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Das schönste Haus in der Gasse, das so vornehm und stattlich vor den anderen Häusern sich herausdrängt und dennoch mit den großen, hellen Fenstern so traulich niederblickt, heißt allgemein das »Kartenhaus«. Wer es nicht kennt, sondern davon nur sagen hörte, wird vielleicht meinen, es sei lose und lustig gebaut, wie eines jener papierenen Häuschen aus Kartenmauern, die der leiseste Hauch des Mundes umbläst, daß die Trümmer weithin in regelloser Unordnung den Tisch bedecken. Denen wollen wir nur sagen, daß das Haus ein mit so ehrenhaft dicken und redlichen Mauern ausgestattetes ist, daß es selbst in Jericho vor dem schrecklichen Posaunenschalle nicht erschrocken wäre. Andere, die klüger und gewitziger sind, werden wieder raten, es habe einmal ein Kartenmaler darin gewohnt, was uns aber nur ein mitleidiges Lächeln entlocken würde. Ein Kartenmaler! Was sollte, fragen wir, solch eine »Profession« in der Gasse? Ist das ein Handwerk, das sein tägliches Brot abwirft, davon man seine Steuern, die »direkten« sowohl als die »indirekten«, bezahlen kann? Dennoch hat es seinen Grund, warum das Haus so und nicht anders heißt. Es ist nämlich wirklich auf eine Karte gebaut worden . . . aber weiter dürfen wir nicht mehr vorgreifen, denn wir würden uns 127 damit die eigentliche Geschichte »verschütten«, die eben die Geschichte einer Karte ist.
Die meisten Leute in der Gasse können sich dessen erinnern, als wenn es heute geschehen wäre: wie eines Tages Maurer und Zimmerleute gekommen waren, und wie sich bald darauf mitten aus den Gerüsten der Bau dieses Hauses erhob. Noch deutlicher ist in aller Gedächtnis die Grundsteinlegung. Wenn sie daran denken, sehen sie aus dem Nebel ihrer Erinnerung zwei Gestalten heraustreten, ein blühend junges Weib und einen kräftig gebauten Mann, die zu den Klängen einer schallenden Musik einen lustigen »Redowak« tanzen, und diese Klänge müssen so lebendig in ihren Seelen klingen, daß hie und da mancher auch noch Worte dazu findet, und mit einem Male hört man Äußerungen, wie etwa folgende: »Vorzeiten hat's doch ganz kuriose Leut' gegeben! Es soll sich's jetzt ein Mädchen einfallen lassen, und mit einem »Franzefuß« die reichste Partie in der Gasse kriegen. Wo hört man das jetzt? Geld muß sie haben wie Heu, und von einem Franzefußspiel darf gar keine Rede sein. Dafür muß sie aber auf dem »Fopp dich allein« (in welch merkwürdiger Verballhornung das Fortepiano in der Gasse erscheint) spielen können, daß die Vögel auf dem Dache Krämpfe davon bekommen. Ja, jetzt schämt sich so ein Mädchen ganz erschrecklich, und möcht' einem, der zu ihr auf die Beschau kommt und sie befragt: »Kannst du Franzefuß spielen?« die Augen aus dem Gesichte kratzen.«
»Merkwürdig ist's, wie sich die Zeiten geändert haben.«
Spötter aus den umliegenden Gemeinden haben auf Grund solcher Lästerungen auch die wundersame Mär zu verbreiten gewußt, daß alle Mädchen in jener »Gasse« sich noch jetzt vortrefflich auf den Franzefuß verstehen, besser, als auf ein schön genähtes Hemd, daß aber demungeachtet noch keine einzige »Beschau« danach gefragt habe . . .
Das Kartenhaus hat übrigens von jeher eine gewisse 128 Bedeutsamkeit in der Gasse gehabt wie denn gewisse Menschen und Sachen das Eigentümliche haben, aus der Leute Mund niemals herauszukommen. Noch ehe sich nämlich der neue Bau erhob, stand dort ein altes, verwittertes Haus, dem es niemand angesehen hätte, daß sich darin das größte Wunder der ganzen Gemeinde aufhielt. Dieses Wunder waren drei Leute: Ascher Spitz, dessen Ehefrau Hindel und das Söhnlein beider, das wir kurzweg »Bär« nennen wollen. Alle drei haben das merkwürdige Glück gehabt, jedes in seiner Art sich so lebhaft in das Gedächtnis ihrer Zeitgenossen einzuprägen, daß nichts imstande ist, sie daraus zu verdrängen. In der Tat haben auch alle drei, jedes in seiner Art, etwas Apartes gehabt, was man in der Gasse mit dem kurzbedeutsamen Worte »Stuß« bezeichnet.
Nehmen wir, weil es sich überall schickt, auf Rang und Altersklasse gehörig Bedacht zu nehmen, zuerst Ascher Spitz vor, so war das ein Mann, dem sich sonst gar nichts Übles nachsagen ließ . . . Man schrieb ihm einen fabelhaften Reichtum zu; auch hatte er bereits zum fünften Male die Stelle eines Gemeindevorstehers bekleidet. Er war ein stiller, schweigsamer Mann, dessen Tagesgeschäft darin bestand, eine Meerschaumpfeife nach der andern zu stopfen und dazu mit seiner Hindel oder seinem »Bärele« einen »Franzefuß« zu spielen. Zu größeren Anstrengungen vermochte sich Ascher nicht aufzuraffen. Es war ihm genug, wenn ihm früh morgens nach dem »Anbeißen« auf die Frage: »Hindel! wollen wir?« die ergänzende Antwort: »Ja, Ascher, wir wollen,« entgegentönte. Nach dem Mittagsessen war es nur die natürliche Folge, daß die nämliche Frage eine gleiche Antwort finden mußte; und auch abends, wenn die Lichter angezündet wurden und Ruhe sich herabsenkte auf die ermattete Gasse, – wer kann sich da wundern, daß Ascher, selbst müde und erschöpft von den Mühen des Tages, wieder einen jener Blicke nach seiner Frau warf, den nur sie verstand und der in Worte 129 übersetzt: »Hindel, wollen wir?« lautete, und daß Hindel darauf mit klarer Stimme die Antwort gab: »Ja, Ascher, wir wollen.«
Hindel gehörte übrigens zu jenen Frauen, denen man auf den ersten Blick das »gute Leben« ansieht. Groß und breittretig war es, als ob ein dreimastiges Schiff daherbrauste, wenn sie einmal, was selten geschah, durch die Gasse schritt. Die Leute hielten sie für sehr stolz und sagten ihr nach, daß sie nicht weinen könne. So etwas will unter Menschen, denen die Träne mit merkwürdiger Leichtigkeit aus dem Herzen in das Auge steigt, mehr sagen als man glauben wird. Es erinnerte sich keiner, soweit er zurückdenken konnte, jemals Hindel Spitz weinen gesehen zu haben; selbst am Jom Kippur bei den »heiligsten« Stellen konnte das aufmerksame Auge keine Spur einer Träne an ihr entdecken. War das ein Unglück? War es eine Krankheit? Es gab in diesem Punkte heftig streitende Parteien, die ihre Ansicht mit aller Hartnäckigkeit verteidigten. Eigentümlich war es, daß sich zuletzt eine Art gieriger Sehnsucht aller bemächtigt hatte; jede Partei, und darunter namentlich die Frauen, warteten auf die Stunde, in der sich jenes Unglück, und die Krankheit, wie andere meinten, wenden oder brechen mußte. Endlich werde sie doch weinen müssen, ward allgemein angenommen, denn sie werde ja nicht eine Ausnahme von der Regel machen wollen? Sei das erhört, daß ein Judenweib nicht eine Träne vergießen könne? Gott, der Lebendige, beschütze und bewahre jede vor so einem Unglück . . . aber man werde schon sehen, wie ihr das einmal mit »Prozent« würde zurückgezahlt werden, denn Gott lasse nicht mit sich spielen, der wolle, daß eine Frau weine, sei es um was immer. Zu weinen habe sie stets, und wenn sie es durchaus nicht könne, so müsse sie sich dazu zwingen! . . .
Nun, so weit ließ sich Hindel nicht herab. Sie war in ihrem Sinne eine jener starken und gewaltigen »Regierungen«, 130 die sich um keinen Preis vom »Volkswillen« etwas abtrotzen lassen wollen. Hindel solle sich zum Weinen zwingen? Hatte sie das nötig? Gerade Naturen solcher Art werden durch einen Widerstand, der ihnen entgegentritt, noch schärfer und kantiger, und was bei ihnen anfangs nur Gewohnheit und angeborenes Tun war, das verkehrt sich zuletzt in ein Recht. Man wird es nun leicht glauben, daß Hindel trotz aller Forderungen des »Volkswillens« es zu keiner Träne brachte.
Zudem hatte Hindel stets etwas vor Augen, etwas Lebendes und nach ihren Begriffen noch nie Dagewesenes, an dem sie mit großer Freude hängen konnte. Das war ihr »Bärele«. Wenn sie und ihr Mann auf das Kind schauten, das einzige ihrer Ehe, wie es immer größer und gewaltiger vor ihnen aufschoß, dann erfüllte sie beide ein Stolz und ein Behagen, die es bekanntlich auch zu keiner Träne bringen können. Das »Bärele« war zwar in den Augen aller denkenden Leute ein »Bär«, der mit Tatzen auf die Welt gekommen zu sein schien, aber was tat das der elterlichen Zärtlichkeit? Diese bleibt stets ein Geheimnis, ein größeres, als sich irgend eines im Menschenherzen verbirgt. Labt sich das eine an der geistigen Entwickelung des Kindes, an dessen vielversprechendem Wesen, so verwirft das andere dies alles und klammert sich gerade an Eigenschaften, die eben nicht in den Büchern über Erziehung angepriesen zu werden pflegen. Bärele oder wie er im Munde der Leute naturgemäßer hieß, Bär, war gerade kein Muster dessen, was man einen aufgeweckten »eisernen« Kopf nennt; er war eher träge als lebendig, eher ungeschlacht und ungelenk, als fein und manierlich; aber er besaß eine Eigenschaft, die in den Augen seiner Eltern ganze Goldlasten aufwog, die sich täglich schöner und schöner entwickelte, täglich mehr und mehr Blüten ansetzte, bis sie zuletzt als ein prächtiger Baum dastand. Bärele hatte nämlich im »Franzefuß< seine Eltern weit überholt; er war ihr Meister geworden.
131 Wie »Bärele« das angestellt, um in verhältnismäßig kurzer Zeit die alten Meister weit zu überfliegen, das zu erzählen bedürfte mehr als einer Blattseite. Genug, Bärele hatte ein angeborenes Genie für »Franzefuß«, wie denn auch der große Napoleon schon in den Kinderschuhen den künftigen Feldherrn gezeigt haben soll, als ihm freilich noch, statt der Kanonenkugeln, Kieselsteine und derbe Holzprügel zu Gebote standen. Dieses Genie trat denn auch schon in Bäreles achtem Jahre in seiner ganzen Bedeutsamkeit zutage; es war ein denkwürdiger Moment. Von freien Stücken, als wäre plötzlich eine Offenbarung über ihn gekommen, sagte Bärele eines Tages, nachdem Rebb Ascher seiner Hindel einige Spiele abgewonnen hatte und sie darüber sehr verdrießlich geworden war:
»Was wettest du mit mir, Vater, daß ich dir den ersten Franzefuß gleich abgewinne?«
Nun haben wir bereits gesagt, daß Ascher keineswegs zu den gesprächigsten Menschen gehörte; wie jeder Spieler aus langer Gewohnheit hatte er sich fast das Reden abgewöhnt, denn es soll das Glück »verschreien«; aber diesmal brach der lange zurückgedämmte Redestrom gewaltig hervor. Erst »schüttelte« er sich, wie man sagt, einige Minuten vor Lachen aus, das ihn fast zu ersticken drohte, dann rief er mit einer Stimme, aus der Jubel und Spott, Freude und Hohn zugleich heraustönten:
»Du willst mit mir spielen, Bärele? Du willst mir einen Franzefuß abgewinnen? Was sagst du zu dem Jüngel, Hindel?«
»Was wett'st du mit mir, Vater?« wiederholte noch einmal Bärele.
»Soll ich leben und gesund sein,« schrie dagegen Ascher, »das Kind meint es im Ernst! Mit mir also, mit Ascher Spitz willst du spielen, dem selbst deine Mutter Hindel, die sich doch gut darauf versteht, nicht beikommen kann? Bärele, 132 was fällt dir nur ein? Hast du dir auch gut überlegt, in was du dich einlassen willst? Ich sag' dir, es ist kein Spaß, mit Ascher Spitz einen Franzefuß zu spielen. Größere Leut' wie du möchten sich früher den Finger auf die Stirn legen und sich fragen: Soll ich? oder soll ich nicht?«
»Ich frage dich ja, Vater,« meinte Bärele mit einem Tone, den ein gewisses Gekränktsein durchklang, »ob du mit mir wetten willst?«
Nun warf Rebb Ascher einen merkwürdigen Blick voll Staunens auf das Kind. Das Lachen, das breit und ungeschlacht schon zu den Lippen herausquoll, erstarb darauf; er war vollständig verblüfft.
»Hindel, was sagst du zu dem Jüngel?« rief er endlich nach langer Pause zu seiner Frau hinüber.
Hindel mochte in ihrem freudigen Muttergefühl nicht sogleich die Worte finden, die groß und bedeutend genug waren, um ihre Bewunderung über des Kindes Kühnheit auszudrücken, aber sie machte ihrem Manne über den Kopf Bäreles hinweg ein Zeichen, das dieser sehr gut verstanden haben mußte.
»Bärele,« sagte er mit einem Ernste, dem nur wenig zum Erhabenen fehlte, »hast du dir's wirklich überlegt, was du unternehmen willst? Ist sag' dir's noch einmal: du spielst mit Ascher Spitz, dem selbst deine Mutter Hindel, die doch ein eiserner Kopf ist, nicht beikommen kann. Hast du dir's überlegt?«
»Ja, Vater,« sagte Bärele mit großer Entschiedenheit.
»Nun,« meinte Ascher mit der feierlichsten Stimme, die ihm zu Gebote stand, »ich will sehen, was du vermagst. Das sag' ich dir aber, Bärele, wenn du mir den ersten Franzefuß abgewinnst, dann – es gibt gar nichts so Schönes in der ganzen Gasse, was du von mir nicht bekommen kannst.«
Bärele schwieg, wahrscheinlich im Gefühle jener 133 Überlegenheit, die es nicht gerne bei Worten bewenden läßt, sondern lieber die Tat sprechen lassen will.
»Und jetzt nimm das ›Pasch‹ Karten,« sagte Ascher kurz, »und gib aus. Misch aber gut. Hast du Kreide?«
»Ja, Vater,« sagte der Knabe und setzte sich in den breiten Lehnstuhl, der sonst seiner Mutter zum Spielsitze diente.
Schon die Art und Weise, wie Bärele das »Pasch« Karten umbog, damit die einzelnen Blätter gerade und abgesondert beim »Mischen« hervorgingen, erregte Aschers Erstaunen; kein »alter« Spieler hätte das besser zuwege gebracht. Brennend lagen seine Augen auf der kleinsten Gebärde des Kindes, und was das Schönste war, Bärele tat das alles mit einem Ernste und einer Würde, wie sie ebenfalls nur ein alter Spieler, etwa ein Ascher Spitz, nach vielen Kämpfen und Erfahrungen, gleichsam als Siegesbeute vom Schlachtfeld heimzutragen pflegt. Das »Mischen« der Karten selbst war freilich, weil die Finger Bäreles damals noch nicht den »Bären« verrieten, mit einiger Unbehilflichkeit verbunden, aber er brachte es »ganz wohl« zusammen. Es fiel keine Karte daneben, und wer da bedenkt, daß Bärele zum ersten Male auf einem Schlachtfelde stand, und daß sein Gegner Ascher Spitz hieß, wird das wohl zu würdigen wissen. Es ist manchem Soldaten, der es später bis zum General gebracht hat, Ärgernis widerfahren, wenn er zum ersten Male das unheimliche Geknatter der Flintenkugeln um sich vernahm.
Jetzt begann das Spiel. Es ist eine Tatsache, daß das Glück sogleich dem Knaben ein aufmunterndes Lächeln zuwarf, indem es ihm die besten Karten aus dem geheimnisvoll waltenden Schoße des Zufalls erteilte. Aber was wollte das im Grunde sagen? Haben wir es nicht erlebt, daß mancher Feldherr, um bei unserm Gleichnisse zu bleiben, trotz der besten »Position« und mit den besten Streitkräften den Kürzeren gezogen hat? Zudem, was nützten 134 die günstigen Karten, da es hier ein Anfänger mit einem geübten Spieler zu tun hatte?
Hindel hatte sich als neutrale Macht zwischen die beiden streitenden Parteien gestellt, nicht um zu vermitteln, sondern bloß um zu sehen, wie der sonderbare Kampf, der mit so ungleichen Waffen geführt wurde, endigen würde. Man kann übrigens annehmen, daß sich ihre Wünsche und Neigungen mehr der schwächeren Partei, ihrem Kinde zuneigten, schon des Spaßes wegen, den auf sein Franzefußspiel »eingebildeten« Mann einmal, und dazu von Bärele gedemütigt zu sehen.
Aber ihre zuwartende Stellung löste sich in starres Staunen, endlich in leidenschaftliche Teilnahme an dem Geschicke Bäreles auf. Das Spiel des Knaben hatte, wie man anderswo sagen würde, ihr »Interesse« rege gemacht; unwillkürlich, nicht als wenn es ihr eigenes Kind, sondern ein ganz Fremder wäre, war sie auf seine Seite getreten. Aber Bärele spielte auch – es war wie ein Wunder, das vor den Augen Aschers leibhaftig sich zutrug! Im Beginne flimmerte so eine Art spöttischen Lächelns um seinen Mund, doch dieses verschwand allmählich, je kühner und bewußter Bärele in die Windungen des Spieles hineingeriet, um einer gewissen stummen Verbissenheit Platz zu machen. Bärele verstand sich wirklich auf den Franzefuß. Woher? und wie ihm das gekommen, das zu erforschen fiel weder Ascher noch Hindel in dem Augenblicke ein; sie sahen beide in dem Kinde einen Spieler, für und gegen den sie Partei genommen hatten. Nur einmal ereignete es sich, daß Bärele, der bis dahin mit eisiger Kälte den immer hitziger werdenden Angriffen sich entgegenstellte, in einer Karte fehlging, worauf Hindel, die den Fehler mit geübtem Blicke sogleich erkannt hatte, einen Schrei ausstieß, als ob Bärele hart an einem gähnenden Abgrund gestanden und in Gefahr gewesen wäre, in die schwindelnde Tiefe zu stürzen. Dadurch wurde Bärele 135 aufmerksam gemacht und verbesserte schnell seinen Fehler. Da hätte man aber den Zorn Aschers sehen sollen! Er wurde purpurrot im Gesicht, und mit der Faust schlug er auf den Tisch, daß er davon erdröhnte. Dann schrie er:
»Was sagst du ihm ein, Hindel, was er spielen soll? Er spielt ja besser als ich!«
»Ascher,« meinte Hindel beschwichtigend, »was ereiferst du dich? Vergiß doch nicht, mit wem du es zu tun hast.«
Das kühlte den alten »Spieler« ein wenig ab; er mochte es fühlen, daß sein väterliches Ansehen unter allen Umständen aufrecht erhalten werden mußte. Sei es nun, daß der Ärger ihn verwirrte, oder daß Bäreles plötzlich offenkundiges Genie wirklich gesiegt hatte – der erste »Franzefuß« ging unwiderruflich für Ascher verloren; er mußte die Waffen strecken. Er tat es aber widerstrebend, und in seiner Seele wogten zugleich zwei feindliche Gewalten: Beschämung und Freude.
»Soll einer sagen,« rief er, »daß jetzt nicht eine andere Welt ist! Die Kinder sind jetzt gescheiter, als sie zu meiner Zeit waren, und kommen gleich mit einem ganz andern Verstand auf die Welt! Bärele, ich halt', was ich versprochen habe, und wenn du ein Schloß geschenkt haben willst, so kauf' ich dir's auch.«
Allerdings müssen wir annehmen, daß die Freigebigkeit Aschers, als es zur Tat kam, sich etwas weniger königlich bewies; aber wenn es auch kein Schloß war mit Park und Hirschen darin, so war es doch ein »drapfarbener Spenser« mit gelben Knöpfen daran, die wie Gold aussahen, den Bärele als Spielbeute davontrug. Noch größer war aber der moralische Erfolg des Sieges. Bärele hatte sich mit einem Male in dem Herzen seines Vaters ein großes Tor aufgetan, durch das Liebe und Bewunderung, Stolz und Hoffnung ein und aus gingen. Von nun an war Bärele eine dem »alten« Spieler ebenbürtige Macht geworden, die 136 Anspruch auf eine gewisse Achtung hatte und demgemäß auch behandelt wurde.
Bärele wurde nämlich förmlich zum Spielgenossen seines Vaters erhoben; allmählich löste er seine Mutter vollständig von ihrem bis dahin innegehabten Wachtposten ab, denn Ascher wollte mit keinem andern »Franzefuß« spielen als mit ihm. Man wird nun leicht begreifen, daß ein solches Verhältnis bedeutende Folgen haben mußte. Wie soll ein Vater, der sich mit seinem Söhnlein in einer Stunde wegen eines schlechten »Königs« oder eines fälschlich angegebenen »Fußes« herumzankt, demselben Bärele eine Stunde darauf Vorwürfe machen können, daß sich der Lehrer über ihn beklagt, und daß in seinen Kopf nichts hineingehe, weder Bibel, noch Rechnen, noch Rechtschreibung und Sprachlehre? Wie soll der Vater auf der »Höhe« persönlichen Ansehens stehen können, wenn ihm ein Bärele vorwerfen darf, nicht »er«, sondern »er« habe sich in der Karte geirrt, und die Additionsfehler im Zusammenzählen der »Füße« seien vom Vater und nicht von ihm gemacht worden? Die Folgen einer so weisen Erziehung konnten natürlich nicht ausbleiben. Bärele mochte tun, was er wollte oder auch nicht wollte, es kümmerte dies den genügsamen Vater nur wenig. Jedes Hindeuten auf die Zukunft, daß es doch etwas anderes noch gäbe als die Kunst, einen »Franzefuß« zu spielen, wurde von dem sonderbaren Manne gewöhnlich mit wenigen Worten abgefertigt.
»Laßt mir nur mein Bärele, wie ihn Gott geschaffen hat, ich will ihn gar nicht anders. Warum? Ist Franzefußspielen keine Kunst? Und soll nicht jeder Mensch eine Kunst können? Mein Bärele hat dafür Genie, und er wird's damit weiter bringen als mancher, der in seinem Leben keine Karten angerührt hat. Denn wenn sich einer auf Franzefuß versteht, hat er zu allem übrigen auch Verstand. Schadet es mir, daß ich es spiele? Schadet es meiner Hindel? Es geht uns beiden ganz wohl, und jedes Judenkind könnt' sich 137 wünschen, wenn es so aussehen könnte, wie ich und meine Hindel.«
Hindel selbst wurde nach einem so feinen Komplimente noch einmal so »breit« und blähte sich auf wie ein Pfauenrad; denn sie war an dem wundesten Flecke ihrer Seele angenehm berührt worden.
»Ja, laßt mir nur mein Bärele, wie es ist,« sagte sie dann gewöhnlich und nahm dabei eine hochtrabende Miene an. »Was wollt ihr von ihm? Geld wird das Jüngel immer haben, und einer, der sich seine Stub' mit Zwanzigern pflastern kann, wenn er will, wird sich doch nicht genieren einen Franzefuß, so ein unschuldiges Spiel zu spielen?«
Was Bärele selbst betraf, so sagte er zu solchen Äußerungen gar nichts; man will nur bemerkt haben, daß er gerade an solchen Tagen sich nichts abgewinnen ließ, und daß Rebb Ascher sehr aufmerksam sein mußte, wenn er ihm beikommen wollte.
Es war merkwürdig, aber eigentlich kann es niemand wundern, wieso Bärele bei einer solchen Erziehung groß und stark werden konnte. Bärele war vierundzwanzig Jahre alt geworden, aber er sah wenigstens um sechs Jahre jünger aus, so gut war ihm die süße Gewohnheit seines Daseins bekommen. Es gab in der ganzen Gasse keinen so starken und hoch aufgeschossenen Jungen, als ihn. Dabei ließ sich ihm nichts Böses nachsagen; er war sehr gutmütig, beleidigte niemanden vorsätzlich, und da er selten unter die Leute kam, war er auch scheu wie ein junges Mädchen. Er konnte auch merkwürdigerweise keinem jungen Mädchen in die Augen sehen . . . Das änderte sich freilich alles eines Tages wie mit der Schnelligkeit des Blitzes.
Tief in dem versteckten Winkel, der zwischen der »Schul« und dem Gemeindehaus eingekeilt ist, stand ein altes Häuschen, das Rebb Ascher gehörte. Halb aus Barmherzigkeit ließ er dort eine arme Witwe mit ihrer Tochter zur Miete wohnen.
138 Hannele, so hieß die Witwe, war ein »frommes Weib«; sie ging zu den Sterbenden beten, wusch die Toten, und wenn jemand zur »Jahrzeit« auf den »guten Ort« ging, begleitete sie ihn und verdiente auf diese Weise »ihr Leben«. Ihre Tochter Lisi nähte für Leute. Aber an jedem Cholemoed, wenn Ascher noch beim Frühstück saß und noch nicht einmal die erste Meerschaumpfeife gestopft hatte, kam die Nähterin, und brachte pünktlich, in ein reines Papier gehüllt, die acht Gulden für die Miete, die mühsam zusammengerafften und ersparten Groschen einer armen Witwe und deren noch ärmeren Tochter!
Es war ein schönes Mädchen, groß, schlank und lieblich, mit etwas wild blickenden Augen und trotzigen Lippen; dabei doch voll demütigen Sinnes und bescheidenen Auftretens, wie es die Leute von Menschen lieben, die zu ihnen in einer Art dienstbaren Verhältnisses stehen. Sollen wir schon das Geheimnis verraten? Bärele freute sich von einem Mietszinse zum andern, d. h. von einem Cholemoed zum andern; er wußte es aber selbst nicht, wie sehr er sich freute. Aber wenn der Tag gekommen war, ja schon den Abend zuvor, mitten im Franzefuß fuhr er plötzlich auf und meinte:
»Ich bin doch neugierig, ob Lisi das Geld morgen wieder pünktlich bringen wird. Wetten möcht' ich drauf, diesmal ist sie nicht imstande gewesen, es zusammenzubringen.«
Hindel legte auf eine solche Bemerkung kein Gewicht; sie sagte gewöhnlich:
»Sie bringt's heilig und sicher. Hannele und ihre Tochter sparen sich's eher vom Munde ab, und besonders Lisi ist keines von den gewöhnlichen Mädchen, die man alle Tage auf der Gasse herumlaufen sieht.«
Regelmäßig errötete dann Bärele nach diesem Lobe seiner Mutter, und diese Röte lag dann noch fast greifbar aus seinem Gesichte, wenn Lisi, die »Nähterin«, kurz darauf ebenso regelmäßig kam, und den in ein weißes Papier 139 eingehüllten Mietszins in die Hände Rebb Aschers oder Hindels legte.
Dieser Zinstag war wieder gekommen, und eine merkwürdige Unruhe beherrschte diesmal Bäreles Gemüt. Der Gedanke, ob Lisi wohl mit dem Gelde kommen würde, hatte ihn seit dem frühesten Morgen beschäftigt. Aber wunderwar! er vermochte ihm diesmal keine Worte zu verleihen; er brachte die gewöhnliche Frage nicht über die Lippen hinweg, und sein bewegtes Gemüt hatte diesmal sogar einigen Grund – des fälligen Zinses wegen sich zu ängstigen. Ascher hatte bereits die erste Meerschaumpfeife gestopft, und das »Anbeißen« war schon vorüber. Lisi war noch nicht gekommen. Da meinte Bärele in der Angst seines Herzens, zur Mutter gewendet, aber mit niedergeschlagenen Augen:
»Du wirst sehen, diesmal bringt sie nichts.«
»Wer?« fragte sie erstaunt.
»Weißt du denn nicht,« sagte er, »daß wir heute unseren Zins zu bekommen haben?«
»Das meinst du?« schrie Hindel enttäuscht. »Hanneles Tochter, die Nähterin, meinst du?«
»Du wirst sehen,« wiederholte Bärele mit einiger Gereiztheit, »diesmal wird sie nicht kommen.«
»Großer Gott!« schrie nun Hindel ihrerseits voll Zorn, »Bärele, was bist du doch für ein Mensch geworden! Wer möchte in dir suchen, daß so ein geiziger Knicker in dir steckt? Daran denkst du nicht, wie du dich versündigst an Gott, wenn du den mühsam zurückgelegten Kreuzer einer armen Witwe so einverlangst, als wären es Hunderte und Tausende? Und wenn Lisi das Geld gar nicht bringt, meinst du, dein Vater und ich werden sie wegen der paar Groschen pfänden lassen oder sie aus dem Hause hinaustreiben? Ich sage dir, Bärele, und wenn sie gar nicht kommt, und wenn sie sechs Jahre hintereinander nicht kommt, so darf auch 140 kein Wort darüber verloren werden. Meinst du denn, ich hab' kein Gewissen?«
Hindel hatte sich in ihren Zorn so hineingeredet, daß Bärele gar nicht zu Worte kommen konnte. So oft er beginnen wollte, entquollen ihr die bittersten Vorwürfe über seinen Geiz, der mit der Uhr in der Hand darauf warte, ob eine arme Witwe auch auf die Minute ihren Mietszins bringe. Bärele mußte dieses Sturzbad über sich ergehen lassen, sich nicht einmal entschuldigen; denn haarscharf und klar sieht eine solche Neigung, wie sie in Bäreles Herzen vielleicht jahrelang schon lohte, ob und wie sie sich verraten könne. Zum ersten Male in ihrem Leben war Hindel bitterböse auf ihren Sohn, und in einem fort, ohne daß er darauf etwas zu entgegnen wagte, rief sie:
»So etwas soll Hindel Spitz zukommen! Einen Sohn soll sie haben, der auf acht Gulden wartet, die eine arme Witwe und ein Mädchen, das für die Leute näht, vielleicht nicht haben zusammenbringen können! Pfui und nochmals pfui! Einer hätt' mir sagen sollen, daß mein Kind, mein Bärele, so etwas werden wird.«
Voll Erbitterung ging Hindel weg; auch Ascher hatte sich in eine andere Stube geflüchtet, denn er wußte aus langer Erfahrung, daß sich nach einem solchen Hausgewitter die Gemüter nur schwer zu einem »Franzefuß« eignen. So war Bärele allein in der Stube geblieben, nachdenklich vor sich hinstarrend, verwirrt unter der Wucht der mütterlichen Vorwürfe, wie unverdient sie immerhin waren, und noch eines anderen Etwas, das er nicht kannte, das wie Lichtfunken vor ihm auf und nieder tanzte . . . Hindel hatte recht; aus Bärele war wirklich etwas geworden, was sie nie an ihm erlebt hatte. Er dachte nach.
Da öffnete sich still und geräuschlos die Tür, und herein trat Lisi, die Nähterin. Wie Bärele sie erblickte, schrie er fast auf; dunkle Röte lag auf seinem Antlitze. Hastig, ganz 141 gegen seine Gewohnheit, trat er auf das Mädchen zu, als wollte er ihr etwas zuleid tun, und stieß in heftiger Wallung die Worte heraus:
»Warum läßt du heute so lange auf dich warten? Hast du vielleicht das Geld nicht beisammen? Ist ein halbes Jahr nicht lang genug, daß wir warten müssen?«
Es war gut, daß Hindel nicht zugegen war; es hätte leicht zur Wiederholung des kaum verrungenen Auftrittes kommen können.
»Ich bring' ja das Geld,« sagte das Mädchen; ihr ganzes Wesen erzitterte unter dem Schrecken, den ihr Bäreles Barschheit einflößte.
»Wo hast du's?« fragte er mit nicht geringerer Derbheit.
»Da ist's,« sagte Lisi zagend und reichte ihm das in ein weißes Papier eingewickelte Geldpäckchen hin.
Bärele nahm es ihr aus der Hand, aber mit der Miene eines Steuereinnehmers, wenn er eine im »Exekutionswege« eingeforderte Schuld in Empfang nimmt. Lisi sah ihn mit furchtsam erschrockenen Augen an. Bärele sprach das erstemal in ihrem Leben mit ihr und sprach so mit ihr!
»Erst werd' ich's zählen,« sagte er strenge und faltete das Päckchen auseinander, worin einiges Silbergeld, noch mehr aber Kupfergeld in Zweigroschen und Groschenstücken lag. Auch kupferne »Scheinkreuzer« waren zu bemerken.
»Es wird nicht ein Dreier daran fehlen,« meinte Lisi leise, doch so, daß dennoch ein Ton von Gekränktsein durchklang.
Bärele tat, als ob er mit ungeheurer Genauigkeit die erschrecklich große Geldsumme durchzählte. In der Wirklichkeit wußte er aber nicht, ob er Gold oder Silber durch die Finger laufen ließe, oder ob bloßes Wasser. Er sah nur das holde zitternde Wesen des Mädchens, wie es vor ihm stand, schöner in ihrer Angst, als er es bis dahin jemals erblickt hatte.
142 »Es ist ganz richtig,« meinte er nach einer Weile. »Soll ich darüber eine Quittung schreiben?«
»Eine Quittung?« rief das Mädchen erstaunt. »So etwas hab' ich niemals von Ihrem Vater bekommen.«
»Deine Mutter wird aber doch wissen wollen,« meinte Bärele mit einiger Verlegenheit, »ob du das Geld abgeliefert hast? Wie willst du dich denn ausweisen?«
»Ausweisen? Vor wem soll ich mich ausweisen?« sagte das Mädchen und trat einige Schritte von dem strengen Frager zurück. »Meine Mutter weiß, mit wessen Geld sie mich zu Ihnen geschickt hat, und darüber braucht sie und ich keinen Ausweis.«
Auf Bäreles Antlitz zuckte und leuchtete es wie von inneren Flammen, die nur eine dünne Scheidewand durchzubrechen hatten, um in ihrer ganzen Gewalt zu erscheinen. Eine Wahrheit des Herzens war über ihn gekommen, die seltsam abstach gegen das harte, unbarmherzige Wort, das unaufhaltsam seinem Munde entquoll. Er wollte zart sprechen, es drang ihm lind aus der Seele hervor; dennoch klang es wie das Brummen eines Bären, als er wieder zu sprechen begann.
»Hast müssen vielleicht die ganze Nacht aufsitzen, um ein Hemd fertig zu bekommen, nicht wahr?« fragte er wieder hart.
»Und wenn auch?« rief Lisi, aber nicht mehr zitternd, sondern sich allmählich aufrichtend: »Sieht man's dem Gelde vielleicht an, daß ich die ganze Nacht gewacht habe?«
Jetzt entstand eine minutenlange Pause zwischen den beiden, die durch nichts ausgefüllt ward, als damit, daß Bärele den Mietzins noch einmal durch die Finger laufen ließ. Aber plötzlich, als wäre er von dem Blutdurste seines tierischen Namensbruders befallen worden, wahrhaftig nicht anders, als ob er die Nähterin erwürgen wollte, ergriff er Lisis Hand und drückte sie mit einer Gewalt, daß es ein Wunder war, wenn das Mädchen nicht um Hilfe schrie.
143 »Da hast du wieder dein Geld,« sagte er mit merkwürdiger Grobheit, »da hast du's wieder zurück. Meinst du, wir können Geld brauchen, um das du ganze Nächte wachgeblieben bist? Da, besinn dich nicht lang und nimm es wieder zurück.«
Lisi stieß einen kleinen Schrei aus; es war mehr als Überraschung, was aus diesem Schrei herausklang. Bärele hatte ihr das Geldpäckchen in die Hand gedrückt; mit erstaunten Blicken sah das holde Mädchen bald auf den reckenhaft starken Geber, der dicht vor ihr stand, bald wieder auf ihre eigene Hand, in welcher der soeben gebrachte Zins lag.
»Sie geben mir das Geld wieder zurück . . . Herr Spitz?« rief sie. »Fehlt vielleicht etwas daran?«
»Geh, geh,« meinte Bärele mit einer Art Grimm, »was wird daran fehlen? Aber die Nächte fehlen daran, die du nicht geschlafen hast . . .«
Wer hätte nun in Bärele diesen feinen Witz, wie er jetzt ungesucht und ungeschminkt aus seinem Munde kam, vermutet? So kann man sich jahrelang in Leuten irren, die man dann in wenigen Sekunden für ihr ganzes Leben erkennt. Auch Lisi mochte von der Wahrheit dieser Behauptung in diesem Augenblicke tief betroffen sein; sie sah »Herrn Spitz« mit einem eigentümlichen Blicke an . . . wahrscheinlich klang ihr die zarte Anspielung auf ihre schlaflosen Nächte so märchenhaft, daß sie zu träumen glaubte.
»Erst stellen Sie sich so . . . gegen mich,« rief sie, »daß ich meine, Sie wollen mich halb umbringen, und jetzt geben Sie mir mein Geld zurück Herr Spitz? Warum geben Sie mir es zurück?«
»Ich sag' dir's ja, Lisi,« meinte Bärele, in dem eine starke Verlegenheit über die bis dahin mühsam errungene Grobheit die Oberhand zu gewinnen anfing, »ich sag' dir ja, warum? Verstehst du mich nicht?«
»Ich versteh' Sie schon . . . Herr Spitz,« sagte das 144 Mädchen leise, die Augen, die sich durch ihr feuchtes Glänzen verraten hätten, zu Boden gesenkt. »Ich versteh' Sie schon . . . Sie wollen sich nur nicht stellen, wie ein guter Mensch Sie sind . . . und ich weiß das schon lange . . . Herr Spitz . . . und nun sehe ich, daß ich mich nicht getäuscht habe . . .«
»Wer? ich?« fragte Bärele, das in seiner ganzen Gutmütigkeit strahlende Antlitz zu einem verlegenen Lächeln zwingend.
Da hob Lisi den Kopf auf, und nun konnte Bärele in ihr feines, von einer durchsichtigen Röte überhauchtes Antlitz, in ihre glänzenden Augen sehen, vielleicht länger, als für beide gut war. Alle Schüchternheit, aber auch alles bärenhafte Ungetüm war von ihm in diesem Momente gewichen.
»Dürfen Sie mir aber auch das Geld zurückgeben, Herr Spitz?« sagte das Mädchen nach einer Weile.
»Warum nicht?« fragte Bärele auffahrend.
»Ich meine nur,« sagte Lisi fast unhörbar . . . »weil es so viel Geld ist . . . und dann, weil Sie nicht Ihr eigener Herr sind.«
»Ich nicht mein eigener Herr?« lachte Bärele laut auf, daß die Nähterin darob wieder in jähen Schreck versetzt wurde. »Wer denn soll mein Herr sein? Und dann, du Narrele,« fügte er gleich darauf mit einer Art prahlenden Stolzes hinzu, »du meinst, ich schenk' dir so viel, wenn ich dir dein mühsam zusammengespartes und zusammengearbeitetes Geld wieder zurückgebe? Narrele, ich schenk' dir eigentlich gar nichts. So viel gewinne ich meinem Vater im Franzefuß in zwei Abenden ab, wenn es nur ein bissele gut geht . . . du armes Narrele . . .«
»Und so viel Geld können Sie ihm abgewinnen . . . Herr Spitz?« fragte Lisi ganz erschrocken.
»Du Narrele, manchmal sogar noch mehr,« gab Bärele mit zufriedenem Schmunzeln zur Antwort. 145 »Gott lebendiger!« drang es als tiefer Seufzer aus der Brust des Mädchens.
»Was ist dir, Lisi?« fragte Bärele.
Die Nähterin schien nicht sogleich die gehörigen Worte zu finden; auf ihrem holden Antlitz war sichtbar ein Kampf zu lesen, der unentschieden in diesem Augenblicke in ihr wogen mochte. Endlich rief sie in einem Tone, der fast freudig klang; denn auch in ihren Mienen spiegelte er sich ab:
»Sie schenken mir also . . . Ihr Spielgeld, Herr Spitz? das, was Sie Ihrem Vater abgewinnen werden?«
»Ja, du Narrele,« meinte Bärele lachend.
»So kann ich's nicht nehmen,« rief Lisi laut und ließ das Geldpäckchen zu den Füßen Bäreles fallen.
»Was fällt dir ein?« schrie der verblüffte Bärele.
»Weil es Spielgeld ist,« rief das Mädchen rasch und richtete sich in ihrer ganzen Schönheit und Größe auf. Die Augen leuchteten mit einer Art Wildheit, die Lippen waren trotzig aufgeworfen, das ganze Wesen Lisis mußte dem härtesten Gemüte in diesem Augenblicke unwillkürlich Ehrfurcht einflößen, so entschieden und bedeutend stellte es sich dar.
»Weil es Spielgeld ist,« rief sie leidenschaftlich, »und ich mich zu versündigen glaube, wenn ich es annehmen möchte. Ich soll ein Geld zurücknehmen, das Sie Ihrem Vater abgewinnen können? Das nämliche Geld, um das ich nicht geschlafen habe, für das ich mich abgemüht und geweint habe, bis es beisammen war? Wenn Sie mir meinen Zins geschenkt und dabei gesagt hätten: Lisi, ich weiß, er kommt dir und deiner Mutter schwer an . . . Gott weiß! ich hätte mich bedankt . . . weil Sie mir ihn zurückgegeben hätten. Aber teuer erworben Geld lasse ich mir nicht so zurückgeben . . . von einem Spieler nicht, der im Franzefuß an einem Abend gewinnt, was mich so viel gekostet hat.«
Noch ehe Bärele Zeit gewann, eine Entgegnung auf diese merkwürdigen Reden zu finden, war das Mädchen zur 146 Stube hinaus. Bärele stand mit offenem Munde da und starrte die Türe an, durch die sie hinausgegangen. Sie! Wer war das, die es gewagt mit ihm in solcher Weise zu reden? Hanneles des »frommen« Weibes Tochter, die für die Leute nähte? Oder war es eine königliche Prinzessin, die ihn mit einem Besuche beehrt und nun im höchsten Zorn, höchst ungnädig von ihm fortgegangen war? Bärele hätte nicht Bescheid geben können, wenn jemand in diesem Augenblicke diese Frage an ihn gerichtet hätte. Es ist fast zu vermuten, daß er sich für die»Prinzessin« entschieden hätte . . . in so gebietender Weise war die arme Nähterin ihm erschienen. Dann bückte er sich und hob das am Boden liegende Geldpäckchen auf. Das erinnerte ihn, daß es doch Hanneles Tochter, die Tochter eines »frommen Weibes« gewesen war.
So traf ihn seine Mutter Hindel, die bald darauf mit zorngerötetem Gesicht hereintrat.
»Was hast du mit Lisi vorgehabt?« schrie sie ihn heftig an. »Hast ihr gewiß vorgehalten, warum sie den Zins um zwanzig Minuten zu spät gebracht hat? Bärele, um Gottes willen, was bist du doch für ein Mensch geworden! Dazu bist du Hindels Sohn, daß du Witwen und Waisen so drückst? Lebendiger Gott! wenn du jetzt schon so bist, was kann aus dir noch werden? Die Welt wird dich ja gar nicht ertragen können. Sag, was hast du mit ihr vorgehabt? Sie hatte ja ganz verweinte Augen!«
»Ich weiß nicht, Mutter,« meinte Bärele dumpf.
»Du weißt nicht?« schrie Hindel erbost. »Du hast dem armen Mädchen gewiß Vorwürfe gemacht, und darauf ist sie mit Tränen fortgegangen. Das sag' ich dir aber, wenn du das Geld nicht noch heute zurückträgst und ihr sagst, daß wir es ihr schenken, so bin ich nicht deine Mutter. Hörst du? und noch heute mußt du es ihr zurücktragen, und selbst, und mußt sie um Verzeihung bitten.«
Bärele starrte die Mutter an, wie er vorhin die Nähterin 147 angestarrt hatte. Von beiden Vorwürfe in einer und derselben Stunde! Es gehörte seine ganze »bärenhafte Natur« dazu, um so etwas zu ertragen. Als die Mutter lange schon geendet, nickte er mit dem Kopfe und sprach halblaut:
»Ja, Mutter, ich werd' ihr's zurückbringen.«
Bäreles Gemüt blieb den ganzen Tag hindurch ein Spielzeug der widerstreitendsten Empfindungen und Gedanken. Als sich sein Kopf von der Wucht der Schläge, die in so kurzer Zeit auf ihn niedergefallen waren, erholt hatte, und wieder einige Klarheit in ihm aufdämmerte, schieden sich diese Empfindungen und Gedanken in zwei hart aneinander grenzende Lager. In dem einen wohnte Freude und Entzücken, ein namenloses Gefühl, daß es Lisi gewesen, die mit ihm gezankt, in dem anderen wohnte Groll und Erbitterung, daß die Tochter eines »frommen« Weibes, eine Nähterin, die für die Leute arbeitete, es gewagt hatte, ihm, Rebb Aschers und Hindels Sohn, so entgegen zu treten.
»Die Schnorrerin,« grollte es fürchterlich in ihm. »Vergißt sie, wer ich bin und wer sie ist? Sie heißt mich einen Spieler! Woher hat sie nur die Keckheit genommen! Und ich bin dagestanden mit offenem Munde und hab' sie das alles so reden lassen! Wie kommt denn sie dazu, mich so zu heißen?«
Mehrmals an diesem Tage tobte dieser Gedanke in Bäreles Gehirn; er reckte dann sein Haupt stolz empor, als könnte er sich damit größer machen als das Mädchen, die wie eine Prinzessin vor ihm gestanden war. Aber er mußte es ebenso oft sinken lassen. Bärele fühlte mehr, als er es hätte sagen können, daß Lisi keine »Schnorrerin« sei, daß wenigstens keine Schnorrerin so mit ihm gesprochen hätte. Dunkel war er sich bewußt, daß aus dem Wesen dieser armen 148 Nähterin ein Licht hervorstrahlte, das allen Reichtum seiner Eltern weit überleuchtete.
Gegen Abend, mit Sonnenuntergang hatte wieder die Erbitterung in ihm die Oberhand erhalten. Werdende Liebe soll überhaupt mit dem geheimnisvollen Walten der Natur inniger zusammenhängen, als man glauben möchte. Er wollte der »Schnorrerin« beweisen, wer »er« und wer »sie« sei; sagen wollte er ihr, ob sich das schicke und dankbar sei, den Sohn ihres Hausherrn, der sie fast umsonst in der Wohnung beherberge . . . einen »Spieler« zu nennen. Das Wort müsse sie zurücknehmen und ihn um Verzeihung bitten, sonst werde er schrecklich aufbegehren, daß sie daran denken solle all ihr Lebetag.
Aber seltsam! Er zögerte von Stunde zu Stunde mit der Ausführung der fürchterlichen Rachepläne . . . wahrscheinlich konnte er nicht die Stimmen unterdrücken, die ihn um Erbarmen und Gnade für das Leben der Nähterin anflehten. Erst als die volle Nacht niedergesunken war, hielt er es an der Zeit, sich auf den Weg zu machen! Lisis zurückgelassenes Geldpäckchen nahm er wohlweislich mit.
»Ich sag' dir's noch einmal, Bärele,« rief ihm Hindel zu, die wirklich während des ganzen Tages kein Wort an ihn gerichtet, »ich sag' dir's, bring mir die Sache wieder in Ordnung, sonst hast du es mit mir zu tun. Und daß du sie ja ganz schön um Verzeihung bittest.«
Bärele brummte etwas vor sich hin, was Hindel nicht verstand, und ging.
»Wo geht er denn hin?« fragte der heute gelangweilte Ascher.
»Franzefuß spielen,« gab Hindel verdrießlich zur Antwort.
»Außer dem Haus?« rief Ascher ganz erschrocken.
»Ich möcht', er hätte in seinem Leben keine Karte angerührt,« rief Hindel mit Erbitterung.
149 »Hindel!« meinte Ascher in einem Tone, der wie der stärkste Vorwurf klingen sollte.
»Meinst du, ich spaß'?« rief sie gereizt. »Die Karte hat ihn zu dem gemacht, als was ich ihn heute erkannt habe. Ich schäm' mir meine Seele heraus! Mit einem armen Waisenkind so umzugehen, wie er umgegangen ist! Anspeien werden uns die Leut' auf der Gasse, wenn man die Geschichte hören wird. Ich darf mich gar nicht mehr sehen lassen, denn so etwas ist noch nie erhört worden.«
Ascher fragte nicht um den Grund dieser zum ersten Male so heftig hervorbrechenden Klagen; er gehörte zu jenen glücklichen Naturen, die da meinen, Zuhören und Schweigen vertreibe am besten solche häusliche Gewitter. Übrigens tat ihm nur eins leid; er sah, daß er heute um seinen »Franzefuß« gekommen war.
Indes hatte Bärele das kleine Winkelgäßchen erreicht, in welchem Lisis Wohnung stand. In der Gasse war es still; kein Laut tönte durch die stille Nacht. Die Fensterläden des kleinen Häuschens waren dicht geschlossen, aber durch einige weitklaffende Spalten konnte er Licht in der Stube, ja sogar die Umrisse eines Schattens gewahren, der niemand anderem als »ihr« gehören konnte. Da reckte wieder »Rebb Aschers Sohn«, der Sohn des reichen Hausherrn, sein stolzes Haupt empor.
»Die Schnorrerin!« rief es fürchterlich in ihm, »da sitzt sie wieder und näht Hemden für Leute, und sieht sich die Augen noch blind heraus! Von mir aber hat sie den erbärmlichen Hauszins nicht angenommen, der ihr doch gut gekommen wäre! Wart nur, ich will dir schon beweisen, was ein Spieler, wie du mich geheißen hast, alles vermag.«
Ein Geräusch in der Stube verjagte Bärele von seinem gefährlichen Standpunkte; er duckte sich schnell an die Mauer. Da trat durch die Tür aus dem dunklen Vorhause eine Mädchengestalt, in der Bärele alsbald die Nähterin erkannte. 150 Im fahlen Lichte der etwas erhellten Nacht bemerkte er, daß Lisi einen Wasserkrug in der Hand trug, womit sie wahrscheinlich zu dem nahen Röhrbrunnen gehen wollte. Lisi gewahrte ihn nicht; sie war schon einige Schritte voraus, da sprang Bärele wie sein echter Namensbruder in einem Sprunge an das Mädchen hin und legte ihr die schwere Tatze, will sagen die Hand, auf die Schulter. Lisi stieß einen schrillen Schrei aus.
»Lebendiger Gott! wer ist das?« rief sie zu Tode erschrocken.
»Ich bin's . . . der Spieler!« sagte Bärele fast grimmig, ganz nahe am Ohre seines Schlachtopfers.
»Sie . . . Herr Spitz?« rief das Mädchen.
»Warum heißt du mich . . . Herr Spitz?« fragte Bärele, in welchem mit einem Male eine vollständige Wandlung vorgegangen schien. »Weißt du denn nicht, wie ich sonst heiße?«
»Ich weiß keinen . . . anderen Namen,« sagte Lisi nach einer Weile. Bäreles Hand lag noch immer auf ihrer Schulter. Vielleicht darum zitterte sie so.
»Ich heiße Bär,« meinte Hindels Sohn, und die Hand auf der Schulter des Mädchens war etwas leichter.
»Wie komme ich aber dazu, Sie anders zu nennen . . . Herr Spitz?« lispelte die Nähterin in fast unhörbarem Geflüster.
»Aber dazu bist du gekommen,« sagte Bärele wieder rauh, und die Hand drückte wieder mit Zentnerlast auf Lisis Schulter, »dazu bist du gekommen, mich einen Spieler zu nennen und mir das Geld vor die Füße zu werfen. War das recht?«
»Verzeihen Sie mir . . . Herr Spitz,« lispelte die Nähterin, »ich hab's nicht so gemeint . . . und seitdem hab' ich schon tausendmal Reue empfunden.«
»Willst du's aber jetzt zurück?« fragte Bärele rasch.
151 »Was?« rief das Mädchen.
»Nun, deinen Zins!« meinte Bärele.
»Nein . . .« sagte die Nähterin mit großer Entschiedenheit und trat von Bärele hinweg. Aber mit einem raschen Griffe hatte er sie wieder herumgedreht, und nun suchte er in der Dunkelheit dem Ausdrucke ihres Gesichtes zu begegnen. Er konnte aber nur die leuchtenden Augen wahrnehmen, vor deren Glanze er zurückbebte.
»Warum nein?« rief er rauh.
»Hab' ich's Ihnen nicht schon gesagt . . . Herr Spitz?« meinte Lisi langsam, und jedes ihrer Worte, nach Ton und Ausdruck zu schließen, offenbarte wieder dem Sohne Rebb Aschers, daß die»Prinzessin« vor ihm stehe. »Hab' ich's Ihnen denn nicht schon gesagt . . . Herr Spitz? Warum soll ich es denn zweimal sagen?«
»Ich möchte es noch einmal hören,« rief Bärele ingrimmig.
Lisi schwieg eine Weile; dann aber richtete sie sich auf, wie sie sich schon am Morgen vor ihm aufgerichtet hatte.
»Ich nehm' von einem Spieler kein Geld,« sagte sie rasch in tiefster Bewegung.
Merkwürdig ruhig, als hätte der Schimpf diesmal für ihn keinen Stachel, meinte Bärele:
»Bin ich denn einer?«
»Die Welt sagt's,« meinte Lisi etwas langsamer.
»Die Welt? Wer ist das? Du vielleicht?« fragte Bärele in demselben trocken-ruhigen Tone.
»Die Welt sind alle Leute,« entgegnete die Nahterin leise.
»Und was sagt die Welt?« fragte Bärele noch einmal.
»Geht's mich an?« meinte Lisi, der dieses Verhör höchst peinlich vorkam, ausweichend.
»Siehst du, wie du bist,« rief Bärele, in dem wieder aller Grimm erwacht war. »Jetzt, weil ich in dich dringe, willst du es nicht sagen.«
152 »Die Welt sagt, daß Sie ein Spieler sind,« rief jetzt mit einem Male Lisi wieder laut, heftig sogar. »Sie sagt, daß Sie den ganzen Tag nichts anderes tun, als mit Ihrem Vater Franzefuß spielen. Andere junge Leute in diesem Alter . . . sagt die Welt, haben da schon ihre Geschäfte, gehen nach Reichenberg, nach Prag oder Brünn, ja sogar bis nach Leipzig, andere noch weiter bis gegen Wien, Sie aber, Herr Spitz . . . sitzen zu Hause bei Ihrem Vater . . . und spielen Franzefuß.«
Als Lisi so gesprochen, wandte sie sich rasch ab, als ob sie trotz der Finsternis, die sie umgab, die drohenden Zornesaugen Bäreles gefürchtet hätte. Aber Bärele tat, als ob er die sanfteste Musik gehört hätte, wie fürchterlich es in ihm auch toben mochte.
»Und was meinst du?« sagte er nach dieser Erklärung. »Bist du auch die Welt?«
»Ja,« sagte Lisi.
»Du nimmst es also nicht zurück, daß ich ein Spieler bin?« fragte er.
»Nein,« sagte das Mädchen mit Überlegung.
»Ein Tunichtgut und ein Müßiggänger?« fuhr Bärele in seinem eigentümlichen Verhöre fort.
»Nein,« sagte Lisi nach einer noch längeren Weile, diesmal aber mit unter der Wucht dieses Geständnisses zitternder Stimme.
»Gut,« rief nun Bärele im vollen Ausbruch seiner gewaltigen Sprache, »ich habe geglaubt, daß du die einzige bist, die nicht zu der Welt gehört, ich seh' aber, ich habe mich in dir gefoppt. Dafür werd' ich dir bald zeigen, was ein »Spieler« alles kann. Du wirst nicht lange darauf zu warten haben.«
So sprach Bärele und glaubte eine Rede gehalten zu haben, wie sie nicht feuriger und einschneidender in allen Parlamenten der Welt gehört wurde. Mit seinen größten 153 Schritten hatte er sich dann eiligst entfernt, ohne die Nähterin weiter eines Blickes zu würdigen. Als er aus dem Schulgäßchen verschwunden war, ging Lisi kopfschüttelnd wieder nach Hause; zum Röhrbrunnen zu gehen, um Wasser zu holen, hatte sie in diesem merkwürdigen Augenblicke wahrscheinlich vergessen. Wen wird das wundern?
Bärele aber kam in voller Hast zu Hause an. Seine Wangen brannten in lichter Glut, und trotz des Kerzenlichtes konnte die scharfsichtige Hindel sogleich gewahren, in welch ungewohnter Aufregung sich ihr Sohn befand.
»Bist schon zurück?« fragte sie ihn mit prüfendem Blicke. »Nun, hat dir Hannele und ihre Tochter nicht tausendmal ihren Segen gegeben?«
»Ja, Mutter,« meinte Bärele mit unterdrückter Stimme und scheu auf die Seite gerichteten Augen, »wie man es eben nimmt.«
»Jüngel, mit dir steht's nicht, wie es stehen soll,« sagte Hindel, und eine Wolke von Sorge zog über ihr sonst so behagliches Antlitz. »Wirst du reden, was dir ist?«
Da blickte Bärele zur Mutter auf, wahrscheinlich voll Verwunderung, daß sie ihn so gut verstanden.
»Ja, Mutter,« sagte er, »wenn du nichts dagegen hast, so geh' ich morgen nach Prag und kauf' da ein, was ich sehe.«
»Was? Du? Und nach Prag?« rief Hindel, in der ein gerade vor ihr niederfallender Donnerschlag keineswegs diesen Schrecken, wie sie ihn jetzt empfand, hervorgebracht hätte.
Erschöpft, niedergeschmettert von der ganzen Bedeutung dieser Mitteilung, mußte sie sich auf einen Stuhl niederlassen.
»Ja, Mutter,« begann Bärele wieder, »wenn du und der Vater nichts dagegen habt, so fahr' ich morgen in aller Frühe mit dem Stellwagen nach Prag. Du gibst mir Geld, so viel du gerad' in deinem Kasten hast . . . und ich geh'.«
154 »Und was willst du mit dem Geld anfangen?« fragte Hindel nach einer minutenlangen Unterbrechung, während welcher der Atem der beleibten Frau gestockt zu haben schien.
»Einkaufen, Mutter,« sagte Bärele trocken.
»Bärele, der Gedanke ist nicht in deinem Garten gewachsen!« rief Hindel und stand in großer Bewegung auf.
»In welchem denn?« fragte Bärele beinahe höhnisch.
»Und was liegt daran, ob er in deinem oder in einem anderen Kopfe gewachsen ist?« sagte Hindel in einem Tone, der höchst freudig klang. »Ich sag' dir, etwas Schöneres und Besseres hättest du mir gar nicht verkündigen können. Schon seit lange ist's mir im Hirne herumgekrochen, ob wir denn recht getan haben, dich so aufwachsen zu lassen, ohne Arbeit, ohne Geschäft . . . und jetzt kommst du selbst und sagst: Mutter, gib Geld her, ich will einkaufen gehen.«
»Gibst du mir's also?« fragte Bärele langsam.
»Gewiß, Bärele, so viel du willst. Tausende liegen für dich bereit. Wozu haben wir's denn?« rief Hindel, der sonst immer gleichmäßige Ruhe eigen war, in überströmender Wallung. »Kauf nur ein, was dir in die Augen fällt, üb' dich, und wenn auch das erstemal kein Vorteil dabei heraussehen wird, so liegt daran gar nichts. Die Hauptsach' ist, daß du ein Mensch wirst und siehst, wie man Geld verdient. Dann wird dir nicht zustoßen, was dir heute früh zugestoßen ist, daß du nämlich auf die paar Groschen einer armen Waise wartest und sie auszankst, wenn sie um fünf Minuten später den Zins bringt.«
Man sieht, Hindel hatte keineswegs den Auftritt vom Morgen vergessen. Sie gehörte keineswegs zu jenen Müttern, die den Untugenden ihrer Söhne gegenüber ewig den grauen Star haben, während sie an Fremden zu Adlern und Falken werden. Sie hatte bis dahin ihr Bärele gleichsam in großem Respekt gehabt, hatte nie viel über ihn gedacht, weil die anregende Gelegenheit dazu gefehlt hatte. Nun glaubte sie 155 mit einem Male klar zu sehen und seinen Charakter erkannt zu haben. Seine vermeintliche Roheit, sein ausgesprochener Geiz gegen das arme Mädchen hatte ihr Herz mit Kränkung erfüllt. Mit schnellem Blicke hatte sie die Fehler überschaut, die in Bäreles Erziehung gemacht worden waren. Darum ging sie so freudig auf den kaum enthüllten Antrag ihres Sohnes ein; ihr war es genug, daß Bärele die Wirkungen des heutigen Tages in so selbständiger Weise in sich verarbeitet hatte.
Daß aber selbst die scharfsichtigste Mutter zuweilen nichts sieht, wo eigentlich vieles zu sehen ist, weiß so mancher, der über die zwanzig Jahre hinausgekommen ist. Von da an gibt es Geheimnisse, für die das menschliche Auge nicht mehr ausreicht – und ein Engel mit ausgespannten Fittichen war Hindel nicht!
In der Freude ihres Herzens ging sie sogleich an den Kasten. Aus einer verborgenen Schublade nahm sie, allzu hastig vielleicht für ein so ernstes Geschäft, mehrere Bündel Banknoten, die da in Reih und Glied lagen.
»Da,« sagte sie zu ihm, »da nimm, Bärele, ich hab's nicht einmal gezählt. Wenn du wieder brauchst, ich hab' noch. Ich sag' dir noch einmal: es liegt mir nichts daran, wenn du zum ersten Male mit deinen Einkäufen auch Spott und Schand' haben wirst. Es liegt nichts daran. Wenn einer ein ›Barjin‹ werden soll, so geht es nicht, wie man die Hand umdreht. Das wird man erst in langer, langer Zeit, und mancher hat schon graue Haare und große Kinder, und ist doch noch kein ›Barjin‹ geworden.«
Bärele steckte die Banknoten gleichgültig ein, nicht so die Worte der Mutter. Er meinte, sie werde schon sehen, daß er ein Mensch werden wird, der sich um die Welt und um das, was diese Welt sage, nicht kümmere. Hindel brachte diese Worte auf Rechnung des heutigen Tages; er sei gekränkt, nahm sie an, und in dieser Kränkung habe er den 156 Entschluß gefaßt, ein tätiger Mensch zu werden. Doch sei es besser so als anders. Während dann Bärele auf seine Kammer ging, um sich zur Reise vorzubereiten, sagte Hindel zu ihrem Manne, der bis dahin, wie es schien, teilnahmlos dicke Rauchwolken vor sich hingeblasen hatte:
»Du wirst sehen, Ascher! aus dem Jüngel wird erst jetzt etwas werden.«
»Meinst du, Hindel?« gab er tonlos zur Antwort.
»Ja,« sagte sie mit großer Bestimmtheit. »Aus dem Jüngel wird erst jetzt ein Mensch.«
Nach einer Weile, während sich die Rauchwolken aus Rebb Aschers Meerschaumpfeife immer dichter und qualmiger ballten, mitten aus diesem Vulkane fragte er kleinlaut:
»Wollen wir heut', Hindel?«
»Ja, wir wollen, Ascher!« rief sie freudigen Tones.
Und das »Pasch« Karten ward hervorgeholt, und wie in manchen Häusern ein Valettrunk beim Scheiden gebräuchlich ist, so spielten Ascher und Hindel einen »Franzefuß« auf das glückliche Gedeihen ihres Sohnes!
Bärele hatte beim Weggehen aus dem Hause auf Hindels Frage, wann er zurückzukommen gedenke, unbedenklich geantwortet: »Auf die letzten Tage des Jontefs (Feiertags).« Wenn er auf die Hin- und Herreise einen Tag rechne, so seien die zwei anderen, die bis dahin fehlten, gerade hinreichend, um das »Geld« anzubringen. Zurückzubringen brauchte er es nicht, meinte Hindel noch zu guter Letzt. »Dafür solle sie nicht sorgen,« bemerkte Bärele fast lustig, »ein Dukatenmännchen sei er nicht.«
Es versteht sich von selbst, daß Hindel ihrem Sohne außer dem »ungezählten« Gelde auch noch einen ganzen Reisekoffer ebenfalls ungezählter Ratschläge mit auf den Weg gab, 157 wie er sich mit den Prager Kaufleuten zu benehmen habe, von denen jeder, besonders aber die Frauen, einen eisernen Kopf auf sich habe; wie er sich durch ihr Schmeicheln und Zureden nicht solle berücken lassen; das sei so ihre Art, besonders wenn sie wüßten, daß der Kunde vom »Land« sei. In den Wirtshäusern, wo er übernachte, solle er das Geld jedesmal unter sein Kopfkissen legen und ja nicht vergessen, das Licht auszulöschen und die Türe zu verriegeln. Schließlich möge er sich vor den Ladenmädchen auf dem »Tandelmarkte« hüten!
Bärele war wahrscheinlich schon nahe bei Brandeis, einem an der Prager Straße gelegenen Städtchen, vorüber, als sich Hindel noch erinnerte, sie habe vergessen, ihm ein »Trakteurhaus« anzuempfehlen, das sie aus ihrer Jugend noch kannte; dorthin möge er gehen und den »Trakteur« und die »Trakteurin«, wenn sie noch lebten, von ihr grüßen. Aber es war schon zu spät.
Übrigens konnte Hindel kaum den Tag erwarten, der ihren Bärele ihr wieder zurückbrachte. Zu der Sorge um den Abwesenden, der zum ersten Male sich den Gefahren einer großen Stadt aussetzte, kam noch ein gewisses dunkles Gefühl, das sich im Laufe der wenigen Tage immer mehr und mehr klärte.
Der plötzliche Entschluß ihres Sohnes, ein »Geschäft« anzufangen, die ganze Art und Weise, wie er ihr dies angekündigt, drängte sich ihrem Nachdenken immer stärker auf. So viel sah sie klar: der Zinstag der Nähterin und die Lektion, die sie ihm erteilt hatte, standen damit in Verbindung. Dennoch war es ihr eigen zumute, wenn sie überlegte, daß Bärele, bei dem Gefühlswallungen nie die starke Seite waren, eben durch diese Vorwürfe dazu bestimmt sein sollte. Sie, die jedes Äderchen in ihrem Sohne zu kennen glaubte, zweifelte selbst, ob sie den Eindruck auf sein Gemüt hervorgebracht.
158 Natürlich war sie in diesem Zustande nicht geeignet, auf die öftere Frage ihres Mannes: »Wollen wir, Hindel?« die bekannte Antwort zu geben. Die behäbige Frau fühlte sich unruhig und gepeinigt, wie nie in ihrem Leben. Dazu kam die Verdrießlichkeit Aschers, der die Abwesenheit Bäreles sehr schwer empfand. »Gerad' am Cholemoed hast du ihn wegschicken müssen?« sagte er wiederholt, »zu einer anderen Zeit hätt' es gar nicht sein können? Der ärmste Schnorrer unterhält sich am Cholemoed, ja selbst Kinder spielen ihr ›Hammer und Glock'‹, nur ich allein muß dasitzen wie ein verlassen Waisenkind und kann nicht einmal meinen ›Franzefuß‹ haben. Ist das erhört?«
»Erst muß man ein Mensch sein,« sagte Hindel gereizt, »und hernach kann man Franzefuß spielen.«
»Geht das auf mich?« fragte Ascher kleinlaut.
»Nein, das geht auf einen, der nicht hier ist,« gab sie zur Antwort.
Bärele ließ übrigens lange auf sich warten. Der Vorabend der letzten Feiertage war gekommen, durch die Gasse zog bereits der festliche Duft, in manchen Häusern entzündeten sich schon die Lichter – aber Bärele blieb aus. In Hindels Gemüt, wie starr und stark es sich auch gegen die Außenwelt zeigen mochte, begannen schwere Sorgen aufzusteigen. Zu der Furcht, ihr Sohn könne in den heiligen »Jontef« hineinfahren, gesellte sich eine andere: was ihn wohl verhindert haben könnte, zur bestimmten Zeit zu kommen. Mit einem Male erschollen sogar die drei Schläge des Schuldieners an der Türe, das Zeichen, daß der abendliche Gottesdienst beginnen würde. Da rüstete sich auch Rebb Ascher zum Fortgehen.
»Wart'st du denn nicht?« rief sie ihm nach, als er schon auf der Stiege war.
»Auf wen denn?« fragte er, ohne sich umzudrehen.
»Auf Bärele!« schrie sie.
159 »Du hast ihn ja fortgeschickt,« meinte er achselzuckend, »folglich mußt du auch wissen, wann er kommen wird.«
Hindel empfand diesen »Stich« bitter, aber es fehlte ihr an Mut, ihn gebührend zu beantworten. Dennoch, weil sie ein stark gewilltes Weib war, dem Ärger und Kränkung nicht so leicht etwas anhaben konnten, verwand sie selbst die Furcht um ihren abwesenden Sohn. Wenn sie es gut überlege, fiel ihr ein, so könne Bärele gar nicht so geschwind von Prag zurück sein. Das Jüngel werde so viel neue Sachen zu sehen bekommen haben, daß ihm darüber Hören und Sehen werde vergangen sein. Zudem sei er ein Neuling im Einkaufen, werde nicht wissen, wonach früher greifen. Eines werde das andere bei ihm verdrängt haben, zuletzt werde ihm die Zeit zu kurz geworden sein. Morgen werde die Post einen Brief bringen, drin werde das alles stehen, was sie jetzt denke; denn schreiben werde er ganz gewiß, so »klug« sei er doch.
In diesem Glauben vermochte Hindel, als ihr Mann aus der »Schul'« heim kam, mit einem fröhlichen Gesicht ihm entgegenzutreten, und »gut Jontef« zu wünschen.
Aber dieser Morgen kam, und weder Bärele, was auch natürlich war, noch ein Brief von ihm kam. Hindel war gleichfalls in »Schul'« gegangen, hatte aber beim Weggehen den Auftrag hinterlassen, wenn ein Brief käme, ihn sogleich zu dem benachbarten christlichen Schuster zu tragen, damit er das Siegel erbreche, weil ihr das am Festtage nicht gestattet war. Aber sie harrte umsonst, und vergebens waren ihre Gedanken während des Gebetes nicht bei Gott! Ihre Blicke hafteten in einem fort an der Eingangstüre der »Weiberschul'« – aber niemand kam, der ihr zuwinkte und ihr den erbrochenen Brief aus der Ferne zeigte.
Ganz verstört eilte sie, noch lange bevor die »Schul'« zu Ende, nach Hause. Hier traf sie schon ihren Mann, den gleichfalls die Sorge vom Gebete weggescheucht hatte.
160 »Nun, was sagst du zu dem Jüngel?« rief er ihr entgegen. »Noch nicht zurück!«
»Er kann doch nicht am heiligen Feiertage zurückkommen,« meinte sie gepreßt.
»Und auch kein Brief!« fuhr er fort. »Gott der Lebendige weiß, was ihm zugestoßen ist. So ein junges Kind soll man in die Welt schicken!<
»Das junge Kind ist vierundzwanzig Jahre alt,« meinte Hindel mit spöttischem Tone, »in dem Alter bist du schon mein Mann gewesen.«
Hindel wollte wahrscheinlich durch diesen Ton die innere Angst überschreien; aber es ging nicht an. Beiden fehlte der Sohn, sie hatten ihn, seitdem sie ihn besaßen, nie vermißt. Es war vielleicht der erste wahre Schmerz, der in das Leben dieser in Glück und Reichtum sitzenden Leute trat, und Hindel war der leidendere Teil; denn sie mußte so wie den Vorwürfen ihres Mannes, noch mehr ihren eigenen Schweigen auferlegen.
Dennoch ging sie am anderen Morgen, nachdem sie eine schlaflose Nacht zugebracht, mit ruhigerem Gemüte zur »Schul'«. Der Brief Bäreles konnte sich verspätet haben – was wußte er, der es noch nie zu einem Briefe gebracht hatte, davon, wie man so ein Schreiben auf die Post geben solle, damit es richtig und zur Zeit ankomme? Vielleicht war er zu spät gekommen, und die Post, die natürlich nicht wissen konnte, daß es eine Hindel Spitz in der Welt gab, die auf den Brief mit aller Sehnsucht wartete, hatte ihn für den anderen Tag mitgenommen. Sie hatte den nämlichen Auftrag gegeben, den Brief alsogleich zum Schuster zu tragen, und ihr erbrochen in die »Schul'« zu bringen. Aber auch heute harrte sie vergebens. Da bemächtigte sich ihrer eine Angst, daß es ein Wunder war, wenn sie nicht laut aufschrie; dicke Schweißtropfen drängten sich auf ihre Stirne; sie war wirklich einer Ohnmacht nahe. Unter dem 161 Vorwande, daß ihr zu heiß sei und die kühle Luft ihr gut tun werde, entschuldigte sie sich bei einer Nachbarin und entfernte sich eiligst, da kaum die Hälfte des Gottesdienstes vorüber war.
Draußen in der kühlen Luft kam ihr wieder die Fassung. Drin in der Schul', hatte sie geglaubt, ruhten die Augen aller Frauen auf ihr, und wußten, daß ihr Bärele keinen Brief geschrieben habe. Langsam ging sie die Treppe herunter, die von der Weiberschul' ins Freie führt; aber mit jedem Schritte, den sie vorwärts tat, um nach Hause zu gelangen, wuchs ihr inneres Bangen aufs neue. Was war mit Bärele wirklich vorgegangen? Wie sollte sie ihrem Manne jetzt entgegentreten? Ihre Blicke starrten vor sich hin, als sollten ihr, die sonst so stark im Wollen und Entschließen war, die leitenden Gedanken aus der leeren Luft zuströmen. Da fielen sie, von ungefähr, auf das kleine Häuschen, worin Hannele, das »fromme Weib«, und ihre Tochter Lisi zur Miete wohnten. Es war Hindel, als sei mit dem Anblicke dieses kleinen Häuschens ein neuer Sinn über sie gekommen. »Gott! Einziger!« fiel es ihr blitzartig bei, »wie ist mir nur das nicht eingefallen? Die Nähterin muß ja etwas wissen! Von ihr ist er ja gekommen, und etwas muß zwischen ihm und ihr vorgegangen sein, sonst hätte er sich nicht so schnell geändert!«
Hindel trat, ohne sich zu besinnen, rasch auf die Wohnung Hanneles zu. Zu einer anderen Zeit hätte es wohl länger gewährt, ehe »Rebb Aschers Weib« bei Hannele, dem frommen Weibe, eingetreten wäre! Die reiche Frau war sich auch vollkommen des Abstandes bewußt, der zwischen ihr und Hannele bestand. Aber jede Bedenklichkeit, worunter nicht die kleinste war, was es für ein Gerede geben würde, wenn ihr Besuch bei dem »frommen« Weibe ruchbar ward, schwand in dem Gedanken, daß ihr die »Nähterin« vielleicht einen Aufschluß werde geben können.
162 Als Hindel in das Vorhaus, das zugleich die Küche war, eintrat, fiel ihr bei aller Sorge, die sie hierher geführt hatte, die ungemeine Ordnung und Reinlichkeit auf, die in diesem kleinen Raume waltete. Schöngescheuert glänzten kupferne und zinnerne Gefäße; der Herd selbst, auf dem ein dürftiges Feuer loderte, war blank und zierlich anzusehen. »Man kann davon essen,« bildete sich in Hindel schnell das Urteil. Doch eine längere Umschau war ihr nicht gestattet, sie drückte auf die Türklinke, und nachdem sie geklopft hatte, trat sie auf ein »Herein« rasch in die Wohnstube Hanneles.
Was Hindel erwartet hatte, traf ein. Die Nähterin war allein in der Stube.
»Madame Hindel!« rief die Nähterin und sprang hoch verwundert von dem Gebetbuche auf, in welchem sie gebetet hatte. Der Besuch einer Königin wäre Lisi nicht so überraschend erschienen, als der der reichen Frau. »Madame Hindel!« rief sie daher noch einmal und errötete und erblaßte in einem und demselben Augenblicke.
»Mach dir keine Ungelegenheit, Lisi,« sagte Hindel, als die Nähterin sich beeilte, ihr einen Sitz anzubieten, »ich setz' mich nicht; aber danken möcht' ich dir dafür, wenn du mir ein gut Glas Wasser bringen möchtest.«
Lisi eilte in die Küche hinaus. Währenddem hatte Hindels erfinderischer Geist schnell die Ausrede gefunden, die ihrem Besuche den möglichsten Schein von Unbefangenheit geben konnte.
Gleich darauf kam Lisi mit dem Glase Wasser auf einem spiegelblanken Teller – blank wie »Gold,« bemerkte im stillen Hindel – und bot es mit den Worten an:
»Wohl soll es Ihnen bekommen, Madame Hindel!«
»Ich dank' dir, mein Kund,« rief Hindel gnädig und schlürfte das kühlende Getränk fast zur Hälfte aus.
»Jetzt ist mir tausendmal besser,« sagte sie hierauf, »ich hab' geglaubt, ich verschmachte in der Schul'.«
163 Dann sah sie das schöne Mädchen, das in bescheidener Entfernung vor ihr stand, mit einem schnell prüfenden Blicke an und meinte dann halb scherzend, halb ernst:
»Lisi, dir und deiner Stube sieht man's nicht an, daß du für die Leut' nähst. Geht's dir denn auch ganz gut? Und bist du zufrieden?«
Zu arbeiten gebe es immer, entgegnete demütig das Mädchen. Die Mutter verdiene hie und da auch etwas, und so brächten sie sich beide durch, sie wüßten oft freilich nicht wie? Aber wer habe eigentlich über nichts zu klagen? Wem gehe es stets nach Wunsch?
Hindel warf auf die Sprecherin nach diesen Worten mit Schrecken ihre Blicke. Wußte Lisi, warum sie hier war? Aber ebenso schnell begriff sie, daß sie sich nicht bloßstellen dürfe. Ruhiger also, als es in ihrem Gemüte aussah, meinte sie:
»Der Zins muß dir wohl schwer kommen, Lisi?«
»Ich muß arbeiten und arbeiten, bis ich ihn zusammengebracht habe,« sagte die Nähterin, aber keineswegs mit bettelhafter Demut.
»Warum bedankt sie sich nicht?« grollte es in der schnell zürnenden Frau, und ein Zug von ungnädiger Mißfälligkeit zeigte sich auf ihrem Gesichte. »Bärele hat ihr ja den Zins zurückgebracht, warum mag sie nichts davon wissen?«
»Du kannst doch aber nicht sagen, Lisi,« sprach sie laut, »daß wir dich wegen deines Zinses hart bedrücken? Es ist wahr, du bringst ihn pünktlich, und es könnte sich mancher an dir ein Beispiel nehmen. Aber meinst du, ich möcht' um die Polizei schicken, wenn du einmal ausbleibst?«
»Die Polizei werden Sie, wenn mir Gott immer mit Arbeit hilft und ich gesund bleibe, niemals zu holen brauchen,« meinte Lisi lächelnd.
»Sie bedankt sich noch nicht?« fragte sich Hindel selbst, empört über diese Verstellung Lisis, der sie den Dank doch 164 so leicht gemacht hatte. Wer hätte das in der kleinen Nähterin gesucht? Aber ein Blick auf das offene schöne Gesicht Lisis überzeugte schnell die reiche Frau, daß sie sich in dem Mädchen doch geirrt haben könnte. Hatte ihr vielleicht Bärele das Geld gar nicht gebracht? Der Gedanke lag so nahe, daß er ihr als der wahrscheinlichste dünkte! Aber wie stand das wieder im Zusammenhange mit Bäreles schnellem Entschlusse nach Prag zu gehen? mit seinem sonderbaren Tun seit dem Tage, wo Lisi den Zins gebracht hatte? Der starken Frau stand diesmal, und nicht bloß sinnbildlich, der Verstand still. Eine Verwirrung befiel sie, ein Durcheinanderwogen der verschiedenartigsten Gedanken, wie sie die sonst so klare Frau nie gekannt hatte. Das aber fühlte sie trotz dem allem heraus, daß sie mit der Nähterin sich »ausreden« müsse, daß alle Rücksichten auf »Standesunterschied« vor der eisernen Notwendigkeit weichen müßten – und dazu drängte sie nicht etwa der klügelnde Verstand, der oft irre geht, sondern ihr einfaches Bewußtsein als Mutter eines Kindes.
»Hör mich an, mein gut Kind,« sagte sie mit einem Male, ohne jeden vermittelnden Übergang, »mit dir muß ich reden, ich bin ›extra‹ darum zu dir hergekommen. So und so steht es mit mir.«
Und nun erzählte die reiche Frau in einem Tone, als wenn sie mit »ihresgleichen« spräche, vom Anfang bis zum Ende, alles, was ihr Herz bedrückte. Sie verschwieg nicht den kleinsten Umstand, und bemäntelte auch nicht, welche Worte sie in ihrem mütterlichen Unwillen gegen Bärele gebraucht; wie sie ihm seinen Geiz gegen sie, die Nähterin nämlich, vorgerückt, wie sie ihn fast fortgetrieben, damit er ihr den Zins wieder zurückerstatte. Er sei damit fortgegangen, freilich erst gegen Abend, aber als er gekommen, habe er seinen Entschluß erklärt, nach Prag zu gehen, um sich da im »Einkaufen« zu üben. Sie habe sich dagegen nicht gestemmt, habe im Gegenteil freudig zugestimmt und ihm »ungezählt« 165 Geld mitgegeben, sie wisse gar nicht wie viel. Das Geld mache ihr keine Sorge, wohl aber Bärele, der noch nicht zurückgekehrt sei. Sie sehe so viel, daß sein Ausbleiben nicht natürlich sei, ein Brief sei auch nicht eingetroffen – ob er ihr vielleicht nicht gestanden, was er vorhabe; denn etwas werde sie doch wissen . . ., wenigstens komme es ihr so vor.
Bei diesen Worten zuckte das Mädchen zusammen, und als Hindel dies bemerkte und sie heftig fragte: »Weißt du vielleicht mehr als ich?« da bedeckte sie mit beiden Händen das Gesicht und fing an bitterlich zu weinen. Darob war Hindel erst recht erschrocken.
»Um Gottes willen, Lisi,« schrie sie und faßte sie bei der Hand, »ich steh' wie auf glühenden Kohlen. Was weißt du von ihm?«
Da sanken die Hände des Mädchens langsam herab; ihr Antlitz war tränenüberströmt. Sie vermochte lange nicht zu Worte zu kommen. Dann begann auch sie zu erzählen; erst abgebrochen und stockend, dann immer geläufiger. Auch sie verschwieg nichts, aber sie hielt sich doch nur an die Hauptsache. In ihrem Munde nahm die ganze »Geschichte« eine ganz andere Form und Gestalt an, Bäreles Verfahren gegen sie am Zinstage erschien in einem anderen Lichte; ob in einem milderen, wagte Hindel noch nicht zu entscheiden. Aber schon, daß es nicht Geiz und Knickerei gewesen war, was sie an ihm so gerügt hatte, befriedigte sie nicht wenig. Das Mädchen verschwieg auch nicht, wie Bärele ihr am Hause in der Nacht aufgelauert und was da zwischen beiden vorgegangen war; aber sie tat es schonend für Bärele. Sich selbst klagte sie mit bittern Worten an, daß sie ihm so schonungslos entgegengetreten . . ., er habe nur das einzige verlangt, daß sie den »Spieler« zurücknehme, und nun sei das Unglück geschehen.
»Was für ein Unglück?« rief Hindel nur schwer atmend.
Lisi konnte vor Schluchzen nicht sprechen.
166 »Madame Hindel,« rief sie endlich, »sehen Sie denn nicht ein, wozu Ihr Bärele nach Prag gegangen ist?«
»Nein,« sagte diese stockend. »Was meinst du, Lisi?«
»Er ist nach Prag spielen gegangen,« flüsterte, von Hindel abgewandt, das Mädchen.
»Spielen!« rief die arme Hindel ganz vernichtet, »da sei Gott vor!«
Eine lange, minutenlange Weile trat nun ein. Nur das leise Schluchzen des Mädchens war in dem kleinen Raume hörbar. Hindel selbst, das starkmutige Weib, verrang mit übermenschlicher Anstrengung den Eindruck des soeben Gehörten. Vielleicht hätte sie klüger getan, der armen Nähterin die stolze Miene einer beleidigten reichen Frau entgegenzusetzen, wie das so vortrefflich in der »großen Welt« verstanden werden soll, aber dazu fehlte ihr der Sinn für Unwahrheit und auch der Mut. Sie war sogleich überzeugt, daß Lisi recht habe; alle Umstände, die sich jetzt zu einem Ganzen vor ihrem Denken sammelten, stimmten zusammen: Bärele war nach Prag spielen gegangen.
»Hör mich an, mein Kind, mein gut Kind,« sagte sie nach diesem schrecklichen Augenblicke, »es ist leider gar nicht zu bezweifeln, daß alles, was du mir erzählt hast, von Wort zu Wort wahr ist. Wie es in mir aussieht, kannst du dir denken. Leider Gott! ich muß dir recht geben. Mein eigener Sohn hat mich betrogen, hat mir Geld abgenommen, um es zu verspielen. Ich will jetzt nicht sagen, wie das gekommen sein muß; aber wir selbst, seine Eltern, haben es zu verantworten, daß es so gekommen ist, denn wir hätten es verhüten können. Was aber geschehen ist, ist geschehen, und ich muß nun dafür sorgen, daß aus der ganzen Sache nicht noch etwas Ärgeres wird.«
»Ich werde nichts ausplaudern, Madame Hindel,« beteuerte die noch immer weinende Lisi, »ich nicht. Darauf können Sie sich verlassen.«
167 Hindel lächelte trübe.
»Das mein' ich nicht, du Narrele,« sagte sie, »ich weiß, du wirst zu meinem Unglück nicht noch hinzugeben, daß du dir die große Trommel umhängst, oder wie der Schulklopfer es an alle Türen hämmerst. Dafür kenne ich dich schon zu gut. Wein auch nicht und glaub nicht, daß du daran schuld bist. Das ist so in seiner Natur gelegen, und dafür sind andere verantwortlich. Das schlag dir also aus dem Gedanken und nimm an, daß es dich nichts weiter angeht.«
»Mich trösten Sie, Madame Hindel,« rief Lisi schmerzlich, »und Sie selbst brauchen doch eher Trost.«
»Ich werd' mir schon zu helfen wissen,« meinte die reiche Frau nach einigem Nachdenken und stand auf. Ihr ganzes Wesen hatte sich unter diesen Worten geändert. Eine merkwürdige Entschlossenheit, eine Art Begeisterung glänzte auf ihrem Antlitze. Lisi blickte sie mit einem Gefühle von Ehrfurcht an.
»Was wollen Sie denn tun, Madame Hindel?« wagte sie kaum zu fragen.
»Ich werd' mir mein Bärele zurückholen,« sagte sie mit Entschiedenheit, »und wenn ich müßt' ihn vom ›guten Ort‹ mir holen. Doch so arg wird es nicht sein,« setzte sie mit traurigem Lächeln hinzu. »Die Hauptsache ist, daß ich ihn finde. Für das übrige laß meinen Kopf sorgen.«
Damit ging Hindel, und wer der breiten, stattlichen Frau in ihrem rauschend seidenen Kleide und der buntbebänderten Haube nachsah, wie sie jetzt durch das enge Schulgäßchen gleich einer bewimpelten Fregatte auf dem Ozean einherging, der hätte gelacht, wenn man ihm gesagt hätte, daß dieselbe Frau ein schweres Leid in sich trug. Erst in ihrem Hause angelangt, verließ sie diese vornehme Haltung, die wirklich erkünstelt gewesen, und sie brach fast zusammen, ehe sie ihre Stube erreicht hatte.
So fand sie der heimkehrende Ascher. Ergriffen von dem ungewöhnlich aufgeregten Wesen seiner Frau wollte er um den Arzt schicken. Sie aber wehrte es ab, wie sehr er in sie drang.
»Ich hab' schon meinen Arzt,« sagte sie, »und der bin ich selbst. Ascher!« setzte sie dann nach einer Weile hinzu, »wenn du mir helfen willst, so schick gleich auf die Post und laß mir auf morgen in aller Frühe eine Extrakutsch' bestellen. Ich fahr' nach Prag.«
»Du willst auch nach Prag?« rief vor Staunen starr Rebb Ascher.
»Ich muß, Ascher,« sagte Hindel stark, »ich muß . . . da nützt kein Reden und kein Raten, ich muß. Ich muß wissen, wo mein Bärele ist, und eher komm' ich nicht zurück, als bis ich ihn mit der Hand da angefaßt habe.«
Ascher verlegte sich umsonst aufs Bitten und Vorstellen, was er denn beginnen solle, wenn auch sie von ihm fortginge, dann hätte er gar niemanden, mit dem er sich »ausreden« könne.
»Sag lieber: Franzefuß spielen,« meinte sie bitter. »Aber ich hab' an dem Spiel genug zu tragen.«
Ascher selbst hatte nun nichts einzuwenden, als sie ihm in wenigen Worten Zweck und Absicht ihrer Reise nach Prag dartat. Er schüttelte nur den Kopf, als bezweifelte er, daß Bärele am Rande eines Abgrundes stehen könne, weil er nach Prag gegangen war, um zu spielen.
»Bagatelle,« murmelte er im Fortgehen zur Post, »sie haben dem Jüngel das Franzefußspiel ›mieß‹ gemacht, und darum ist er nach Prag spielen gegangen. Und daraus macht sie so viel Gelärm?«
Noch vor Tagesanbruch rollte eine Kutsche durch die schlafende Gasse. Hindel saß darin; sie hatte dem Postillion 169 gleich beim Einsteigen ein reichliches Trinkgeld gegeben, damit er nicht »blase«: denn wozu brauchte die Welt zu wissen, weswegen sie nach Prag fuhr? Die Pferde liefen rasch, aber seit wann gehen Pferd und Wagen gleichen Schritt mit der sorgenvollen Sehnsucht eines Menschen? Ohne zu rasten, ja selbst ohne mehr als einen notdürftigen Imbiß zu sich zu nehmen, eilte sie vorwärts. Zu Mittag kam sie in Altbunzlau an, einem Orte, der durch den Mord eines böhmischen Herzogs, der hier durch seinen eigenen Bruder fiel, und die darauf erfolgte Heiligsprechung des Gemordeten berühmt geworden ist. Noch zeigt man an der Kirche den eisernen Ring, an den sich der Unglückliche im Todeskampfe anhielt. Hindel wußte von dieser »Geschichte«, die in ihrer Jugend erzählt worden war. Sie fiel ihr auch jetzt wieder ein, als sie an jener Kirche vorüberfuhr, und sonderbar –, auch ihr Sohn kam ihr damit in den Sinn, wie wenig Zusammenhang auch zwischen beiden bestand. In dem nahen Brandeis, das nur durch eine Brücke von Altbunzlau getrennt ist, wurden die Pferde gewechselt. In dem Augenblicke, als sie abfuhr, sah sie durch das Fenster kaum zehn Schritte vom Wagen ein Mädchen, das eine ganz außerordentliche Ähnlichkeit mit der »Nähterin« Lisi zu haben schien. Hindel wollte ihr zurufen, aber das Peitschenknallen des Postillions und das Rasseln des Wagens übertönte ihre Stimme.
War das wirklich Lisi gewesen? Wie sollte die jetzt herkommen? Und doch hätte Hindel darauf schwören mögen, daß sie es war. Sie schlug sich aber diesen Gedanken als zu lächerlich, um ihm nachzuhängen, bald aus dem Sinne. Um drei Uhr nachmittags sah sie die Hauptstadt Böhmens vor sich liegen und fuhr durch das düstere »Porzicer« Tor ein.
Sie ließ sich in die »drei Karpfen« führen, ein ihr noch aus ihren Jugendtagen bekanntes Einkehrhaus, das damals im Rufe fabelhafter Wohlfeilheit stand. Hindel hatte 170 kein Auge für die schöne Straße, die seit ihrer letzten Anwesenheit in Prag um jenen Gasthof herum entstanden war. Kaum in ihrem Zimmer angelangt, rüstete sie sich schon, matt und zerschlagen, wie sie von der schnellen Reise war, zu dem schweren Gange, um mitten in einer großen Stadt, mitten aus mehr als hunderttausend Menschen – ihren Sohn herauszufinden. Ihr erster Gang galt dem »Trakteur«, den sie durch Bärele hatte grüßen lassen; sie fand ihn in der Tat noch in dem engen Gäßchen zwischen dem »Dreibrunnenplatze« und der »Geistgasse«, aber der Trakteur, der seitdem von dem Gelde aller böhmischen Landjuden reich und fett geworden war, erkannte sie nicht wieder, wie viele Erkennungszeichen sie ihm auch sonst an die Hand gab. Sie fragte ihn, ob ihm nicht ihr Sohn ihren Gruß bestellt habe; denn sie hatte vergessen, daß sie ihrem Sohne das Trakteurhaus gar nicht angegeben hatte. Sie hatte das erwartet; traurig ging sie fort, ohne etwas zu »verzehren«, worüber der Trakteur nicht wenig zu zürnen schien. Von dort ging sie in ein anderes Speisehaus, fragte auch da, nachdem sie die genaueste Beschreibung Bäreles gegeben; aber auch hier ward ihr die nämliche Antwort. Es waren so viele Menschen aus und ein gegangen, rühmte dieser Trakteur mit stolzem Munde, die alle »gespeist« werden mußten, daß ihm kein Auge für eine einzelne Person blieb. Ohne Erfolg besuchte Hindel nach und nach mehrere der Speisehäuser, an denen die »Gassen« jenes Stadtviertels so reich sind, überall ward ihr der nämliche Bescheid. Oft mußte sie manches spöttische Lächeln mit in den Kauf nehmen, und einmal hörte sie sogar, wie eine griesgrämige Trakteurin zu ihrem Aufwärter sagte: »Die sucht ihn bei uns, und er ist vielleicht ganz anderswo zu finden.« »Wo?« hatte Hindel inständigst gefragt, und, »vielleicht beim ›Engel‹ oder beim ›schwarzen Roß‹ (bekanntlich keine Speisehäuser, worin Trakteure der »Gasse« walten) zur Antwort erhalten.
171 Dieser Bescheid erschreckte sie so sehr, daß sie wie vernichtet dastand. Ihr Bärele also in einem der Gasthäuser Prags einlogiert, verzehrte vielleicht da ihr Geld wie ein großer Herr und war höchst wahrscheinlich die ganze Zeit bei keinem »Trakteur« gewesen! Der Schlag ihres so wild bewegten Herzens stand oft stille, so tief gesunken mußte sie sich ihr Bärele vorstellen. Es war Nacht geworden. Sie mußte daran denken, wieder ihr Absteigequartier aufzusuchen, von Ermüdung, Hunger und Kummer vollständig überwältigt. Jetzt erst, am Tore zu den drei »Karpfen« fiel ihr ein, die Polizei müsse doch von dem Aufenthalte ihres Sohnes Nachricht haben. Aber sollte sie zur Polizei gehen? Hindel gehörte nicht zu jenen furchtsamen Geschöpfen, denen der bloße Name dieser Behörde unheimlich klingt; sie wußte nur in diesem Augenblicke, daß es eine vortreffliche Einrichtung sei, wenn jeder Ankommende am Tore seinen Paß abgebe. Denn wie sollte man in einer so großen Stadt die Fremden herausfinden – wenn man gerade einen suchte – wie hier eine Mutter ihren Sohn? Also nicht die Furcht war es, die ihr diesen Gang erschwerte, aber ein dunkles, schreckenvolles Gefühl, was sie da für eine Antwort erhalten würde, wenn sie fragte: »Habt ihr den und den gesehen? So und so sieht er aus; er ist vierundzwanzig Jahre alt, groß von Gestalt, trug bei seinem ›Verschwinden‹ einen drapfarbenen Rock, am Halse ein grauseidenes Tuch, und über der Oberlippe rechts hat er ein Muttermal in Gestalt einer Linse?« Und wenn sie dann nun sagen mußte: Das ist mein Sohn– sie wagte diesen Gedanken gar nicht weiter fortzuspinnen. Trotzdem war sie so zwischen Fürchten und Bangen in die »Neue Allee« gekommen, von wo sie auf mehrfaches Fragen den Weg zur Polizei fand. Dort vernahm sie aber, die »Bureaus« seien eben geschlossen worden, vor morgen neun Uhr könne ihr keine Auskunft erteilt werden.
Nun trat sie wieder den Heimweg zu ihrem Gasthofe 172 an, nicht ohne eine Empfindung von Freude, daß sie auf der Polizei keine Auskunft gefunden. So blieb ihr doch noch die Hoffnung, am andern Tage zu suchen. Zum Sterben müde, sank sie ins Bett und schlief ohne Traum wie eine Tote bis an den hellichten Morgen. Erschrocken fuhr sie auf, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Es war nahe an neun Uhr, und für diese Stunde hatte man sie auf die Polizei bestellt. Sie warf sich mit ungewohnter Hast in die Kleider und machte sich ohne Frühstück auf den Weg zur Polizei. Unten vor dem Tore begegnete sie einer Frau, die einen großen Hausierpack unter dem Arme trug. Das gab ihren Gedanken sogleich eine andere Richtung. Konnte Bärele nicht doch Einkäufe gemacht haben? Warum sollte sie sich ihn gar so schlecht denken? Und wozu brauchte sie die Polizei auf seine Existenz aufmerksam zu machen? Man hat es wahrscheinlich schon erraten, welche Leute Hindel im Sinne hatte. Sie richtete ihre Schritte nach dem nahegelegenen »Tandelmarkt«.
Hindel hatte noch aus frühester Zeit eine lebhafte Abneigung gegen diesen Ort; sie konnte nicht ohne ein Gefühl von Grauen sich dahin begeben. Zu deutlich erinnerte sie sich der Szenen, die sie dort als ein junges Mädchen erlebt hatte. Da waren Weiber und Männer, Mädchen und Knaben wie hungrige Haifische auf sie losgestürzt; der eine hatte sie beim Arme, der andere an der Schulter ergriffen; der dritte hatte sogar ihr Kleid zerrissen. Dazu Stimmen aus allen Tonarten; es wirbelte und quirlte um sie her, als hätte jemand mit einem Stocke in ein Wespennest gestochen. Sie hatte sich damals glücklich geschätzt, mit heiler Haut, gesund und unversehrt aus diesem schreckenvollen Orte entronnen zu sein. Das alles drängte sich jetzt mit unabweisbarer Gewalt vor ihre Seele. Gestern, als sie zur Polizei gegangen, war ihr bei weitem nicht so zumute. Aber es erging ihr, wie es den meisten Leuten mit lebhafter Erinnerungsgabe ergeht; 173 mit dem Erschauen der wirklichen Gefahr verliert sich ein großer Teil des bis dahin Gefürchteten. Damit soll nicht gesagt werden, daß Hindel wie durch einen Rosengarten auf lauter duftenden Blättern spazierte, als sie endlich in jenen dunklen Hallen des »Tandelmarktes« angelangt war. Sie hatte genug auszustehen, mehr als die stattlich beleibte Frau zu ertragen glaubte. Wie ein lebloser Ballen wurde sie in dem dichten Gedränge von Käufern und Verkäufern hin und her geworfen; einer schien es mit dem andern verabredet zu haben, die arme Frau zu narren und irrezuführen. Bei keinem Gewölbe ließ man sie zu Rede kommen, alle drängten und schrien auf sie ein; sie hätte tausend Ohren haben müssen, um alles zu hören. Hatte sie jemanden wirklich die Frage vorgelegt, ob er oder sie (es waren meistens Frauen) nicht ihren Sohn gesehen habe, und ihm die genaueste Personenbeschreibung vorgelegt, so wandte man sich gewöhnlich mit einer verächtlichen Miene von ihr ab. Sie mußte Worte und Redensarten hören, die ihr das Blut zu Kopfe drängten, die sie »zu Hause« nicht mit dieser stummen Entsagung hätte hingehen lassen. Hier war sie willen- und kraftlos; das kleinste Kind hätte sie umwerfen können. So war sie von einem Ende der Kaufhallen bis zum andern gestoßen, geschoben und geworfen worden, ohne jede Aussicht, die kleinste Auskunft über die ihr am Herzen liegende Angelegenheit zu erhalten. Da erbarmte sich ihrer eine kleine dicke Frau, die in einer Art Kanzel vor ihrer Bude saß; sie mußte wohl die tiefbekümmerte Miene der so arg Geängstigten bemerkt haben.
»Was suchen Sie, Madameleben?« rief sie ihr zu und faßte sie sanft beim Arme.
Hindel sah auf und erblickte ein menschliches Gesicht. Der Ton dieser fragenden Erzählung schien ihr Gutes zu versprechen, sie klammerte sich fast an die Frau an. »Sie scheine hier auch nicht einheimisch zu sein,« meinte die Frau, 174 »und sie frage sie nicht, ob sie etwas kaufen wolle, sondern aus bloßer Teilnahme.« Das klang wie Musik in Hindels Ohren. Mit überströmendem Gefühle erzählte sie ihr nun, wen sie suche und wie unglücklich sie sei, gerade da, wo sie die meiste Auskunft erwartet habe, keine zu finden. »Wie ihr Sohn aussehe?« fragte die mitleidige Frau, »denn wenn er hier Einkäufe gemacht, so kenne sie ihn, sie sitze hier wie im ›Parterre‹ des Theaters, von wo man den ganzen Schauplatz übersehen könne.« Hindel konnte nicht umhin, auf dieses »Parterre« der Frau einen Blick zu werfen, es schien ihr eben nicht beneidenswert. Dann gab sie vielleicht zum fünfzigsten Male die Personsbeschreibung ihres Sohnes zum besten.
»Den habe sie nicht gesehen,« gab die Frau nach einigem Nachdenken Bescheid, »sie könne sich darauf verlassen, als wenn es der ›erste Jurist‹ gesagt hätte, ein solcher habe hier nichts eingekauft.«
Das war ein niederschlagender Bescheid für Hindel! Sie dankte mit warmen Worten und entfernte sich. Nun stand sie ratlos da und wußte nicht, wohin jetzt ihre Schritte lenken. Noch einmal den Gang durch die Kaufhallen zu machen und noch einmal Nachfrage zu halten, dazu fehlte ihr der Mut. Unwillkürlich geriet sie in die »Schwefelgasse« und von da in das kleine Gäßchen, das in den »großen Ring« gegenüber dem Rathause mündet. In dem Augenblicke, als sie heraustreten wollte, war es wieder, als sähe sie die Nähterin vor sich; es war ihr Kleid, ihre Haltung und Gestalt. Hindel hätte darauf schwören mögen, Lisi sei es gewesen. Sie eilte ihr nach, rief sie beim Namen, aber eine starke Menschenwelle drängte sich zwischen sie und das Mädchen. Als es wieder freier um sie wurde, war die Erscheinung verschwunden.
Hindel hielt sich auch diesmal für überzeugt, daß sie recht gesehen, daß es aber doch unmöglich Lisi, die Nähterin, 175 gewesen sein konnte. In einer so großen Stadt, meinte sie, begegne man vielen Menschen, die eine merkwürdige Ähnlichkeit mit Leuten »zu Hause« haben, und doch seien sie es nicht. Zudem, was hätte Lisi in Prag zu tun? Hatte sie Geld zu einer solchen Reise? Hindel schlug sich die Begegnung wieder aus dem Sinn.
Sie besann sich nun, daß sie in den »Gewölbern« des eigentlichen Prag, nämlich in der »goldenen« und in der »breiten« Gasse, noch nicht gewesen. Wie leicht konnte der unerfahrene Bärele hierher seine Schritte gelenkt und seine Einkäufe gemacht haben, wo sie freilich billiger kamen, aber die Ware auch danach sich richtete! Traurig schüttelte sie aber den Kopf; wozu gab sie sich solchen Hoffnungen hin? Wußte sie doch mit aller Bestimmtheit, daß ihr Bärele irgendwo saß – und spielte! Dennoch unternahm sie den Gang in die »goldene« Gasse. Für die an Wohlleben gewöhnte Frau war dieser Weg durch die spannweite, mit Trödel allerlei Art vollgestopfte Gasse, aus der ihr nicht eben die angenehmsten Düfte entgegen wehten, eine höllische Qual; ihr Atem war beengt, sie mußte sich an eine Mauer halten. Freilich ward ihr in der »goldenen« Gasse nicht so begegnet als in jenen schrecklichen Kaufhallen, woher sie eben kam. Sie ward nicht gestoßen und geschoben, man verfuhr hier überhaupt höflicher mit ihr. Wenn sie sich an jemanden wandte, so stand man ihr Frage und Antwort, die halbe Gasse lief sogleich zusammen, wenn sie irgendwo stehen blieb. Aber keiner hatte ihren Sohn gesehen, weder seit gestern und vorgestern, noch während der ganzen Woche. An drei Stunden dauerte dieser Gang durch die »goldene« Gasse, und Hindel bekam während dieser Zeit mehr Anschauungen vom Prager »Geschäftsleben«, als sie bis jetzt gekannt hatte.
Da es schon lange nach Mittag war, ließ sie sich wieder den Weg zu dem dicken Trakteur zeigen, sie fühlte sich von Hunger und Mattigkeit ganz erschöpft. Diesmal kam man 176 ihr mit ausgesuchter Höflichkeit entgegen, denn sie begehrte etwas zu »verzehren«. Der Gastwirt tat, als erinnerte er sich gar nicht, sie jemals gesehen zu haben, und tanzte um sie herum, daß Hindel fast das Lachen ankam. Was die Prager doch für sonderbare Leute seien, dachte sie im stillen, alles gehe bei ihnen aufs »Interesse« hinaus; denn wie alle Kleinstädter bedachte Hindel nicht, daß die Bewohner einer großen Stadt von Natur aus sich wenig der Gemütlichkeit befleißigen können. Der Trakteur behandelte sie fast wie eine »Gräfin«, setzte sich zu ihr und unterhielt sie von allerlei Angelegenheiten. Ihr tat es wohl und sie ließ ihn reden und reden – bis sie einschlief. Da erst hörte der Trakteur auf und ließ sie in Ruhe.
Der Abend war bereits niedergesunken, als Hindel aus ihrem Schlummer erwachte; sie hatte nahe an drei Stunden so dagesessen. Erst das Geräusch ankommender Gäste vermochte sie daraus zu wecken. Sie zahlte, vielleicht so reichlich wie eine »Gräfin«, und wurde von dem Trakteur mit vielen Bücklingen zur Türe hinaus begleitet. Ein unnennbares Weh durchzuckte sie, als sie wieder in der Gasse stand – und ihren Sohn nicht hatte. Es graute ihr davor, wieder in ihr Absteigequartier zurückzukehren, ohne daß sie noch das Geringste erreicht hatte. Am liebsten wäre sie auf freier Straße geblieben und hätte da ihr Bärele erwartet. Planlos strich sie durch die finstern, nur notdürftig erleuchteten Gassen; überall begegnete sie vom Markte heimkehrenden Männern und Frauen, mit großen Schlüsselbünden in der Hand. Oft hüpften Kinder an ihr vorüber, die ihren Eltern entgegeneilten; das schnitt ihr bitter durchs Herz. Das einzige Kind, das sie besaß, wo war es jetzt?
Es war spät in der Nacht, als Hindel auf ihrer Wanderung in eine ihr unbekannte, menschenleere Gasse gelangte, die sie bis dahin nicht durchstrichen hatte. Sie mochte nicht fern von der Moldau sich befinden, denn sie hörte ganz 177 deutlich das Wasser rauschen. Hindel fürchtete sich; ein Bangen überfiel sie, als sie die verlassene, todöde Gegend näher betrachtete. Alle Häuser und Fensterläden waren dicht verschlossen; es hätte, wenn sie jemand angefallen, keine Hand sich gerührt, um ihr zur Hilfe zu kommen. Sie wandte sich entsetzt um und floh nach der entgegengesetzten Richtung, wo sie die Moldau nicht vermutete, denn besonders das Rauschen des Wassers war ihr schrecklich. Außer Atem war sie in die »Zigeunergasse« gekommen. In demselben Augenblicke huschte an ihr ein Mädchen vorüber.
»Lisi, um Gottes willen, bist du es?« schrie sie.
Das Mädchen drehte sich um. Es war wirklich Lisi.
»Madame Hindel!« rief sie mit gellender Stimme.
Hindel fuhr sich aber mit der Hand nach den Augen. Sie fühlte einen heftig stechenden Schmerz darin; aber es waren nur Tränen, die zum ersten Male seit langer, langer Zeit mit Gewalt hervorbrachen, und nun, da das Siegel, das darauf gelegen, gebrochen war, unaufhaltsam strömten. Hindel vermochte kein Wort hervorzubringen.
»Madame Hindel, Sie weinen?« rief das Mädchen, dem um diesen Augenblick die dunkle Sage von der Tränenlosigkeit der reichen Frau eingefallen sein mochte.
»Hättest du das von Hindel Spitz erwartet?« sagte sie unter Schluchzen. »Dahin kommt man aber, . . . wenn man Kinder hat.«
Lisi schaute die erschütterte Frau erschrocken an; sie glaubte, ihr Verstand habe gelitten. Hindel war auch in der Tat im Zustande der äußersten Verwirrung . . . plötzlich rief sie:
»Aber um Gottes willen, Lisi, wie bist du hergekommen? So hab' ich dich in Altbunzlau doch recht gesehen und gestern auf dem Altstädter Ring? Sag, was hast du in Prag zu tun!«
»Ich such' einen,« flüsterte das Mädchen fast unhörbar und stockte.
178 »Du wirst ihn nicht finden,« rief Hindel in verzweifeltem Tone, »in Prag findet man keinen, der sich einmal verloren hat. Geh nur wieder heim.«
Mit gerungenen Händen, den sonst so stolzen Kopf kummervoll gebeugt, stand Hindel vor dem Mädchen da.
»Verzweifeln Sie nicht, Madame Hindel,« sagte diese in den weichsten Tönen des Erbarmens, »mit Gottes Hilfe werden wir ihn doch wieder finden.«
»Wen meinst du?« rief Hindel in ihrer Verwirrung.
»Ihren Sohn,« flüsterte Lisi und wandte sich ab.
»Suchst du den auch?« fragte Hindel auffahrend.
»Deswegen bin ich ja nach Prag gekommen,« sagte Lisi – und stockte.
»Deswegen?« rief Hindel . . . und eine lange Pause trat zwischen beiden ein.
»Bist du gefahren, Lisi?« fragte sie danach mit fast trockenem Tone.
»Nein, Madame Hindel,« antwortete diese, »ich bin zu Fuß gegangen.«
»Die ganzen neun Meilen zu Fuß gegangen?« rief Hindel. »Wann bist du denn fortgegangen, da ich dich schon in Altbunzlau gesehen habe?«
»Gleich in der Nacht, als der Jontef (Feiertag) aus war,« sprach Lisi.
»Und hast dich gar nicht gefürchtet, so in der finsteren Nacht zu wandern?« meinte Hindel.
»Wer hätte mir was tun sollen?« meinte Lisi, als verstehe sich das von selbst. »Geld hab' ich keines bei mir gehabt.«
»Ohne Geld bist du in Prag?« rief Hindel beinahe ungläubig und trat einige Schritte nach rückwärts. »Lisi, Lisi!« rief sie dann mit drohend aufgehobenem Finger, »das laß ich mir nicht einreden, du magst sagen, was du willst.«
Statt aller Antwort zog Lisi ein kleines Beutelchen, mit dem sie vor Hindels Augen auf und nieder fuhr:
179 »So ganz ohne Geld, Madame Hindel,« sagte sie lächelnd, »bin ich nicht gewesen; aber ein Räuber hätt' sich bedankt, wenn er nur das bei mir gefunden hätte.«
»Gott! Gott!« rief Hindel dann ganz außer sich, »was bist du doch für ein merkwürdig' Mädchen, Lisi! Wie ist dir das aber nur eingefallen? Du hast mir ja gar nichts gesagt, als ich bei dir war?«
»Ich habe schon damals daran gedacht, Madame Hindel,« sagte Lisi bescheiden; »aber ich hab's in mir behalten, bis meine Mutter nach Hause gekommen ist. Da hab' ich zu ihr gesagt: Mutter, ich muß noch heute abend nach Prag. Sie hat's nicht zugeben wollen; aber ich bin doch gegangen.«
»Lebendiger Gott! so allein, so mutterseelenallein!« rief Hindel. »Geht neun Meilen bis nach Prag, und ich fahre an ihr vorüber in einer Postkutsch' und laß sie zu Fuß gehen! Lisi, das werd' ich mir all mein Lebtag nicht verzeihen. Aber jetzt sag' mir nur: Was willst du eigentlich in Prag?«
»Ihn will ich aufsuchen,« lispelte Lisi; »meinetwegen, weil ich ihn gekränkt habe, ist er ja nach Prag auf und davon! Es wär' ja mein Tod, wenn er ein Unglück davon hätte.«
Gut war es, daß die Dunkelheit der Nacht ihren nur halb durchsichtigen Schleier um die beiden geworfen hatte. Sie ersparte dem armen Mädchen einen Anblick, der es wirklich zu Tode erschreckt hätte. Unwillkürlich hatte sich Lisi in das Herz blicken lassen, und es bedurfte nicht einmal eines so scharfen Auges, wie es die Mutter Bäreles namentlich in diesem Augenblicke besaß, um zu sehen, was in diesem jungfräulichen Gemüte sich zur Blüte drängte . . . Nun wollen wir nicht behaupten, daß es in diesem denkwürdigen Momente keine Sekunde gab, in der sich nicht des reichen »Rebb Aschers Weib« in ihr geregt hätte; aber das fuhr nur blitzschnell durch sie und verschwand ebenso rasch. Hier stand 180 nur das einfache, mitfühlende Weib dem Weibe, die Mutter einem Mädchen entgegen, dessen Leiden dem ihren verwandt war. Hindel hatte zudem die ersten Tränen seit undenklicher Zeit geweint . . . und fließen nicht die meisten Tränen aus der Quelle der Demut? aus den Tiefen einer schmerzlichen Entsagung?
Plötzlich fühlte Lisi eine warme Hand an ihrem Kinne. Hindel war es, die ihr den Kopf in die Höhe hob und mit weichen Tönen sagte:
»Es soll dein Unglück nicht sein, Lisi, mein Kind! Wenn wir ihn ganz und wohlauf nach Hause bringen – soll's dein Unglück nicht sein. Verlaß dich drauf!«
Mehr sprach die reiche Frau nicht; Lisi verstand sie aber nicht. Wohl aber fuhr etwas wie ein grausames Weh durch dieses jungfräuliche Gemüt. »Sie wird mir meine Reise bezahlen wollen,« hätte Lisi gesprochen, wenn sie in diesem Augenblicke hätte sprechen können. »Was hab' ich aber vom Geld? Ich brauch' ja keines.«
»Und jetzt sag', wo bist du im Quartier?« fragte Hindel kurz.
»Ich hab' keines,« meinte Lisi, »ich hab' mir gerade eines suchen wollen.«
»Lebendiger Gott!« schrie Hindel, »in Prag sein, und kein Quartier haben! An was denkst du denn, Lisi?«
»Ich hab' immerfort daran gedacht, wie ich ihn finden könnte, . . .« meinte Lisi treuherzig.
»Du gehst mit mir, Lisi,« sagte Hindel nach einigem Bedenken mit gebieterischer Stimme, »du wirst bei mir schlafen und wirst mit mir nach Hause fahren. Keinen Augenblick laß ich dich mehr von meiner Seite; du kennst das Prag nicht. Wie leicht kann dir da ein Unglück passieren. Jetzt komm!«^
»Was sollen wir aber . . . mit ihm anfangen?« fragte Lisi.
181 »Mit wem?« meinte Hindel, die ganz in das Anschauen Lisis versunken war.
»Mit ihm – mit Bärele!« rief Lisi.
»Den müssen wir finden,« sagte Hindel, und ihre Stimme bebte, »ohne den können wir beide nicht nach Hause gehen.«
Hindel hatte sich nach diesen Worten, als erinnerte sie sich, weswegen sie nach Prag gekommen war, wieder in Bewegung gesetzt. Aber in ihrer Aufregung geschah es, daß sie mit Lisi, die ihr stillschweigend folgte, gerade nach derselben verlassenen Gegend zusteuerte, woher sie mit so großem Entsetzen geflohen war.
Hindel merkte dies nicht; plötzlich standen die beiden Frauen wieder auf jenem todöden Platze des »Frantjssek«, und hörten das Wasser der Moldau ganz in der Nähe rauschen.
»Was tue ich denn wieder da?« rief Hindel und faßte im dunklen Drange der Furcht Lisis Hand. »Auf dem Platze da möcht' ich nicht tot sein, er ist gar zu schrecklich! Wir müssen zurück!«
Hindel zog das Mädchen nach der Seite der niedrigen Häuser hin, weil sie sich inmitten des öden Platzes nicht sicher genug glaubte. Aus einer Schenke, durch deren geschlossene Fensterläden ein Lichtschimmer sich stahl, erschollen wirr durcheinander rufende Stimmen, wie von erhitzten oder betrunkenen Menschen. Unwillkürlich schmiegten sich die beiden Frauen aneinander, wie um gegenseitig sich zu schützen, aber sie standen zugleich festgebannt. Da fühlte Hindel mit einem Male, wie durch das ganze Wesen des an sie gedrückten Mädchens ein krampfhaftes Zucken flog; Lisis Hand zerrte fast an Hindels Mantel.
»Madame Hindel!« rief sie in höchster Aufregung, beinahe kreischend, »Madame Hindel, . . . ich hör' ihn!«
»Wen?« schrie Hindel, »Um Gottes willen . . . du meinst doch nicht ihn?«
»Ihn!« flüsterte Lisi und legte, Stillschweigen gebietend, den Finger an den Mund.
Sie lauschten. Jeder Nerv in diesen beiden Frauen zitterte und stand auf der Lauer. Die Stimmen drin in der Schenke wurden deutlicher, Geldklingen, wie von hin und her geworfenen Münzen tönte dazwischen. Nach einer Weile sagte Hindel:
»Jetzt hab' ich ihn selbst gehört . . . ich hab' ihn erkannt.«
»Nicht wahr?« flüsterte Lisi, und ein Strahl von Freude, nur demjenigen sichtbar, dem des Menschen geheimste Regungen offen vor Augen liegen, überflog ihr schönes Angesicht.
»Lisi,« rief Hindel voll tiefsten Schmerzes, und ihre Stimme bebte, als unterdrückte sie mühsam das bittere Weh des Weinens. »Lisi, das muß mir, Hindel Spitz, geschehen! . . . meinen eigenen Sohn hier zu finden!«
»Sein Sie nur jetzt ruhig, Madame Hindel,« bat Lisi.
»Nein, Lisi,« rief Hindel, in deren Gemüt der ganze Zorn einer gekränkten Mutter erwacht sein mochte, und sie riß sich von Lisi los, um in das Haus einzudringen. »Nein, Lisi, ich muß jetzt hinein . . . ich will ihm zeigen, wozu Gott dem Menschen eine Mutter gegeben hat. Lebendig kommt er nicht aus meinen Händen!«
»Um Gottes willen,« bat Lisi und hielt die Erzürnte gewaltig zurück, »tun Sie das nicht, Madame Hindel, und lassen Sie mich hinein. Mir wird er vielleicht eher folgen . . . als Ihnen . . .«
Hindel schien von dieser Bemerkung lebhaft getroffen.
»Du hast recht, mein Kind,« sagte sie nach einigem Bedenken. »Dir gebührt's . . . geh du voran!«
Lisi drückte die Türklinke auf und trat in die Schenke. Die Tür selbst blieb halb offen, so daß Hindel alles überblicken konnte, was darin vorging. In dem Hintergrunde 183 der Schenke, um einen runden Tisch, auf dem eine ungeputzte Kerze düster brannte, saßen drei Männer und spielten Karten. Jeder hatte zur Seite einen Haufen Silbermünzen liegen. Bärele hatte die Türe im Rücken; keiner der Spieler hatte übrigens den Eintritt des Mädchens bemerkt. In demselben Augenblicke rief einer der wüsten Gesellen, indem er Bärele einen tückischen Blick zuwarf und eine Karte zuschleuderte, daß sie auf dem Tische klatschte:
»Jetzt wirst du genug haben. Spiel aus!«
Da trat Lisi hinzu und legte ihre Hand auf Bäreles Arm, der gerade zum »Ausspielen« sich anschickte.
»Steh auf, Bärele,« rief sie mit zitternd weicher Stimme, »die Mutter wartet draußen.«
Bärele sank in seinen Sitz zurück und starrte das Mädchen wie eine ungeheuerliche Erscheinung an.
»Steh auf,« sagte sie noch einmal, »und komm mit.«
Damit ergriff sie ihn bei der Hand – und er, gebannt von dem Eindrucke des auf so wunderbare Weise erschienenen Mädchens, die Augen fest gerichtet auf sie, stand auf und ließ sich von ihr zur Türe hinausführen.
»Mein Kind, mein Kind!« erscholl draußen die Stimme Hindels. War es schluchzende Freude, war es Zorn? Es war schwer zu entscheiden.
Ein halbes Jahr nach dieser Begebenheit feierte man in der Gasse eine große, prächtige Hochzeit, wie an Glanz und Pomp schon lange keine stattgefunden hatte. Der Bräutigam war Bärele, die Braut – Lisi, die Nähterin.
Es versteht sich von selbst, daß es großen Lärm und ungeheure Aufregung im »Lande« gab, als diese »Partie« verkündet ward. Es war nicht anders, als ob etwas ganz 184 Ungewöhnliches geschehen, etwa ein Stück des Mondes vom Himmel zur Erde gefallen sei. Wir haben es jüngst erlebt, wie der mächtige Beherrscher eines großen Staates eine »einfache« Gräfin zu sich auf den Thron hob; – ebenso, wenn nicht noch in einem höhern Grade, kam es den Leuten vor, daß Hindels Sohn die Tochter eines »frommen« Weibes sich erkoren hatte.
Natürlich fehlte es nicht an Auslegungen und Deutungen der buntesten Art über dieses außerordentliche Ereignis. Die Gerüchte summten hin und her, und man konnte bei dieser Gelegenheit deutlich sehen, wie viel übler Wille, ja selbst Bosheit aufgestört wird, wenn den Leuten etwas nicht nach der Schnur einer vorgefaßten Meinung geht. Man stöberte in dem Vorleben des armen Mädchens herum, ob man nicht etwas finden würde, woran man sich halten könnte, und da man nichts fand, klammerten sich die Geister zähe an jene Prager Reise an, in der die guten Leute Ungeheuerliches witterten. Gott der Lebendige wisse, grübelten sie heraus, was dort alles vorgegangen sei; umsonst sei Bärele nicht »auf und davon«, und Hindel »ihm nach«, und umsonst sei Hindel auch nicht mit Bärele und Lisi zusammen von Prag zurückgekommen. Hindel ließ sich durch alle diese Anfechtungen und Gerüchte, deren Richtigkeit sie am besten kannte, nicht abhalten, Lisi und ihren Sohn zu einem Ehepaar zu machen und sich über alle Rücksichten auf »Standesunterschied« kühn hinweg zu setzen.
In jener Nacht, als Hindel ihren Sohn wiederfand, war noch mehr und Bedeutenderes geschehen. Das erste Wort nämlich, das Bärele hervorbrachte, als er mit seiner Mutter und Lisi in einem Zimmer des Gasthofes zu den »drei Karpfen« saß, lautete:
»Mutter, willst du, daß ich weiter kein Spieler sein soll?«
»Du fragst noch?« rief Hindel, die bis dahin keinen 185 einzigen Vorwurf, kein beleidigendes Wort an ihn gerichtet hatte, mit gerunzelter Stirne.
»So gib mir Lisi zum Weib!« sagte Bärele.
Hindel stellte sich nicht erst erstaunt oder gar entsetzt. Sie sagte nur: »Frag erst die Lisi, ob sie dich will, denn verdient hast du sie nicht.«
»Willst du mich, Lisi?« fragte Bärele und hielt die Hand hin.
Die Antwort läßt sich leicht erraten. – –
Noch in derselben Nacht fuhr Hindel mit ihren beiden Kindern fort. Ungefragt fing Bärele auf dem langen Wege selbst an, Aufklärungen über sein letztes Tun und Treiben zu geben; das Glück machte sein Gemüt weit offen, die Liebe seine Zunge gesprächig. Als ihn Lisi, erzählte er, einen Spieler gescholten, als sie das Geld nicht nehmen wollte von ihm, da sei ein schrecklicher Zorn in ihm erwacht, er hätte ihr das Übelste antun mögen. Denn er habe die Wahrheit dieses Schimpfes gefühlt, »auf einmal« sei es ihm klar geworden, daß er, der vierundzwanzigjährige Junge, bis dahin nichts anderes getan habe, als mit seinen Eltern . . . Franzefuß spielen. Es sei ihm grauenhaft zumute gewesen, daß Lisi es ihm zuerst gesagt; von jedem anderen hätte er es mit Verachtung angenommen. Zorn und guter Vorsatz hätten in ihm gleichmäßig gekämpft; er habe ein Mensch werden wollen, aber nicht früher, als bis Lisi den Schimpf zurückgenommen hätte. Aber als er sie am Abend vor ihrem Hause getroffen, und sie nichtsdestoweniger dabei verharrt hätte, da habe ihn eine Verzweiflung überfallen, ein Zorn und eine Wut, daß er sie nicht mehr habe bändigen können. Wenn sie ihn für einen nichtsnutzigen Spieler halte, habe es in ihm geschrien, wozu solle er sich bemühen, ein besseres Leben anzufangen? Jetzt habe er sich vorgenommen, ein rechter Spieler zu werden. Das übrige wisse die Mutter . . . er habe fünf Tage und Nächte fast 186 hintereinander gespielt, der letzte Kreuzer sei eben verspielt gewesen, als Lisi gekommen und ihn fortgeführt habe . . .
Oft zuckte Hindel während dieser Geständnisse zusammen; aber sie hielt an sich. Sie begriff, daß wenn die Liebe junge Gemüter auch zu veredeln und zu heben imstande ist, trotzige und schlecht erzogene zuweilen das Gegenteil davon offenbaren. Ihr Bärele war ein lebendes Beispiel. Aber sie baute auch auf diese Liebe, daß sie, die so wunderbar den Charakter ihres Sohnes entwickelt hatte, dessen Erziehung weiter fortsetzen würde.
»Es ist nur gut,« sagte sie, »daß es so gekommen ist. Es hätte ganz anders kommen können. Bedank dich dafür bei Lisi!«
Darin hat sich Hindel nicht getäuscht.
Bärele ist in der Ehe wirklich ein anderer Mensch geworden; das Geheimnis der Liebe, die zerstörend und schaffend, voll Trotz und Hingebung, niederreißend und aufbauend zugleich ist, hat sich an ihm aufs schönste bewährt. Die in ihm schlummernden, in den Banden der Trägheit gefangenen Kräfte sind erwacht, und er holt nach, was er so lange versäumt hat. Wenn wir das Wort »Geschäftsmann« gebrauchen, so geschieht es nur darum, weil sich für das neue Leben Bäreles keine andere Laufbahn eröffnet hat als das »Geschäft«. Darin ist er aber tüchtig, wachsam und umsichtig wie irgendeiner.
Eines Tages kamen Bau- und Zimmerleute und begannen an der Stelle des alten Hauses ein neues aufzurichten. Die alten Räume waren zu klein geworden für den anwachsenden Segen . . . und Rebb Ascher beklagte sich, daß er nicht einmal ein Plätzchen mehr finde, wo er in Ruhe und Muße seine Pfeife rauchen und seinen »Franzefuß« spielen könne. Bei dieser Gelegenheit erhielt das neue Haus den Namen, mit dem wir es in diese Geschichte eingeführt haben. Bärele hatte Musik kommen lassen, und bei 187 ihren Klängen tanzte er mit seiner Lisi einen »Rejdowak« auf dem Bauplatz. Dann legte er in die Höhlung des Bausteines, der in den Grund gesenkt ward, ein »Pasch« Karten. Wir wissen warum.
Wunderbarerweise hat sich damals unter den Leuten die sonderbare Deutung gebildet, die sie bis dahin trotz alles Grübelns und Forschens nicht hatten finden können; und wie alles Unbegreifliche hat sich diese Deutung in der Leute Mund erhalten. Lisi sollte sich ihren Mann durch einen »Franzefuß« erworben haben, denn Bärele hätte geschworen, nur die sollte ihn haben, die stärker im Spiele sei, als er, und merkwürdig genug, die Nähterin hatte ihn besiegt! Man sieht, wie man auch in der »Gasse« versteht, Geschichte zu machen.
Stehe noch lange und gedeihe, du trauliches Kartenhaus! Auf ein leichtes, bald vergängliches Blatt bist du zwar gegründet worden; aber in dir waltet Demut und Tüchtigkeit und der Segen des menschlichen Daseins – die Liebe.