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Viertes Kapitel

Es giebt im alten Hildesheim ein paar Straßen, so eng, so dunkel und schmal, daß man sich in eine der kleinen italienischen Städte versetzt glaubt. Nur der Schmutz fehlt hier, der dort als notwendig gilt, das Pflaster ist reinlich, aber darüber erheben sich die Häuser so nahe an einander, nach oben zu immer mehr über den schmalen Pfad herüber wachsend, daß man von Fenster zu Fenster dem Nachbar die Hand reichen kann, und daß die Katzen, die hier in reichlicher Anzahl hausen, mühelos von einer Seite der Straße zur andern hinüber springen. Licht und Luft finden kaum den Weg unter die zu einander geneigten, altersbraunen Gebäude, und auch der Schnee bedeckt hier sparsamer das Pflaster, wenn ihn der Wind nicht vom Eingang her mit Gewalt hereintreibt.

In einem kleinen, fast nächtlich dunklen Zimmer, das im zweiten Geschoß eines dieser Häuser lag, befanden sich ein Mann und ein Kind. Es war gegen Mittag, aber die beiden Gestalten waren trotzdem nur mühsam zu erkennen; denn die Fensterscheiben, die von denen des Nachbarhauses um Armeslänge kaum entfernt waren, zeigten außer dem Ueberzug von Staub und Schmutz noch einen solchen von dichter, blauer Fliegengaze, der dem geringen Lichte den Eingang noch mehr erschwerte.

Der Mann saß unmittelbar am Fenster, mit dem Ausbessern eines Rohrstuhls beschäftigt, an dem er eifrig flocht. Im Hintergrunde des Zimmers, nahe an einem rostbraunen, eisernen Ofen, auf dem ein zugedeckter Topf leises Gebrodel hören ließ, hatte das Mädchen sich auf einen Schemel gekauert und strickte. Nur selten sah der Mann von seiner Arbeit auf; dann aber war es ein Blick der Liebe, der aus seinen runden, rotumränderten Augen zu dem Kinde hinüberflog. Er war ein häßlicher Mensch mit plattem, gewöhnlichem Gesicht, schon ergrauendem, wirrem Haar und Bart, obwohl er kaum vierzig Jahre zählen konnte; die mächtige Zärtlichkeit aber verschönte ihn, die in solchen Augenblicken in seinem Gesicht aufleuchtete. Gekleidet war er sehr ärmlich in einen verschlissenen, braunen Anzug, der ihm zu weit war und nur an Hals und Händen ein wenig schmutzige Wäsche sehen ließ.

Eben hatte er wieder zu dem Mädchen hinüber geschaut, als er seine Arbeit für einen Augenblick sinken ließ und mit einem der feinen Rohre leise auf das Holz der Fensterbank klopfte. Hurtig sprang das Kind empor und trat an seine Seite. Und nun begann er mit ihm zu reden, wortlos, ohne Laut, in der hastigen Geberdensprache der Taubstummen.

»Hast du noch keinen Hunger, Hanne?« fragte er.

»Nein, Vater; es ist ja noch nicht zwölf.«

»Was kochst du uns denn Gutes?«

»Ein schönes Essen, Weißkohl mit Speck.«

»Ich rieche es schon. Das riecht gut.«

»Sehr gut. Und ich weiß auch, wie man es kochen muß. Karoline hat es mir gezeigt.«

»Du mußt ihr immer dankbar sein, Hanne. Undankbare Menschen hat der liebe Gott nicht lieb.«

»Ich bin auch nicht undankbar, Vater.«

Er versank für einen Augenblick in ein finsteres Sinnen, als habe die Erinnerung an eine trübe Erfahrung ihm bittere Gefühle erweckt; aber die Wolke auf seiner Stirn verschwand eilig wieder, sobald er in das freundliche Gesicht seines Kindes sah. Schon hob er die Hand, um die Unterhaltung fortzusetzen, als ein Knarren der Treppe draußen und ein festes Klopfen an der Thür das Mädchen aufhorchen ließ. Der Mann hatte in dem tiefen Schweigen, das ihn für immer umgab, das Nahen des Besuchers nicht bemerkt, das Kind aber machte ihm ein Zeichen und eilte zur Thür, sie zu öffnen.

»Guten Tag, Herr Doktor,« sagte die Kleine, als sie den Besucher hatte eintreten lassen, in dem ihr an das Dämmerlicht gewöhntes Auge den Doktor Jaksch sogleich erkannt hatte. Sie sprach höflich und freundlich, aber ein tiefes Unbehagen drückte sich in ihren Zügen aus. Der Doktor achtete nicht darauf; er hatte seine hohe Gestalt bücken müssen, als er in die Thür getreten war, und auch im Zimmer hier berührte sein Kopf beinahe die Decke. Er schaute sich schweigend um in dem finsteren, vom Geruch des auf dem Ofen brodelnden Kohls erfüllten Gelaß, das eher der Behausung wilder Tiere als einer menschlichen Wohnung glich. Ein böses Lächeln zuckte um seinen Mund, als er nun zu dem Kinde sprach.

»Ihr habt es hübsch hier, Hanne, was?«

»Ja, Herr Doktor.«

»Und dir geht es gut, nicht wahr? Wirst ja alle Tage größer und schöner.«

»Ja, Herr Doktor.«

Er lachte laut auf; seine sonst weich abgetönte Stimme war hart und kalt, wenn er so lachte. »Ja, Herr Doktor,« wiederholte er. »So ist's recht; nur immer hübsch ja sagen, das ist die Hauptsache für deinesgleichen. Und nun geh hinaus, ich habe mit Vater zu sprechen.«

»Ja, Herr Doktor.«

Eilig, als hätte er ihr ein Geschenk gemacht mit der Erlaubnis zu gehen, verließ sie das Zimmer. Der Doktor trat nun zu dem Taubstummen heran, der sich bei seinem Eintritt erhoben hatte und dicht am Fenster stehen geblieben war.

»Guten Tag, Bäsmann,« sagte er, indem er nicht laut, aber mit deutlicher Accentuierung sprach und dem anderen das Gesicht zuwandte, so daß er die Bewegung der Lippen genau verfolgen konnte.

Der Taubstumme machte einen Versuch zu sprechen; ein grunzender, unartikulierter Ton kam aus seinem Munde. Nervös schüttelte der Doktor den Kopf. »Nicht Ihre Redeübungen, Bäsmann, das liebe ich nicht. Schreiben Sie, wenn Sie sich mit mir verständigen wollen. Nehmen Sie Ihre Tafel, ich habe Sie einiges zu fragen.«

Der andere gehorchte und nahm von der Wand am Ofen eine Schreibtafel herab, an der mit Bindfaden ein Griffel befestigt war. Der Doktor hatte sich auf den einzigen Stuhl gesetzt, der sich in dem Raume befand, und den der Taubstumme vorher inne gehabt hatte. So kniete dieser vor der schmalen Fensterbank nieder, auf die er die Schreibtafel stützte.

»Achten Sie genau auf meine Worte. Ich komme wieder einmal wegen des Kindes, des Knaben, den ich durch Sie vor zwanzig Jahren bei Ihrer Schwester habe unterbringen lassen. Haben Sie neuerdings nichts von ihm gehört?«

Bäsmann antwortete, ohne die Tafel zu Hilfe zu nehmen, durch ein lebhaftes, nachdrückliches Kopfschütteln.

»Der Vater des Kindes, der mein Freund ist,« er betonte die Worte noch schärfer, als seine früheren, »wüßte gern etwas über den Knaben, der ja nun herangewachsen sein muß. Es war unverantwortlich damals von Ihrer Schwester, den Burschen fortlaufen zu lassen. Haben Sie denn noch immer nichts über ihn erfahren?«

Jetzt begann der Taubstumme zu schreiben, wie er es gewohnt war, in einem kurzen, abgerissenen Telegrammstil, der Zeit und Mühe für den Schreibenden und den Wartenden sparen sollte. »Nichts, gar nichts. Nie wieder 'was gehört.«

»Ob er denn wohl noch lebt?« Leise, mit ein wenig bebender Stimme that der Doktor die Frage. Der andere aber las ihm die Worte doch von den Lippen und schrieb seine Antwort nieder. »Weiß nicht. Seit einem Brief an Schwester aus Berlin verschollen. Nun vier Jahre.«

Der Doktor nickte, dann runzelte er die Stirn. Sie und Ihre Schwester, Sie haben die ganze Schuld. Hätten Sie aufgepaßt, so wäre er nicht fortgelaufen. Auch hätten Sie gewiß etwas erfahren können, wenn Sie sich nur wirklich Mühe gegeben hätten.«

Er stand auf und nahm seinen Hut. »Ich hätte mir's denken können, daß es vergeblich war,« sagte er mehr zu sich selbst, als zu dem stummen Zuhörer, und ging zur Thür. Noch bevor er sie aber geöffnet hatte, ließ einer der unartikulierten Redeversuche Bäsmanns, ein Ruf, ein Stöhnen ihn stehen bleiben und sich umwenden.

Mit geballten Fäusten stand der Taubstumme ihm gegenüber, dann lösten sich die zusammengekrampften Finger, und er begann zu reden mit hastiger, leidenschaftlicher Geberdensprache. Ein spöttisches Kopfschütteln des Doktors erst brachte ihn zur Besinnung. Er griff zur Tafel und schrieb. Der Griffel knirschte auf dem Schiefer unter der eiligen Hand. Dann hielt er dem Doktor das Geschriebene hin; dieser nahm es und las.

»Versprochen. Fest versprochen. Damals, als Brief kam. Für Hanne sorgen. Muß heraus. Muß in andere Wohnung. Wird mir hier krank. Stirbt vielleicht. Versprochen. Versprochen.«

Der Doktor hatte sich von ihm abgewandt, während er las. »Wirst du mir unbequem?« murmelte er jetzt, und sein Mund verzog sich wie der eines Raubtiers, das die Zähne fletscht. Aber es war nichts mehr davon zu sehen, als er jetzt wieder dicht vor den Taubstummen hintrat und zu ihm sprach, indem er mit einem festen und starren Blick ihm in die Augen sah, von dem er wußte, daß er dadurch eine Macht über andere Menschen auszuüben im stande sei.

»Sie schreiben da von Versprechungen. Haben Sie etwas darüber schriftlich? Sie brauchen mir nicht zu antworten; ich weiß, daß Sie nichts haben. Aber heute sage ich Ihnen dies: Geben Sie sich Mühe. Suchen Sie! Finden Sie die Spur des fortgelaufenen Burschen. Dann soll alles geschehen, was Sie für Hannchen wünschen.«

Der andere zog in lebhafter Erregung die Schultern in die Höhe und erhob die Hände.

»Sie können, wenn Sie wollen. Sie haben die einzige Spur, verfolgen sie die. Und wenn Sie mir ausgefunden haben, was ich wissen will, dann soll etwas für das Mädchen geschehen, dann soll es hier heraus, und wir wollen eine große Dame aus ihm machen.«

Er brach ab und löste den Blick aus den Augen des anderen. »Guten Morgen,« sagte er dann und wandte sich zum zweitenmale zur Thür. Diesmal ließ der Taubstumme ihn hinausgehen, ohne ihn zurückzuhalten.

Bei der Verheißung, daß aus dem bleichen, geliebten Kinde ein gesundes Mädchen, eine große Dame gemacht werden solle, und unter dem fascinierenden Einfluß der starr auf ihn gerichteten Augen war ein freudiges, glückliches Lächeln auf dem gedunsenen, häßlichen, farblosen Gesichte des Taubstummen erschienen. Es verweilte dort auch noch einen Augenblick, nachdem der Doktor gegangen war. Allmählich aber verschwand es und machte dem Ausdruck eines grimmigen Hasses Platz. Er hob seine Arme und schlug die geballten Fäuste gegeneinander, als könne er seinen Feind dazwischen zermalmen. Dann schüttelte er sie gegen ihn in der Luft, und indem er zugleich mit sich selbst zu reden begann in den unverständlichen, gurgelnden Lauten, die seine Sprache waren und wie das Drohen eines gereizten, zornigen Tieres das Zimmer durchhallten, erschien er in der graublauen Dämmerung des finsteren Raumes wie ein böser, racheverheißender Dämon.

Seine Hände aber sanken nieder, und sein tierisches Zürnen verstummte, sobald die Thür sich leise wieder öffnete, und Hannchen hereintrat. Er ging auf sie zu, ergriff ihre Hand und streichelte ihr Haar. Dann begannen seine Finger von neuem zu sprechen.

»Gieb acht, Hannchen, aber sag' es keinem Menschen wieder, was ich dir heute sage. Hüte dich vor dem Manne, dem Doktor. Er ist ein schlechter und grausamer Mensch. Aber ich bin klüger, als er meint. Was ich nicht höre, das sehe ich. Von den Lippen der Leute kann ich lesen, auch wenn sie nicht mit mir sprechen. Ich habe vieles gelesen und weiß vieles, wovon sie es nicht denken. Und wenn du groß geworden bist, will ich es dir sagen.«

Er hielt inne, die Erregung, die sich seiner von neuem bemächtigt hatte, verlor sich. Noch einmal streichelte er ihr das glatte Haar, dann sagte er in seiner Zeichensprache: »Komm, Hannchen, jetzt wollen wir essen.« – –

Wie dort in dem dunklen, höhlenähnlichen Raum der Taubstumme schreibend vor dem Doktor gekniet hatte, so lag am Nachmittag desselben Tages in einem anderen Zimmer ein Mann vor dem anderen auf den Knieen. Dort war es finster gewesen, und hier war es hell, der Knieende aber hatte sein Gesicht an die Schulter des anderen gepreßt und blickte hilfesuchend zu ihm auf.

Es war im Giebelstübchen des Herrn Busenius hoch oben im Hause der Schatten. Das Gemach, von der westlichen Außenwand ab hinein gebaut in den unfreundlichen, von Pfosten- und Lattenwerk erfüllten dritten Bodenraum war nur klein, aber das eine Fenster, das sich darin befand, ließ das Licht des Himmels ebenso ungehindert hereinströmen, wie es den Blick hinausschweifen ließ in eine freie und weite Ferne. Kein Haus in der Nachbarschaft reichte heran bis zu der Höhe dieses mächtigen Giebels; tief unten lagen Dächer, Mauern und Gärten. Die Sonne, die sich über den Höhen des Hildesheimer Waldes zur Ruhe niedersenkte, schaute noch voll herein, und ihre Strahlen erfüllten den engen Raum mit einem blassen Licht.

Außer den beiden Männern fand sie nicht viel zu sehen in dem einfachen Gemach. Ein eisernes Bett, ein Waschtisch, zwei Stühle, ein Wandbort mit ein paar Büchern, ein Kleidergestell und ein zweiter, ziemlich großer Tisch, das war alles. Die Wände waren weißgetüncht und, mit Ausnahme einer einzigen Stelle, ganz ohne Schmuck. Hier aber, über dem Tische, der an der Mauer zur Rechten des Fensters in gutem Licht aufgestellt war, befand sich eine seltsame Zierde. Ein Kruzifix, das mit seinem Ebenholzkreuz und der silbernen Christusgestalt von der Aermlichkeit der Umgebung auffallend abstach, bildete den Mittelpunkt. Umgeben war es in ovalem Kranz von sieben schön gearbeiteten, dunkelroten Rosen. Ein breiter Streifen aus Papier oder Stoff, in den sieben Regenbogenfarben schillernd und leuchtend, war darüber befestigt und zeigte in großen, goldenen Buchstaben das eine Wort: ›Excelsior!‹ Ein ähnlicher, kleinerer Streifen aus weißem Karton aber war unten in geringer Höhe über der Tischplatte angebracht; er trug in schwarzem, deutlichem Druck den Spruch aus dem ›Nathan‹: ›Das kleinste: Reichtum. Und das größte: Weisheit.‹ Jetzt eben fiel ein zartes Reflexlicht auf diesen bedeutungsvollen Schmuck, und in dem milden Wiederschein des abendlichen Glanzes schien die Christusgestalt mit einem silbernen Schimmer zu leuchten, schienen Gold und Regenbogenfarben zu einem strahlenden Einklang zu verschmelzen, die Rosen sich weiter und schöner zu entfalten.

Absonderlich wie der Wandschmuck war die Tracht des Mannes, der am Fenster saß. Trotz der geringen Höhe des Zimmers war dort noch eine Art Thron, ein ziemlich großes hölzernes Podium in den Raum hineingebaut, und hier kniete die gebeugte Männergestalt vor der anderen, die aufrecht im vollen Lichte dasaß. Ein langes Gewand aus hellgrauem, braunumsäumtem Wollstoff umwallte sie und gab ihr Aehnlichkeit mit den Bildern der christlichen Apostel, die in solcher Kleidung dargestellt werden. Das hagere, scharf geschnittene Gesicht erinnerte an Dürers Johannes, nur daß Kopf und Züge älter waren, und Haar und Bart von grauweißer Farbe lang herabwallten. In den großen, grauen Augen zeigte sich eine schlummernde Glut, die nur auf einen Funken zu warten schien, um hell emporzuflammen.

Jetzt waren die Augen gedankenvoll in die Ferne gerichtet, und die eine Hand ruhte auf den gefalteten des knieenden Mannes.

»Stehen Sie auf, mein lieber Sybel,« sagte der ältere Mann jetzt in sanftem, aber bestimmtem Ton. »Mit Klagen schaffen wir kein Leid aus der Welt.«

Mühsam, als schmerze ihn jede Bewegung, erhob sich der andere. »Sie wissen nun alles,« sagte er leise. »Sie sind der einzige, bei dem ich noch Trost zu finden gehofft habe. Mein Glück steht vor mir, aber ein Schatten steht zwischen mir und meinem Glück!«

Da er keine Antwort fand, trat er von dem Thron herab und betrachtete mit einem leeren Blick das Kruzifix, die Rosen und die Worte an der Wand. Seine Gedanken waren nicht bei dem, was er sah; mit plötzlicher Lebhaftigkeit, der raschen Empfindung seiner Natur gehorchend, wandte er sich wieder zu dem Alten am Fenster und rief: »Ist es denn nicht wahr? Wäre mir's nicht besser gewesen, ich wäre nie hereingekommen in dieses Haus, das mir in Wahrheit ein Haus der Schatten geworden ist? Hier erst habe ich sie kennen gelernt, die Schatten dieses elenden menschlichen Lebens, die Sorge und den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit!«

»Die beiden schwärzesten Erdenschatten doch noch nicht: die Schuld und die Reue.«

»Nein, Gott sei Dank, die noch nicht! Aber weil ich sie nicht kennen lernen will, darum muß ich so leiden!«

»Mein armer Freund, Sie sind noch jung und wundern sich darum über die Schatten auf Ihrem Wege. Und doch ist dies Haus der Schatten nur im kleinen ein Abbild dieser Welt der Schatten. Sie gehören zu ihr und sind nichts anderes, als eine Mahnung, ein Erziehungsmittel, als die Wegweiser zu einer höheren Entwickelung.«

Er hatte, während er sprach, auf das winterliche Bild hinausgeschaut, das in der ermattenden abendlichen Helle weithin sich dehnte und in der Ferne in leise flimmerndem Dunste verschwamm. Jetzt erhob er sich und trat vor den anderen hin, dem er die Hände auf die Schultern legte.

»Die Schatten sind der Menschen Erbteil, denn die Menschen selbst sind nur Schatten. Die Schatten derer, die vor ihnen gewesen sind, die Schatten ihrer selbst.«

»Ihrer selbst?«

»Wir sind gewesen und wir werden sein.«

»Wir werden sein, darauf vertraue ich auch. In einem schöneren Jenseits, das Gott uns verheißen hat. Aber gewesen, – daß wir schon einmal gewesen sind –«

»Wir sind's.«

»Woher haben Sie diesen Glauben?«

»Ich glaube nicht, ich weiß.«

Der Assessor trat einen Schritt zurück, erstaunt, bestürzt, erschreckt, und doch im Innersten getroffen von der machtvollen Glut, die jetzt in den Augen des anderen erwacht war.

»Ich bin ein Pfarrerssohn,« sagte er leise, »und bin ein Christ.«

»Das bin ich auch. Die einzige Religion, die Existenzberechtigung hat, ist die Religion der Liebe. Und weil diese Religion auf unserer Erde Christentum heißt, so nenne auch ich mich einen Christen. Sehen Sie dort das heilige Bild des Gekreuzigten an der Wand.«

Er schien einen Augenblick zu überlegen, ob er weiter reden solle; dann fuhr er fort. »Aber ich sehe über unsere Welt hinaus zu den anderen Welten, die um uns und über uns kreisen, die unsere Heimat gewesen sind und wieder unsere Heimat sein werden. Haben Sie niemals die Empfindung gehabt, als hätten Sie das, was Ihnen eben geschieht, schon einmal erlebt? Das war der Schatten einer früheren Existenz, der Ihnen für einen Augenblick sichtbar wurde. Wir haben gelebt und wir werden leben. Unser Charakter, unser Wissen und Können ist der Schatten dessen, was wir in einem vergangenen Dasein erworben haben. Unser gegenwärtiges Leben haben wir uns in jenem früheren verdient, und wir verdienen uns jetzt unser zukünftiges.«

»Danach litte ich also nicht schuldlos?« sagte der Assessor leise vor sich hin. Busenius achtete nicht auf die Unterbrechung, sondern sprach weiter in demselben ruhigen, feierlichen Ton wie bisher.

»Glaubens- und Weisheitslehren, die vergessen waren und gestorben schienen, stehen wieder auf und wandeln gleich mächtigen Schattengestalten unter uns. Und auch die Zukunft wirft ihre Schatten voraus in unser Dasein. Jene aber werden heller und heller und verkehren sich in Licht, wenn wir sie genauer betrachten; diese sind dunkel, von der Farbe vergossenen Blutes, und bedeuten Zerstörung, Vernichtung des Fortschritts, Hemmung des Strebens und der Vervollkommnung. Die ewige Kraft, von der ein unvergänglicher Funke in jedem von uns lebt, helfe uns, diese blutroten Schatten der Zukunft zu besiegen! Denn aufwärts müssen wir streben, aufwärts muß unser Weg sein zu höheren, reineren, geistigen Sphären, aufwärts – excelsior!«

Er hatte sich hoch emporgerichtet und stand leuchtenden Auges da wie ein Prophet aus vergangenen Tagen, der wiedergekehrt ist, seine Verkündigungen auszuschütten über die Welt. Nun aber strich er mit der Hand über die Augen, deren lodernde Glut unter dieser Berührung in ein stilles Feuer sich wandelte, und sprach ruhiger weiter.

»Ich habe Ihnen so viel gesagt, daß ich verpflichtet bin, Ihnen noch mehr von dem zu sagen, was ich weiß. Verstehen Sie wohl: was ich weiß, nicht was ich glaube. Sie sehen hier diese sieben Rosen um das Bild des Gekreuzigten; auch sie sind ein heiliges Symbol, denn die Zahl sieben ist eine heilige Zahl. Siebenfach zusammengesetzt ist das Wesen des Menschen, und über sieben Daseinsstufen aufwärts bewegt sich das, was wir Leben nennen, zu immer höherer Entwickelung. Auf jeder dieser Stufen giebt es andere Organismen, ihr angepaßt in Erscheinung, Denken, Bewußtsein. Nicht in einem einzigen Leben, in vielfacher Wiederkehr wird eine solche Stufe durchschritten, und erst in Millionen von Jahren legt man die sieben zurück, von der groben Materie emporsteigend zum reinen Geist. Wir hören und erzählen so gern das Märchen, diese Erde, auf der wir leben, sei die schönste und vollkommenste der Welten; in Wahrheit ist sie die schlechteste und unterste von ihnen, der Inbegriff der Materie im gröbsten Sinn. Wir wohnen in einer Welt der Schatten und der Dunkelheit und sehen das Licht nur ganz von weitem. Indem der Geist, der zur Materie niederstieg, alle sieben Stufen durchläuft, gelangt er wieder zum Selbstbewußtsein und dorthin, woher er kam, in das Reich des Geistes im feinsten Sinne.«

Er trat noch näher zu dem gespannt und in halber Verwirrung Horchenden heran und fuhr mit größerem Nachdruck fort: »An uns ist es, diesem Reiche des Geistes zuzustreben, aber wir können es nur, indem wir unablässig an unserer Vervollkommnung arbeiten, indem wir die Selbstsucht, diesen größten Feind unserer höheren Entwickelung, besiegen und die Brüderlichkeit pflegen. Denn wir sollen nicht allein zu steigen suchen, wir sollen unsere Brüder mit uns emporführen. Dann aber, wenn wir uns selbst beherrschen gelernt haben, werden wir auch die Kräfte der Natur beherrschen lernen. Kräfte, die in jedem von uns schlummern, die, wenn sie erwachen, der Mehrzahl der heutigen Menschheit übernatürlich und übermenschlich erscheinen und die doch natürlich und menschlich sind. Die Weisen im Osten beherrschen sie, und märchenhaft klingende Berichte kommen von dort zu der ungläubigen, unentwickelten Menschheit im Westen. Aber in einigen von uns hier in Europa sind sie auch schon erwacht, und jeder von uns vermag sie auszuüben, wenn er in reiner Absicht der Vervollkommnung entgegenstrebt. Wenn Sie diese Kräfte in sich erweckt haben, dann können Sie hören ohne Ohr und sehen ohne Auge, dann kann Ihre Seele zu einer anderen Seele sprechen über Kontinente und Meere hinweg. Dann können Sie mit einem Gedanken Kranke heilen und Gesunde töten, dann können Sie die Geister Gestorbener rufen –«

»Geister rufen?« In höchster, plötzlicher Erregung that der Assessor die Frage. In nervöser Unruhe, mit wachsendem Staunen hatte er die mystischen Worte vernommen; jetzt aber kam mit einem Male ein Strahl des Glaubens, der Hoffnung in seine Augen, und mit ausgestreckten Händen schien er nach dem Wunder zu greifen, das der andere ihm zeigte.

»Wenn Sie jene Kräfte beherrschen gelernt haben und sie in reiner Absicht ausüben. Dann müssen die Toten wiederkehren in ihren astralen Leibern und Rede und Antwort stehen auf Ihre Fragen.«

»Wenn ich ihn rufen könnte!«

»Was meinen Sie?«

»Wenn ich ihn rufen könnte!« wiederholte Georg.

Busenius betrachtete ihn einen Augenblick, als verstehe er den Sinn seiner Worte nicht; seine Gedanken waren weit ab von dem gewesen, was sie vorhin gesprochen hatten. Dann schüttelte er langsam, voll Mitleid den Kopf und trat zum Fenster, an dem er stehen blieb, »Nur dem, der mit reinem Herzen nach geistiger Vollkommenheit strebt,« sagte er dann, »gehorchen die großen Kräfte der Natur. Vergessen Sie das nicht. Müßiger Neugierde sind sie nicht dienstbar.«

»Müßige Neugierde nennen Sie meinen Wunsch? Kennen Sie mich so wenig? Haben Sie keine Empfindung dafür, wie ich leide?«

Busenius blickte zu dem reinen Himmelsgewölbe empor, das von einem gelblichen Abendlichte durchstrahlt war. Erst nach einer Pause antwortete er. »Wenn Sie leiden, dann schauen Sie nach den Sternen. Wir werden eine klare Nacht haben und werden die Welten sehen, die wir Sterne nennen. Bedenken Sie, daß Ihr gegenwärtiges Leben nur der tausendste Teil all' Ihrer Leben auf diesem Erdenstern ist. Dann blicken Sie zu den anderen leuchtenden Welten empor und erinnern sich, daß Ihr tausendfaches Leben auf der Erde wieder nur der tausendste Teil all' Ihrer Existenzen auf jenen fernen Welten ist. Was bleibt von Ihrem gegenwärtigen Dasein, mit solchem Maßstab gemessen, was bleibt von dem Leid, das im Augenblick Ihre Seele erfüllt? Erfassen Sie diesen Gedanken in seiner ganzen Größe und Tiefe, und Sie werden stärker sein, als Ihr Schicksal, das Sie dereinst sich selbst verdient und bereitet haben, stärker, als die Schatten auf Ihrem Wege. Richten Sie Ihre Blicke nach oben, schauen Sie nach den Sternen, wenn Sie leiden!«

»Ich danke Ihnen,« sagte Georg leise, indem er Busenius die Hand reichte. »Seien Sie mir nicht böse, wenn ich Ihren Phantasien heute nicht folgen kann. Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen, und mein Kopf ist wüst. Es wird am besten sein, ich gehe jetzt und bleibe allein.«

Der andere versuchte nicht, ihn zu halten. »Ich wünsche Ihnen, daß Sie heute Schlaf finden,« sagte er freundlich. »Und vergessen Sie mir die Sterne nicht!«

Georg nickte nur und ging langsam hinaus. Auch draußen im Bodenraum war es noch ziemlich hell, nur in den äußersten Ecken unter den Schrägflächen des Daches lauerte schon die Dunkelheit. Er ging trotzdem vorsichtig und mit den Füßen den Boden prüfend, als liege schon tiefe Nacht um ihn her. Seine Blicke waren starr in die Ferne gerichtet, und als er die erste der leiterähnlichen Treppen hinabgestiegen war, blieb er stehen und träumte vor sich hin. »Ihn rufen!« murmelte er; das war das einzige, was von der Unterredung mit Busenius in seiner müden Seele haften geblieben war. Dieser plötzlich in ihm erweckte Gedanke, den Toten zu rufen, der mit kalter Hand ihn hinwegscheuchte von seinem Glück, ihm entgegenzutreten und mit dem wesenlosen Schatten zu kämpfen um den Besitz der Frau, die er liebte. »Ihn rufen!« sagte er leise noch einmal, als er aus den Bodenräumen hinunter gelangt war in den wohnbaren Teil des Hauses und nun auf dem Korridor stand, an dem Frau Henningers Zimmer lagen. Aber er ging nicht zu ihr hinein; er hatte sie schriftlich gebeten, ihm ein paar Tage Zeit zur Ueberlegung zu gönnen, und so schlich er vorsichtig an den Thüren vorbei, zu denen er sonst, von heißer Sehnsucht getrieben, zu allen Stunden des Tages nur allzu oft den Weg gefunden hatte.

In seinem Zimmer schloß er sich ein und setzte sich wieder auf den Platz am Fenster, wo er gestern und heute lange Stunden in schmerzlichem Sinnen verbracht hatte. Ein tiefes Bangen hielt ihn ab, eine Unterredung mit der Geliebten zu suchen; mehr noch als die Bestätigung dessen, was man ihm erzählt hatte, fürchtete er etwas anderes. Die Möglichkeit, daß des Onkels Vorhersage sich erfüllen, und Frau Ina den Eid ihm gegenüber ableugnen könne, den sie geschworen hatte. Ihr Bild befleckt zu sehen, das er angebetet hatte seit Monaten in stiller Verehrung, war ihm der furchtbarste Gedanke von allen.

Aber so oft er auch diese Möglichkeiten durchgrübelt, heute war doch der seltsame Eindruck, den Busenius' Worte auf ihn gemacht hatten, der herrschende. Er suchte sich zu wiederholen, was der Alte dort oben gesagt hatte, und bunte, phantastische, märchenhafte Bilder stiegen vor ihm empor. In einzelnen Andeutungen hatte er Aehnliches schon vernommen, auch erinnerte er sich, kürzlich den Prospekt eines Buches erhalten zu haben, das von jenen geheimnisvollen Lehren und Ueberlieferungen zu handeln schien. Der plötzliche Wunsch überkam ihn, das Buch zu besitzen, von anderer Seite diese Phantasien bestätigt oder berichtigt zu sehen. Wo mochte er den Prospekt gelassen haben? Daß er ihn aufbewahrt hatte, schon damals von einer unklaren Begierde nach der Enthüllung dieser Wunder getrieben, das wußte er, aber er vermochte sich nicht zu erinnern, wo er geblieben war.

Mit hastigem, unruhigem Eifer begann er zu suchen, warf alle Papiere auf seinem Schreibtisch durcheinander und durchforschte die Schubladen bis in die äußersten Winkel. Aber nichts war zu finden, auch seine Brieftasche gab das Gesuchte nicht heraus. Endlich, als die nervöse Unruhe schon seinen ganzen Körper durchzitterte, meinte er, sich zu erinnern, daß er das Papier damals lose in die Tasche gesteckt habe, und nun riß er den Wandschrank auf, um dort weiter zu forschen.

Einzeln holte er jedes Kleidungsstück hervor, durchwühlte seine Taschen und warf es dann achtlos auf einen Stuhl. Auch hier war das Suchen vergeblich, bis endlich noch ein einziger Rock im Schranke hing, hinten an der weit zurückgelegenen Wand des tiefen Gelasses. Aber als der Assessor dies letzte Stück vom Haken lösen wollte, zeigte es sich, daß das Band sich mehrfach verschlungen hatte und den tastenden Händen widerstand. In seiner Erregung vermochte er es nicht rasch genug zu lösen, und in plötzlich aufwallendem Zorne riß er das Kleidungsstück mit einem festen, kräftigen Griffe vom Nagel.

Jetzt hielt er es in den Händen, zugleich aber geschah etwas anderes, überraschendes. Durch den heftigen Ruck erschüttert, sprang die Rückwand des Schrankes auf, und vom Nebenzimmer her drang das im Schwinden begriffene Tageslicht durch einen handbreiten Spalt herein. Also war es keine feste Mauer gewesen, die den Schrank nach hinten geschlossen hatte; auch dort befand sich, ebenso wie nach vorn, eine einfache Thür, die jetzt sich aufthat und den Weg in jene Zimmer eröffnete, die seit Jahren verschlossen, von keines Menschen Fuß betreten, in der ungestörten Ruhe des Todes dagelegen hatten. Die Zimmer des Verstorbenen! Wollte er dem Suchenden durch diesen seltsamen Zufall ein Zeichen geben, daß er in seiner Nähe sei, daß der Wunsch nach seiner Wiederkehr ihn erreicht habe, daß er der Stimme warte, die ihn rufen und seinen Schatten aus dem Dunkel des Grabes hervorlocken würde in die Welt des Lebens?

Blitzgleich fuhren all' diese Gedanken durch den übermüdeten, zermarterten Geist des Suchenden. Was er noch eben gewollt und gewünscht hatte, war vergessen, das losgerissene Kleidungsstück warf er zu den anderen, ohne es auf seinen Inhalt zu untersuchen. Ein Grausen packte ihn, wenn er daran dachte, die einsame Behausung des Toten zu betreten, und doch trieb es ihn gewaltsam, unwiderstehlich hinein. Er versicherte sich noch einmal, daß die Thür seines eigenen Zimmers verschlossen sei, dann durchschritt er die tiefe Höhlung in der dicken Mauer – wie der Eingang zu einer Gruft kam sie ihm vor, – stieß die aufgesprungene Thür vollends zurück und betrat die verlassenen, verbotenen Räume.

Es war nicht mehr voller Tag, aber der Reflex der Schneeflächen auf den Nachbardächern und auf dem Hofe drunten verstärkte das Licht und hielt die niedersinkende Dämmerung auf, so daß noch alles deutlich zu erkennen war. Die beiden Zimmer, die der Regierungsrat Henninger hier im Hinterflügel des Hauses bewohnt hatte, waren nicht groß; er hatte sie, wie Georg einmal gehört hatte, deshalb gewählt, weil er sehr empfindlich gegen alles Geräusch gewesen war und hier am ungestörtesten hatte arbeiten können. Die Verbindungsthür zwischen beiden Zimmern stand offen, und der Eindringling vermochte rasch das Ganze zu übersehen.

Zuerst kam das Arbeitszimmer, niedrig, aber wohnlich eingerichtet, mit schweren, eichenen Möbeln, ein paar großen, bequemen Sesseln und brauner Täfelung bis hoch hinauf. Links an der Wand, unmittelbar neben der geöffneten Thür des Schrankes war anstatt der sonst im Hause üblichen Oefen ein großer Kamin aus grünlichem Marmor angebracht, von dessen schwarzer Platte zwischen ein paar alten silbernen Armleuchtern der in Bronze schön gearbeitete Kopf des Zeus von Otricoli herabschaute. Einige altersdunkle Oelbilder, Familienportraits von zweifelhaftem Kunstwert, hingen an den Wänden.

Das Schlafzimmer war noch kleiner, als dies Wohngemach, und sehr einfach ausgestattet. Es lag neben der Küche und hatte durch den von dort vorspringenden Ausbau eine hakenähnliche Grundform. In der tiefen, dämmerigen Nische, die zwischen der Korridorwand und jenem Vorsprung lag, befand sich ein großes, altertümliches Bett, das Sterbelager des Toten. Was an Mobiliar hier sonst noch vorhanden war, ging über das Notwendigste nicht hinaus, und das suchende Auge forschte vergeblich nach etwas Fremdartigem, Absonderlichem.

Und doch war es Georg, als müsse in der dumpfen, eingeschlossenen, modrigen Luft dieser seit Jahren nicht geöffneten Räume ein Geheimnis wohnen, das der Enthüllung wartete. Als müsse aus der stärker werdenden Dämmerung eine Gestalt, ein Ton, eine Erscheinung hervortreten, die Vergangenes oder Ueberirdisches verkündigte. Als harrten diese Zimmer, diese Möbel, die unverändert geblieben waren seit jener Todesstunde, der Wiederkehr ihres Eigentümers, dessen Erinnerung sie bewahrten. Denn das war das einzig Absonderliche in diesen Räumen, daß keine menschliche Hand all' die Dinge darin berührt hatte, seit jener dahingegangen war. Eine schwere Schicht von Staub hatte sich überall gebildet, und unter dieser grauen, traurigen Decke lagen die Gegenstände, als hätte sie eben der Tote noch gehalten und berührt.

Auch davon zeigten sich Spuren, daß er in der Nacht seines Todes, mit dem er hier einsam gerungen hatte, von seinem Lager noch einmal aufgestanden war und sich am Schreibtisch, mit der Vernichtung von Papieren vielleicht, zu thun gemacht hatte. Ein weißes Blatt, auf dem er offenbar noch etwas niederzuschreiben versucht hatte, lag auf dem Tische, der unter einem der Fenster stand; die abgleitende Feder, die der erkaltenden Hand entfallen war, hatte einen unsicheren Strich auf dem Papier zurückgelassen, die Schublade zur Rechten war halb geöffnet, ein Schlüsselbund steckte darin. Aber mitten in seinen letzten Bemühungen, etwas zu vertilgen oder mitzuteilen, mußte die Angst des Todes über den Mann am Schreibtisch gekommen sein; ein weiter Schlafrock aus schwarzem Sammet, mit Pelz verbrämt, lag ausgebreitet auf dem Sessel vor dem Tisch, als hätte der Sterbende ihn in Erstickungsnot von sich geworfen und sei in das Schlafzimmer zurückgewankt, um dort Erlösung und Ruhe zu finden.

Langsam und leise schritt Georg von einem Raume zum anderen, alles musternd, aber nichts Ueberraschendes findend. Endlich machte er Halt vor dem Kamin, und indem sein Blick an den hoheitsvollen Zügen des Jupiterhauptes mit seinen vorwärts wallenden Locken herunterglitt, blieb er auf einem Gegenstand haften, der davor auf der schwarzen Marmorplatte lag. Es war eine grünlich schimmernde Bronze, ein schlanker, feingeformter Schlangenleib, der sich zum festen Ringe zusammenschloß. Georg erinnerte sich, dies selbe alte Symbol auf einem der Bücher gesehen zu haben, die bei Busenius auf dem Tische lagen, und mit dem Gefühl einer neu erwachenden Spannung, als könne sich hier eine Beziehung zu jenen mystischen Verkündigungen aufthun, hob er den Schlangenleib empor von seinem Platz.

Aber indem er ihn sorgsam betrachtete und über die Bedeutung des symbolischen Ringes nachsann, entfiel ihm plötzlich der Reif und schlug mit hartem Klirren auf den metallenen Vorsatz vor dem Kamin. Ein jäher Schrecken durchfuhr den Suchenden, die gespannten Nerven erbebten unter dem scharfen, plötzlichen Ton. Dann beugte er sich nieder, den Ring wieder aufzunehmen, aber der war zwischen Vorsatz und Kamin eingeklemmt, und Georg mußte jenen vorziehen, um die Bronze fassen zu können. Als er niederknieend nach ihr griff, schimmerte ihm aus dem Spalt noch etwas anderes, Helleres entgegen; er zog es mit dem Ringe zugleich hervor und erkannte, nahe an das Fenster tretend, daß es ein Stück von einem halbverbrannten Briefe war.

Vielleicht ein Brief, den der Tote in jener letzten Nacht hatte vernichten wollen, ohne mit seinen bebenden Händen den Zweck völlig zu erreichen! Das war der Gedanke, der Georg antrieb, den Inhalt näher zu prüfen. Offenbar war das Papier in den Kamin geworfen worden, aber nicht tief genug, so daß nur die Hälfte davon verbrannt, die andere herausgefallen und erloschen war. Die Handschrift war dem Lesenden unbekannt; nur so viel wußte er bestimmt, daß nicht der Verstorbene die Worte hier niedergeschrieben hatte. Seine Handschrift hatte er mehrfach gesehen und erinnerte sich der festen, großen, schräg laufenden Züge sehr wohl. So mußte er versuchen, ob der Inhalt des halbvernichteten Blattes – denn es war ein einziges Blatt – ihm über den Schreiber Auskunft gab, und das Papier gegen das Fenster haltend, begann er zu lesen.

Mitten im Satz fing der Brief an, den Anfang hatten die Flammen vertilgt und in einem bräunlichen, ungleichen Rande die Spuren ihres vernichtenden Wirkens zurückgelassen »... ihr nicht zu sagen,« also begannen die erhaltenen Worte, »und daher legte ich Ihnen diese Beichte ab. Es giebt nur eine Entschuldigung für mich: daß ich noch jung war, und daß er einen mächtigen Einfluß auf mich besaß. Es war eine Art Suggestion, die er mit dem Blick seiner Augen allein über mich ausübte, und er hat seine Macht mit kluger Berechnung angewandt, um mich zu diesem Verbrechen – –«

Hier endete die Schrift; auf der Rückseite des Papiers aber befand sich ein ungefähr gleich großer Teil davon. Ob es der Anfang oder die Fortsetzung des Briefes war, ließ der Inhalt nur unsicher vermuten. »– – – hier in Amerika nicht so streng.« So begann der zweite Abschnitt, dann hieß es weiter: »Der Bankier in Newyork, der mit der regelmäßigen Zahlung der Prämien beauftragt gewesen war, erhielt Nachricht, daß er diese Zahlungen nicht mehr zu leisten habe, daß sie vielmehr direkt in Deutschland gemacht werden würden. Er scheint keinen Widerspruch erhoben zu haben, denn sonst hätte die Fortsetzung der Zahlungen seinerseits den Betrug schon aufgedeckt und den Lebendig-Toten – –«

Das war alles; die Flamme hatte die Lösung des Rätsels, das durch diese Zeilen dem Lesenden aufgegeben wurde, vertilgt, es vielleicht für immer begraben. Georg hatte das Papier mit Spannung ergriffen, weil er gehofft hatte, sein Inhalt stehe zu dem Verstorbenen in Beziehung. Enttäuscht ließ er es sinken, um es dann langsam in seiner Brieftasche zu bergen. Hier war ein Geheimnis, die halbe Enthüllung eines Verbrechens, zu dessen Mitwisser eine von Reue gequälte Menschenseele den Verstorbenen gemacht hatte, der in seiner letzten Nacht diese Beichte hatte vernichten wollen. Aber es war das Geheimnis eines Fremden; Georg fand keinen Faden, der von jenem zu ihm selbst oder der geliebten Frau hinüberführte. Das war es nicht, was er suchte, darum war er nicht eingedrungen in diese verschlossene kleine Welt des Toten; dies Papier zeigte ihm den Ausweg nicht aus dem Dunkel, in dem er umherirrte.

Indem er noch dastand und sann, hörte er Stimmen auf dem Korridor und preßte sich in jähem Erschrecken fest in eine Ecke des Zimmers, aus Furcht, man könne ihn durch die Glasscheiben der Thür erblicken, die zum Gange hinausführte. Zwar waren die Scheiben durch einen Vorhang von mattgrüner Seide verhüllt, aber die Zeit hatte ihn morsch gemacht, und er zeigte in den Falten ein paar lange, senkrechte Risse, durch die ein hereinspähendes Auge eine Gestalt zwischen Thür und Fenster wohl hätte entdecken können. Als die Stimmen verhallt waren, blieb der Verborgene noch einen Augenblick regungslos stehen; nachdem er dann noch einmal hineingeschaut hatte in die beiden Zimmer, auf denen die Dämmerung jetzt bereits schwer und finster zu ruhen begann, verließ er sie und ging in sein eigenes Gemach zurück. Fest legte er die hintere Thür des Wandschrankes in das nun leicht entdeckte Schloß und auch die vordere verriegelte er mit Sorgfalt. Solange er in den Zimmern des Toten gewesen war, hatte er keine Furcht gefühlt, jetzt aber versagten die Nerven, und in der tiefen Dämmerung überkam ihn ein kaltes, mächtiges Grausen.

Jetzt meinte er, die Nähe des Gestorbenen zu fühlen, den er hatte rufen wollen, und der doch sichtbar nicht vor seinen Augen erschienen war. Jetzt glaubte er, eine kühle Berührung auf seiner Stirn und eine eisige Hand zu spüren, die über die seine dahinstrich. Wie gelähmt saß er da, ohne den Mut zu finden, das Licht zu entzünden, bis er endlich mit gewaltsamer Anstrengung sich losriß, emporsprang und hinauseilte ins Freie. Plan- und wahllos irrte er wieder stundenlang umher, das Bild des Toten, der ihm Gewißheit über sein Schicksal, Erlösung von seiner Not hätte geben können, mit seiner erhitzten Phantasie immer von neuem erschaffend und zugleich immer wieder vor ihm entfliehend.

Es war eine schöne, klare Nacht geworden, wie Busenius vorhergesagt hatte, und in ihrem reinen, leise flimmernden Lichte standen Tausende von Sternen am schwarzblauen Himmelsgewölbe. Aber der einsam irrende Mann wandte die Blicke nicht zu ihm empor, sein Auge haftete an der Erde, und kein Trost kam ihm von oben. Endlich fand er den Heimweg, doch als er sein Zimmer erreicht und bei dem eilig angezündeten Lichte sich zu entkleiden begonnen hatte, wurde er durch einen unvermuteten Anblick abermals erschreckt.

Er hatte einmal die Stellung seines Bettes ändern lassen, und so war es gekommen, daß über dessen Kopfende ein Spiegel an der Wand seinen Platz behalten hatte. Als er nun halbentkleidet zufällig einen Blick auf diesen Spiegel fallen ließ, meinte er in dem bleichen Antlitz, das ihm daraus entgegenschaute, in dem matt beleuchteten Abbild des eigenen entstellten Gesichtes die Züge des Toten zu erblicken. Zuerst trat er erschrocken hinweg, dann aber nickte er dem Spiegelbilde zu. »Bist du gekommen?« fragte er leise. »Ich habe dich gerufen.«

Doch nun kam mit plötzlicher Gewalt die Empfindung seines Irrtums, ein heiß emporsteigendes, gewaltiges Mitleid mit den eigenen, schwankenden, halb schon zerstörten Sinnen über ihn, und rasch von dem Bild im Glase sich losreißend, warf er neben dem Lager sich nieder, preßte das Gesicht tief in die Kissen und weinte laut.


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