, in diesem Augenblicke einen Laut hervorzubringen, so ungestüm pochte sein Herz, so unbändig wogte der Strom seines Blutes. Alle Geister der Jugend waren über ihn gekommen, jene starken, bezwingenden Mächte, die zwischen vier Menschenaugen ihr luftiges Reich aufgeschlagen haben; die, was sie einmal ergriffen, entweder himmelhoch tragen oder in bodenlose Tiefen schleudern, die kein Senkblei noch ergründet hat.
»Wie gefällt dir mein Mädel? Was sagst du zu ihr?« fragte plötzlich der Randar.
Diese Frage verwirrte Kobi noch mehr; mühsam rang er nach Fassung, aber die tiefe Röte, in der sein Gesicht brannte, von dort verbannen, vermochte er doch nicht.
»Was soll ich sagen, Herr Randar?« meinte er stotternd. »Wenn ich sagen möchte; sie ist das schönste und lieblichste Mädchen, was ich in meinem Leben zu sehen bekommen habe, möchten Sie mir es glauben? Oder schickt es sich, daß ich es sage?«
»Sag's nur geradezu heraus« rief der Randar stark, »ich weiß am besten, was an meiner Tochter ist.«
»So sag' ich,« rief Kobi mit vor Innigkeit bebendem Tone, unter dem sein ganzes Wesen erzitterte, »daß Gott es mit dem sehr gut meinen muß, dem er sie als Weib beschert.«
107 Das Wort war gesprochen; über Verstellung und Kunst hatte es siegreich sein Banner gepflanzt; wie ein Bergstrom, den ein plötzliches Hochgewitter schwellt, kam es dahergerauscht, und achtete nicht des bis nun so sorgfältig Gehegten und Gepflegten. Jede Reue kam nun zu spät; Kobi empfand das in dem nämlichen Augenblicke. Gott der Lebendige wußte, welche Verwüstung das wilde Bergwasser angerichtet, – dennoch hätte Kobi es nicht unausgesprochen gewünscht. Furchtsam blickte er nach dem Randar hin, um an dessen Zügen zu sehen, wie das Wort gewirkt hatte . . . Zu seinem höchsten Erstaunen bemerkte er aber, wie dort eine merkwürdige Veränderung vorgegangen; es spielte ein Lächeln und Behagen zwischen diesen geschmiedeten Muskeln, die sie milde, wie von Sonnenlicht bestrahlt, erscheinen ließ.
»So wahr ich Josel Süß heiße,« sagte der Randar mit mühsam erzwungener Stärke, »du hast recht, Jüngel! Wer die kriegt, bekommt ein Weib! Mehr sage ich nicht; es ist nicht meine Sach', über ein Kind viel zu reden . . . Aber das kann ich dir sagen: Seit mein Weib tot ist, hab' ich keine Minute gefühlt, daß sie mir fehlt. Sie füllt jeden Winkel im Haus mit Leben aus. Oft hat's mir den Sinn durchfahren, daß sie kein Jüngel geworden ist, daß ich doch jemanden gehabt hätte, dem ich den großen Hof hätte übergeben können. Aber sie ist mir doch tausendmal lieber als fünfzig Knaben . . . sie sitzt mir im Herzen und macht mir Freude, wie nichts in der Welt . . . Gott soll sie mir behalten!«
Gleich darauf, als hätte er sich zu viel erniedrigt, indem er sein starkes Wesen unter dem Eindrucke der väterlichen Zärtlichkeit Einbuße hatte leiden lassen, meinte er mit seinem gewöhnlichen Tone:
»Wie steht der Haber bei dir zu Hause?«
Kobi konnte nicht sogleich antworten, so bewegt hatte ihn die Rede des harten Mannes, der als »Bär«. »Wolf« 108 und »Unmensch« in den Erzählungen der Gemeinden spukte. Hätte sich die Mutter noch gefürchtet, mußte er innerlich sich fragen, mich zu ihm zu schicken, wenn sie ihn so reden gehört hätte? Aber gut war es doch, daß der Randar dem Gespräch eine so kühle Wendung gab.
»Nun, Jüngel?« fragte er noch einmal, »wie steht bei dir der Haber zu Hause?«
»Vier Gulden dreizehn Groschen, Herr Randar,« beeilte sich Kobi zu sagen.
»Nicht höher?«
»Am letzten Wochenmarkt,« teilte Kobi noch mit, »hat man so viel, als man will, um diesen Preis haben können.«
»Verstehst du dich auf Haber, Jüngel?« fragte der Randar fast verwundert.
»Es ist zwar nicht mein Geschäft,« meinte Kobi, »aber man kann nicht wissen, wie einem so etwas einmal unter die Hände kommt. Dann möchte ich nicht gern in ein Unglück geraten.«
»Du scheinst vielerlei Sachen zu verstehen, Jüngel,« sagte nach einer Weile der Randar mit einem so bedeutsamen und feinen Lächeln, wie es die Spöttler dem »Sprostak« nicht zugetraut hätten.
In Kobi aber drängten sich, seitdem er den verhängnisvollen Ausspruch getan, Geister auf Geister, die nach Erlösung schrien; es überkam ihn eine Art von Ermüdung, da zu sitzen und mit dem Randar über den Preis des Habers zu schwatzen, während er doch nicht wußte, ob sie grade, um derentwillen er das Wagnis unternommen, einverstanden damit sei, daß er bleiben, daß er wagen dürfe? Denn wie trefflich der »Min« es bisher verstanden haben mag, die geheimsten Absichten seiner Mission vor uns, ja vor sich selbst in Dunkel zu hüllen, jetzt, das fühlte er, war der Augenblick gekommen, der seine kühnen Entwürfe entweder der zerstörenden Lächerlichkeit des Nichterfolgs oder dem glücklichsten 109 Gelingen anheimgeben mußte. Ein Vater, fuhr es ihm blitzschnell durch den Sinn, der seine Tochter so hoch stellt, werde doch nicht seinen eigenen Willen als allein maßgebend ihr aufdrängen, wenn es sich darum handle, ihre Lebenszukunft festzustellen? Werde er nicht auch auf die Stimme seines Kindes horchen? Wenn sie nun nicht wollte?
Eisige Schauer erfaßten ihn; er mußte nach der Stirne greifen, sie war kalt. Wohin hatte er sich begeben? In welches verwegene Spiel sich eingelassen? Er, der Sohn Wolf Mins, wollte die einzige Tochter des steinreichen Randars – –?
Doch dieselben Geister, die ihn bisher geleitet, diese starkgemuten Geister bannten ebenso schnell, als sie gekommen, ihre Feinde, die bange Furcht und die zagende Entmutigung aus seiner Seele. Der Min war sich es klar bewußt, daß er sein Haupt über dem Wasser halten müsse. Zu viel hing davon ab, ob er ausharrte oder beschämt davonschlich!
Wenn sie nun nicht wollte?
Darüber mußte Kobi bald Licht haben, das mußte noch vor dem Essen entschieden sein. Unter dem Vorwande, nach seinem Kutscher sehen zu müssen, ging er hinaus. Das flackernde Licht, das über den Hausflur fiel, zeigte ihm den Weg zur Küche; ein flüchtiger Blick hatte ihn belehrt, daß die, die er suche, darin sei. Rasch trat er hinein und auf das erschrockene Mädchen zu.
»Verzeihe mir,« sagte er in fliegenden Worten, aber voll Innigkeit und Wahrheit, »wenn ich dir vielleicht ungelegen komm'. Deinetwegen bin ich da, deinetwegen bin ich gekommen. Sieh mich an und sage mir dann: darf ich bleiben und mit deinem Vater reden? Oder soll ich gehen? Wenn ich gehen soll, sag mir es gleich, ich möchte nicht zwei Minuten länger leben und nicht wissen, was entweder mein Glück für ewig machen wird, oder mir sehr leid, sehr wehe tun möchte.«
110 So sprach Kobi, und indem er diese Worte mehr flüsterte als betonte, war dabei sein ganzes Wesen von jenem Schimmer innerster Neigung überglüht, die mächtiger das Herz ergreift, als die feurigsten Schwüre. Das mußte das liebliche Mädchen auch fühlen in diesem Augenblicke; seine Blicke flogen in holder Verwirrung umher, bis sie an dem Jünglinge haften blieben, der zu ihr sprach, wie noch keiner gesprochen.
»Hab' ich dich beleidigt?« fuhr Kobi in demselben Tone fort, »so will ich gehen. Aber ich denke, das kann kein Mädchen beleidigen, wenn ein Mann um sie wirbt. Sag, darf ich bleiben?«
»Ich kann nichts sagen, wenn's mein Vater nicht erlaubt!« stotterte Mirl und wagte es, dem jungen Manne dabei in die Augen zu sehen.
»Du siehst ja, dein Vater selbst heißt mich hier bleiben . . .« sagte Kobi, »aber wenn du es nicht zugibst, was hab' ich dann davon? Und wenn er hundertmal sagt: Nimm sie« und du willst nicht, meinst du, ich möcht' nur einen Finger nach dir ausstrecken?«
»Mein Vater ist schon so oft betrogen worden,« meinte Mirl verlegen, »daß ich glaub'!«
»Daß ich ihn auch betrügen werde? . . .« ergänzte Kobi, »du kannst das nicht glauben, Mädchen! . . . So lieb mir mein Vater und meine Mutter sind, du darfst das von mir nicht glauben. Ich weiß, was du deinem Vater bist; meinst du, wenn ich nicht überzeugt wäre, wir zwei zusammen könnten ihn noch glücklicher machen, ich würde mich unterstehen, so mit dir zu reden?«
Mirl richtete sich hoch auf nach diesen Worten; Tränen glänzten in ihren Augen, mit bebender Stimme sagte sie:
»Kann man sich wirklich auf dich verlassen?«
»Ich schwör' nicht,« sprach Kobi innig, »aber glaub mir.«
»So bleib!« sagte sie leise, fast unvernehmbar.
111 Unwillkürlich suchten und fanden sich zwei Hände und konnten fast nicht voneinander lassen. Kobi aber ließ zuerst ab . . .
Als er wieder in die Wohnstube kam, fand er den Randar, den Kopf in die Hand gestützt, wie in tiefes Nachsinnen versenkt. Er fuhr auf:
»Nun, ist dein Kutscher versorgt?« fragte er.
»Ganz gut, Rebb Josel,« entgegnete Kobi, »dem Pferd schmeckt Ihr Haber außerordentlich gut.«
»Das glaub' ich,« meinte der Randar mit einem gewissen Stolze, »mein Haber ist auch gut.«
Die Zeit bis zum Essen verstrich unter mannigfaltigen Gesprächen. Der Randar kam mit keinem Worte auf das Geschäft zu reden; dennoch handelte es sich dabei um nichts anderes, als was Bezug hatte auf Handel und Wandel. Es war eine Art Prüfung, die der Randar mit ihm anstellte, und außerordentlich gelehrte Männer mit großen Bibliotheken im Kopfe, woraus sie auf ein Quentchen auszurechnen wissen, wieviel Fleisch, Milch und Brot auf eine arme Menschenseele kommen, wenn ihr das Glück beschert ist, sich dieser Dinge erfreuen zu dürfen, hätten dabei Gelegenheit gehabt, die Fülle von Kenntnissen aus allen Zweigen der Landwirtschaft, der »Nationalökonomie«, ja sogar der Statistik zu bewundern, die die beiden entwickelten. Vom eisernen Nagel, der unbeachtet auf der Gasse lag, bis hinauf zu dem Sack Wolle, der auf dem Schiff nach England hinüberschwamm, vom Hasenhäutchen an, das der Hausierer mühsam den Händen des Waldhegers entrang, bis zum Runkelrübenzucker, der in Tausenden von Fässern in den Prager Fabriksniederlagen aufgespeichert lag, wußten die beiden Bescheid. Kobi zeigte sich als einen offenen Kopf, der mit hellen Augen sich in der Welt umgesehen, viel beobachtet und noch mehr in sich bewahrt hatte, wenn es auch nicht im Zusammenhange mit seinem Geschäfte stand.
112 Der Randar sprach kein Wort des Lobes, aber Kobi hörte es ihm an, daß ihn seine Antworten befriedigt haben mußten.
Diese Prüfung dauerte bis zum Essen. Mirl kam und deckte auf den Tisch ein schneeweißes Linnen, stellte darauf drei Teller und Eßgeräte und brachte zu guter Letzt noch einen mächtigen Krug Bier. Dabei folgte Kobi jeder ihrer Bewegungen; es lag in jeder ein besonderer Reiz, oder wie es unübersetzbar in der Sprache des Ghettos heißt: ein »Tam«, wie er ihn noch nie gesehen.
Das Essen war reichlich und gut, und Kobi, den Liebesqual und Mühe hungrig gemacht hatten, ließ ihm auch alle Gerechtigkeit widerfahren. Er lobte die Speisen nicht, weil dieses Lob vielleicht zu auffallend geklungen hätte, aber er bewies es durch die Tat, was er von Mirls Küche hielt. Er ließ sich auch nicht »zwingen«, aß seinen Teller rein ab, und sprach auch dem Biere zu.
»Das ist schön von dir,« sagte der Randar einmal, den der frische Appetit seines Gastes offenbar freute, »daß du keinen ›Derech Erez‹Leute, die auf die »Beschau« kommen, lassen gewöhnlich einen Teil der Speisen auf dem Teller zurück, vielleicht, um nicht den Schein großer Eßlust auf sich zu laden. Man nennt dies »Derech Erez« (Landessitte). auf deinem Teller zurücklassest. Wenn der Mensch hungrig ist, soll er sich nicht schämen und soll essen. Ein Mädchen ist was anderes; die wird von der ganzen Welt gemustert und muß darauf sehen, daß sie für keine Esserin gilt. Denn das könnt' ihr einmal schaden. Warum soll sich aber der Mann genieren?«
Zufällig blickte Kobi auf Mirls Teller; die Speise war beinahe unberührt, und das Mädchen errötete in diesem Augenblicke unbegreiflich stark.
Als abgespeist war, sagte der Randar zu Mirl:
»Ruf jetzt einen von den ›Schnorrern‹ herein.«
113 Kobi verstand, was dieser Ruf bedeutete. Der Randar wollte ihn einer neuen Prüfung unterwerfen, wahrscheinlich ihn mit dem »Benschen« (Tischsegen) beehren; denn, da sie nur zwei Männer waren, gehörte wenigstens noch ein dritter hinzu, um »Mesumen benschen«, d. h. in Gesellschaft laut beten zu können.
Kobi hatte das Rechte getroffen. Als der Schnorrer gekommen, sagte der Randar:
»Jetzt bensch, Jüngel.«
Kobi schenkte erst dem Randar, dann dem Schnorrer und sich selbst das Glas mit Bier voll, und indem er es aufhob und sich dabei leicht gegen den Randar verneigte, rief er mit lauter Stimme in der heiligen Sprache Zions:
»Mit Erlaubnis des verehrten Hausherrn: Gelobt sei, von dem wir Speise erhalten!«
Mit kräftigem Tone wiederholten die zwei anderen das: Gelobt sei, von dem wir Speise erhalten, worauf Kobi mit lauter Stimme den langen Tischsegen so rund und geläufig hersagte, daß auch nicht eine Silbe »überschluppert« schien. Kein Landrabbiner hätte mit mehr Weihe und Kraft von Anfang bis zum Ende das langatmige Gebet zustande gebracht.
Zum Schlusse erhob Kobi noch einmal das Glas, und indem er die vorgeschriebene Segensformel darüber sprach, nippte er davon und verbeugte sich dann nochmals gegen den Randar, dem er mit einem: »Zur Kraft« dankte. Als Kobi hierauf nach Mirl blickte, fand er ihr liebes Antlitz von Freude strahlend; er hatte also »gut« gebenscht?
Nachdem Mirl wieder abgeräumt hatte, meinte der Randar, der sich weit und breit in seinem Lehnstuhle streckte, indem er mühsam das Gähnen unterdrückte:
»Was machen wir jetzt bis zum Schlafengehen? Kannst du einen ›Franzefuß‹ spielen, Jüngel? Du verstehst dich ja auf alles.«
114 Kobi besann sich einen Augenblick, ob er auf diese kitzlige Frage mit Ja oder Nein antworten solle; aber ebenso rasch sagte er darauf:
»Wenn man mich grade benötigt, lass' ich mich auch zu einem ›Franzefuß‹ gebrauchen.«
»Gut, Jüngel,« meinte der Randar, der sich zurechtsetzte, »wir wollen sehen, was du kannst.«
Mirl brachte Karten und Kreide. Der Randar ergriff das »Pasch« Karten, blätterte sie mit kunstgeübter Hand durch und »gab« dann aus; auf Kobi waren merkwürdigerweise lauter schlechte Blätter gefallen.
Ehe das Spiel nun begann, griff der Randar in seine Hosentasche und legte einen silbernen Zwanziger neben sich, Kobi griff ebenfalls nach Geld, brachte aber nur einen kupfernen »Scheinkreuzer« heraus, den er gleichfalls in bescheidener Ferne auf den Tisch fallen ließ.
»Was soll das?« rief der Randar mit dem ganzen Ungestüm seiner derben Natur, »meinst du, ich bin ein Schnorrer, daß ich mit dir um einen Kreuzer spielen werde? Du spielst mit Josel Süß, Jüngel! Verstehst du das?«
»Und ich spiel' um nicht höher,« sagte Kobi entschieden. »Das können Sie tun, Rebb Josel, ich tu's nicht.«
»Ich spiel' aber nicht um einen lumpigen Kreuzer,« schrie der Randar zornig.
»Zwingt Sie denn einer, Rebb Josel?« meinte Kobi lächelnd.
Der Randar murmelte etwas zwischen den Zähnen, was Kobi entging, dann ergriff er die Kartenblätter und sagte in einem ruhigeren Tone: »Fang an, Jüngel. Ich will dir zu Gefallen deinen Kreuzer wie einen Zwanziger ansehen. Spiel aus!«
Kobi verstand sich vom väterlichen Hause aus vortrefflich auf dieses in den Gassen des Ghettos besonders beliebte Spiel, er konnte jetzt den Meister zeigen! Ohnehin waren 115 ihm »schlechte« Karten zugefallen . . . wie leicht konnte er da seine Geschicklichkeit, ja seinen Verstand glänzen lassen! Wenn er aber gewann, beleidigte er damit nicht seinen Gastherrn? Gebot es nicht schon die Artigkeit, daß er den Randar gewinnen ließ? Wer aber stand ihm dafür, daß der Randar mit seinen scharfen Augen ihn nicht durchblicken würde, Heuchelei, Gefallsucht und dergleichen dahinter sehen könnte? Dennoch entschloß sich Kobi für das letztere; er wollte den Randar gewinnen lassen. Von zweien, die miteinander spielen, kam er innerlich zum Schluß, will jeder gewinnen und freut sich, selbst wenn ihm nur ein kupferner Kreuzer zufällt. Sollte der Randar anders geartet sein?
Kobi wandte nun die Kriegslist an, daß er sich trotz der schlechten Karten anfangs als Meister des Spieles bewies; bald darauf ließ er die Flügel hängen, machte auffällige Fehler und zog sich eine Niederlage zu, die er wohl vermeiden konnte. Als er beim Umblättern der Karten zufällig nach Mirl sah, bemerkte er einen Zug sorgenvoller Traurigkeit auf ihrem Antlitze; unmerklich, aber nur ihm verständlich, glaubte er sie ihm zuwinkend gesehen haben. Was wollte sie? Um Gottes willen! Hatte er irgend einen Fehler begangen, vor dem sie ihn warnte? Welchen? Er sah schärfer nach ihr hin; die Traurigkeit war noch nicht verschwunden, sie winkte ihm aufs neue! Nun wußte er es deutlich und klar.
Beim zweiten Spiel beschenkte ihn das Geschick mit besseren Karten; allem Anscheine nach konnte er nun so leicht gewinnen, wie man die Hand umdrehte; dennoch beschloß er bei der einmal angenommenen Kriegslist zu verharren, nämlich sich selbst zu schlagen. Der Randar sollte nicht meinen, sein Herz klammere sich an einen Zwanziger. Diesmal beging er noch auffälligere Fehler; der Randar war auch kein Kind im Spiele und benützte jede Blöße Kobis mit geübtem Scharfblicke. Wieder sah Kobi nach geendigtem 116 Spiele nach Mirls Angesicht. Jener Zug der Traurigkeit lag noch immer darauf, es kam ihm sogar vor, als ob sie ihn mitleidig anblickte . . . Sie winkte nicht mehr. Lebendiger Gott! Was hatte er begangen? Er war sich doch keines Fehlers bewußt! Verwirrt, mit Schwindel im Kopfe, dunkel vor den Augen, begann er das dritte Spiel.
Kobi spielte wieder schlecht; mitten darin sah er zu Mirl hinan; nun bemerkte er gar Tränen in ihren Augen. Zugleich fühlte er, wie unter dem Tische sein rechter Fuß leise, fast zu leise berührt war. Er sah noch einmal nach ihr hin; tiefes Erröten zog blitzschnell über das holde Gesicht, um gleich darauf dem traurigen Zuge wieder Raum zu gönnen. Nun trat Todesschweiß auf Kobis Stirne, das Blut gerann ihm in den Adern. Was wollte sie? Wovor warnte sie ihn? Denn das empfand er im Tiefsten seiner Seele – sie warnte ihn! Etwa, daß er den Vater gewinnen ließ? Konnte das ein solches Vergehen in ihren Augen sein? Zum ersten Male im Leben ratlos bemächtigte sich seiner ein verzweifelndes Gefühl, immer düsterer zog es vor seinen Augen auf. Nacht umgab ihn, aus der nur Mirls holde Schönheit wie ein Stern glänzte. Aber ohne es zu wollen, hatte er während dieses Zustandes einige Meisterwürfe getan; erstaunt bemerkte er, daß das Spiel zu seinen Gunsten sich umgestaltet hatte.
Als er jetzt wieder nach Mirl sah, war jener Zug verschwunden, ein mildfreudiges Lächeln strahlte über ihr ganzes Wesen. Meinte sie es so? jubelte es stürmisch in der angstbefreiten Brust Kobis. Nun sollte sie mit ihm zufrieden sein, der Randar inne werden, daß er einen wirklichen Meister vor sich hatte. Kobi fühlte sich neugestärkt.
In den darauffolgenden Spielen zeigte sich die neue Kriegsweise Kobis in ihrer ganzen Macht und Bedeutung; mit den besten Karten konnte der Randar nicht gegen ihn aufkommen. Zwanziger aus Zwanziger lagerten sich zur 117 Seite Kobis hin, wie Siegesbeute aus blutiger Schlacht davongetragen, aber Kobi hütete sich sehr, durch irgend eine freudige Miene die Regungen seines Inneren zu verraten. Sein Leitstern blieb Mirls Angesicht, es leuchtete noch immer der lächelnde Zug darüber; mit jedem neuen Siege verschönerte es sich, und kein Wunder wäre es gewesen, wenn Kobi in banger Verwirrung in neue Fehler gefallen wäre.
Endlich nach dem siebenten Spiele warf der Randar mit einer hastigen Bewegung die Karten zusammen und sagte mit breitem Gähnen:
»Jetzt ist genug gespielt; du hast mich ohnehin schon zum Bettler gemacht, Jüngel. Gehen wir schlafen.«
Kobi schob das gewonnene Geld zusammen und stand auf; er bemerkte wohl, daß ihn der Randar dabei fixierte. Aber er tat das Geld nicht in die Tasche, er behielt es in der Hand und ging damit gradezu auf die Tür, die in die Schenkstube führte.
»Wohin willst du?« rief ihm der Randar nach.
Kobi öffnete, ohne zu antworten, die Tür und rief mit lauter Stimme in die Schenkstube hinein:
»Ist einer von den Gästen noch auf? Der komme her.«
Alsbald kamen aus den Winkeln der finsteren Stube, wo sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten, allerlei nächtige Gestalten herbeigeschlichen, furchtbar anzusehen in ihren nicht weniger als schönen Trachten, und stellten sich an der Tür auf.
»Was wollen Sie, gnädigster, bester Herr?« meinte einer in kläglich-schläfrigem Tone.
»Da,« sagte Kobi, indem er einem das Geld gab, »verteilt das unter euch, aber friedlich und ehrlich. Hört Ihr?«
Da hätte man das Heulen und Kreischen der so reich Beschenkten hören sollen! Es war, als ob hungrige Wölfe mitten im Winter auf Beute gestoßen wären, die sie nun in Gemeinschaft verzehrten.
118 Als Kobi sich wieder umwendete, stand ihm der Randar mit furchtbar drohendem Angesicht gegenüber. Kobi erbebte.
»Was hast du mit meinem Gelde getan?« fragte er mit der alten schreckhaften Stimme.
Wieder sah Kobi auf Mirl, die neben ihrem Vater stand und, wunderbar! noch immer dasselbe strahlende Lächeln auf ihren Lippen trug. Das gab ihm wieder neuen Mut.
»Ich hab's weggegeben an arme Leute, Rebb Josel, die's besser brauchen können, wie Sie und ich,« sagte Kobi mit ruhig entschiedenem Tone.
»Weißt du, daß du ihnen fünf silberne Zwanziger geschenkt hast!« fuhr der Randar fort. »Darf ein Geschäftsmann so verschwenden? Liegt's in deinem Vermögen, so viel an arme Leute auszugeben?«
»Mit Spielgeld,« meinte Kobi und richtete seine Augen fest auf den Randar, »mach' ich's niemals anders, das behalt' ich nicht bei mir; ich möcht' glauben, es brennt mir die Tasche durch.«
»Ist das auch eine von deinen Maximen?« sagte der Randar schneidend kurz.
»Ja, Herr Randar!« entgegnete Kobi, »und sie wird's auch bleiben.«
Der Randar fand, wie es schien, keine passende Gegenrede darauf; plötzlich wandte er sich zu seiner Tochter um:
»Mirl,« sagte er, »zeig dem Jüngel, wo er schlafen kann. Morgen wollen wir von seinem Geschäft reden. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Herr Randar,« rief ihm Kobi nach.
Mirl zeigte ihm ein schon offenes Bett, das in der angrenzenden Wohnstube stand. Im Fortgehen bestrahlte ihn noch einmal das milde Lächeln ihres Antlitzes; es war, als ließe es eine gute Botschaft, ein Beseligendes zurück für die Träume der Nacht, die zwischen jetzt und dem kommenden Morgen als Brücke lag.
119 Kobi ging noch einige Zeit sinnend in der großen Wohnstube auf und nieder; er überdachte den heutigen Tag. Konnte er damit zufrieden sein? Zweifel und Hoffnungen wogten gleichmäßig durch sein Herz, bald sank die Schale der einen, bald die der andern. Ruhe war es nicht, die in sein Gemüt kam.
Kaum hatte er sich entkleidet, als es leise an der Türe pochte.
»Bist du noch auf?« ertönte von draußen die Stimme des Randars.
»Ja, Herr Randar!«
Der Randar trat herein, er war noch in seiner Tagkleidung, in der Hand hielt er ein brennendes Licht.
»Ich hab' nur etwas sehen wollen,« sagte er, indem er die volle Flamme des Lichtes auf Kobi fallen ließ. »Jetzt ist's in der Ordnung! Schlaf gut.«
Matt und zerschlagen erwachte Kobi am andern Morgen aus qualvollem Schlafe; der Schlummer hatte ihn nicht erquickt. Über Nacht war das ganze Heer böser Zweifel und Entmutigungen über ihn gekommen und hatte arge Verwüstung angerichtet. So nahe dem entscheidenden Augenblicke fühlte er sich schwach und abgehetzt; er fühlte, den heutigen Tag könne er nicht so bestehen, wie er den gestrigen bestanden hatte. Wie sollte das enden?
Dann nahm er die Tefillin (Gebetriemen) zur Hand und begann sein Morgengebet. Anfangs war seine Seele nicht dabei; gedankenlos fielen die schönen heiligen Worte Zions aus seinem Munde. Dann aber überströmte es ihn plötzlich wie lauterste Frömmigkeit, wie wahres Gebet; innig klang jetzt die geweihte Sprache Gottes, lauter und immer lauter quollen ihm die heiligen Worte hervor . . . Er empfand 120 es in der Seele, wie er Gott um etwas Großes zu bitten habe – nämlich um Mirl.
Grade als er geendigt und im Begriffe stand, die Tefillin wieder zusammenzulegen, trat der Randar herein.
»Gut geschlafen, Jüngel?« fragte er derb.
»Wie man zum ersten Male in einem fremden Bette schläft,« meinte Kobi, der keine Unwahrheit sagen wollte.
Über die breiten Züge des Randars schlich eine Art höhnischen Lachens.
»Heut' Nacht wirst du schon ruhiger schlafen,« sprach der Randar in einem Tone, von dem Kobi nicht wußte, sollte er ihn für spöttisch oder verheißend halten?
Gleich darauf brachte Mirl das »Anbeißen«; und wie jedem Liebhaber, kam auch ihm das Mädchen heute viel tausend Mal schöner vor als gestern. Kobi suchte nach einem Lächeln auf ihrem Gesichte, nach irgend einem verheißenden Muskelspiele – aber er meinte eher Traurigkeit auf demselben zu sehen. Sie wagte es nicht einmal nach ihm zu blicken.
Als das Frühstück vorüber war, entfernte sich Mirl, die zwei Männer blieben allein.
»Nun, Jüngel,« sagte der Randar nach einer Weile, indem er sein blaues Taschentuch, seiner Gewohnheit gemäß, wie eine mächtige Fahne entfaltete und über seine linke Schulter warf, »wollen wir jetzt von dem Geschäft reden?«
Auf Kobis Stirn trat bei diesem Beginn kalter Todesschweiß; krampfhaft hatte sich seine Kehle zusammengezogen, krampfhaft umfaßte seine Hand nach rückwärts die Lehne des Stuhles, als fürchte er, irgend ein schreckliches Naturereignis könne ihn von da herunterschleudern und dem bodenlosen Nichts überantworten.
»Mein Geschäft? Herr Randar?« lallte er tonlos.
Dann setzte er verzweifelnd hinzu: »Ich hab' ja kein Geschäft.«
»Du hast kein Geschäft mit mir vor?« schrie der Randar 121 mit gewaltiger Heftigkeit, und die blaue Fahne auf seinen Schultern schien sich riesig zu entfalten, als stünde eine gewaltige Schlacht bevor, »hast mich also gefoppt, Jüngel?«
»Ich hab' eins gehabt,« stotterte Kobi, »aber . . .«
»Du hast sehen wollen, ob ich dir entgegenkomme, Jüngel!« rief der Randar.
Kobi schüttelte düster verneinend den Kopf.
Da schlug der Randar eine Lache auf, so gewaltig und erschütternd, daß sie an der Stubendecke widerhallte. Kobi schlug erschrocken die Augen zu ihm auf.
»Meinst du,« rief er unter Lachen, »mein Jüngelleben, ich weiß nicht, was dich für ein Geschäft zu mir geführt hat? Meinst du, Josel Süß, der Randar, ist ein Kind von zwei Jahren, dem man den Finger in den Mund steckt, damit es beißt? Zu meiner Tochter bist du gekommen.«
»Wenn Sie's also wissen, Herr Randar,« sagte Kobi mit kläglicher Stimme, »so lachen Sie mich wenigstens nicht aus; ich will auch gleich aus Ihrem Haus!«
»Wirst du gleich schweigen?« gebot der Randar noch immer unter heftigem Lachen, »meinst du denn, ich laß dich fort, bis ich mein Geschäft mit dir abgemacht habe?«
»Allmächtiger Gott im Himmel!« rief Kobi im Übermaß seines Entzückens, indem er aufsprang, »Sie wollen wirklich, Rebb Josel?«
Was er sagen wollte, vermochte er nicht fortzusetzen, alles Blut war ihm nach dem Kopfe geströmt.
»Hör mich an, Jüngel,« sagte der Randar, mit einem Male wieder ernst werdend. »Schon gestern abend, wie du aus dem Wagen gestiegen bist, hab' ich gewußt: der kommt zu meiner Mirl. Ich bin dir entgegengetreten wie ein Bär und hab' dich angeschnauzt wie ein Wolf, du aber hast dich nicht gefürchtet, und das hat mir zuerst besonders an dir gefallen. Sag's selbst, bin ich dir nicht wie ein Bär, oder wie ein ander wild' Tier vorgekommen?«
122 »Fein waren Sie gerade nicht, Herr Randar,« sagte Kobi nun seinerseits verlegen lachend.
»Ich hab' mir gleich gedacht: wenn das Jüngel auch in andern Stücken so wär', hätt' ich dann für meine Mirl zu sorgen? Du kannst sie nicht zählen, die alle schon da waren, um mein Kind zu sehen, mein goldig Mädel! Oft waren's feine junge Leut', sind wie die Prinzen hergekommen, haben groß getan und die Flausenmacher gespielt; wenn ich ihnen aber hineingesehen habe in den Hals, ich mein' in ihr inwendiges Wesen, da hab' ich lauter Schmutz und Unkraut gefunden. Die Leut' hätten mir meine Mirl aus dem Haus forttragen sollen? Eher hätt' ich mich selbst in das Grab neben mein gut Weib gelegt. Einer hat dir ganz vergessen, daß er in einem frommen Judenhaus ist, hat gar nicht gewußt, daß es eine ›Mesusah‹ in der Welt gibt, ein anderer hat nicht einmal ›benschen‹ können. Noch ein dritter hat mir wie ein Spieler von Profession mein Geld abgewonnen; ein vierter hat nicht gewußt einen Sack Wolle von einem Hasenhäutchen zu unterscheiden, ein fünfter endlich, der hat wieder zu viel gewußt, und hat mich belehren wollen, wie ich dies und jenes in meinem Geschäft anzufangen hätte, als wenn ich ein viermonatlich Kind und er ein Greis von achtundsiebzig Jahren wäre. Ich werd' nicht fertig bis in die Nacht hinein, wenn ich dir alles wollt' erzählen. Da bin ich manchmal fuchswild geworden, hab' mich nicht geniert, und hab' diesen Leuten Wahrheiten gesagt, an die sie ihr Lebtag denken werden. Du aber hast mir von Anfang an gefallen, ich muß dir's ins Gesicht sagen. Nur hab' ich gezittert, daß auch du nicht bestehen wirst. Ich sag' dir: wärst du nicht bestanden, Jüngel, ich hätte meine Tochter eine alte Jungfer werden lassen.«
Der Randar hielt inne. Kobi wagte es kaum zu atmen.
»Ich hab' aber bald gesehen,« fuhr der Randar mit unterdrückter Weichheit des Gefühles fort, »daß du der Mann 123 bist, wie ich ihn für mein Kind brauche. Du bist ein guter Geschäftsmann, kennst dich aus in der Welt und hast offene Augen, die mehr wert sind, als Geld und Gut. Du bist mir auf Nichts eine Antwort schuldig geblieben. Gute Geschäftsleut' waren die zwar auch, die zu mir gekommen, aber wie ich dir erzählte, der eine hat bald den, bald jenen Fehler an sich gehabt. Du bist auch kein Spieler von Profession und bist kein Heuchler. Du hättest mich können gewinnen lassen, und hast's doch nicht getan. Was mir aber besonders an dir gefallen, das ist dein gesetzt Wesen, und daß du ein Jud' bist. Es gibt Leute, denen ist gerade das nicht recht; die lassen manches krumm sein, nur wenn man kein Jud' ist. Dazu gehör' ich nicht . . . Mein Kind braucht ein jüdisch Herz, ein fromm Gemüt, und das hast du. Dein ›Benschen‹ und ›Tefillinlegen‹ geht mir nicht aus dem Kopf. Und selbst in der Nacht, wie ich zu dir gekommen bin, hast du dein ›Arbeh Kanfes‹ umgehabt. Jetzt frag' ich dich nur eins: Willst du meine Mirl? Oder willst du sie nicht?«
»Herr Randar, Herr Randar!« schrie Kobi stürmisch. »Sie fragen mich noch? Aber Sie wissen ja noch gar nicht, wer ich bin?«
»Hab' ich dich schon gefragt darum?« sagte der Randar ernst, »oder brauch' ich's selbst zu wissen? Meinst du, ich kenn' dich nicht? Und wenn du eines Schulklopfers Sohn wärst, so zieh' ich mein Wort auch nicht zurück. Willst du's aber durchaus sagen, so hab' ich auch nichts dagegen; nur mußt du's dann meiner Tochter sagen.
Währenddem hatte sich die Zimmertüre leise geöffnet; auf der Schwelle erschien Mirl, das Gesicht von Tränen überströmt; aber durch die Tränen glänzte wieder dasselbe siegreiche Lächeln, das ihm gestern als Leitstern gedient hatte.
»Was meinst du denn, mein Kind,« fragte der Randar 124 voll Innigkeit. »Du hast mir ja gesagt, daß du den, oder keinen andern willst! Ist es vielleicht nicht wahr? . . .«
Unhörbar, auf leisen Socken wollen wir an dem Glücke vorüberhuschen, das in dem Randarhof zwei Menschen einander zuführte, die sich sonst einander niemals gefunden hätten. Solche Momente dürfen mit langen Reden nicht »beschrien«, sie müssen schweigend hingenommen werden! . . .
Kobi begriff das vollkommen; er sprach nicht von seinem Glücke; er genoß es in den wenigen Stunden, die er noch auf dem Randarhof verweilte!
Gehen wir vorüber!
* * *
Eine »Gelegenheit« rollt in später Nacht durch die Gasse; vor dem Hause mit den drei Nußbäumen davor hält sie; in der Stube brennt noch Licht. Vater und Mutter warten noch des heimkehrenden Sohnes; die letztere in aller Pein und Qual eines besorgten Gemütes. Kobi stieg aus: ein Freudenschrei ertönte aus der Stube.
»Bist du nur gesund und wohlauf, mein Kind?« fragt Perl, die den Sohn ängstlich nach allen Seiten belugte, nach den ersten Umarmungen. »Hat er dir nichts getan?«
»Ganz gesund und wohlauf, Mutter,« antwortete Kobi lächelnd, »es fehlt auch nicht ein Nägele an mir.«
»Und unser Geschäft?« fragte Wolf.
»Ganz gut ausgefallen, Vater,« entgegnete Kobi.
»Ich hab' mir's auch gedacht,« meinte Rebb Wolf mit väterlichem Stolz, »da ich dich geschickt habe!«
Da ging Kobi grade, als es sich keiner versah, zum Paradekasten, worauf in fast militärischer Ordnung schöne Porzellanteller und Kaffeeschalen, die noch aus den Zeiten von Perls hundertundzehn Jahre alt gewordener Großmutter herstammten, und nahm die schönste der goldgeränderten 125 Schalen. Mit einem Male schleuderte er sie mit aller Kraft auf den Boden, daß sie in hundert kleine Scherben zertrümmert ward.
Perl schrie laut auf vor Schreck.
»Lebendiger Gott!« rief sie, »was machst du, Kobi? meine schönste Schal'!« . . .
Da sah sie Kobi lächelnd an in ihrem Schrecken und sagte nach einer Weile:
»Mutter! hast du mir nicht, wie ich noch ein kleines Kind war, immer gesagt, du hebst die Schale für mich auf? Möchtest du sie denn nicht für deinen Sohn hergeben, wenn er dir eine Schwiegertochter mitbringt?«
Sprachlos starrten ihn die Eltern an.
»Um Gottes willen,« rief dann Perl, »du bist doch nicht . . .«
»Ja, Mutter,« sagte Kobi, »ich bin Bräutigam, wenn ihr nämlich beide nichts dagegen habt.«
»Mit wem denn?« kam es aus einem Munde.
»Mit des Randars Tochter!«
»Und des Vorstehers Sohn?«
»An den hab' ich gar nie gedacht!«
Kobi gab erst später seinen Eltern die Geschichte seiner Brautwerbung, aber nur in den allgemeinsten Umrissen. Das Wichtigste verschwieg er, das behielt er dankbar in sich, nämlich, daß alle Verstellung und Kunst nichts vermocht hatten vor dem zündenden Strahl der Liebe, vor der Wahrheit Gottes!
Natürlich machte die Verbindung Kobis mit der Tochter des Randars »ungeheueres« Aufsehen; es ward davon gesprochen als von dem größten Ereignisse, das seit Jahren stattgefunden. Merkwürdigerweise wunderte man sich nicht darüber, man hatte so etwas von dem »Min« erwartet!
Der Vorsteher fand es, wie begreiflich, nicht in seinem Interesse, den Leuten die Geschichte mitzuteilen, wie er selbst 126 die Leiter zu Kobis Erhöhung gewesen. Dennoch kam sie weit und breit herum erst als stilles Geflüster, dann allmählich als große Lärmtrommel, die durch halb Böhmen in allen Ohren dröhnte.
Der Randar hat sich in Kobi nicht getäuscht. Der Segen ruhte sichtbar auf der Ehe des »Mins«.