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Zwölftes Kapitel

Frau Inas erster Gedanke war es gewesen, sofort an Georg zu telegraphieren, aber bald fühlte sie die Schwierigkeit, in kurzen Worten die Fülle des Geschehenen wiederzugeben. Auch klang ihr jede Depesche, die sie entwarf, zu kurz und zu kalt gegenüber der Wonne, die sie erfüllte. So verzichtete sie auf das Telegramm, predigte sich selbst Geduld und setzte sich nieder, um in einem langen, von Jubel und Hoffnungsklang wiederhallenden Briefe dem Geliebten zu melden, was ihr Geschick so wunderbar verwandelt hatte. Sie sagte ihm alles, verbarg ihm nichts; dem Manne gegenüber, dem sie gehörte mit ihrer ganzen Seele, kannte sie kein Geheimnis und kein Verschweigen.

Sie wußte von ihrer eigenen Reise her, daß ein Brief nach Mentone zwei bis drei Tage gebrauchte, und daß sie vor dem dritten Abend keine Antwort erhalten konnte. Diese Antwort hatte sie sich telegraphisch erbeten; für sie bedurfte es keiner langen Auseinandersetzung, und wenn das Telegramm nur die vier Worte enthielt: »Ich komme zu dir,« so war damit ihr Glück besiegelt und bekrönt. Aber nun hieß es warten, die Stunden zählen, das allmähliche Vorübergleiten der Sonnenstrahlen auf dem Fußboden verfolgen, bis sie dann erloschen, und langsam die freudig begrüßte Dunkelheit kam, die verkündete, daß ein Tag quälender Sehnsucht dahin sei. Wie schwer war es, mit dem Gefühl solch' hoffnungsvoller Seligkeit im Herzen ruhig dazusitzen, die Nadel zu führen, oder mit glühendem Stift braune Bilder auf weißes Holz zu zaubern! Und doch, obwohl sie wußte, daß eine Nachricht vor der bestimmten Zeit unmöglich zu ihr gelangen konnte, wagte Frau Ina es nicht, das Haus zu verlassen. Es war ihr, als halte sie damit die Botschaft auf, die sie ersehnte, als könne durch irgend ein freundliches Wunder der Zwischenraum zwischen ihr und dem Geliebten verringert werden, als müßten ihre sehnsuchtsvollen Gedanken den Zug beflügeln, der ihren Brief hinuntertrug an die schöne Küste des blauen Meeres.

Und wirklich: indirekt, seltsam und überraschend kam ihr in diesen Tagen des Wartens eine Nachricht von Georg, von ihm und für ihn zugleich. Der Postbote erschien mit eingeschriebenem Paket, wie ein starkes Buch in Quartform anzuschauen und an sie adressiert. Als sie es öffnete, lagen zwei Briefe obenauf, der eine für sie, der andere für den Geliebten bestimmt; auf beiden aber stand die Firma einer großen, deutschen Verlags-Anstalt, die sie als Eigentümerin verschiedener Zeitschriften oft hatte nennen hören. Bevor sie das mit Papier noch einmal umhüllte Paket weiter untersuchte, las sie den Brief, der ihren Namen trug.

»Sehr geehrte, gnädige Frau!

Wir müssen Sie freundlichst um eine Gefälligkeit bitten, da der Verfasser des beifolgenden Romans uns nur Ihre Adresse, nicht aber die seinige angegeben hat. Der betreffende Herr sandte uns das Manuskript vor kurzem in Begleitung eines Briefes, der offenbar in sehr melancholischer Stimmung geschrieben war. Eine Berliner Redaktion habe ihm seine Arbeit zurückgeschickt, mit anerkennenden Worten zwar, aber doch mit dem Hinzufügen, daß sie für ihre Zeitschrift aus verschiedenen Gründen nicht geeignet sei. Zugleich habe sie ihn an uns verwiesen, da der Roman vermutlich unseren Zwecken entsprechen werde. Nun schicke er uns das Manuskript, um einen letzten Versuch zu wagen, ohne Hoffnung freilich auf Annahme. Wenn auch wir, wie er bestimmt vermute, es ablehnten, so wolle er es überhaupt nicht wiedersehen, sondern bitte nur, es an Ihre Adresse gelangen zu lassen. Vielleicht hat uns der eigentümliche Brief zu rascherer Prüfung veranlaßt, als es sonst geschehen wäre; jedenfalls hat uns die Lektüre auf das angenehmste überrascht. Ein schönes Talent und eine reiche Phantasie sprechen aus dem Werke, das wir mit Vergnügen, und zwar recht bald, veröffentlichen werden, sofern sich der Verfasser zu einigen kleinen Aenderungen entschließt, die wir in dem Schreiben an ihn selbst näher bezeichnet haben. Von Ihnen, gnädige Frau, möchten wir nun erbitten, daß Sie dem ohne Zweifel Ihnen bekannten und erreichbaren Autor das Manuskript baldmöglichst zugehen ließen, damit wir in dieser Sache mit ihm zum Abschluß gelangen können. Mit vorzüglicher Hochachtung etc.

Immer lebhafter hatte Frau Henningers Herz geschlagen, und wenn sich ihr die Augen auch mit Thränen gefüllt hatten, als sie von Georgs wehmütigem Schreiben las, diese Thränen waren rasch wieder versiegt, vom Sonnenschein eines ersten Erfolges, den sie mitfühlend teilte, freundlich getrocknet. Nun hielt sie sich für berechtigt, den Brief an den Geliebten selbst zu lesen, und sie fand darin die Bestätigung dessen, was ihr eben schon so freudig das Herz bewegt hatte, in noch wärmeren, herzlicheren Worten ausgedrückt. Ein ansehnliches Honorar wurde ihm geboten, zugleich die Hoffnung ausgesprochen, er werde auch in Zukunft seine Arbeiten in erster Linie der Redaktion zur Verfügung stellen, die den vorliegenden Roman zu erwerben wünschte. Die geforderten Aenderungen erschienen geringfügig und wenig mühsam der Freude gegenüber, diese erste Schöpfung hinauswandern zu sehen in die große Welt.

Wie fühlte Frau Ina sich durch den Erfolg des Geliebten gehoben, mit welch' froher Bewegung öffnete sie die Umhüllung des Manuskriptes! Georg hatte unter falschem Namen geschrieben, wie sie es dem Briefe nach vermutet hatte, aber sie kannte seine Schrift, und als sie die ersten Blätter gelesen hatte, fühlte sie sich freundlich und vertraut berührt, als wäre er selbst schon an ihrer Seite. Sie meinte zuweilen, seine geliebte Stimme in ihrem Ohr zu hören, und sein Geist, ihr so vertraut und bekannt in jeder leisesten, zartesten Regung, sprach offen und ohne Rückhalt, wie in friedvoller Dämmerstunde zu ihrem Geiste.

Rascher, als sie es für möglich gehalten hatte, verging ihr der zweite Tag des Wartens im Lesen seines Romans. Und als sie die letzten Blätter des Manuskripts beiseite legte, da that sie es mit der Empfindung jener stolzen Teilhaberschaft, die aus dem Gefühl einer wahren Liebe entspringt. Von jedem Glück, von jedem Erfolg des geliebten Mannes durfte sie nach der Stimme ihres Herzen einen vollen, verdienten Anteil sich nehmen; war sie doch auch bereit, Elend und Kummer, Verlassenheit und Krankheit zu jeder Stunde mit ihm zu teilen. Und nicht nur die liebende Seele mochte sich an dem Werke dankbar erfreuen, auch ihr gesundes Urteil konnte seinem Schöpfer einen Preis aus innerster Ueberzeugung freudig gewähren. Aus diesen Blättern sprach ein Talent, noch unsicher vielleicht in Bewegung und Ausdruck, aber voll echter, erwärmender Kraft. Jetzt hatte der Geliebte das Feld gefunden, auf dem er seine besten, eigensten Fähigkeiten bethätigen und erweisen konnte, und jene Zartheit, jenes rasche Vibrieren der Nerven, das ihm des Lebens Freuden oft gestört und verbittert hatte, in seinen Schriften mußte es zu einem elektrischen Fluidum werden, das in die Seele des Lesers hinüberströmte, sie bezwang und unterjochte.

Noch ganz erfüllt von goldenen Zukunftsträumen, erwachte Frau Ina am Morgen des dritten Tages. Es wurde voraussichtlich ein bewegter Tag, denn er brachte für Hildesheim die erste Aufführung des Lutherfestspiels, und fast alle Bewohner des Hauses der Schatten erwarteten ihn seit Wochen in jener wunderlichen Erregung, die das Theater in der Menschen Herzen hineinträgt. Ihr aber war diese Unruhe der anderen willkommen; klang sie ihr doch wie ein Echo der freudvollen Unruhe im eigenen Gemüte entgegen. Willig hatte sie sich erboten, am Abend das einsame Haus zu bewachen, um dem gesamten Personal – auch Johanne hatte sich, weil die anderen gingen, einen freien Abend zum Besuch von Verwandten erbeten, – den Genuß des Spiels zu gewähren. Selbst Fräulein Tietjens schien von der allgemeinen Bewegung der Geister ergriffen zu sein und hatte den Wunsch ausgesprochen, der Aufführung beizuwohnen. Frau Henninger war es kein Opfer, ihr fern zu bleiben; Dilettantismus auf der Bühne hatte sie niemals gelockt, und heute hätte sie die größte Tragödie für das erwartete Telegramm des Geliebten ohne Bedenken und Zaudern dahingegeben.

Daß Karoline mißvergnügt und ungehalten über ihr Kostüm war, konnte den Frieden und die Stille des Hauses an diesem Tage nicht vergrößern. Sie hantierte lärmend mit Feuerzange und Eisengeschirr und versicherte wiederholt: »Um dem alten Kittel lohnt sich der ganze Komödie doch nich!« Erst als ihre Herrin mit einigen verschönernden Zuthaten und altem Maskeradenschmuck ihrer umfangreichen Erscheinung aufhalf, glätteten sich allmählich ihre Züge, und als sie am Abend sich mit den anderen Mitwirkenden Frau Henninger, fertig kostümiert, präsentierte, da waren die Wolken vom Himmel ihrer Seele verschwunden. Mit sich selbst wieder zufrieden, erfreute sie sich neidlos nun auch an der Schönheit der beiden jungen Menschen, die sie an diesem Abend in den Gefahren des Theaterlebens beschützen sollte. Martha Wernicke und Fritz Köhler waren ihrer Obhut anvertraut worden, seit dem vergangenen Tage nun endlich ein festverlobtes Paar. Nach Neuerts mißglückter Verhaftung war die Untersuchung gegen Köhler rasch zu Ende geführt worden; der Umstand, daß sein Gegner als Anarchist entlarvt war, hatte nicht wenig zu seinen Gunsten gesprochen, und man hatte ihm ohne Bedenken eingeräumt, daß er in der Notwehr gehandelt habe. Nun hatte Marthas Vater keinen Widerspruch mehr erhoben, und ein kleiner, behaglicher Familienkreis, vom Duft einer wohlgefüllten Maibowle umspielt, hatte am vorigen Abend im Erdgeschoß des alten Hauses das Fest der Verlobung gefeiert.

Mit ungeheuchelter Freude hatte Frau Henninger Karolinens Vorschlag ausgenommen, mit dem jungen Paar und dem Diener Karl, der als schmucker Landsknecht mitwirken sollte, – Ferdinand Elster hatte auf der Köchin Geheiß als ›nich gebildet genug vors Komödiespielen‹ wieder zurücktreten müssen, – bei ihr zu erscheinen. Es war ihr ein schönes Gefühl, gerade heute, wo sie die Nachricht von dem Geliebten erwartete, den beiden endlich vereinten Menschen gegenüber zu stehen. War doch ihr eigenes Herz vom Glück so voll, daß sie meinte, auch über andere es mit reichen Händen ausstreuen zu können, ja, sie glaubte zu fühlen, daß ihr Glückwunsch, an solchem Tage dargebracht, allein schon die Kraft haben müsse, Kummer und Unheil fern zu halten.

Mit großer Herzlichkeit ging sie den Kommenden entgegen, die ein Stückchen bunten, mittelalterlichen Lebens in ihr Zimmer hereintrugen. Sie sagte dem Brautpaar, was ihr Herz ihr eingab, küßte Martha auf die Stirn und bewunderte die schmucken Erscheinungen mit freundlichen Worten. Auch Karoline und der Diener bekamen ihren Anteil von Lob und Anerkennung, und bald erklang ein fröhliches Durcheinander lebhafter Stimmen um Frau Ina her. Sie selbst aber wurde stiller und stiller, denn ihr Blick haftete auf Marthas Gesicht und fand dort eine trübe, schwere Wolke, die zum Brautglück nicht paßte.

Mit leisen Schritten trat Frau Henninger zu der Neuverlobten heran. »Was fehlt Ihnen, liebes Kind?« fragte sie mit gedämpfter Stimme. »Sie sehen blaß und traurig aus; wie kommt das an solchem Tage?«

»Es ist nichts,« versicherte Martha, doch ihr bleiches Gesicht und der matte Blick ihrer Augen straften sie Lügen.

Köhler hatte nun doch bemerkt, um was es sich handelte; er trat lebhaft herzu und sagte: »Es ist etwas, Frau Regierungsrat, und sie kann es Ihnen ganz ruhig anvertrauen.«

»Da sehen Sie's, der Mensch will immer recht haben,« sagte Martha, indem sie den gewohnten, scherzenden Ton anzuschlagen versuchte. »Er ärgert mich zu viel, das ist alles.«

Ihr Verlobter aber schüttelte den Kopf. »Nein, diesmal bin ich's nicht, der ihr den Silberglanz vom Gesicht und aus den Augen gewischt hat. Sie hat nämlich einen Schrecken gehabt gestern abend, bei unserer Verlobungsfeier unten, und da kommt sie nicht drüber. Warum willst du's denn nicht erzählen?«

»Weil ich nicht daran denken mag, – freilich thue ich's doch immer,« entgegnete Martha, und ein Frostschauer schien sie zu überrieseln. »Also, wenn es einmal sein soll!« Sie hob den Kopf mit einem Seufzer empor und sprach nun mit festerer Stimme. »Einen Schrecken habe ich gehabt, das ist ganz richtig. Gestern abend, wie wir zusammen gesessen haben, und Onkel Peters hat gerade ein Hoch auf uns ausgebracht, und alle haben mit uns angestoßen und ›Hoch‹ gerufen, da sehe ich mit einem Male –«

Ein neuer, heftiger Schauer überlief sie, und sie mußte einen Augenblick inne halten, ehe sie fortfahren konnte. »Da sehe ich mir gerade gegenüber hinter den Scheiben des Fensters – es war noch dämmerig draußen, und ich habe es ganz genau gesehen, wenn auch kein anderer etwas gemerkt haben will – ein Gesicht mit ein paar glühenden Augen, das mich immerfort anstarrt. Es war ganz bleich und verfallen, aber ich habe es doch erkannt und weiß, daß er es war.«

»Wen meinen Sie?«

»Neuert meine ich, den Schlossergesellen von oben, von dem alle denken, er wäre tot oder entflohen und weit von hier. Sie sagen, ich hätte aufgeschrieen in dem Augenblick, – ich selbst weiß nichts davon – und damit ist das Gesicht fort gewesen. Aber ich weiß, daß ich es mir nicht eingebildet habe, und daß er wirklich vor dem Fenster mir gegenüber gestanden hat. Weil er aber ein Auge auf mich geworfen hatte, und weil ich so dumm gewesen bin, diesen Menschen hier statt seiner zu nehmen, da denke ich, er führt etwas Böses gegen uns im Schilde. Diese ganze Nacht habe ich gelegen und gewacht und mich geängstigt, und darum bin ich heute auch nicht so froh und glücklich, wie ich es sein müßte. Es ist ja nicht um mich, aber der Fritz hier hat ihn doch niedergeschlagen damals, und wenn ich mir vorstelle, daß er ihm –«

Sie konnte nicht weiterreden, wild hervorbrechende Thränen erstickten ihr die Worte, und in diesem Thränenstrom offenbarte sich die volle, reiche Liebe, die sie dem Manne an ihrer Seite entgegenbrachte und die sie sonst unter Scherz und Lachen zu verbergen suchte. Die heitere Festesstimmung war zerstört, aber ein tieferes, heiligeres Gefühl durchwehte, einem feierlichen Akkorde gleich, das Gemach. Frau Henninger küßte die Bebende, Weinende, während Köhler ihre Hand in die seine nahm und mit sanftem Streicheln sie zu beruhigen suchte. Der Diener stand mit zugleich wichtigem und furchtsamem Gesichte da, während Karoline im Hinblick auf Neuert ein über das andere Mal versicherte: »Es is einem gottvergessenen Menschen. Un ich habe die Kreatur noch Milch un Zwieback gegeben!«

Ein Blick auf die Uhr zeigte Köhler, daß die Zeit zum Beginn des Spiels nicht mehr fern war, und er mahnte zum Aufbruch. Mit hastigen, freundlichen Worten entließ Frau Henninger die kleine, bunte Schar; in Marthas Augen leuchtete es jetzt, nachdem sie in Wort und Thränen sich Erleichterung verschafft hatte, schon wieder ein wenig heller auf. Die häuslichen Verrichtungen hatte Frau Ina für diesen Abend übernommen; mit dem Herrschergefühl einer alten Dienerin ermahnte Karoline sie noch, das Anzünden der Korridorlampen nicht zu vergessen, während ihre Herrin ihr nachrief: »Aber das Haus nicht etwa verschließen! Ich erwarte ein Telegramm.«

Karoline nickte, die farbenreichen Gewänder flatterten hinaus, die Schritte der davon Eilenden verhallten – Frau Henninger war allein. Die plötzliche, tiefe Stille des alten Hauses legte sich ihr im ersten Augenblick bedrückend auf die Seele, mit einem Lächeln aber scheuchte sie das Gefühl des Unbehagens hinweg. Sie kannte keine Furcht, denn ihre Nerven waren stark, und ihr Körper war gesund. Nur einem so großen, gewaltigen Schrecken, wie damals angesichts der geisterhaften Erscheinung, konnte sie für kurze Zeit erliegen, um sich dann rasch und völlig wiederzufinden. Die Nachricht von Neuerts Wiederauftauchen vom vergangenen Abend klang ihr nicht ganz wahrscheinlich und erweckte ihr keine persönliche Besorgnis. Größer war das Mißbehagen, wenn sie daran dachte, daß sie an diesem Abend mit Doktor Jaksch allein in dem großen Gebäude sei, wenn sie die wilden, verlangenden Blicke sich zurückrief, mit denen er sie vor wenigen Tagen betrachtet hatte. Nein, doch nicht ganz allein! Im Giebel oben wohnte ihr ein Helfer, der ihr beistehen würde bei drohender Gefahr. Busenius, der ohnedies nur selten die Straßen betrat, wo die spottlustige Jugend sein fremdartiges Gewand verhöhnte, war gleich dem Doktor dem Spiele fern geblieben, – das hatte sie gehört. Dem erneuten Besuche, den sie von Jaksch für diesen Tag gefordert hatte, war sie zuvorgekommen. Sie hatte ihm geschrieben, daß sie verhindert sei, ihn gerade heute zu empfangen, und ihn ersucht, am folgenden Tage erst zu erscheinen; dafür hatte sie von ihm die Adresse ihres Bruders verlangt, in deren Besitz sie ihn mit Recht vermutete, und er hatte sie ihr ohne Zaudern in einem kurzen Antwortschreiben mitgeteilt. Nun wollte sie den einsamen Abend des Wartens benutzen, dem Bruder nach Berlin zu schreiben und ihm Geld zu senden; sie machte sich bereits Vorwürfe, daß sie aus Scheu vor einer Berührung mit dem Doktor so lange damit gezögert hatte.

Es war ein schöner, klarer Frühlingsabend, noch sonnig und milde, wie die Jahreszeit es mit sich brachte. Frau Ina trat in den Erker und blickte hinaus. Blinkende Reflexlichter der scheidenden Sonne lagen auf den Fenstern der Nachbarhäuser und ließen die roten Blüten überwinterter Geranien dahinter heller aufleuchten, die sich dem neuen, wärmeren Lichte erschlossen hatten. Die wiedergekehrten Schwalben schossen durch die Luft, und jubelnde Kinderstimmen, die von unten herauftönten, schienen Antwort zu geben auf das fröhliche Pfeifen der eiligen Vögel. Dazwischen hinein klang das Kreischen der Räder an einem niedrigen, hölzernen Kinderwagen, in dem zwei rotbackige Mädchen von einem kräftigen Buben gezogen wurden, – ein häßlicher Ton, der aber trotzdem an diesem sonnenhellen Abend etwas Heiteres, Freudiges hatte. Das schien auch der kleine, braune Teckel zu meinen, der mit lautem, vergnügtem Gebell hinterhersprang.

Frau Ina sah und hörte das alles mit halboffenen Sinnen; ihr war die Welt in diesen Stunden seliger Erwartung wie mit einem Schleier umhüllt, durch den sie Farben und Töne nur undeutlich erkannte, der ihr aber zugleich alles doppelt so schön erscheinen ließ, als sonst. Bis jetzt war ihr der Tag in seiner Unruhe rasch vergangen, allmählich wuchs nun die Sehnsucht nach der erwarteten Botschaft. Sie trat vom Erkerfenster ins Zimmer zurück, betrachtete die Blumen und Arabesken im Teppich mit einer neuen, ungekannten Aufmerksamkeit, ließ einen der schlanken Palmenwedel durch ihre Finger gleiten, rückte ein Bild an der Wand zurecht und ging dann so schnell, als habe sie etwas versäumt, von neuem zum Fenster. Menschen, vereinzelt und eilig, durchschritten die Straßen, die Uniform des Telegraphenboten aber wollte nirgends erscheinen.

Mit einem Seufzer setzte Frau Henninger, nachdem sie eine Stunde fast in diesem hastigen Hin und Wider verbracht hatte, sich an ihren Schreibtisch. Der Brief an den Bruder! Sie hatte ihre nächste Pflicht noch nicht erfüllt und verlangte schon, daß zu ihr selbst die Freude auf raschen, beschwingten Sohlen herbei eilen solle. Sie nahm Papier und Feder, und als sie einmal zu schreiben begonnen hatte, verschwand ihre Unruhe allmählich unter dem Gefühl der Liebe und des Mitleids für den verlorenen, ihr so nahe stehenden Menschen, der ein junges, reiches Leben freventlich vergeudet hatte. Sie schrieb und schrieb und sagte ihm alles, was ihm tröstlich sein konnte, mit kluger, liebevoller Vorsicht vermeidend, ihm erneute Sorge zu wecken. Es war dämmerig geworden, als sie den Brief beschloß und eine ansehnliche Geldsumme hineinlegte, ehe sie ihn versiegelte. Das Licht aber, das ihr dabei gedient hatte, löschte sie wieder; es war noch nicht völlig dunkel, und sie hatte das Gefühl, als könne sie den Tag und mit ihm die Hoffnung auf die ersehnte Botschaft länger festhalten, wenn sie noch in der Dämmerung blieb.

In dem sich mehr und mehr verdunkelnden Zimmer begann sie nun von neuem ihr unruhiges Auf- und Niedergehen. Die Trachten der immer spärlicher auf der Straße erscheinenden Menschen konnte sie nicht mehr erkennen, aber sie redete sich ein, daß es noch nicht spät sein könne, – auch das Zifferblatt der Uhr war nur noch ein weißer Fleck im abendlichen Grau, – bis sie mit Schrecken den ersten Stern am Himmel erkannte, und bis die Lichter der Laternen ihr zu Füßen eines nach dem anderen langsam aufleuchteten. Zum erstenmal an diesem Abend stieg ein Gefühl schmerzlicher Enttäuschung in ihr empor, sie warf sich traurig und ermüdet auf ihren gewohnten Sitz unter den Palmen. Und hier war es, wo sie durch das totenhafte Schweigen des leeren, großen Gebäudes einen leisen, unklaren Ton zu vernehmen meinte; er war so gedämpft, daß sie seine Ursache und Richtung nicht zu erkennen vermochte, doch schien es ihr, als wenn irgendwo auf einem der fernen Gänge eine Thür geöffnet und geschlossen würde.

Eine neu erwachende Hoffnung auf die Nachricht von Georg trieb sie zur Thür des Nebenzimmers, an der sie stehen blieb, die Stirn gegen die glatte Farbe des kühlen Holzes gelehnt, mit Anspannung aller Seelenkräfte hinaushorchend ins Haus. Zuerst war alles ganz still; der kräftige Schritt des Telegraphenboten hätte jetzt zu ihr dringen müssen, wenn er wirklich ins Haus gekommen wäre. Dann aber, während sie trotz der Enttäuschung immer noch stehen blieb und in das Schweigen der Gänge und Treppen hineinhorchte, meinte sie plötzlich doch wieder ein Geräusch zu hören, das allmählich sich näherte und ein wenig deutlicher wurde. Es klang wie ein vorsichtig schleichender Schritt, der ab und an Halt machte, dann aber wieder vorwärts sich bewegte, und dessen Ziel – das schien ihr der Ton zu verraten – die Thür ihres Zimmers war, diese selbe Thür, hinter der sie stand. »Doktor Jaksch!« fuhr es ihr durch den Sinn, und mit unwillkürlicher Bewegung legte sie die Finger ihrer rechten Hand um den Schlüssel, der sich an der Innenseite der Thür befand. Und zugleich lehnte sie ihren Körper fest gegen das Holz, um das Oeffnen zu hindern, bis sie das Schloß verriegelt hatte, wenn es nötig wurde. »Ist jemand da?« fragte sie laut und mit Nachdruck, aber keine Antwort kam, und eine ganze Weile blieb wieder alles still. Dann erst begann da draußen von neuem eine leise Bewegung; es klang, als wenn eine Hand über die Thür dahingleite, ein paarmal, als streichele der draußen Befindliche das Holz, während auch der Ton seines lauten und raschen Atems die dünne Scheidewand durchdrang. Von Schrecken ergriffen, drehte jetzt Frau Henninger den Schlüssel im Schloß; aber als wäre das ein Zeichen, das ihn verscheuchte, so entfernten sich nun wieder die kaum vernehmlichen, ungewissen Schritte des unsichtbaren Besuchers, bis abermals in der Ferne sich eine Thür zu öffnen und zu schließen schien, und auch der letzte, leiseste Ton verhallte.

Mit einem Seufzer der Erleichterung trat Frau Ina zurück. Nur der Gedanke an Doktor Jaksch und ein schreckhaftes Erbeben der Nerven, das mit diesem Gedanken verbunden war, hatten sie vom Oeffnen der Thür zurückgehalten. Jetzt, als die seltsamen Töne verklungen waren, fand sie rasch ihre Fassung wieder und zündete das vorhin gelöschte Licht von neuem an. Im Schein seiner ruhigen Flamme – denn auch die zum Fenster hereinströmende Abendluft war unbewegt – betrachtete sie den vertrauten, durch Erinnerung geheiligten Raum, und was an Schrecken und Nervenbeben noch in ihr war, verschwand vor diesem Anblick. Sie konnte schon wieder versuchen, über ihre Furcht zu spotten, und um das volle, gewohnte Behagen herzustellen, entzündete sie auch die Flamme der Lampe. Dann ergriff sie das Licht, um in die Küche hinauszugehen und sich ein einfaches Abendbrot zu bereiten; ein Blick auf das jetzt wieder sichtbare Zifferblatt hatte ihr gezeigt, daß die Zeiger bereits auf halb neun Uhr wiesen.

Ein unwilliges Lächeln über sich selbst überflog ihr Gesicht, als sie die Thür nun öffnete, und hinausblickend erkannte, daß sie vergessen hatte, die Korridore zu erhellen. Das Lächeln wurde noch heiterer, indem sie an Karolinens Zürnen ob dieser Pflichtversäumnis dachte, und mit raschen Schritten, das Licht in der Hand, ging sie zur Küche hinüber, um die Flamme unter einer Spiritusmaschine zu entzünden, deren bescheidener Dienst ihr für diesen Abend genügte. Während sie den langen Korridor hinuntergeschritten war, an der Reihe der geöffneten Fenster entlang, die auf Hof und Garten hinunterschauten, hatte sie nichts Ungewöhnliches bemerkt. Ein Blick in den Briefkasten hatte ihr gezeigt, daß er leer war, und daß sie nicht etwa, wie eine leise Hoffnung ihr zuflüstern wollte, trotz ihrer Aufmerksamkeit das Kommen des Boten überhört hatte. Niemand war dagewesen, als jener seltsame, unsichtbare Besucher, der keine Spur seines Kommens zurückgelassen hatte. Jetzt war das Schweigen Herrscher in den Räumen des Hauses, auch draußen waren die Töne des Lebens verstummt, kein Laut drang herüber in die tiefe Stille.

Frau Henninger setzte den Kessel mit Wasser, das ihr zur Theebereitung dienen sollte, auf die bläulichgelb emporlodernde Flamme und traf mit raschen Händen die übrigen Vorbereitungen für ihre Abendmahlzeit. Dann stand sie einen Augenblick und schaute auf das unsichere Flammenspiel unter dem Wasserkessel, bis ihr einfiel, daß jetzt der geeignete Augenblick sei, die Korridorlampen hereinzuholen und anzuzünden. Es waren zwei Lampen, und wenn sie beide zugleich tragen wollte, so konnte sie das Licht nicht mit sich nehmen. Aber sie kannte genau die Stellen, wo sie hingen, und ihre Furcht von vorhin war so völlig geschwunden, daß sie ohne Zaudern hinaustrat in die Dunkelheit. Am Fenster, der Küchenthür gegenüber, blieb sie ein paar Sekunden stehen, um ihr Auge an die Finsternis zu gewöhnen und sich an der frisch hereinströmenden Abendluft zu erfreuen. Es war sehr dunkel geworden, und die schwarzen Baummassen des Gartens zeichneten sich nur undeutlich am Himmel ab, aber die Sterne darüber blinkten freundlich herunter.

Nun wandte sie sich zur Seite und ging einige Schritte den Korridor entlang, um dann plötzlich zurückzufahren und stehen zu bleiben, festgebannt auf ihre Stelle, wie von plötzlicher Lähmung geschlagen. Hatte das vergebliche Warten der letzten Stunden sie fiebern gemacht, daß sie zu sehen meinte, was nicht wirklich war? Versagten die sonst so klaren Augen ihr den Dienst und ließen Phantasiegebilde zu sichtbaren Dingen werden, oder war dort in Wahrheit ein Licht hinter den grün verhangenen Scheiben des kleinen Fensters in der Thür zu ihres verstorbenen Mannes Zimmer? Ein Licht, wie sie es schon einmal erblickt hatte an jenem stürmischen Abend, als sie durch diese selbe Scheibe jene rasch vorübergleitende Erscheinung hatte sehen müssen, die seitdem niemals wiedergekehrt war? Sie hatte ihrer Furcht von damals gespottet, sie hatte versucht, die Erscheinung durch Betrug zu erklären, sie hatte die Ereignisse jenes Abends halb schon vergessen, – und doch, als sie nun das grünliche Leuchten wieder erblickte, das aus dem Gemache des Verstorbenen hervordrang, da fühlte sie in dem mächtigen Schweigen und in der tiefen Einsamkeit um sich her wieder etwas von dem haltlosen Grausen, das ihr damals das Blut hatte erstarren lassen.

Aber war es denn wirklich eine Wiederholung jener Erscheinung, und täuschte sie nicht vielleicht ein Reflex auf den Scheiben des Fensters, dessen Ursache sie nicht kannte? Sie fragte sich's, indem sie ihre Gedanken und ihre Thatkraft zu sammeln suchte, und ihr Bewußtsein sagte ihr, daß sie Mut fassen und zu dem Fenster herantreten müsse, um zu erkennen, was Wirklichkeit und was Täuschung sei. Tief atmend ging sie nun vorwärts bis zu der Thür und legte das Gesicht an die kalten Scheiben, um, wie an jenem Abend, durch die Risse im Vorhang hineinzuspähen in das Gemach. Aber wenn sie gemeint hatte, der Anblick der Wirklichkeit werde ihre Phantasie beruhigen und leere Schattenbilder verscheuchen, so hatte sie sich getäuscht. Wenn sie gehofft hatte, nichts zu finden, als ein fernher blinkendes Licht, das einen leeren Raum unsicher erhellte, so mußte sie jetzt erkennen, daß diese Hoffnung sie betrogen hatte. Nein, es war keine Täuschung! Was sie gesehen hatte unter den heulenden Klängen des Sturmes an jenem Abend im März, das wiederholte sich ihr jetzt an diesem sommerlichen Frühlingsabend, unter dem Dufte der ersten, an der Hauswand emporrankenden Rosen, den sie in diesem Augenblick mit jener Schärfe der Sinne bemerkte, die jede große Erregung der Seele begleitet. Wieder erblickte sie vor sich die Gestalt, die sie damals gesehen hatte, halb abgewandt von ihr am Schreibtisch sitzend, unsicher beleuchtet von der Flamme eines Lichtes, die Gestalt des Gestorbenen!

Aber auch diesmal dauerte die Erstarrung, die sie überfallen hatte, nur kurze Zeit. Sie wollte mutig und stark sein, wollte sich nicht unterjochen lassen von den Einflüssen der schweigenden Dunkelheit um sich her, von einer Schwäche der Nerven, die ihr sonst fremd war. Sie griff in ihre Tasche nach dem Schlüssel des Zimmers, den sie lange Zeit bei sich getragen hatte, um in jedem Augenblick zur Enthüllung des vermeintlichen Betruges bereit zu sein, aber sie fand ihn heute nicht und erinnerte sich nun auch, ihn kürzlich wieder in ihren Schreibtisch geschlossen zu haben. Gut, so mußte sie gehen und ihn holen! Lang und dunkel dehnte sich vor ihr der Korridor, aber sie wollte keine Zeit verlieren, indem sie das Licht aus der Küche herbeiholte, und ohne weiteres Ueberlegen machte sie sich auf den Weg zu ihrem Zimmer. Das Ziel aber, zu dem sie strebte, erreichte sie nicht. Wieder hatte sie erst wenige Schritte gethan, als ein neues Erschrecken, furchtbarer und lähmender, als alles zuvor, ihr Halt gebot und ihren Fuß wie mit eisernen Ketten fesselte. Ein Anblick, eine Erscheinung, unbedeutend und alltäglich an sich, aber an diesem Platz und zu dieser Stunde mit unsäglichem Grausen sie erfüllend, ließ sie erbeben und nach Atem ringen. Was sie erblickte, war nichts, als der schmale Spalt einer Thür, die geöffnet und angelehnt war, dahinter der Schein eines Lichtes, und vor diesem senkrechten Lichtstreifen vorübergleitend ein Schatten, der ihn für einen Moment verdunkelte, um dann zu verschwinden und nicht wiederzukehren. Das war alles, – aber die Thür, vor der sie stand, war die Thür zu Georgs Zimmer, das fest verschlossen gehalten wurde während seiner Abwesenheit, und der Schatten, den sie langsam hatte vorüberschweben sehen, bewegte sich geheimnisvoll durch denselben Raum, den der geliebte Mann mit seiner Gegenwart erfüllt und belebt hatte! Das war es, was sie so unbeschreiblich erschütterte, das Auftauchen dieses schattenhaften Nichts in seinem Zimmer, gerade an diesem Abend, der ihr die Nachricht von froher, baldiger Heimkehr hatte bringen sollen. Was tief verborgen auch in ihrer freien Seele von Aberglauben und unheilvollen Ahnungen schlummerte, das wachte auf in dieser Stunde, wuchs vor ihr empor zu gewaltiger Macht und legte ihr eine todeskalte Hand lähmend aufs Herz.

Und doch waren es auch jetzt nur wenige Minuten, daß sie regungslos dastand; kräftiger noch, als Furcht und Entsetzen, erwies sich der Drang ihrer Natur nach Wahrheit und Klarheit. Mit gewaltsamer Anstrengung warf sie die Lähmung von sich, ging mit festen Schritten zu der angelehnten Thür, stieß sie zurück und trat hinein. Sie hatte nicht Zeit, in dem Zimmer sich umzuschauen, und sie erinnerte sich später nur ungewiß, ein Licht auf dem Tisch vor dem Sofa gesehen zu haben, einen Hut und Mantel daneben, nachlässig hingeworfen. Denn etwas anderes nahm sie im ersten Moment gleich so völlig in Anspruch, daß sie alles andere darüber vergaß. Der Schatten, den sie vor dem Lichtstreifen hatte vorübergleiten sehen, war auch jetzt noch im Zimmer, er hatte die Gestalt eines Menschen angenommen und war greifbar geworden; aber in demselben Augenblick, in dem sie den Raum betrat, glitt er im Hintergründe, nahe dem Fenster, nach links hinüber und verschwand in der Mauer. Verschwand, um nun doch wieder sichtbar zu werden, als sie vorstürzend an die Oeffnung gelangte, die sie bisher noch niemals gesehen hatte und die der Wandschrank zwischen den Zimmern bildete, wenn seine Thüren nach beiden Seiten hin geöffnet waren. Durch die tiefe Mauernische hindurch blickte sie in das erleuchtete Gemach des Gestorbenen, sah dieselbe Gestalt, die vorhin dort am Schreibtisch gesessen hatte, aufrecht mitten im Zimmer stehen, etwas Längliches, Blinkendes in der Hand. Und indem Frau Ina das alles sah, ungehindert durch den grünlichen Schleier des Vorhangs vor dem Fenster, der ihr die Erscheinung verzerrt und unklar gemacht hatte, da wußte sie auch, daß es kein Geist war, der vor ihr stand, und daß eine gütige Vorsehung sie gerade in diesem Augenblick hierher geführt hatte, um etwas Furchtbares zu verhüten.

»Georg!« schrie sie auf, und all' ihre Liebe, all' ihre Angst, all' ihre Hingebung war in dem einen Wort. Als aber auf den Zuruf die Gestalt mit rascher Bewegung das Blinkende in ihrer Hand gegen die Stirn erhob, da schrie sie noch einmal denselben Namen, stürzte in das Zimmer hinein, ergriff mit starken Händen den erhobenen Arm, drückte ihn nieder, daß er schlaff herabsank, um dann selbst mit lautem Schluchzen auf die Kniee zu fallen und ihre weinenden Augen gegen die Hand zu pressen, die jetzt neben ihr niederhing. In ihre Thränen hinein aber stammelte sie rasche, halberstickte Worte. »Du bist es, Georg, du bist da? Aber dies, warum dies? Weißt du auch, daß ich gestorben wäre, wenn du es gethan hättest? O, warum kommst du so zu mir zurück, warum wolltest du das thun?«

Er stand eine Weile schweigend, ohne auf ihre verworrenen Fragen zu antworten. Dann machte er sich leise von ihr los, ging zum Schreibtisch, legte den Revolver darauf, den er hielt, und bedeckte die Augen mit der Hand. »Wie grausam das Leben ist!« sagte er kaum vernehmlich.

Sie aber erhob sich ans sein schmerzliches Wort aus ihrer kummervollen Versunkenheit, stand vom Boden auf und strich sich mit beiden Händen das Haar aus der Stirn. »Es ist ja Thorheit zu weinen,« sagte sie, und ihre Stimme hatte schon wieder etwas von der sonstigen, ruhigen Festigkeit. »Du lebst und du bist bei mir, das ist die Hauptsache.«

Nun trat sie vor ihn hin und betrachtete schweigend sein bleiches Gesicht, das der Schmerz gezeichnet hatte. Und indem sie ihn anschaute, kam ihr die Erinnerung an die beiden Erscheinungen, die sie in diesem Zimmer erblickt hatte, und das Bewußtsein von der wunderbaren Aehnlichkeit, die zwischen ihm und dem Toten entstanden war. Mit leiser Bewegung legte sie ihm ihre Hände auf die beiden Schultern, sah ihm tief in die Augen und schüttelte den Kopf. »Du also warst es,« sagte sie dann, ohne den Ton der Frage, ohne eine Antwort zu begehren.

Er aber antwortete nun doch, und ein beinahe irres Lächeln umzuckte seinen Mund, während er sprach: »Ich war es, Ina, heute und damals. Im Elend dieses Lebens bin ich zum Geist geworden, der wandelt und spricht.«

Sie nahm die linke Hand von seiner Schulter und legte sie ihm auf die weiße und doch brennende Stirn. »Warum das alles, Georg?« fragte sie, aber noch immer war kein Ton des Vorwurfs in ihrer Stimme, nur ein unendliches Mitleid, das nun auch Ausdruck und Worte gewann. »Du Armer, Armer, was mußt du gelitten haben, ehe du dahin kamest!«

Ein sanftes Lächeln ging zum erstenmal wieder über sein Gesicht; er küßte sie, ohne Leidenschaft, aber mit milder Zärtlichkeit, und sagte: »Nicht mehr als du, gewiß nicht. Nur bin ich anders geartet, und was du von dir werfen kannst, das drückt mich zu Boden. Aber doch meine ich auch heute, nachdem ich dem Tode so nahe ins Auge gesehen habe, daß ich nicht schwächer bin als du, daß aber die Zartheit des Gewissens eben seine Stärke ist. Ich will dir keinen Vorwurf machen, Ina. Wir sind verschieden geartet und verschieden erzogen worden und wir sind, was wir wurden.«

Er ging einmal im Zimmer auf und nieder, dann setzte er sich auf den Sessel vor dem Schreibtisch; und indem sie ihn so vor sich erblickte, von den weiten Falten des schwarzen Sammetgewandes umwallt, das über die Lehnen gebreitet dalag, da verstand sie mehr und mehr die Täuschung, der auch ihre Sinne zum Opfer gefallen waren. Beängstigend ähnlich erschien er dem Toten, und sie nahm seine Hand, die auf der Tischplatte lag, zwischen die ihren, um das Blut in seinen Adern klopfen zu fühlen.

Er sah vor sich nieder und begann mit stockender Stimme, um fester und klarer zu reden, je weiter er kam. »So muß es einem Menschen zu Mute sein, der in einen reißenden Strom fällt. So wird er fortgetrieben und kann nicht anders. Er muß gehorchen, er ist nicht mehr Herr. Dies Gefühl habe ich gehabt, als ich in den Kampf der Empfindungen und des Gewissens hineingestürzt wurde in diesem Winter. Ich habe handeln müssen, wie ich gehandelt habe. Wir hätten von einander gehen sollen gleich damals, als wir klar darüber geworden waren, was zwischen uns stand, aber du konntest nicht mit meinen Augen sehen, und ich nicht mit deinen. Busenius zuerst hat meine halbkranke Seele auf den Gedanken gebracht, den Geist des Verstorbenen zu rufen und ihn zu befragen. Dieser Gedanke ist mächtiger und mächtiger geworden, bis er als eine fixe Idee mein ganzes Gefühl beherrschte. Ob sie auch ihm gegenüber von ihrer Liebe nicht lassen würde? Das war es, was ich immer wieder mich fragte, bis mein Geist sich zu verwirren anfing. Wider Willen beinahe, durch einen Zufall bin ich dazu gedrängt worden, dich selbst auf die Probe zu stellen. Ich hatte die verborgene Thür in der Wand hier entdeckt und war in dies Zimmer gekommen, das mich merkwürdig anzog. Das erste Mal war ich bei Tage hier, und niemand hat mich bemerkt; zum zweitenmal aber ging ich mit Licht hinein und die Leute da draußen haben mich gesehen. Erst aus ihren Reden bemerkte ich, daß sie mich für den Geist des Verstorbenen gehalten hatten. Es traf mich wie ein Schlag, daß ich nun selbst im stande war, dich zu prüfen. So habe ich meine Rolle gespielt und habe dich erschreckt, um die Größe deiner Liebe kennen zu lernen. Du bist fest geblieben, aber mir –« Er stockte einen Augenblick, fuhr mit dem Mittelfinger der rechten Hand langsam über die Platte des Schreibtisches, daß ein dunkler Streifen in der grauen Staubdecke entstand, und fuhr dann fort: »Nein, mir hat es keine Beruhigung gebracht. Das Gefühl der Sorge, der Angst vor dem Unrecht ist nur noch größer geworden. Ich sah, daß du nicht von mir lassen wolltest, aber ich fühlte, daß ich nicht bleiben durfte trotz alledem. So bin ich gegangen.«

Sie hatte neben ihm gestanden und strich mit weicher Berührung ein paarmal über sein Haar, während er sprach. Ihr ernstes Gesicht aber wurde zugleich immer heller, und ihre Augen begannen zu leuchten. Denn während er den Kampf seines Gewissens schilderte, erwachte in ihr immer freudvoller die Erinnerung daran, daß sie jetzt das Mittel in Händen hielt, ihn von diesen Sorgen und Qualen für immer zu befreien, daß sie wie durch ein goldenes, weitgeöffnetes Thor ihn hineinführen konnte in ein leuchtendes Zukunftsland. Und so war auch in den Worten ihrer Entgegnung schon ein froher, beinahe mutwilliger Klang. »Du bist gegangen und hast mich allein gelassen, um da draußen eine neue Liebe zu finden.«

»Eine neue Liebe?«

»Ich habe mir sagen lassen, daß du dich in eine der Musen verliebt hast und ganz im stillen zum Dichter geworden bist.«

»Ina!« Es war, als hätte sie ihn mit einer scharfen, tödlichen Waffe getroffen, so jäh zuckte er zusammen, und so wehevoll war der Ton, in dem er ihren Namen rief. Aber während sie bestürzt und besorgt zu ihm niederblickte, faßte er sich rasch, hob den Kopf empor, legte die Hand auf den Revolver und sagte: »Freilich mußt du auch das noch wissen, um zu verstehen, was mich so weit getrieben hat, warum ich Tage und Nächte gereist bin, um noch einmal vor deiner Thür zu stehen und Abschied von dir zu nehmen und dann ein Ende zu machen in diesem Zimmer. Ja, dir kann ich es gestehen, ich hatte wieder angefangen, mir Hoffnungen vorzuspiegeln und Luftschlösser zu bauen, bei weitem nicht so herrlich, wie die anderen, die zusammengestürzt sind, aber doch schön genug, um mich zu locken und mir Freude zu verheißen. Dann sind auch sie zerstört worden. Die Leute wollen nichts von dem wissen, was ich schreibe, und sie mögen wohl recht haben. Man hat mir den Roman zurückgeschickt, in dem ich mein Bestes gegeben hatte. Nun habe ich ihn noch einmal fortgesandt, aber ohne jede Hoffnung auf Annahme, und du solltest das Manuskript erhalten, wenn ich –« Er vollendete nicht in Worten; seine Hand, die noch immer auf dem Revolver ruhte, sprach beredt genug.

Die Frau an seiner Seite hatte ihn ruhig angehört, nur zuweilen mitleidig und nachdenklich leise den Kopf geschüttelt. »Man sollte wirklich die Geduld mit dir verlieren, du ungeduldiges Kind des Augenblicks!« sagte sie jetzt zwischen Trauer und Lachen. »Aber es ist ja das Unglück, daß ich dich lieb habe so, wie du bist, mit all deinen Schwächen und Fehlern, – die wahrhaftig groß genug sind!« Mit anmutiger Bewegung setzte sie sich neben ihn auf die Seitenlehne des Sessels, legte ihm die Hand auf den Scheitel und bog seinen Kopf zurück, daß er ihr in die Augen sehen mußte. »Nun mußt du mich ansehen,« sagte sie und küßte ihn auf die Stirn. »Und jetzt gieb acht und lies in meinem Gesicht, ob ich lüge oder die Wahrheit spreche. Du hast gesagt und du glaubst auch in diesem Augenblick noch, daß wir unwiderruflich für immer geschieden find, und daß dein Ringen nach einer neuen Thätigkeit vergeblich gewesen ist. Ich aber sage dir, daß beides nicht wahr ist; wir dürfen glücklich sein, und auch der junge Dichter hat seinen Erfolg.«

»Warum quälst du mich, Ina?« fragte er leise.

»Zur Strafe, weil du mich gequält hast,« sagte sie übermütig, »und weil ich dir beweisen kann, daß es Glück und Hoffnung für uns beide siebt.«

»Beweisen?« Der Ton seiner Stimme war noch immer traurig, und der Glaube an ihre Rede sprach nicht aus seinen Worten.

»Ja, beweisen. Aber nicht hier, drüben in meinem Zimmer. Willst du mit mir kommen?«

Nun weiteten sich seine Augen doch, wenn auch nicht in Hoffnung, so doch in gespannter Erwartung. Rasch erhob er sich und folgte ihr nach, als sie, das eine der Lichter ergreifend, hinüberging in ihre Gemächer. Ebenso eilig, wie sie den Korridor durchschritten hatte, holte sie jetzt die Schreibmappe herbei, öffnete sie und breitete im hellen Scheine der Lampe einige Papiere vor ihm aus, die er aufhob und las. Daneben stehend, beobachtete sie ihn, wie seine Hände zu zittern begannen, wie ein Kampf ihm die Brust zusammenzuziehen schien, und wie er mühsam nach Atem rang. »Ist das echt, ist das wahr?« stammelte er kaum verständlich.

»Echt und wahr,« sagte sie mit stolzer Freude, »so wahr ich selbst hier vor dir stehe. Dies ist die Handschrift meines Mannes, er hat den Zettel in der Nacht seines Todes geschrieben; ich sage dir nachher, wie ich an ihn gekommen bin. Und was diese beiden Briefe bedeuten, das siehst du ja selbst.«

Nun endlich begann er zu glauben. Er ließ die Papiere auf den Tisch sinken, ergriff Inas Hände, küßte und drückte sie, um dann die Geliebte an sich zu ziehen und jubelnd zu rufen: »Ach, Ina, Ina, ist es denn möglich, daß der Mensch so glücklich sein kann?«

»Möglich und wahr,« sagte sie leise, jetzt mit Thränen der Freude in ihrer Stimme, und legte den Kopf an seine Schulter. Einander umschlungen haltend, gingen sie im Zimmer auf und nieder, erzählend, fragend, erklärend und immer von neuem das Glück dieser Stunde preisend.

»Und was versprichst du mir heute?« fragte Ina scherzend.

Er aber wurde ernst, blieb stehen und faßte ihre beiden Hände. »Ich verstehe dich,« sagte er beinahe feierlich. »Und ich verspreche dir, daß ich von heute ab an das Wort glauben will: ›Hoffnung läßt nicht zu schanden werden.‹ Es ist ja wie ein Wunder, daß es so kommen konnte, wie es nun wirklich gekommen ist. Du aber hast die Hoffnung nicht verloren, und darin bist du stärker gewesen als ich. Von jetzt an will ich dir darin gleichzukommen suchen, und wenn die Mutlosigkeit mich wieder überfällt – es ist nun einmal meine Natur, mich in Extremen zu bewegen – dann erinnere mich an diese Stunde, und du sollst sehen, wie es Wunder thut.«

Wieder gingen sie langsam auf und ab und sprachen von Vergangenheit und Zukunft, bis sie einmal in den Erker hineintraten und durch das offen gebliebene Fenster auf die still gewordene Straße und die erhellten Häuser gegenüber blickten. Ina legte ihren Arm fest um Georgs Schultern und küßte ihn. »Heute dürfen sie's sehen,« sagte sie mit leisem Lachen, der neugierigen Nachbarinnen gedenkend. Und nach einem kleinen Schweigen setzte sie hinzu: »Weißt du, was wir jetzt thun werden?«

»Nun?«

»Das will ich dir sagen, wenn ich wiederkomme. Einen Augenblick mußt du mir jetzt für Hausfrauenpflichten erlauben. Ich habe gewiß in der Küche schon eine ganze Feuersbrunst angerichtet.« Mit fröhlichem Lachen eilte sie hinaus, und es schien ihm, indem er ihr nachblickte, als seien ihre Bewegungen und ihre Gestalt wieder so elastisch und frisch geworden, wie die eines jungen Mädchens.

Geschickt und eilig erledigte sie, was zu thun war. In der Küche war kein Unheil geschehen; nur eine Wolke von Wasserdampf schwebte in der Luft, die Spiritusflamme war aus Mangel an Nahrung erloschen. Nun entzündete Frau Ina die Korridorlampen, löschte die Lichter, die in den verschiedenen Räumen noch brannten, und nahm Georgs Hut und Mantel mit sich, als sie sein Zimmer verließ. Auch sie selbst hatte sich bereits zum Ausgehen angekleidet, als sie wieder zu ihm hereintrat.

»Nun sollst du hören, was wir jetzt thun. Siehst du, damals als wir so elend und verzweifelt waren, da haben wir unser Leid immer hinausgetragen in die Natur und ihr unsere Not geklagt. Dafür muß sie auch zuerst von unserem Glück erfahren, nicht wahr? Wir gehen einmal zusammen um den Wall und erzählen dem Frühling da draußen, daß es einen Frühling giebt, der noch schöner ist als er.«

Langsam war Georg wieder ans Fenster getreten und blickte zum nächtlichen, mit zitternden Lichtern erhellten Himmel empor. »Ja, komm',« sagte er. »Wir wollen nach den Sternen sehen, und ich will ihnen Abbitte thun, daß ich ihr Leuchten nicht verstanden habe.«

Sie löschte die Lampe, verschloß die Zimmer und legte ihren Arm in den Georgs. Dicht nebeneinander schritten sie so die Treppe hinunter, durch die alte Wölbung hinaus, fort aus dem Hause der Schatten, hinein in den Frühlingsabend, der mit fernher schwebendem Blütenduft und mildem Sternenschein sie begrüßte.


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