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Zweites Kapitel

Dies abscheuliche Wetter!« sagte der Mann, der an das Fenster getreten war und die schweren Gardinen ein wenig beiseite geschoben hatte, um hinauszuschauen. »Wenn das nun so fortgeht, immer weiter, bis in den Mai hinein!«

Die junge Frau, die außer ihm sich noch im Zimmer befand, lachte leise auf; es war das glückliche Lachen, mit dem wir über die Schwächen geliebter Menschen zu lachen pflegen. »Wissen Sie, was Sie sind?« fragte sie.

»Nun?«

»Ein Impressionist.«

»Wieso?«

»Nicht in dem Sinne, wie man das Wort heute bei den Malern gebraucht. Was es da bedeutet, weiß ich selbst nicht genau. Ich halte mich an seinen Ursprung, und da finde ich, daß kein Mann, den ich kenne, so sehr verdient, ein Impressionist zu heißen, wie Sie, mein lieber Assessor. Weil heute Winter ist, können Sie sich den Frühling überhaupt nicht mehr vorstellen. Jeden Eindruck, der von außen kommt, jede Impression empfindet Ihre Seele dreimal und viermal so stark, als die anderer Menschen. Ihr Inneres ist wie ein Spiegel, der jeden Hauch erkennen läßt.«

Er hatte die Gardinen wieder zufallen lassen, war vor die Frau hingetreten und betrachtete sie einen Augenblick schweigend. Es war ein anmutiges Bild, wie sie mit ihrer zierlichen Handarbeit dasaß in der Ecke des behaglichen Salons, dem sie den Stempel ihres Wesens aufgeprägt hatte. Reichtum und Geschmack verkündeten sich überall. Niedrig war auch dieses Gemach im Vorderflügel des alten Hauses, aber die vortretenden Deckenbalken waren mit zierlichen Ornamenten farbenreich bemalt, die ihr Muster in Rafaels Loggien gefunden hatten. Ein Smyrnateppich von hellem Grundton bedeckte den Boden, goldbrauner Plüsch überzog die Möbel, schöne Palmen mit großen Wedeln waren hie und da aufgestellt. An den Wänden hingen auf den braunen Tapeten wertvolle Kupferstiche, seltsam widerspruchsvoll in ihren Gegenständen. Neben dem Bild einer toten Märtyrerin, vom Heiligenschein überstrahlt, im Wasser dahintreibend, sah man die ›Jagd nach dem Glück‹, an der anderen Wand ein lebensfrohes Tirolerbild von Defregger und Knille's ›Tannhäuser und Venus‹. Eine hochfüßige Lampe mit rotem Schirm übergoß das alles mit warmem Licht.

Nachdenklich nickte der Mann jetzt vor sich hin. »Die kluge Frau Ina hat wohl wieder einmal recht. Ich glaube selbst, ich empfinde lebhafter, plötzlicher als andere Menschen. Sagen Sie es aber denen nicht wieder; die meinen heutzutage, ein Mann, der empfindet, sei überhaupt kein Mann. Und das möchte ich mir denn doch nicht abstreiten lassen. Ich erfülle meinen Beruf, thue meine Pflicht und habe Energie, wo sie am Platze ist; aber hier innen, da ist der Organismus freilich zarter, leichter verletzlich als bei den anderen.« Er ging einmal im Zimmer auf und nieder; als er dann zu dem Sessel herantrat, der ihr gegenüber stand, und, auf seine Lehne gestützt, von neuem die Blicke auf ihr ruhen ließ, da war der Ausdruck seines Gesichtes plötzlich verwandelt. Ein echtes Kinderlächeln spielte um seinen Mund, indem er fragte: »Nicht wahr, kluge Frau, ich bin ein recht unglücklicher Mensch?«

»Ein großes Kind sind Sie und ein verzogenes dazu,« gab sie heiter zur Antwort. »Aber daran trage ich selbst einen großen Teil der Schuld, also darf ich nicht zu sehr schelten. Uebrigens verbitte ich mir feierlich den Namen, den Sie mir heute schon zweimal gegeben haben. Eine Frau, der man nichts Besseres nachzusagen weiß, als, sie sei klug, ist in meinen Augen wenig beneidenswert.«

»Dann will ich Sie die Gute nennen statt der Klugen.«

»Das lasse ich mir eher gefallen, und schlecht bin ich auch wirklich nicht. Würde ich mich sonst von Ihnen so quälen lassen?«

»Ich quäle Sie doch nicht?«

»O ja, Sie machen mir manchmal das Leben recht sauer. Mit Ihren Launen, Ihrer plötzlichen Schwermut, Ihren düsteren Prophezeiungen. Wenn es im Februar schneit, behaupten Sie, es werde im Mai noch ärger damit werden, und wenn Sie den Schnupfen haben, kaufen Sie sich ein Buch über die Lungenschwindsucht. Ja, ja, Sie sind schlimm! Und es wäre noch ärger, wenn die Medaille nicht auch ihre Kehrseite hätte.«

»Eine Kehrseite?«

»Jawohl. Der Hypochonder und Pessimist in Ihnen – Sie sind beides trotz Ihrer dreißig Jahre, sobald es um Sie her nur ein wenig dunkel wird, – hat einen sehr netten, lieben, freundlichen Genossen: den Enthusiasten. Sie haben wohl hundertmal, wenn Sie mir von einer Reise, einem Bilde, einer Landschaft erzählten, dabei gesagt: ›Das war das Schönste, was ich je gesehen habe!‹ Im stillen habe ich zuweilen über Sie gelächelt, mein Freund, wenn Sie mir so zum hundertsten Male das Schönste in der Welt beschrieben. Aber das Herz ist mir doch warm geworden vor Freude über solche Begeisterungsfähigkeit, die so selten ist in unserer heutigen Welt und die uns anderen mit sich reißt über die Misère des Alltags hinweg.« Sie sah für einen Augenblick voll zu ihm hinüber; ihr für gewöhnlich bleiches Gesicht hatte sich ein wenig gerötet, die tiefen, braunen Augen glühten in schönem Feuer. Nun aber lächelte sie und sagte: »So, für heute haben wir genug über den hohen Herrn geredet. Jetzt wollen wir von anderen Dingen sprechen.«

»Also von Ihnen.«

»Das habe ich nicht gesagt!«

»Aber ich sage es. Nehmen Sie doch einmal das Seciermesser, das Sie so gut zu gebrauchen wissen, und zergliedern mir die eigene schöne Seele ein wenig. Und mit derselben Schärfe, die andere Sterbliche sich müssen gefallen lassen.«

Da sie nicht gleich antwortete, sondern nur schweigend ihre Arbeit, an der sie während des Redens gestichelt hatte, vor sich hin auf den Tisch legte, fuhr er fort zu bitten. »Wahrhaftig, Sie sind mir im Grunde noch immer ein schönes Rätsel. Ich bin kein Seelentaucher wie Sie. Das freilich sehe ich wohl, wie Sie heute sind, aber ich frage mich manchmal, ob Sie immer so gewesen sind seit Jahren schon. So ruhig, in sich geklärt –«

»O nein!« Es war ein tiefer, schmerzlicher Seufzer, mit dem sie die Worte hervorstieß; zugleich erhob sie sich von ihrem Sitze, das Lächeln war von ihrem Gesichte verschwunden, eine schwere Wolke schien sich darauf zu lagern und die Züge älter und schärfer zu machen. Sie trat zu einer der Palmen, einer schönen Kentia, heran und ließ die schlanken Blätter des einen Wedels durch ihre Finger gleiten, während ihre Augen darüber hinweg ins Leere blickten.

»Sie kennen mich freilich nun lange genug, um nach diesen Dingen zu fragen, und ich hätte wohl von selbst einmal davon angefangen, wenn ich nicht auch mein Teil von frauenzimmerlicher Feigheit mit mir herumtrüge. Denn Feigheit ist es doch wohl, wenn man in eine dunkle Höhle oder etwas Aehnliches, durch das man glücklich hindurchgekommen ist, nicht wieder hinein will. Auch wenn man weiß, daß keine Gefahr dabei ist.«

Sie hatte gesprochen, ohne ihre Stellung zu verändern, indem sie mechanisch mit dem Blatte der Palme spielte. Jetzt aber kehrte sie mit etwas müden Schritten zu ihrem Sitze zurück, ließ sich darauf nieder und legte die Hände leicht verschlungen in den Schoß. Dann sagte sie, durch das vorhergegangene, scheinbar gedankenlose Spiel doch vielleicht in ihrer Seele beeinflußt: »Haben Sie einmal von einer Palme gehört, deren Samenkorn jahrelang in der Erde liegt, um dann in ganz kurzer Zeit einen mächtigen Stamm emporzutreiben? Daran muß ich immer denken, wenn ich mich meiner Jugend erinnere. Es ist mir, als hätte ich selbst all' die Jahre hindurch in der dunklen Erde gelegen.«

Er machte eine Bewegung des Schreckens, und auf seinem beweglichen Gesicht spiegelte sich deutlich der tiefe Eindruck, den ihre unerwarteten Worte auf ihn gemacht hatten. Aber er unterbrach sie nicht, und sie sprach nach einem kurzen nachdenklichen Schweigen von neuem.

»Können Sie sich denken, daß es Eltern giebt, die schlecht genug sind, ihr Kind in geistigem Dunkel, in geistiger Oede aufwachsen zu lassen? Die ihm gewaltsam die Quellen verstopfen, aus denen es trinken möchte, die ihm die Bücher fortnehmen, aus denen es die Welt und sich selbst kennen lernen möchte? Die es allein lassen mit sich selbst, es absperren vom Kreis der Jugendgenossen und ihm nicht einmal das unschuldige Glück einer ersten Freundschaft gönnen? Sehen Sie, so grausam sind meine Eltern gewesen, und ich habe darüber früh verlernt, sie zu lieben!«

Jäh sprang er empor. »Das dürfen Sie nicht sagen,« rief er aus, »bitte, das nicht! Es giebt Dinge, die uns allen heilig sein und bleiben müssen, die wir niemals mit unreinen oder feindlichen Händen berühren dürfen! Das ist die Liebe zu unseren Eltern, ein gegebenes Wort, ein Versprechen an einen Freund. Wenn jemand an diese Dinge rührt, fühle ich es wie einen Stich ins Herz. Und nun von Ihnen, gerade von Ihnen das hören zu müssen, –«

Die Worte versagten ihm; er stand ihr gegenüber mit geballten, bebenden Händen; der Ausdruck seines Gesichtes, das plötzlich gealtert schien, die brennenden Augen, die zusammengekrampfte Stirnhaut verrieten einen tiefen, mächtigen Schmerz.

Mit einem langen, fragenden Blicke schaute sie zu ihm hinüber; dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Es giebt doch noch Gebiete, auf denen wir nicht zusammengehen können. Ich hatte gedacht, wir wären einander schon näher. Aber es muß sein, wie es ist. Ich will von diesen Dingen nicht mehr sprechen, wenn es Ihnen weh thut; meine Empfindungen kann ich nicht ändern, sie sind die Frucht von Jahren.« Der Ton war hart gewesen, in dem sie diese Worte gesprochen hatte; jetzt aber kam ihr die alte Heiterkeit zurück, sie streckte die Hand aus und sagte: »Setzen Sie sich wieder daher. Solche Aufregung sind vergangene Dinge nicht wert. Wir in der Gegenwart sind gute Freunde und wollen es bleiben.«

Langsam gehorchte er, und sie fuhr in leichterem Tone fort. »Also nur die Thatsachen will ich berichten. Ich bin aufgewachsen, fast ohne Unterricht zu erhalten, obwohl meine Eltern reich waren. Vielleicht war es auch Eifersucht von meiner noch jugendlichen, für geistvoll geltenden Mutter, die keine Rivalin neben sich haben wollte. Ein einziges Glück hat sie mir gegönnt, oder es wenigstens nicht gehindert: Die Liebe zu meinem Bruder. Er war älter als ich, flott, hübsch und, wie man mir sagte, sehr leichtsinnig. Für mich aber ist all' der karge Sonnenschein, der im Elternhause auf mich fiel, von ihm ausgegangen. Auch ihn habe ich früh verloren; sie haben ihn nach Amerika geschickt, ich weiß nicht, weshalb. Leichtfertiger Streiche wegen, hieß es; das Nähere habe ich nie erfahren. Ein einziges Mal habe ich ihn wieder gesehen, es ist nun fünf Jahre her. Da kam er für kurze Zeit herüber, aber er war nicht mehr der frische, fröhliche Junge von früher, er war scheu und heftig und launisch geworden. Das Leben drüben hatte ihn mir geraubt.«

Der Ton, in dem sie sprach, war wieder ernster geworden; sie strich sich mit der Hand über die Stirn, als müsse sie trübe Gedanken fortwischen. Dann sagte sie: »Nun will ich von mir selbst weiter erzählen. Als ich achtzehn Jahre alt war, hatte ich noch nicht einmal den Schiller gelesen. Das einzige, was ich in vielen einsamen Stunden so ganz für mich ausbildete, war ein kleines Talent zum Zeichnen. Damit ging denn meine Selbstbefreiung an. Der Schönheitssinn bildete sich allmählich aus; mit der Empfindung für das Schöne freilich kam mir mit doppelter Stärke die Empfindung für alles das, was mir fehlte. Damals habe ich mir dieses Bild gekauft.«

Nicht mit der Hand, nur mit den Augen lenkte sie seinen Blick auf das Bildnis der toten Märtyrerin an der Wand. »Ihr fühlte ich mich verwandt, ohne Heiligenschein freilich. Aber so wie sie, leblos, fühllos, nutzlos geopfert, meinte ich in einer kalten, dunklen Flut dahinzutreiben. Aus einer finsteren Gegenwart sah ich in eine hoffnungslose Zukunft. Heimlich las ich damals zuerst die Werke unserer großen Dichter. Es war Grausamkeit gewesen, sie mir zu verbieten, aber aus dieser raschen, leidenschaftlichen Lektüre bei schon gereiftem Verstande entsprang für mich nun eine Quelle der Begeisterung, eines ersten heimlichen Glückes, daß ich meinte, nun müßte ein neues Leben beginnen. Die dumpfe Resignation fiel von mir ab, ich begann zu tasten, zu suchen, auf ein fernes Glück im stillen zu hoffen. Meine Phantasie war erwacht, ich baute in meinem Geiste die Luftschlösser alle nach, die mir die Dichter gezeigt hatten.«

Ein Seufzer hob ihre Brust, ein herber Zug erschien von neuem um ihren Mund. »Als aber die Jahre vorübergingen, ohne mir mehr zu geben, als diese Luftschlösser, da kam nicht die Resignation von ehemals, aber ein wilder, leidenschaftlicher Schmerz über mich. In jener Zeit habe ich wir dieses zweite Bild hier gekauft.«

Es war die ›Jagd nach dem Glück‹, von der sie sprach; in der am Boden liegenden, von Rosseshufen zerstampften Frauengestalt mochte sie die eigenen zertretenen Hoffnungen verkörpert gefunden haben. »Und dann kam das Glück eines Tages doch noch zu mir, das wenigstens, was ich damals dafür hielt. In einer Familie, in der ich Malunterricht gab, – ich that das, um mich von meinen Eltern unabhängig zu machen, – lernte ich den Regierungsrat Henninger kennen. Er hatte mich nur dreimal gesehen, als er mir einen Antrag machte. Ich war erst wenig mit Männern zusammengekommen und auch ihn hatte ich bis dahin kaum beachtet; jetzt auf einmal erschien er mir verwandelt, wie ein anderer Mensch. Er bot mir ja das, wonach ich beinahe verdurstet war, ohne mir selbst klar darüber zu werden, er gab mir die Liebe. Eine plötzliche, unwiderstehliche Leidenschaft hatte ihn ergriffen, der er willenlos gehorchte. Ich bat mir einen Tag Bedenkzeit aus, um mir klar zu werden über mich selbst, dann gab ich mein Jawort. Als ich ihn wieder sah am nächsten Tage, war er in meinen Augen der schönste, bedeutendste Mann geworden, den ich jemals gekannt hatte. Noch heute vermag ich nicht ganz unbefangen über ihn zu urteilen. Aeußerlich glich er Ihnen ein wenig; er hatte dasselbe kurzgehaltene, blonde Haar, ebensolchen blonden Schnurrbart und ein kluges, nervöses Gesicht wie Sie. Ich habe ihn geliebt mit allen Kräften meiner Seele; es war eine Zeit der Erlösung, die nun für mich kam. Auf der Hochzeitsreise, die wir nach Tirol machten, ging es mir zuerst auf, wie unbeschreiblich herrlich die Welt ist, die mir früher wie eine dunkle Gruft erschienen war. Wenn ich an seiner Seite durch irgend eins der Thäler ging und die Felsen sah und den ewigen Schnee und die raschen Wasser und das Grün, ich hätte immer nur laut hinausjubeln mögen.«

Sie stand wieder auf; es schien, als dulde es sie nicht länger auf ihrem Sitze. Der Assessor ließ sie erzählen, ohne sie zu unterbrechen; mit immer stärker leuchtenden Augen schaute er auf die Frau, die er nur in ihrer ruhigen Klarheit gekannt hatte und aus deren Innerem er nun die Flamme der Leidenschaft hervorbrechen sah.

»Bald daraus starben meine Eltern rasch nacheinander,« fuhr sie fort, indem sie auf und nieder zu schreiten begann, die Augen auf das Farbenspiel des Teppichs geheftet. »Nun war ich frei und selbständig, besaß ein schönes Vermögen und konnte meinem Manne die Behaglichkeit des äußeren Daseins verschaffen, die er liebte und bisher nur in beschränktem Maße hatte genießen können. Ich meinte damals, vollkommen glücklich zu sein und ihn vollkommen glücklich zu machen. Dann starb er.«

Sie sprach die letzten Worte kurz, beinahe hart, als könne sie mit dem Ton der Stimme den plötzlichen Schlag nachahmen, der sie getroffen hatte. Keine Thräne jedoch zitterte darin, und merkwürdig ruhig sprach sie nun weiter. »Ja, nach nur dreijähriger Ehe. Es war eine Lungenentzündung, die ihn hinwegnahm. Tag und Nacht habe ich an seinem Bette gesessen und habe gezittert, wenn er vom Sterben sprach. Er hatte den bestimmten Glauben, daß es nicht wieder besser werden könnte mit ihm; er sprach immer von meiner Zukunft, gab mir Aufträge für den Fall seines Todes, bat mich –«

Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, aber ein rascher Blick in die Augen ihres schweigenden Zuhörers ließ sie verstummen. »Nun also, er starb. Nachdem es geschienen hatte, als wäre er gerettet. Ein paar Nächte schon hatte ich nicht mehr bei ihm zu wachen brauchen, da fanden wir ihn eines Morgens tot in seinem Bett. Ich meinte, daß auch ich nun sterben müßte. So leidenschaftlich wie ich hat selten eine Frau einen Toten betrauert. Ich habe es nicht einmal gelitten, daß an die geringsten Gegenstände in seinen Zimmern gerührt werden durfte. Noch heute ist alles dort, wie er es verlassen hat; die Räume, – sie liegen ja dicht neben Ihren Zimmern – sind fest verschlossen und niemals geöffnet worden. Ich selbst habe mich nicht entschließen können, wieder hineinzugehen.«

Sie blieb mitten im Zimmer stehen, und indem sie die Hände mit einer reizenden Gebärde der Verlegenheit ineinander schlang, sagte sie: »Und nun muß ich Ihnen etwas ganz Merkwürdiges gestehen. Ich bin damals fast gestorben aus Kummer, als ich ihn verloren hatte, und doch, wenn ich heute an ihn zurückdenke, wenn ich das alles über diese Entfernung von drei Jahren hinweg ansehe, dann ist mir's zuweilen, als hätte ich ihn niemals wirklich geliebt.«

»Nicht geliebt?« Es waren die ersten Worte, mit denen er ihre Erzählung unterbrach; im Tone maßlosen Staunens wurden sie ganz leise, kaum vernehmlich gesprochen.

»Nein, als hätte ich ihn überhaupt nicht geliebt,« entgegnete sie fest. »Auch in der glücklichsten Zeit unserer Ehe nicht. Als wäre es im Grunde doch nur Dankbarkeit gewesen, was ich für Liebe hielt. Er war der erste Mann, der mir von Liebe sprach, und ich gab mich ihm hin, ohne ihn zu kennen. Ach, das Liebesbedürfnis des Menschen ist ja so groß! Man klammert sich an den Strohhalm, der auf der Flut des Lebens erscheint. Aber wenn ich mir's recht überlege, so eine wirkliche, geistige Gemeinschaft hat in dieser Ehe nicht existiert: ich bin ihm im Grunde doch nur ein kostbares Spielzeug gewesen, um dessen Besitz er zitterte. Nein,« – sie warf den Kopf mit einer fast heftigen Bewegung zurück – »die wahre, geistige Freiheit habe ich selbst, ich allein mir erst nach seinem Tode errungen. Das alles, was Sie geistige Klarheit oder sonstwie nennen, ist mein Eigentum; ich selber habe mein Ich, wie es jetzt ist, geprägt. Jener wahnsinnige Schmerz nach dem Tode meines Mannes hat mich älter gemacht, und dann kam eine Zeit neuer Erstarrung, aus der ich langsam erwacht bin. Aber als ich erwachte, war der Schmerz von mir genommen. Ich fühle mich seitdem frei und klar, und ob Sie mich schelten oder nicht, ich habe das Gefühl, als müßte mein Leben nun erst recht anfangen, als müßte das Glück, so ein ganz übermenschliches Glück, nun erst zu mir kommen!«

»Und seit wann ist es, daß Sie so fühlen?« Er fragte es undeutlich, mit stockender Stimme. Sie aber zögerte nicht mit der Antwort. »Seit einem halben Jahre,« sagte sie laut und fest.

Er erhob sich und trat vor sie hin. »Seit einem halben Jahre kennen wir uns, Frau Ina.«

Ihre Augen leuchteten auf; sie nickte nur, ohne zu antworten, und zugleich fielen ihre Blicke auf das Bild von Tannhäuser und Venus, die in nackter Schönheit den Mann umklammert, der ihrer Macht sich zu entreißen sucht. Gleich aber wandte sie ihr Gesicht errötend hinweg, und nun sah sie in die Augen des Mannes, der vor ihr stand. Aus ihren Blicken gewann er die Kraft zu reden, dem süßen, berauschenden Taumel Worte zu geben, der ihn umfangen hielt.

»Vermag ich Ihnen das Glück zu geben, auf das Sie warten?« fragte er leise, die Hände ihr entgegenhaltend. »Sehen Sie, ich liebe Sie ja. Sie müssen es gefühlt haben, daß es mich immer mächtiger zu ihnen zog, aber niemals hätte ich gesprochen, wenn Sie mir das alles nicht eben gesagt hätten. Ich meinte, der Gestorbene stände zwischen uns; ich glaube an eine Verbindung der Geister über das Grab hinaus, und wenn ich denken müßte, sein Geist hätte an den Ihren heute noch ein Recht, ich würde niemals die Hand nach dem Herrlichsten ausstrecken, das es für mich giebt. Jetzt aber thue ich es mit freiem Herzen. Darf ich Sie führen auf dem Wege in ein neues Leben?«

Während sie ihn anschaute, füllten Thränen, mächtig hervorquellend, ihre Augen; sie legte die Hände in die seinen, und das weinende Antlitz an seine Schulter pressend flüsterte sie: »Da ist es, das Glück!«

Er war so erschüttert, daß er sie nicht zu küssen wagte; leise nur strich er mit der Hand über ihr Haar. Jetzt aber umklammerte sie ihn mit ausbrechender Leidenschaft. »Nun bist du mein, und ich bin dein! Das Glück ist gekommen, und ich will es halten. Mit meinem Leben will ich es verteidigen, wenn sie es mir rauben wollen. Niemals, hörst du, niemals darf etwas zwischen uns treten! Niemals darfst du an mir zweifeln oder mich verlassen, wenn ich nicht sterben soll! Ich halte dich, ich klammere mich an dich an –«

Es war wie eine Wiederholung des Tannhäuser-Bildes an der Wand, als sie die Arme in angstvoller Umschlingung immer fester um seinen Nacken legte. Plötzlich aber horchte sie auf, die Hände lösten sich, mit bleich gewordenem Antlitz machte sie sich von ihm los.

»Hörtest du nichts? Dies seltsame Geräusch?« Es war derselbe Ton, der am selben Abend die kleine Versammlung in der Küche des hinteren Flügels erschreckt hatte. Hierher in die vorderen Räume aber drang er nur matter, gedämpft, und der Assessor, überwältigt von dem Anblick der geliebten Frau, vernahm nichts von dem leisen Beben und Grollen zu seinen Füßen. »Es war der Wind,« sagte er, »laß doch die Welt da draußen.«

»Ja, laß die Welt,« sagte nun auch sie, durch seine Worte rasch beruhigt. »Hier in dem alten Hause ist sie ja von heute ab für uns. Komm, setz' dich her und erzähle mir, wie es gekommen ist, daß du mich gern hast, was du von mir gedacht hast, als wir uns kennen lernten, – ganz genau muß ich das alles wissen.«

Sie zog ihn neben sich auf einen kleinen Divan, über dem die Palmenwedel ein grünes Dach bildeten, und hier saßen sie nun, Hand in Hand, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft plaudernd und goldene Träume spinnend. Jetzt küßte er sie auch zum ersten Mal. Als er sie wieder frei gegeben hatte, sagte er: »Weißt du, wem ich es zuerst sagen möchte? Dem Papa Busenius oben im Giebel. Ich glaube, keiner wird sich so darüber freuen wie er.«

»Thu's,« gab sie lächelnd zur Antwort. »Ich kenne ihn ja nur wenig, aber da die Menschen ihn einen Narren schelten, so ist das Beweis genug, daß er nicht ist wie die andern.«

»Sie schelten ihn einen Narren, ich nenne ihn einen Weisen,« rief der Assessor lebhaft. »Oft meine ich, einen der Propheten aus der Bibel zu hören, wenn ich bei ihm sitze und mit ihm plaudere.«

»Nur seine Sonderlingstracht gefällt mir nicht,« sagte die Frau. »Warum sich auch äußerlich von den Menschen unterscheiden, wenn man innerlich anders ist als sie? Meist redet denn doch die liebe Eitelkeit bei solchen Absonderlichkeiten mit.«

»Bei ihm gewiß nicht! Aber ich will ihn nicht verteidigen; du wirst ihn kennen lernen, und dann ist keine Verteidigung mehr nötig.«

Er wollte noch etwas hinzufügen, aber ein Pochen an der Thür, die zum Korridor führte, unterbrach ihn. Frau Ina erhob sich, und auf ihr ›Herein‹ betrat ein stattlicher, hochgewachsener Mann das Zimmer. Sein Gesicht war regelmäßig und von reiner Hautfarbe, nur unter den Augen lagen bläuliche Ringe. Der blonde Vollbart war kurz zugespitzt, der ins Rötliche spielende Schnurrbart sorgsam mit dem Eisen nach oben gebogen und auseinandergekämmt. Ein tadelloser schwarzer Anzug von modernstem Schnitt umgab die Gestalt.

»Ist es erlaubt, gnädige Frau?« fragte der Eintretende. »Ich suche einen Ausreißer und finde ihn hier. Wird er Ihnen nicht lästig mit seinen häufigen Besuchen? Schicken Sie ihn fort, wenn es so ist, oder sagen Sie es mir, daß ich einmal wieder meine Autorität als Onkel gebrauche, wenn er meiner Zucht auch im allgemeinen entwachsen ist.«

Ueber Frau Inas Antlitz war es bei seinem Erscheinen wie ein erkältender Hauch gegangen, aber sie zwang sich zu freundlicher Entgegnung. »Ich freue mich der Besuche Ihres Neffen, Herr Doktor,« sagte sie, »und bin ihm dankbar, wenn er mir die Zeit vertreibt an diesen langen Winterabenden.«

»Die angenehmste Aufgabe jedenfalls für einen jungen Mann,« entgegnete der Doktor, und ein cynisches Lächeln umspielte seine Lippen, das jedoch zu rasch erschien und wieder verschwand, um von den andern bemerkt zu werden. »Gestatten Sie mir ein paar Worte an meinen Neffen, gnädige Frau?« Auf ihre stumme Bejahung wandte er sich an den Assessor, der sich nun gleichfalls erhoben hatte. »Ich war auf deinem Zimmer, Georg, und suchte dich dort. Ich bespräche gern heute abend noch ein paar geschäftliche Sachen mit dir, Konvertierung von Papieren von deinem väterlichen Vermögen und dergleichen. Vielleicht kommst du nachher ein Stündchen zu mir herauf, und nicht zu spät, nicht wahr? Wie ist es denn,« er sprach jetzt wieder zu Frau Henninger, »haben Sie vorhin nichts bemerkt von dem sonderbaren Geräusch hier im Hause? Deshalb kam ich auch herunter, um danach zu fragen.«

»Ich habe es gehört,« gab Frau Henninger zur Antwort, »Ihr Neffe aber meinte, es sei nur der Wind.«

Wieder zuckte das rasche Lächeln um die Mundwinkel des Doktors. »Der Wind klingt sonst anders,« sagte er, »aber es ist ja möglich, daß er recht hat. Also gehört haben Sie es auch? Und Fräulein Tietjens, – pardon, ich sehe, Ihre Gesellschafterin ist nicht hier.«

Seine Worte klangen harmlos und höflich, aber seine Blicke verrieten einen zornigen Hohn über das zeugenlose tête-à-tête der beiden Menschen, das er gestört hatte.

»Wahrhaftig,« sagte Frau Henninger und suchte eine leichte Verlegenheit durch ein Lachen zu verbergen, »ich weiß nicht, wo sie geblieben ist. Vorhin war sie hier im Zimmer, aber seit Ihr Neffe da ist, habe ich sie nicht mehr gesehen. Sie muß ganz leise verschwunden sein; vielleicht dachte sie, wir wollten den ›Tasso‹ weiter lesen, den wir angefangen haben.«

»Kennen Sie ›Galeotto,‹ gnädige Frau? Nein? Es ist eine interessante Sache. Doch an solcher Lektüre wird es Ihnen jedenfalls nicht fehlen, und ich darf Sie nicht länger stören. Du kommst also noch zu mir, alter Junge, nicht wahr? Und möglichst bald. Wie behaglich und hübsch Sie es hier haben! Bei mir oben in meiner Junggesellenwirtschaft ist es die reine Wildnis dagegen. Verzeihen Sie die Störung, gnädige Frau, ich wünsche guten Abend.«

Er ging, und die beiden blieben allein. Der Assessor zeigte eine finstere Miene, trat wieder an das Fenster, wie vorhin, schlug die Gardine zurück und schaute hinaus in den unfreundlichen Abend. Als er so eine Weile schweigend gestanden hatte, ging Frau Ina zu ihm, legte sanft ihren Arm um seine Schultern und fragte: »Was hast du nur?«

»Ich bin ärgerlich, – über mich selbst. Warum haben wir es ihm nicht gesagt? Er wäre doch der Nächste dazu, es zu erfahren.«

»Vorhin dachtest du nicht daran, als du von Papa Busenius sprachest,« sagte sie mit feinem Lächeln. »Aber freilich ist er dein Onkel.«

»Der mich erzogen hat, dem ich alles verdanke, was ich bin, den ich lieb habe und achte und verehre, – und doch, es ist wunderlich, wenn ich in seiner Nähe bin, dann ist mir es immer, als läge etwas auf mir, als wäre ich noch der kleine Schuljunge, der vor seinem Herrn und Meister steht.«

»Ich glaube, daß es etwas anderes ist, was euch trennt,« sagte sie nach kurzem, sinnendem Schweigen sehr ernst. »Die Scheu des Reinen vor dem Unreinen.«

»Ina! Was sprichst du! Vergiß nicht, daß er mein Verwandter ist, daß ich ihm Liebe schulde, und daß ich sie ihm immer bieten werde als etwas Natürliches, Selbstverständliches. Die Bande des Blutes sind doch heilig –«

»Sind sie das wirklich?«

»Um Gottes willen, zweifelst du daran? Sie sind es und müssen es sein in alle Ewigkeit. Wohin kommen wir, wenn wir an diese ersten, natürlichsten Gefühle rühren?«

»Sei mir nicht böse, Georg; es giebt noch Dinge zwischen uns, ich weiß es, über die wir uns erst allmählich einigen werden. Ich will dich in deinen Gefühlen für diesen Mann nicht mehr kränken. Ich sollte ihm dankbar sein, denn er hat mir unbewußt zu meinem Glücke verholfen, indem er damals dich hierher empfahl, als ich die leerstehenden Zimmer im Flügel vermieten wollte. Sonst hätten wir uns vielleicht niemals kennen gelernt. Und doch, ich kann mir nicht helfen; wenn ich ihn sehe, lehnt sich etwas in mir gegen ihn auf. Er ist, was die Leute einen schönen Mann nennen; in meinen Augen aber hat er ein Raubtiergesicht.«

»Ina!«

»Was willst du? Es ist ein Typus, der heutzutage sehr häufig ist. O, ich habe sehen gelernt in den Jahren, als ich so einsam war. Sieh dir die Menschen von heute nur einmal genauer an, und du wirst den Raubtiertypus weit öfter finden, als du denkst. Dies Glatte, Kalte und Lauernde bei aller äußeren Form, den harten Blick, der immer nach Beute sucht, – sieh dich nur um, der Kampf ums Dasein erzeugt wunderliche und häßliche Dinge.«

Er war ruhiger geworden, sobald sie angefangen hatte, statt des besonderen Falles das Allgemeine zu erörtern. Jetzt lachte er plötzlich heiter auf. »Haben wir denn heute nichts Besseres zu sprechen, du große Philosophin? Und das Sprechen ist überhaupt nicht das beste, was die Lippen können. Weißt du noch, was Shakespeare den Antonius zur Kleopatra sagen läßt? ›Was das Leben adelt, ist einzig, so zu Thun.‹ Er zog sie wieder an sich und küßte sie. »Hat Shakespeare nicht recht?«

»Wie immer,« sagte sie und lächelte ihm zu.

Die Welt versank von neuem hinter ihnen im Gefühl ihrer Liebe, rein und voll übertönte der Einklang ihres Empfindens den Widerspruch ihrer Anschauung und Gedanken. Aber ein prosaischer Laut weckte sie auf. Karoline, die Köchin, war es diesmal, die sie störte. Behutsam öffnete sie die Thür und reichte Frau Henninger den großen, altertümlichen Hausschlüssel dar. »Ich habe dem Wurm eben heruntergebracht,« sagte sie, »der Hanne, un da habe ich gleich abgeschlossen un den Schlüssel mitgebracht. Nee, un der Wetter noch immer! Ich hätte der Kleinen am liebsten hier behalten. Un wenn Frau Regierungsrat mich nu gleich noch für morgen herausgeben wollten, denn wäre mich das sehr angenehm.«

»Ich hatte es ganz vergessen, Karoline, kommen Sie, ich gehe mit Ihnen. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, ich bin gleich wieder hier.«

Sie nickte ihm zu und ging hinaus. Er schaute sich, allein geblieben, im Zimmer um, als hätte er es nie vorher gesehen. Das Gefühl des Glückes ließ ihm alles verändert, neu und herrlich erscheinen. Der kleinste Gegenstand erfreute ihn, von dem er wußte, daß ihre Hand ihn berührt hatte. Die Bilder an der Wand, die er lange schon kannte, hatten eine neue Bedeutung gewonnen, weil sie von dem vergangenen Leben der geliebten Frau erzählten. Dort in der Thür des gleichfalls erleuchteten Nebenzimmers, das nur durch eine geöffnete Portière von diesem geschieden war, hatte er sie zuerst gesehen, als er ihr damals seinen Besuch als neuer Mieter und Hausgenosse gemacht hatte. Dann dort die Thür zum Korridor, durch die sie eben verschwunden war, und hier in der Wand zur Rechten eine dritte Thür, die er noch niemals geöffnet gesehen hatte. Zum ersten Male fiel ihm das heute ein. Er hatte nie gehört, was für ein Zimmer sich dort befand; immer nur hatte er die schwer herniedersinkenden Falten der dunklen, geschlossenen Portière an dieser Stelle erblickt. Das Schlafzimmer Frau Inas war es nicht, das lag nach hinten hinaus, wenn auch noch im Vorderflügel des Hauses. Eine ungekannte Neugierde ergriff ihn, das Herrschergefühl des zukünftigen Hausherrn vielleicht, der seinen Besitz möchte kennen lernen. Er that ein paar Schritte auf die Portière zu und überlegte, ob es indiskret von ihm sei, wenn er einen Blick in den Nebenraum werfe, als etwas Ueberraschendes geschah, das ihn fast erschreckte.

Von anderer Hand, von dem anderen, unbekannten Raum aus wurde die Portière plötzlich geöffnet, ein mattes, gelbliches Licht schimmerte durch den Spalt, und aus diesem Dämmerschein hervor trat eine Frauengestalt ins Zimmer, die den schweren Stoff unmittelbar hinter sich wieder zusammenfallen ließ.

Es war nicht die Erwartete, Ersehnte, nicht Ina Henninger. Eine größere Figur von starkem Knochenbau, ein älteres Gesicht. Um die Schläfen legte sich graues, gewelltes, noch dichtes Haar, die schwarzen Augen, die einen seltsamen Gegensatz dazu bildeten, lagen tief in ihren Höhlen. Die Gesichtsfarbe war gelblich, nur auf den stark hervortretenden Backenknochen, auf Nase und Kinn zeigte sich ein rötlicher Schimmer. Sie trug ein graues, altmodisches Gewand, ein kurzes, schwarzes Mäntelchen hing um die Schultern, die Hände waren in seidenen Handschuhen, von denen die Finger entfernt waren, zur Hälfte verborgen.

»Sie sind es, Fräulein Tietjens?« fragte der Assessor, der sich rasch gefaßt hatte. »Wir haben Sie vermißt.«

»Wirklich?« Es war kein Hohn in der Art, wie sie das eine Wort sprach, nur eine vollendete Gleichgültigkeit, eine Abwehr jeglicher Vertraulichkeit.

»Wie kommen Sie von dort her?« fragte der Assessor, nun wieder von seiner früheren Neugierde ergriffen.

»Es ist ja ein Durchgang zum Korridor, wie drüben auch,« – sie wies mit einer kurzen Bewegung des Kopfes auf das erleuchtete Nebengemach, – »und von meinem Zimmer her ist dieser Weg sogar der nähere.«

»Aber ich habe noch niemals diese Portière geöffnet gesehen. Ich habe keine Ahnung, was für ein Raum sich hier befindet und was er enthält.«

»Wollen Sie ihn kennen lernen?« Sie stellte die Frage in derselben monotonen, etwas müden Art, wie sie alles Vorhergegangene gesprochen hatte; kein eigenes Interesse schien ihre Brust zu bewegen, im Dienst für andere schien sie verlernt zu haben, selbst zu fühlen.

»Gern, wenn ich darf, und wenn ich Ihnen keine Mühe mache.«

Sie gab keine Antwort, sondern ging in ihrer ruhigen, leidenschaftslosen Art auf die Portière zu, griff nach einer dahinter verborgenen Schnur und öffnete mit einem festen Zuge die geschlossenen Vorhänge. Mit einem Ton des Schreckens wich der Assessor ein paar Schritte zurück.

Ein ergreifendes, unheimliches Bild hatte sich ihm enthüllt. Es war ein ganz kleines Gemach, in das er hineinsah, einer von jenen Räumen, die sich nur noch in diesen alten Häusern mittelalterlicher Städte finden, und deren Zweck dem Menschen von heute kaum erklärbar ist. Zu klein scheinbar für irgend welche Benutzung, liegen diese Gemächer neben und zwischen den größeren Zimmern, oft ohne Fenster, in ewige Dunkelheit gehüllt. Hier freilich war Licht, das von einer kunstvoll geschmiedeten, laternenähnlichen Ampel ausstrahlte, die von der Decke herabhing und mit dunkelgelben Glasscheiben umkleidet war. Der gelbe Schein fiel auf eine dichte Masse von Pflanzengrün, auf ernste, blütenlose Gewächse, auf Palmen, Lorbeer und Lebensbäume, die den Raum zum größten Teil füllten. In ihrer Mitte aber erhob sich eine kräftige, einfach geformte, schwarze Marmorsäule, die eine überlebensgroße Männerbüste aus weißem Marmor trug. Das gelbe, von oben herabfallende Licht jedoch verlieh ihr eine blasse Totenfarbe, so daß der erschreckte Beschauer keinen Stein, sondern das erbleichende Antlitz eines sterbenden Menschen zu erblicken meinte. Eine Draperie von schwarzem Sammet war um die Schultern der Büste gelegt, und dieser Gegensatz von Stoff und Stein erhöhte noch den Eindruck des Grausenhaften, den der plötzliche Anblick hervorrief.

Kalt überlief es den Assessor, indem er den nie gesehenen Raum und seinen traurigen Inhalt betrachtete. Es war ihm, als greife von dort eine eisige Totenhand in das warme Glück seiner Liebe herein, als wehe ihm Grabeshauch entgegen und vernichte die Blüten auf seinem Wege. Seine Lippen vermochten nicht zu reden, ein Zittern erschütterte seine Glieder, und unverwandt blickte er auf das steinerne Bildnis. Jetzt aber unterbrach eine gedämpfte, ruhige Stimme wieder das Schweigen. »Es ist die Büste des Regierungsrats Henninger, eine gute Arbeit von Professor Küsthardt. Ich habe den Verstorbenen nicht gekannt, aber man sagt, sie sei ähnlich. Ursprünglich sollte sie auf dem Kirchhof aufgestellt werden, aber Frau Henninger wollte sich nicht davon trennen. Sie nahm sie hierher in diesen Erinnerungsraum als Zeichen einer Treue, die über das Grab hinausreicht.«

Sie wandte sich nicht um, die Wirkung ihrer Worte zu erforschen; die Büste betrachtend, sprach sie gleichmäßig weiter, ohne einen Blick auf das Gesicht ihres Zuhörers zu werfen, das sich mehr und mehr entfärbte unter dem Einfluß ihrer grausamen Rede.

»Sie hat ihm diese Treue geschworen und wird sie ihm halten, wie ich sie kenne. Sterbend hat er den Eid von ihr gefordert, und sie hat ihn geleistet.«

»Geschworen? Einen Eid? Was reden Sie, was bedeutet das?«

Jetzt wandte sie sich zu ihm, und ein matter Ausdruck des Staunens erschien auf ihrem Gesicht. »Ich dachte, Sie wüßten das alles von ihr selbst. Sie hat ja doch sonst so großes Vertrauen zu Ihnen. Ich müßte mich also der Indiskretion anklagen, aber die ganze Stadt weiß von diesem Eide; die einen tadeln sie darum, die anderen beklagen sie, aber alle wissen, daß sie ihrem Manne auf seinem Sterbelager Treue geschworen hat über das Grab hinaus bis in alle Ewigkeit, und daß der Sterbende verheißen hat, als Geist wieder vor ihr zu erscheinen, wenn sie den Eid brechen sollte.«

Auch jetzt erhob sich ihre Stimme nicht zu größerer Kraft; der Ton ihrer Worte erinnerte an das gleichmäßige Niederfallen großer und schwerer Regentropfen, die eine melancholische Musik machen.

»Das ist nicht wahr!« schrie der Assessor auf. »Das kann nicht wahr sein, oder sie hätte es mir gesagt!«

»Es wird das beste sein, Sie fragen Sie selbst. Da ist sie.«

Frau Henninger war ins Zimmer getreten, lächelnd, mit einem Scherzwort auf den Lippen. Ein einziger Blick aber zeigte ihr den enthüllten Erinnerungsraum mit der Büste des Toten, zeigte ihr die leichenhafte Blässe auf dem Gesichte des lebenden Mannes, den sie liebte.

Rasch trat er ihr entgegen, nach Worten suchend. Aber wie er ihr in die Augen sah, die groß und fragend und doch mit dem Ausdruck eines mächtigen Vertrauens auf ihn gerichtet waren, da vermochte er nicht auszusprechen, was er gemeint hatte, ihr sagen zu müssen.

»Nicht heute,« stammelte er. »Fragen Sie mich nicht! Ein andermal, – später, – nicht heute!«

Ohne Abschiedsgruß verließ er das Zimmer. Mit einem langen, schmerzlichen Blicke schaute Frau Henninger ihm nach. Dann trat sie auf die Gesellschafterin zu und fragte: »Was haben Sie ihm gesagt?«

»Nur von dem Eide habe ich ihm erzählt, den Sie dem Verstorbenen geleistet haben. Ich meinte nicht, ihm etwas Neues damit zu sagen.«

»Es war kein Eid, Sie wissen das gut genug!« Sie hatte es heftig hervorgestoßen, gleich aber gewann sie die Selbstbeherrschung wieder und fügte ruhig hinzu: »Doch es ist nun einmal geschehen, und nichts mehr zu ändern. Gehen Sie schlafen, Fräulein Tietjens; es ist spät geworden, und ich möchte allein sein.«

Mit wortlosem Neigen des Kopfes gehorchte die Gesellschafterin; leise glitt ihre graue Gestalt hinaus aus dem Zimmer. Als Frau Henninger allein geblieben war, verriegelte sie die Thür, durch die Jene sich entfernt hatte; dann aber trat sie vor den Raum, der dem Andenken des Verstorbenen gewidmet war, und blickte lange regungslos hinein in den gelblichen Schimmer, der die Züge des Toten umflutete.

Zuerst bewegten ihre Lippen sich ohne Laut, aber dann bildeten sie Worte, leise, kaum vernehmlich: »Es ist kein Eid gewesen, du weißt es. Ich versprach dir's in der Angst des Todes, weil ich meinte, daß ich nie aufhören könnte, dich zu lieben. Nun ist es geschehen, das Leben übt sein gewaltiges Recht. Mein Versprechen ist zu einer Kette geworden, die mir die freie Bewegung hemmt.«

Sie schwieg einen Augenblick und trat noch näher zu der Büste heran; ihr Gesicht gewann einen zornigen Ausdruck. »Aber ich will die Kette nicht tragen,« sagte sie jetzt laut, »ich breche sie – heute, in dieser Stunde. Ich will leben, ja, ich will leben.«

Mit rascher Bewegung erhob sie die Hand zu der Ampel und löschte die Flamme, die darin leuchtete; noch ein kurzes Aufflackern, und tiefes Dunkel erfüllte den kleinen Raum. –

Eilig, mit unsicheren Schritten hatte der Assessor sich nach seinen Zimmern begeben, sobald er den Salon verlassen hatte. Er dachte nicht mehr daran, daß der Onkel oben nach ihm verlangt hatte und ihn erwartete. Hinter sich verschloß er die Thür und trat in dem unerleuchteten Gemach an eins der unverhüllten Fenster; die beiden Räume, die er bewohnte, lagen im Nebenflügel, der sich rechtwinklig an den Hauptbau anlehnte, gleich am Anfang des langen Korridors. Wie das eine Fenster der Küche, so gingen auch die dieser Zimmer auf den Hof zur Seite des Hauses, und an die Scheiben gelehnt, blickte der Assessor lange Zeit hinunter auf die weiße Fläche, auf das Treiben des Schnees in der Luft. Dann ließ er die Vorhänge herunter, machte Licht und begann sich zu entkleiden. Als er sein Schlafzimmer betreten hatte und den Wandschrank öffnete, in dem er seine Kleider zu verwahren pflegte, fiel es ihm zum ersten Male auf, daß dieser Schrank durch die ganze Stärke einer mächtigen Mauer hindurch sich erstreckte, und daß er nach hinten zu nur durch eine dünne Wand geschlossen schien. Dort aber lagen die beiden Räume, in denen der Tote gelebt hatte und gestorben war, derselbe Tote, der von heute ab, so meinte er, für immer zwischen ihm und seinem Glücke stand. Mit erneutem Schauder über die verderbliche Nähe schloß er die Thür des Schrankes, warf sich auf sein Lager und löschte das Licht. Aber kein Schlaf kam in seine brennenden Augen; er lag und wachte, wieder und wieder die Gedanken in seinem Kopfe wälzend, und starrte hinein in das Dunkel, das ihn umgab und das ihm in diesen Stunden wie ein Abbild seines zukünftigen Lebens erschien.

Er lag und wachte und hörte die Glockenschläge, die vom Turm der nahen Michaeliskirche zu ihm herüber drangen, doch er vernahm nicht, was in seiner Nähe geschah. Er ahnte den Schatten nicht, der in tiefer, finsterer Mitternacht das Haus der Schatten durchschwebte. Aus einem Zimmer des ersten Stockwerks kam er hervor, glitt an den Wänden entlang, öffnete die Thür eines schwarzen Gelasses und bewegte sich eine Treppe hinan, die darin emporführte. Ueber die Korridore des zweiten Geschosses nahm er seinen lautlosen Weg, um Halt zu machen vor einem Zimmer, das über dem des Verstorbenen lag. Ein ganz leises, dreimaliges Klopfen ertönte, kaum lauter als ein Hauch, die Thür öffnete sich, ein schwacher Lichtstrahl kam daraus hervor. Und in seinem Scheine verwandelte der Schatten sich in eine Gestalt, in die des Fräulein Tietjens, der Gesellschafterin von Frau Henninger. Das Gemach aber, aus dem der Lichtschein hervorkam, und in das die dunkle Gestalt nun hineinglitt, war das Studierzimmer des Doktors Jaksch.

»Du kommst spät,« sagte er mit gedämpfter, ungeduldiger Stimme.

»Es war nicht eher sicher, und du hattest ihn ja auch noch zu dir heraufbestellt.«

»Was hast du zu berichten?«

»Viel und wenig Gutes.«

»Verschließ' die Thür, setz' dich und erzähle.«


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