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Luther als Kind und Schüler, bis 1501.
Wie nun Martin Luther als Kind dieser Eltern in Mansfeld und weiter hin heranwuchs und geistig sich entwickelte, darüber und eben so über die Umgebung, in der er sonst sich bewegte, fehlt es uns ganz an Nachrichten aus Anderer Mund. Wem hätte der Knabe dort ins Auge fallen sollen, um Gegenstand späterer Geschichtsschreibung zu werden? Wir können hiefür nur vereinzelte gelegentliche Aeußerungen von ihm selbst benützen, die theils in seinen Schriften uns begegnen, theils aus seinem Munde von Freunden, wie von Melanchthon oder seinem späteren Arzt Ratzeberger oder seinem Schüler Mathesius und Anderen aufgenommen und der Nachwelt aufgezeichnet worden sind. Sie sind sehr unvollständig, jedoch bedeutsam genug für das Verständniß des Ganges, welchen sein inneres Leben genommen und der zum künftigen Beruf ihn vorbereitet hat. Und bedeutsam und wichtig dürfen wir zugleich das nennen, daß jene Gegner, die schon vom Anfang seiner 12 kirchlichen Kämpfe an seinem Ursprung nachspürten und Nachtheiliges dort gegen ihn ausfindig zu machen suchten, ihrerseits durchaus keinen Beitrag zur Geschichte seiner Kindheit und Jugend ans Licht gebracht haben, obgleich der Reformator genug Widersacher am Ort seiner Heimath und seiner Eltern hatte und namentlich auch ein Theil der Mansfelder Grafen bei der römischen Kirche beharrte. Es waren also wenigstens keine ungünstigen oder dunklen Züge aus dem Hause seiner Eltern oder aus seinem Jugendleben beizubringen. Statt dessen haben dann Spätere zum Theil dasjenige, was wir von ihm selbst wissen, seltsam zu seinem Nachtheil zu deuten sich bemüht.
Man redet wohl von einem Paradiese der Kindheit. Luther selbst hat später sich erfreut und erbaut am Leben und Wohlgefühl der Kleinen, die weder die Sorgen des äußeren Lebens, noch innere Seelennoth kennen und froh und frei der Güte ihres Gottes genießen. In seinen Erinnerungen aus dem eigenen Leben jedoch spiegelt sich, soweit er sie ausspricht, nicht der Sonnenschein einer solchen Kindheit wieder. An der herben Zeit, welche die Eltern anfangs in Mansfeld durchzumachen hatten, mußten auch die Kinder, besonders der Erstgeborene, theilnehmen. Wie jene in strenger Arbeit ihre Tage hinbrachten und streng gegen sich selbst darunter aushielten, so war wohl auch der Ton im Haus ein überwiegend ernster und strenger. Der gerade, ehrenfeste, strebsame Vater war redlich darauf bedacht, aus seinem Sohn einen tüchtigen Mann zu machen, der es wohl auch in der Welt noch weiter als er selbst brächte, forderte aber auch Entsprechendes von ihm und hielt streng auf sein eigenes väterliches Ansehen. Nach seinem Tod gedachte der Reformator in rührenden Worten an die wohlthuende Liebe, die er bei einem solchen Vater genossen, an den süßen Umgang, den er mit ihm habe pflegen dürfen. Aber es hat nichts Befremdliches, wenn er in der Kindheit, die zärtlicher Liebe besonders bedarf, 13 doch zu sehr jene Strenge des Vaters zu fühlen bekam. Er sei, sagt er, einmal so sehr von ihm gestäupt worden, daß er ihn geflohen habe und ihm gram geworden sei, bis derselbe ihn wieder an sich gewöhnt habe. Auch seine Mutter hat Luther in Gesprächen über Kinderzucht als Beispiel dafür angeführt, wie Eltern im Strafen aus bester Absicht zu weit gehen, die Unterschiede, die zu machen seien, übersehen und die Rücksicht, die man bei der Behandlung der Kinder auf die eigene Art eines jeden nehmen müsse, unterlassen können. Jene habe ihn einmal um einer geringen Nuß willen, die er weggenommen, geschlagen bis Blut geflossen sei. Dem gegenüber bemerkt er, in der Kinderzucht müsse bei der Ruthe der Apfel sein; man dürfe auch Kinder wegen eines Vergehens an Nüssen oder Kirschen nicht so züchtigen, wie wenn sie Geld und Kasten angriffen. Seine Eltern, sagt er, haben es herzlich gut gemeint, ihn aber so enge gehalten, daß er schüchtern und kleinmüthig geworden sei. Was er erfuhr, war nicht lieblose Härte, die das kindliche Gemüth abstumpft und zu verstecktem durchtriebenem Wesen führt. Die wohlgemeinte und aus wirklich sittlichem Ernst hervorgehende Strenge hat bei ihm eine Strenge und Zartheit des eigenen Gewissens befördert, womit er dann auch nachher Gott gegenüber jede Schuld tief und peinlich empfand, auch ihm gegenüber aber die Angst nicht los wurde und zugleich sich zur Sünde machte, was nicht einmal Sünde war. Er selbst hat als Wirkung jener Zucht weiterhin das bezeichnet, daß er in ein Kloster gelaufen und Mönch geworden sei. So äußerte er sich, obgleich er zugleich erklärte, daß man die Kinder lieber von der Wiege an mit Ruthen streichen, als ohne Strafe aufwachsen lassen solle und daß es eine große Barmherzigkeit sei, dem jungen Volk seinen Willen zu beugen, ob's auch Mühe und Arbeit koste und Drohungen und Schläge erfordere.
Auf Erfahrungen, die er selbst in Folge der anfänglichen Dürftigkeit des elterlichen Hauses gemacht hat, weisen 14 uns spätere Aeußerungen von ihm zurück über armer Leute Söhne, die sich aus dem Staub heraus arbeiten und viel leiden müssen, nichts zum Stolziren und Pochen haben, aber sich drücken und stillschweigen und Gott vertrauen lernen und denen Gott auch gute Köpfe gebe.
Ueber Luthers Stellung zu seinen Geschwistern hat ein Bekannter des Mansfelder Lutherhauses und besonders seines Bruders Jakob berichtet, daß er mit diesem von Kindheit an die innigste brüderliche Gemeinschaft gepflegt und daß er nach der Angabe seiner Mutter aufs Wohlverhalten der jüngeren Geschwister mit Wort und That leitenden Einfluß geübt habe.
Schon in sehr jungen Jahren muß er von seinem Vater zur Schule gebracht worden sein. Einem »guten alten Freund«, dem Mansfelder Bürger Oemler, hat er noch lange nachher, ein paar Jahre, ehe er selbst starb, eine Erinnerung daran in eine Bibel geschrieben, wie jener als der ältere ihn, das noch schwache Kind, mehr denn einmal auf seinen Armen in und aus der Schule getragen habe: ein Beweis – natürlich nicht, wie ein katholischer Gegner im folgenden Jahrhundert meinte, dafür, daß man den Jungen zum Schulbesuch nöthigen mußte, sondern dafür, daß er noch in einem Alter stand, wo ihm das Tragen wohlthat. Das Schulgebäude, im unteren Theile noch jetzt erhalten, lag am oberen Ende des zum Theil mit steilen Straßen am Hügel aufgebauten Städtchens. Die Kinder wurden dort nicht blos im Lesen und Schreiben, sondern auch in den Anfangsgründen des Latein unterwiesen, ohne Zweifel aber in sehr ungeschickter mechanischer Weise. Aus den Erfahrungen heraus, die er dort gemacht, redet Luther später von argen Quälereien mit decliniren und conjugiren, und anderen Aufgaben, welche die Schüler in seiner Jugend haben durchmachen müssen. Die Härte seines Lehrers hat er dort noch ganz anders als die Strenge seiner Eltern empfunden. Die Schulmeister, sagt. er, seien zu jener Zeit 15 Tyrannen und Henker, die Schulen Kerker und Höllen gewesen, und trotz Schlagen, Zittern, Angst und Jammer habe man nichts gelernt. Er selbst, sagt er, habe einst an einem Vormittag fünfzehnmal Schläge bekommen ohne seine Schuld, indem er hätte aufsagen sollen, was man ihn nicht gelehrt hatte. Bis in sein vierzehntes Lebensjahr mußte er diese Schule besuchen.
Dann wünschte ihn sein Vater auf eine bessere und höher stehende Lehranstalt zu bringen. Er schickte ihn deshalb zuerst nach Magdeburg. Leider ist uns die Schule, die Luther da besuchen sollte, nicht weiter bekannt. Sein Freund Mathesius berichtet uns, die dortige Schule, das heißt wohl die Stadtschule, sei »vor viel andern weit berühmt gewesen«. Luther selbst sagt später einmal, er sei dort zu den »Nullbrüdern« in die Schule gegangen. Nullbrüder oder Nollbrüder aber nannte man die sogenannten Brüder vom gemeinsamen Leben, einen Verein frommer Geistlicher und Laien, die sich fest, doch ohne Gelübde zusammengethan hatten, um sich untereinander in der Sorge für ihr Seelenheil und einem gottseligen Wandel zu fördern und ebenso für das sittliche und religiöse Wohl des Volkes durch Predigt des göttlichen Wortes, Unterricht, Seelsorge zu arbeiten. So nahmen sie sich besonders der heranwachsenden Jugend an. Auch das damals erwachte Streben, die Schätze der alten römischen und griechischen Literatur neu zu heben und durch sie die wissenschaftliche Bildung der Gegenwart zu erneuern, hatte in Deutschland vorzugsweise bei ihnen eine Stätte gefunden. Seit 1488 bestand auch in Magdeburg eine Niederlassung derselben, die von Hildesheim, einem ihrer Hauptorte, ausgegangen war. Eine eigene Lehranstalt nun haben sie Allem nach dort nicht gehabt. Aber sie mögen eben der städtischen Schule ihre Dienste gewidmet haben. Dahin also ließ der Bergmann Luther i. J. 1494 seinen Erstgeborenen ziehen. Er war wohl durch den ihm befreundeten Bergvogt Peter Reinicke 16 darauf gebracht worden. Mit dessen Sohn Johann nämlich oder, wie Mathesius sich ausdrückt, durch Johann Reinicke, schickte er ihn dorthin. Mit diesem Johann, der später gleichfalls eine ansehnliche Stelle beim Mansfelder Bergwesen einnahm, ist unser Luther zeitlebens freundschaftlich verbunden geblieben. Nur ein Jahr jedoch ließ ihn sein Vater in Magdeburg, dann versetzte er ihn auf eine Schule in Eisenach. Wir wissen nicht, ob er die Erwartungen, welche der junge Ruf der Magdeburger Anstalt erregt hatte, zu wenig erfüllt fand, oder ob andere Rücksichten, etwa die auf einen leichteren Unterhalt des Sohnes ihn zum Wechsel bestimmten. Es ist überhaupt nur sein Eifer für eine bessere Ausbildung seines Sohnes, was hier uns in die Augen fällt. Vom Unterricht, welchen dieser wirklich dort empfangen, haben wir gar keine Nachricht mehr.
Nur Ratzeberger erzählt uns etwas, was er von Luther aus seinem Leben in Magdeburg vernommen hatte, und zwar eine Einzelheit, die ihm als Arzt bemerkenswerth erschien. Derselbe sei nämlich dort einmal von brennendem Fieber und großem Durst geplagt worden und man habe ihm das Trinken in der Fieberhitze versagt. Da habe er an einem Freitag, als die Hausgenossen zu einer Predigt sich begeben und ihn zu Hause allein gelassen haben, sich des Durstes nicht länger zu erwehren gewußt, sei auf Händen und Füßen abwärts in die Küche gekrochen, habe daselbst ein Gefäß voll frischen Wassers mit großer Lust ausgetrunken und darauf seine Kammer kaum wieder erreichen können, sei aber dann in einen tiefen Schlaf versunken und auf diesen vom Fieber frei geblieben.
Die Unterstützung, die ihm sein Vater geben konnte, reichte nicht hin, um dort und ebenso nachher in Eisenach die Kosten seines Unterhalts und Schulbesuchs zu decken. Er mußte sich helfen nach der Weise der armen Schüler, die, wie er selbst es später ausdrückt, vor den Thüren den Brodreigen singen, sich kleine Gaben oder Parteken einsammeln: 17 »Ich selbst«, sagt er, »bin auch ein solcher Partekenhengst gewest, sonderlich zu Eisenach, in meiner lieben Stadt«. Auch in der Umgegend zog er so mit seinen Genossen herum. Zu wiederholten Malen, auf Kanzel und Katheder, hat er später eine kleine Scene davon (die übrigens schon seiner Mansfelder Schulzeit angehörte) erzählt. Sie sangen so um Weihnachten auf den Dörfern vierstimmige Lieder, mit denen man die Geburt des Knaben in Bethlehem zu feiern pflegte. Als sie dieß vor einem einzeln stehenden Bauernhof gethan hatten, trat der Bauer heraus und rief mit rauher Stimme: Wo seid ihr, ihr Buben? Er hatte zwei Bratwürste für sie in der Hand, sie aber liefen vor Schreck und Angst davon, bis er ihnen nachrief und sie die Würste holen ließ. So, sagte Luther, sei er damals durch jene Schrecken der Schulzucht eingeschüchtert gewesen. Seinen Zuhörern aber wollte er dann in dieser Erzählung ein Exempel geben dafür, wie des Menschen Herz gar auch Kundgebungen des gütigen barmherzigen Gottes sich oft zur Furcht und zum Verderben deute und wie man bei Gott anhaltend und ohne Blödheit oder »Schamhütlein« betteln müsse. – Daß auch Schüler aus besseren Ständen, wie hier der Sohn einer Mansfelder Magistratsperson, und solche, welche im Verlangen nach höherer Bildung fremden Schulen nachzogen, auf die bezeichnete Weise die ihnen mangelnden Mittel zu ergänzen suchten, war in jener Zeit nicht selten.
Nach Eisenach schickte ihn dann sein Vater im Gedanken an zahlreiche Verwandte, die in der Stadt und Umgegend lebten, von denen uns übrigens aus jener Zeit nur Einer, Namens Konrad, welcher Küster an der Eisenacher Nikolaikirche war, genannt wird. Auch ihre Verhältnisse waren jedenfalls nicht der Art, um ihm alle die nöthige äußere Unterstützung zu gewähren.
Jetzt aber führte ihn sein Singen in die Hände der Frau Cotta, die mit wohlthuender Liebe des heranreifenden Knaben sich annahm und deren Gedächtniß nun mit dem 18 des Reformators im deutschen Volke fortlebt. Ihr Mann, Konrad oder Kunz, war einer der angesehensten Bürger der Stadt, aus einem adeligen, durch Handel reich gewordenen Geschlecht italienischen Ursprungs. Sie, Ursula Cotta, stammte aus der Eisenacher Familie Schalbe. 1511 ist sie gestorben. Sie gewann, wie Mathesius uns erzählt, als »andächtige« Frau eine sehnliche Zuneigung zu dem Knaben um seines Singens und herzlichen Gebets willen und nahm ihn zu sich an ihren Tisch. Aehnliche Wohlthätigkeit genoß er dann auch von Seiten eines Bruders oder Verwandten derselben, ferner von einer den Franziskaner-Mönchen in Eisenach zugehörigen Anstalt, der die Schalbe'sche Familie mit reichen Stiftungen sich eng verbunden hatte und welche deshalb das Schalbe'sche Collegium hieß. Bei Frau Cotta hat Luther wohl auch zum erstenmal das Leben in einem Patrizierhaus kennen und in ihm sich bewegen gelernt.
In Eisenach hat er endlich auch einen förderlichen Schulunterricht vier Jahre lang genossen. Er verkehrte noch Jahrzehnte später freundschaftlich und dankbar mit einem nachmaligen Pfarrer Wiegand, der einst in Eisenach sein Schulmeister gewesen sei. Ratzenberger nennt als den dortigen Schulmeister »einen ansehnlichen gelehrten Mann und Poeten Johannes Trebonius«, von dem er erzählt, daß derselbe jedesmal beim Eintritt in die Schulstube sein Barett abgenommen habe, da Gott unter den anwesenden Jungen manchen zu einem Bürgermeister oder Kanzler oder hochgelehrten Doktor ausersehen haben werde, was, wie unser Erzähler beisetzt, hernach an Doktor Luther reichlich wahr geworden sei. Sonst wissen wir von einem Lehrer oder Gelehrten dieses Namens Nichts, können auch nicht mehr sagen, wie es mit der Stellung der beiden Lehrer an der Schule, die mehrere Klassen hatte, sich verhielt. Die Art aber, wie der Unterricht dort gegeben wurde, hat Luther selbst nachher dem Melanchthon gelobt. So erwarb sich 19 Luther dort die volle Kenntniß des Latein, welche die Hauptvoraussetzung fürs Universitätsstudium war. Er lernte es schreiben, nicht blos in Prosa, sondern auch in Versen, was uns zeigt, daß auch die Eisenacher Schule schon an den oben erwähnten humanistischen Bestrebungen theilnahm. Glücklich entfaltete sich jetzt sein lebendiger Geist und scharfer Verstand, er holte nicht blos bisher Versäumtes herein, sondern eilte auch den Altersgenossen voran.
Indem wir aber in ihm den künftigen Glaubenshelden, Lehrer und Kämpfer heranwachsen sehen, ist das wichtigste für uns die Frage nach dem Gang, den von jener Kindheit an seine religiöse Entwicklung genommen hat.
Er, der später zu so gewaltigem Kampf mit der bestehenden Kirche fortschritt, hat doch immer dankbar anerkannt, wie auch in ihr und unter allen von ihm gerügten Verderbnissen derselben die Grundlagen für ein christliches Leben, die Bedingungen für die Seligkeit, die Grundwahrheiten des Christenthums und die Mittel der erlösenden und beseligenden Gottesgnade sich noch fort erhalten haben, und war beim eigenen Wirken und Lehren daran anzuknüpfen bemüht. Anerkannt hat er namentlich, was von ihr auch er selbst von Kindheit an empfangen hat. In diesem Hause, sagt er einmal, sei er, wie getauft so auch katechisirt oder in der christlichen Wahrheit unterwiesen worden und werde es deshalb immer als sein Vaterhaus ehren. Die Kirche wollte wenigstens darauf halten, daß die Kinder in der Schule und zu Haus das sogenannte apostolische Glaubensbekenntniß, das Vaterunser und die zehn Gebote auswendig lernten, beteten, auch Psalmen und christliche Lieder sangen. Auch gab es schon einzelne gedruckte Auslegungen zu jenen Hauptstücken. Von alten christlichen Liedern in deutscher Sprache, von denen jetzt ein überraschend reicher Schatz gesammelt ist, war wenigstens eine gewisse Anzahl auch in allgemeinem kirchlichem Gebrauch, besonders für die Festzeiten. »Feine Lieder« nennt sie Luther. Er war dafür 20 besorgt, daß sie in den evangelischen Gemeinden fortlebten. Den Gesängen, die wir seiner eigenen Dichtergabe verdanken, liegen zum Theil solche alte Verse zu Grunde. Für Weihnachten z. B., wo, wie wir vorhin hörten, singende Schüler herumzogen, haben wir aus jener Zeit noch das Lied »Ein Kindelein so löbelich«. Den ersten Vers unseres von Luther herstammenden Pfingstgesangs »Nun bitten wir den heiligen Geist« führt er selbst unter jenen altüblichen feinen Liedern auf. – Aus der heiligen Schrift wurden wenigstens die kirchlichen Lesestücke, Evangelien und Episteln, für Jung und Alt bei den Gottesdiensten in der Muttersprache vorgetragen. Längst fanden auch Predigten darüber in dieser Sprache statt, und es gab gedruckte Predigtsammlungen zum Gebrauch der Geistlichen.
An den Orten, wo Luther aufwuchs, stand es in dieser Beziehung wohl auch noch verhältnißmäßig besser, als an manchen andern. Denn im allgemeinen fehlte doch sehr viel daran, daß, was in dieser Hinsicht von frommen Kirchenmännern und Schriftstellern und Vereinen, wie jenen des gemeinsamen Lebens empfohlen und erstrebt, oder auch in kirchlichen Verordnungen vorgezeichnet wurde, wirklich so zur Geltung gekommen und durchgeführt worden wäre. Schwere Vorwürfe konnten nachher die Reformatoren, ohne thatsächliche Widerlegung fürchten zu müssen, deshalb wider das gleichzeitige katholische Kirchenwesen erheben. Die gröbsten Mängel und Blößen wurden durch die Visitationen, welche durch sie vorgenommen wurden, offen an den Tag gelegt und wir müssen daraus auch auf die faktischen Zustände der ihrem Wirken vorangegangenen Jahrzehnte zurückschließen. Es kam vor, daß, auch wo Eltern und Schulmeister jene Katechismusstücke lehrten, diese doch den jungen Christen niemals in kirchlichem Unterricht erklärt wurden. Ja den Gegnern der Reformation wurde geradezu vorgehalten, daß dieser Unterricht trotz kirchlicher Vorschriften bei ihnen fehle, daß man die Kinder vielmehr im Tragen 21 von Prozessionsfahnen und heiligen Kerzen u. s. w. einübe. Man stieß bei jenen Visitationen auf Geistliche, die nicht einmal selbst mit jenen Hauptstücken vertraut waren. Daß er auch persönlich in seiner Jugend die Erfahrung so arger Zustände hätte machen müssen, bemerkt Luther in seinen späteren Klagen nicht.
Der Hauptmangel und Nothstand aber, den er später dort erkannt hat und unter welchem, wie er später sich bewußt wurde, sein Inneres schon vom Kindesalter an litt, betraf vielmehr die Art, wie ihm im Jugendunterricht und von der Kanzel aus der Inhalt der christlichen Heilswahrheit dargestellt und entstellt, und das religiöse Verhalten, das ihm hiemit vorgezeichnet worden sei.
Er selbst wollte nachher die Christenkinder in der frohen Gewißheit auferzogen haben, daß Gott ihnen ein liebender Vater, Christus ein treuer Heiland sei und daß sie mit freiem kindlichem Vertrauen diesem Vater nahen und so auch, wenn ein Gewissen von Sünde und Schuld in ihnen wach werde, sofort Vergebung bei demselben suchen dürfen und sollen. So, sagt er, sei er selbst nicht gelehrt worden. Schon von Kindheit an war er vielmehr ganz in diejenige Auffassung des Christenthums und diejenige Form der Religiosität, gegen welche hernach, wie wir sehen werden, sein reformatorisches Grundzeugniß sich richtete, hineingestellt und darin festgebannt.
Da stand für ihn Gott in unnahbarer Erhabenheit und furchtbarer Heiligkeit da. Christus, der Heiland, Versöhner und Mittler, dessen Offenbarung nur eben denen, die sein Heil abweisen, zum Strafgericht ausschlagen muß, stellte sich ihm wesentlich selbst als drohender Richter dar. Dagegen suchte man diesem Herrn selbst gegenüber Fürsprache und Vermittelung bei Maria und den andern Heiligen. Gerade gegen Ende des Mittelalters hat ihr Kultus noch mannigfach sich gesteigert und bereichert. Besondere Ehre und Pflege wurde Einzelnen an einzelnen Orten, in einzelnen 22 Kreisen, zu Gunsten einzelner Interessen zu Theil. Der Ritter Georg war der spezielle Heilige der Stadt und Grafschaft Mansfeld; noch steht sein Bild auch über dem Eingang des alten Schulhauses. Unter den Bergleuten blühte gegen Ende des Jahrhunderts schnell der Dienst der heiligen Anna, Mutter der Maria, auf, nach welcher z. B. auch die 1496 erbaute Bergstadt Annaberg genannt ist. Luther erinnerte sich später noch, daß das »große Wesen« von ihr aufgekommen sei, als er ein Knabe von fünfzehn Jahren war; und namentlich ihrem Schutz wollte er dann auch selbst sich ergeben. Es fehlt in derselben Zeit nicht an frommen Schriften, die, während sie treu den katholischen Glauben wahren wollen, vor Ueberschätzung der Heiligen und davor, daß man seine Hoffnung mehr auf sie, als auf Gott setze, ernstlich warnen; aber wir sehen eben aus der Warnung, wie sehr sie nöthig war, und aus den ferneren geschichtlichen Zuständen, wie wenig sie fruchtete. Auf Luther nun haben schöne Züge der Heiligengeschichten eine Anziehungskraft geübt, die er auch später nie verläugnet hat; und vollends von Maria, der Mutter Gottes, hat er immer in gar zarter, ehrender Weise geredet, nur beklagend, daß man sie zur Abgöttin machen wolle. Aber von seinem früheren Glaubensstande sagt er, Christus sei damals für ihn auf einem Regenbogen gesessen als strenger Richter (so fand er ihn dann auch z. B. auf einem alten Steinbild der Wittenberger Pfarrkirche und auf dem alten, noch heut im Gebrauch befindlichen Siegel derselben dargestellt); von diesem Christus weg sei man dahin gefallen auf die Heiligen, daß sie einem Patrone seien; Maria habe man angerufen, daß sie ihrem Sohne ihre Brust zeigen und ihn hiemit gnädig stimmen möge. Ein Beispiel dafür, welche Betrügereien auch mitunter bei solchem Kultus getrieben wurden, kam nachher in die Hände von Kurfürst Johann Friedrich, dem Freunde Luthers, und zwar wahrscheinlich aus einem Eisenacher Kloster. Es war ein aus Holz geschnitztes Bild 23 der heiligen Jungfrau mit dem Jesuskind auf dem Arm, mit einer geheimen Vorrichtung versehen, vermöge deren das Kind, wenn Leute vor ihm beteten, erst von ihnen weg zur Mutter sich hinkehrte und erst, wenn sie diese Mittlerin angerufen, mit ausgestreckten Aermchen ihnen sich zuneigte.
Andererseits sah dort der Sünder, dem die Sorge um seine Seligkeit und der Gedanke an das göttliche Gericht bange machte, sich auf eigene Bußübungen und fromme Leistungen angewiesen, mit denen er dem gerechten Gott genügen sollte. Hiefür empfing er Urtheil und Gebot durch die Kirche im Beichtstuhl. Unsere Reformatoren selbst und namentlich Luther haben nachher hohen Werth darauf gelegt, daß einer vor einem christlichen Beichtvater oder auch anderem christlichen Bruder das angefochtene Herz ausschütten und aus seinem Munde den Trost der Vergebung sich holen könne, die Gott dem reichen Glauben an seine erbarmende Liebe schenke. Dort aber, sagen sie, habe man hievon nichts erfahren, sondern die Gewissen seien mit Aufzählen der einzelnen Sünden gemartert und mit allerhand ihnen vorgeschriebenen äußerlichen Büßungen belastet worden; und eben darauf, daß jeder zu dieser kirchlichen Zucht herangezogen werde, regelmäßig dazu sich einstelle und auf keinem anderen Weg Frieden mit Gott suche, ward die erziehende Thätigkeit der Kirche bei Jungen und Alten vorzugsweise hin gerichtet.
Luther hat, wie schon bemerkt, später immer anerkannt und dessen sich getröstet, daß doch auch unter solchen Zuständen vom einfachen Worte der biblischen Heilsbotschaft noch so viel an die Herzen dringen konnte, um einen Glauben zu erwecken, der trotz aller dort aufgerichteten Schranken und verwirrenden Lehrsatzungen sich mit innigem Verlangen und kindlichem Vertrauen der lautern göttlichen Gnade in die Arme werfe und so wirklich der Vergebung froh werde. Auch hat er, wie wir sehen werden, selbst durch Männer der bestehenden Kirche heilsame Weisungen 24 dafür in folgenden Jahren empfangen; und jener Charakter katholisch-kirchlicher Religiosität beherrschte wenigstens nicht überall in gleichem Maße das christliche Leben in Deutschland während seiner Jugendzeit. Aber mit seinem eigenen Innern kam er schon als Knabe ganz unter den Einfluß desselben zu stehen; ihn jedenfalls hat da Niemand in den kindlichen Genuß des Evangeliums eingeführt. Zurückblickend auf sein nachfolgendes Mönchthum und sein ganzes vorangegangenes Leben hat er später ausgesprochen, er habe da nie seiner Taufe auf Christum sich getrösten können und immer darum besorgt sein müssen, wann er einmal durch eigene Frömmigkeit einen gnädigen Gott bekommen könne; durch solche Gedanken sei er nachher zur Möncherei getrieben worden.
An Männern, welche über Mißbräuche und Verderbnisse des kirchlichen Lebens und insbesondere der Geistlichkeit sich ausließen, hat es schon vor und während Luthers Jugendzeit nicht gefehlt. Längst waren solche Stimmen auch ins Volk gedrungen und hatten aus der Mitte des Volkes selbst sich erhoben. Geklagt wurde gleich sehr über Tyrannei der päpstlichen Hierarchie und Eingriffe derselben auch in die weltlichen Ordnungen und das bürgerliche Leben, wie über Verweltlichung und grobe Unsittlichkeit bei Geistlichen und Mönchen. Den Höhepunkt sittlicher Verderbniß erreichte damals der päpstliche Stuhl in Papst Alexander VI. Wir erfahren jedoch nichts von Eindrücken und Einflüssen, welche in dieser Beziehung an Luther in den Umgebungen, unter denen er aufwuchs, herangetreten wären. Die Kunde von solchen Aergernissen, wie sie damals in Rom schamlos, gleichsam am hellen Tage, getrieben wurden, mochte doch dorthin nur langsam dringen. Hinsichtlich der fleischlichen Vergehungen des Klerus, von denen wir zu Ehren unseres deutschen Volkes sagen dürfen, daß vorzugsweise an ihnen sein Gewissen Anstoß nahm, hat Luther später die jedenfalls sehr beachtenswerthe Bemerkung 25 gemacht, daß während seines Knabenalters die Priester wohl ein Zusammenleben mit Frauenspersonen sich erlaubt, ungezügelter Unkeuschheit aber und ehebrecherischer Gelüste sich nicht verdächtig gemacht haben, während erst seither die frechste Ausschweifung eingerissen sei.
Von der Treue, mit welcher in seiner Heimat Mansfeld an der überlieferten Kirchlichkeit festgehalten wurde, zeugen verschiedene Stiftungen jener Jahre, die alle auf Altäre und an ihnen zu haltende Messen sich beziehen. Auch Bergvogt Reinicke, der Freund des Luther'schen Hauses, ist unter den Stiftern: er sorgte für Gottesdienste und Lobgesänge zur Ehre der Mutter Gottes und des heiligen Georg.
Eine eigenthümliche Haltung in religiöser und kirchlicher Hinsicht nehmen wir bei Luthers Vater wahr; eine ähnliche kam indessen damals ohne Zweifel bei manchen biederen, schlicht frommen Bürgersleuten vor. Er hielt auf gottesfürchtigen Wandel. In seinem Haus wurde später noch davon erzählt, wie er oft über dem Bette seines kleinen Martin gebetet, wie er auch als Freund der Gottseligkeit und der Wissenschaft mit Geistlichen und Schuldienern Freundschaft gepflegt habe. Worte frommen Nachdenkens aus seinem Munde blieben unserm Luther von Kindheit an eingeprägt. So erzählt Luther noch in einer Predigt seiner letzten Lebensjahre, er habe oft seinen lieben Vater sagen gehört, daß, wie dieser selbst schon von seinen Eltern gehört, viel mehr Menschen, die da essen, auf Erden seien, als Garben von allen Aeckern der Welt eingesammelt werden möchten; so wunderbar wisse Gott die Menschen zu erhalten. Dabei folgte er mit seinen Mitbürgern den Satzungen und Sitten seiner Kirche. Als in dem Jahr, in welchem er seinen Sohn nach Magdeburg gehen ließ, zwei neue Altäre des Mansfelder Gotteshauses einer Anzahl Heiliger geweiht und den Personen, die an ihnen Messe hören würden, sechzig Tage Ablaß verheißen wurden, war 26 unter den ersten, die hievon Gebrauch machten, Hans Luther mit jenem Reinicke und andern Mitgliedern des Magistrats. Die Gegner des Reformators haben, während sie ihn von ketzerischen Böhmen herstammen lassen wollten, auf seinen wirklichen Vater keinen Schatten des Verdachts ketzerischer Gesinnung fallen lassen können. Und eben so wenig läßt sein Sohn später, nachdem der Vater mit ihm aus jenem Kirchenthum ausgeschieden war, je etwas davon hören, daß er von diesem irgend welche polemische oder kritische Aeußerung gegen dasselbe von seinen Jugendjahren her in Erinnerung gehabt hätte. Aber ein eigenes Urtheil und einen dem gemäßen eigenen Willen hat er daneben doch ruhig und fest behauptet. Fest stand er namentlich im Bewußtsein der väterlichen Rechte und Pflichten, auch Ansprüchen gegenüber, die von jener Seite her kamen. So hat er, wie Luther erzählt, als er einmal todtkrank lag und der Pfarrherr ihn ermahnte, der Geistlichkeit etwas zu bescheiden, aus einfältigem Herzen geantwortet: »Ich hab viel Kinder, denen will ich's lassen, die bedürfen's besser.« Wir werden sehen, wie unbeugsam er, als sein Sohn ins Kloster ging, aller Würde und Verdienstlichkeit des Mönchstandes gegenüber das Gottesgebot geltend machte, daß Kinder den Eltern gehorchen sollen. Auch dessen erinnerte sich später Luther noch, wie sein Vater einmal das vortreffliche Testament eines Mansfelder sterbenden Grafen hoch gerühmt habe, der allein auf das bittere Leiden und Sterben des Herrn Christus aus dieser Welt habe scheiden und ihm seine Seele befehlen wollen; er selbst, bemerkt Luther, hätte damals, als junger Schüler, eine Stiftung für Kirchen oder Klöster für ein ansehnliches Testament gehalten. So ist jener dann nachher auch der Heilslehre, die sein Sohn vortrug, ohne Bedenken und mit voller Ueberzeugung zugefallen. Immer aber verträgt sich auch mit Aeußerungen der gedachten Art ein tadelloser Wandel in den Formen des Lebens und Glaubens, die einmal von der Kirche zum 27 Gesetz gemacht waren, ein Verzicht auf Kritisiren und Räsoniren über kirchliche Angelegenheiten, für die er sich nicht berufen wußte, und namentlich eine völlige Enthaltung davon vor den Ohren seiner Kinder. Was ferner die positive religiöse Einwirkung auf diese anbelangt, so wurden solche Eindrücke und Anregungen, wie jenes Wort vom Mansfelder Grafen geben konnte, doch immer durch die Strenge und Herbheit der väterlichen Zucht überwogen.
Den Lehren der Kirche endlich von jenem Wege des Heiles durch Vermittlung der Heiligen und der Kirche und durch eigene Leistungen, an welche Luther sich von Jugend auf gewiesen sah, gingen zur Seite die dunkeln, durch jene Kirche zwar nicht hervorgebrachten, aber doch gut geheißenen Volksvorstellungen von teuflischen Mächten, welche nicht blos die Seele des Menschen bedrohen, sondern auch durch das ganze natürliche Leben hin ein zauberhaftes, grausiges Spiel treiben. Viel hat bekanntlich auch Luther selbst sich mit dem Teufel nach dieser Seite hin zu thun gemacht, öfters auch über menschliche, vom Bösen kommende Zauberei und besonders über das Treiben von Hexen sich ausgelassen. Er war da vor allem deß gewiß, daß wir in Gottes Hand vor Jenem gesichert seien und über ihn triumphiren dürfen. Aber auch er meinte, sein boshaftes Wirken erkennen zu müssen in plötzlich hereinbrechenden schweren Naturereignissen oder Unfällen, in Wettern, Feuersbrünsten u. s. w. Von den menschlichen Zaubereien, die in großer, bunter Menge unter dem Volk erzählt und geglaubt wurden, hat er einen Theil für unglaubhaft erklärt, einen Theil auf bloße, vom Teufel bewirkte Sinnestäuschung zurückgeführt. Aber daran, daß Hexen wunderbar Einem leiblichen Schaden anthun, daß sie namentlich Kinder beschädigen, ja an Seele und Leib verhexen können, hat auch er nicht gezweifelt.
Schon in seinem frühesten Knabenalter und aus seiner nächsten Umgebung, ja vornehmlich wieder aus seinem elterlichen Hause hatte Luther solche Vorstellungen in sich 28 aufnehmen müssen und sind sie auf immer wenigstens für seine Phantasie eine Macht geworden. Sie haben überhaupt eben damals unter dem deutschen Volk in merkwürdiger Weise um sich gegriffen, in wundersamen Gebilden weiter sich entfaltet, für die kirchliche und bürgerliche Gesetzgebung Geltung gewonnen, Inquisition und grausame Strafen gegen die angeblich mit dem Teufel Verbündeten hervorgerufen und unter solchem Verfahren sich selbst weiter bereichert und gesteigert. Ein Jahr nach Luthers Geburt war die wichtigste päpstliche Bulle erschienen, auf welche die Hexenprozesse sich gestützt haben. Gerade als Knabe vernahm Luther besonders viel von Hexen, während er später meinte, man höre jetzt nicht mehr so oft von ihnen, und ohne Bedenken erzählte er von jenen später noch, daß sie Vieh und Menschen Uebles zugefügt, auch Wetter und Hagel erzeugt haben. Ja von seiner eigenen Mutter wußte er, daß dieselbe unter den Zaubereien einer Nachbarin viel gelitten habe; diese, sagt er, »schoß ihr die Kinder, daß sie sich zu Tode schrieen«. Solche Eindrücke und Anschauungen gehören wesentlich mit zu den düstern Zügen, die im Bilde von Luthers Jugend sich uns darbieten und für das Verständniß seines ferneren inneren Lebensganges von hoher Bedeutung sind.
Nur dürfen wir, wenn wir alle diese Züge der Religiosität und des Aberglaubens uns vergegenwärtigen, uns darum doch nicht das ganze Bild des Knaben und Jünglings durch sie beherrscht denken. Er war darum doch, wie Mathesius ihn schildert, ein hurtiger und fröhlicher junger Gesell geworden. Bei seinen eigenen späteren Aeußerungen über sich und sein früheres Leben haben die Veranlassungen, nämlich sein Kampf gegen das Fortbestehen derjenigen allgemeinen kirchlichen Zustände, unter denen er selbst dort zu leiden hatte, es mit sich gebracht, daß er eben diese Seiten seines früheren Lebens so hervorhob. Wie Manches dort auch auf ihn drücken und ernste Schatten in die frohe 29 Jugendzeit bei ihm hineinwerfen mochte: unter dem Druck hielt eine frische elastische Naturkraft Stand, die ihm angeboren und anererbt war und die nachher auf neuem religiösem Lebensgrund in neuer und reicher Weise bei ihm an den Tag tritt. Auch die kindliche Freude an der Natur um ihn her, die nachher den ernsten Theologen und Kämpfer eigenthümlich auszeichnete, müssen wir schon auf seine ursprüngliche Geistesart und das Leben des Knaben in der Natur zurückführen.
Davon, wie er von Kindheit an mit dem Volke zusammengelebt hat, zeugt die natürliche Weise, mit der er nachher, während die ganze ihm zu Theil gewordene Bildung im Latein sich bewegte, seines Volkes Sprache zu reden verstand und mit der auch urwüchsige Derbheiten dieser Sprache oft selbst einen wissenschaftlichen oder einen geweihten oder erhabenen Vortrag bei ihm durchbrachen. Bei keinem Theologen ferner, ja wohl überhaupt bei keinem namhaften deutschen Schriftsteller seines Jahrhunderts begegnen uns so viele dem Volksmund entstammte Sprichwörter, als bei ihm, dem sie ungesucht in Büchern, Predigten und akademischen Vorlesungen, wie in Gesprächen und Briefen sich aufdrängten. Auch deutscher Volkssagen und Volksbücher, wie von Dietrich von Bern und anderen Helden, oder von Eulenspiegel oder Markolf, würde er später schwerlich so häufig, als er es thut, gedenken, wenn er nicht Bekanntschaft mit ihnen schon in der Jugend gemacht hätte. Er hat dann theils gescholten über unnütze, ja schandbare Märchen und »Geschwätze«, die darin sich finden, und vollends über Geistliche, die gar mit dergleichen ihre Predigten würzten, theils auch sich anerkennend geäußert – z. B. über »Etliche, die von dem Dietrich und anderen Riesen Lieder gemacht und damit viel großer Sachen kurz und schlecht dargegeben haben«. An ein Behagen aber, mit dem er selbst einst Solches gelesen oder angehört haben mochte, erinnert uns seine Bemerkung: »Wenn man ein 30 Märlein vom Dietrich von Bern sagt, das kann man behalten, ob man's gleich nur einmal höret«.
Den Orten, an denen er aufgewachsen, bewahrte er Zeitlebens eine treue Anhänglichkeit. Eisenach blieb ihm, wie wir oben hörten, seine liebe Stadt. Insbesondere war ihm Mansfeld theuer als sein Heimathsort und die ganze Grafschaft als sein »Vaterland«; nicht ohne Stolz nennt er sie, aus der er stamme, eine »edle, berühmte Grafschaft«. Auch die Bergleute, die seine Landsleute und seines lieben Vaters Schlägelgesellen seien, hielt er Zeitlebens werth. Ein weiter Gesichtskreis jedoch hat unter den Bürgern der kleinen Bergstadt Mansfeld und da, wo er nachher die Schule besuchte, sich für ihn nicht geöffnet. Schon hiemit und weiter dann mit seinem nachfolgenden stillen Mönchsleben müssen wir die Eigenthümlichkeit seines späteren großartigen Wirkens in Zusammenhang setzen, daß er darin zwar die höchsten und umfassendsten Aufgaben für seine Kirche und sein ganzes deutsches Volk mit weitem Blick und warmem Herzen erfaßt, aber beim Beginn seiner Arbeiten und Kämpfe nur gar wenig von der großen Welt und ihrer Politik und auch von den allgemeinen Verhältnissen des deutschen Vaterlandes verstanden, ja mitunter eine fast kindliche rührende Einfalt in dieser Hinsicht gezeigt hat.
Jene letzten Jahre seines Schulbesuchs hatten ihn dann also auch tüchtig auf dem Weg zu der gelehrten Bildung gefördert, die ihm sein Vater zu theil werden lassen wollte. So ausgerüstet durfte er, achtzehn Jahre alt, im Sommerhalbjahr 1501 die Universität Erfurt beziehen. 31