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Sechstes Kapitel

Die Zeit und ihre Wirkungen.

Der alte Marquis und seine Frau fühlten sich ganz glücklich, seit sie ihren Sohn gesund wußten, sie vergaßen ihr eigenes Uebelbefinden darüber, und machten große Pläne für die Zukunft.

In einem alten Liede heißt es:

Das Heute nur ist unser Theil.
Das Morgen ist für Niemand feil –

was sehr wahr ist, und beweist, daß man nie auf den folgenden Tag zählen soll; das hindert aber nicht, daß wir oftmals Pläne machen, in welchen wir über eine große Anzahl Jahre mit größter Leichtigkeit wegsehen ... was weit mehr besagen will, als ... ein folgender Tag! ... und der größte Theil dieser schönen Pläne darf doch nie in Erfüllung gehen ... indessen haben wir dennoch Recht, solche zumachen, denn sie sind der beste Theil unseres Glückes; das, welches wir besitzen, scheint uns nie so süß, als das, welches wir uns erst versprechen; es ist hier derselbe Fall, wie bei jenen Landschaften, die, von ferne betrachtet, uns so köstlich erscheinen, und wo wir, wenn wir dem Punkte, den wir bewunderten, nahe gekommen sind, denselben nur ganz gewöhnlich finden.

Einen Monat, nachdem Amenais die Versicherung von dem Wohlergehen und der Wiedergenesung ihres Sohnes empfangen hatte, wollte sie, sich besser fühlend, ausgehen und einen Spaziergang versuchen, um desto bälder im Stande zu sein, einen Ausflug nach Gagny zu machen.

Aber war sie zu frühe ausgegangen, oder eine neue Krankheit im Anzüge, die Marquisin befand sich unwohl, als sie nach Hause zurückkam; sie mußte ins Bett gebracht werden, und vierzehn Tage nachher geleitete man die Mutter des kleinen Cherubins, die ihren Tod nicht im mindesten geahnt und bis zum letzten Augenblicke die Hoffnung genährt hatte, ihren Sohn umarmen zu dürfen, zu Grabe.

Der alte Marquis war trostlos über den erlittenen Verlust, aber im siebenzigsten Jahre liebt man nicht mehr wie im dreißigsten; mit dem zunehmenden Alter wird das Herz minder zärtlich, und das ist sowohl eine Wirkung der Erfahrung, als der Jahre; man wurde im Laufe seines Lebens in seinen Neigungen dermaßen getäuscht, daß man am Ende nothwendig selbstsüchtig werden und die Zärtlichkeit, die man für Andere hegte, auf sich vereinigen muß.

Außerdem blieb der Marquis nicht allein auf der Welt; hatte er nicht einen Sohn, der ihn trösten konnte? Sein getreuer Diener sagte eines Tages zu ihm:

»Mein theurer Herr, denken Sie an Ihren kleinen Cherubin ... er hat keine Mutter mehr ... eigentlich hätten Sie vor ihr sterben sollen, denn Sie waren weit älter! aber die Dinge gehen nicht immer, wie sie sollen und man es sich vorstellt! ... Die Frau Marquisin ist gestorben und Sie leben ... es ist wahr. Sie haben die Gicht ...aber es gibt Leute, welche nicht so bald von ihr mitgenommen werden ... Sie sind ein Exempel davon. Seien Sie ein Mann, Herr Marquis, denken Sie an Ihren Sohn, aus dem wir einen kreuzfidelen Kerl machen wollen ... so wie Sie ehemals einer waren ... denn früher waren Sie ein famoser Kamerad, gnädiger Herr, man würde es nicht mehr glauben, wenn man Sie jetzt sieht.«

»Was soll das heißen, Jasmin, ich bin also sehr verändert ... seh' ich denn jetzt ganz impotent aus?«

»Ich sage das nicht, gnädiger Herr, aber ich meine doch, daß es Ihnen jetzt schwer werden würde, sich an einem Tage zu fünf bis sechs Stelldicheins zu begeben ... was Ihnen früher oft vorkam! ... Ach welch' ein Verführer waren Sie sonst ... Nun! ich stelle mir vor, Ihr Sohn werde Ihnen nachschlagen ... daß ich auch seine Liebesbriefe werde austragen müssen ... nun! nun! Ich werde sie mit Vergnügen besorgen; ... Ich verstehe mich darauf, ein Liebesbriefchen zuzustecken.«

»Das heißt, mein armer Junge, Du machtest stets Ungeschicklichkeiten und Dummheiten, und es ist nicht Deine Schuld, wenn ich nicht hundert Mal von eifersüchtigen Ehemännern oder Nebenbuhlern überrascht und todtgeschlagen wurde ...«

»Sie glauben, gnädiger Herr? ... o! Sie irren sich ... es ist schon so lange, Sie haben all' das aus dem Gedächtnisse verloren.«

»Im Ganzen genommen,« fuhr Herr von Grandvilain nach einer Weile wieder fort, »würde es mir, wenn ich diese arme Marquisin noch so lange beweinte, dieselbe nicht wieder bringen ... Ich muß mich meinem Sohne erhalten. »Ach! wenn ich ihn nur in seinem zwanzigsten Jahre noch sehen könnte, das wäre Alles, was ich wünschte.«

»Potz tausend! ... ich glaub's doch ... Sie sind nicht versteckt!« entgegnete Jasmin, »zwanzig und Ihre siebzig machen neunzig!«

»Nun, Jasmin, kann man nicht so alt werden?«

»Ach, der tausend! ... das ist selten! ... aber es kommt vor.«

Wie alt bist denn Du, drolliger Bursche! daß Du Dir solche Bemerkungen erlaubst?«

»Ich, gnädiger Herr! fünfzig Jahre,« erwiederte Jasmin, sich gerade aufrichtend und ein Bein vorstreckend.

»Hum! ... ich glaube, Du verschweigst einen Theil ... Du scheinst weit älter. Gleichviel, ich überlebe zehne, wie Du bist!«

»Der gnädige Herr können das gewiß, wenn Sie wollen.«

»Und sobald meine Gicht weg ist, werde ich meinen Erben besuchen und umarmen. Ich könnte wohl die Amme hieher kommen lassen, aber der Arzt hält es nicht für gut, die Kinder einer Luftveränderung auszusetzen, und ich will lieber auf sein Wiedersehen Verzicht leisten, als ihn der Gefahr preisgeben, wieder krank zu werden.«

»Zudem, gnädiger Herr, wissen Sie ja, daß ich stets bereit bin, wenn Sie es wünschen, unsern Kleinen zu besuchen ... es ist überflüssig, daß mich die dicke Turlurette begleitet ... ich weiß selbst zu beurtheilen, ob sich ein Kind wohl befindet. Ich werde, wenn Sie wollen, alle Tage nach Gagny gehen, es ermüdet mich gar nicht.«

Jasmin besuchte Cherubin recht gerne; erstens hatte der treue Diener schon eine innige Anhänglichkeit an den Sohn seines Herrn und dann leerte er gerne einige Krüge Wein mit dem Pflegevater, der sein Freund geworden war.

Acht Monate waren seit dem Tode der Frau Marquisin verflossen, als endlich Herr, von Grandvilain, von seiner Gicht befreit, im Stande war, seinen großen Lehnstuhl zu verlassen. Sein Erstes war, Befehl zu ertheilen, daß man seine Pferde vor seinen Wagen spannen solle, dann stieg er hinein. Dies Mal kletterte Jasmin hintenauf, und man schlug den Weg nach Gagny ein.

Der kleine Cherubin gedieh herrlich, denn nicht er aß die Leckerbissen, die Turlurette immer der Nicolle zuschickte. Schon war einer der kleinen Jungen der Amme an der Magenentzündung gestorben; die beiden andern größern und stärkern unterlagen den Bisquits und Zuckerkörnern nicht so leicht, aber ihre Gesichtsfarbe war blaß und matt, während Cherubin von Gesundheit und Frische strotzte.

An dem Tage, wo der Marquis sich auf den Weg nach Gagny begab, hatte Jakob Frimousset schon früh Morgens mit seinen Wirthshausbesuchen angefangen und war bereits völlig betrunken, als einer seiner Bekannten ihm die Nachricht mittheilte, daß die Equipage des Herrn Marquis von Grandvilain vor seiner Thüre halte.

»Ah,« sagte Jakob, »mein Freund, Herr Jasmin, besucht uns; ... obgleich Kammerdiener eines großen Hauses, ist er doch gar nicht stolz: wir werden ein paar Flaschen mit einander ausstechen.«

Und der Amme Mann kam ganz schwankend nach Hause; er trat in die untere Stube ein, wo Herr von Grandvilain seinen Sohn, der nun schon ein Jahr alt war, und über seines Vaters Kinn, das keinen Augenblick stille stand, sehr zu lachen schien, auf den Knien schaukelte.

»Was ist das für ein Alter?« rief Frimousset aus, indem er sich die Augen rieb und an die Wand lehnte.

»Das ist der Herr Marquis von Grandvilain selbst!« entgegnete ihm Nicolle, während sie ihm von Ferne winkte, eine achtungsvollere Stellung anzunehmen; er aber schlug ein lautes Gelächter auf und sagte:

»Das sei Cherubin's Vater! ... geht doch! das ist unmöglich! das ist sein Großvater ... sein Urgroßvater ... wenigstens! ... kann man noch so kleine Fratzen haben, wenn man schon so runzelig ist!«

Herr von Grandvilain wurde purpurroth vor Zorn; er hatte einen Augenblick Lust, seinen Sohn mitzunehmen, und nie mehr den Fuß über die Schwelle dieses groben Bauern zu sehen, der ihm solche unangenehme Dinge sagte; aber schon war es Nicolle gelungen, ihren Mann aus dem Zimmer hinaus zu treiben, und Jasmin, der sich eben in einiger Entfernung etwas erfrischt hatte, trat wieder näher und sagte:

»Hören Sie nicht auf ihn, gnädiger Herr; der Pflegevater ist betrunken ... er ist weg ... er sieht nicht mehr klar ... sonst hätte er nie solche Dinge ausgesprochen, er hätte sie vielleicht gedacht, aber nicht geäußert.«

»Mein Mann ist ein Trunkenbold, und sonst nichts!« erwiderte Nicolle. »Ich bitte sehr um Verzeihung für ihn, Herr Marquis; zu glauben, Sie seien nicht der Vater Ihres Sohnes! ... ei, mein guter Gott ... man merkt wohl, daß ihm vom Trinken die Augen trübe sind ... Der Kleine ist Ihnen ja aus dem Gesicht heraus geschnitten! ... er hat Ihre Nase, Ihren Mund ... Ihre Augen, kurz. Alles von Ihnen!«

Diese Lobeserhebung war lächerlich übertrieben und sehr wenig schmeichelhaft für den kleinen Cherubin. Aber der Herr Marquis von Grandvilain, der nicht altern wollte, nahm das Alles für baare Münze, betrachtete seinen Sohn nochmals und sprach vor sich hin:

»Ja, er gleicht mir ... er wird ein hübscher Bursche werden.« Dann stand er auf und legte mit folgenden Worten eine Börse in die Hand der Amme: »Ich bin zufrieden, mein Sohn befindet sich wohl, fahret fort, Sorge für ihn zu tragen; da ihm die Luft dieser Gegend gut thut, so werde ich ihn lange ... sogar sehr lange in Euern Händen lassen ... Die Kinder haben immer noch Zeit zum Lernen; die Gesundheit geht vor Allem! ... nicht wahr, Jasmin?«

»O! ja, gnädiger Herr! ... die Gesundheit! Sie haben vollkommen Recht, denn was hilft es, gelehrt zu sein, wenn man todt ist?« ...

Herr von Grandvilain lächelte über die Bemerkung seines Kammerdieners und kehrte, nachdem er Cherubin noch einmal geküßt hatte, in seinen Wagen zurück.

Jakob lehnte in einem Winkel des Hofes, aus dem er nicht mehr hervorzutreten wagte, er begnügte sich mit einer Verbeugung vor dem Marquis, und dieser suchte, während er an dem Landmann vorbeiging, sich aufrecht zu halten, und that sein Möglichstes, um seinen Schlitten die Leichtigkeit und Sicherheit der Jugend zu verleihen.

Mehrere Monate vergingen, im Laufe deren Herr von Grandvilain oft sagte:

»Ich will nach Gaguy reisen.«

Aber er reiste nicht; die Furcht, abermals dem Pflegvater zu begegnen und sich auf's Neue Artigkeiten der frühern Gattung sagen lassen zu müssen, hielt den Marquis zurück; daher beschränkte er sich darauf, seinen Sohn, der nun stark genug war, eine so kurze Reise ohne Gefahr zu unternehmen, nach Paris holen zu lassen.

Nicolle verblieb mehre Stunden im Hause des Marquis, aber Cherubin gefiel es nicht darin; er weinte und verlangte ins Dorf zurück; dann küßte Herr von Grandvilain seinen Sohn und sagte zur Amme:

»Geht schnell, man muß ihn nicht ärgern, es könnte ihn wieder krank machen.«

Zwei weitere Jahre vergingen auf diese Weise. Cherubin genoß einer vorzüglichen Gesundheit, ohne jedoch so dick und stark zu sein, wie sonst die meisten Bauernkinder sind; er war heiter, spielte und lief gerne umher; aber sobald man ihn nach Paris führte, sobald er bei seinem Vater im Hôtel Grandvilain war, verlor der kleine Knabe seine Munterkeit; es ist wahr, das Haus in der Vorstadt Saint-Germain war nicht freundlich, und der alte, beinahe stets von der Gicht geplagte Marquis traurig genug.

Man that zwar sein Möglichstes, dem kleinen Jungen den Aufenthalt im Hotel angenehm zu machen; man hatte ein ganzes Zimmer mit Spielzeug angefüllt, man überdeckte einen Tisch mit Leckereien, Cherubin durfte Alles essen. Alles zerbrechen, man ließ ihm gänzlich seinen Willen, aber wenn das Kind einiges Spielzeug betrachtet und einiges Süße gegessen hatte, lief es zu seiner Amme, nahm sie bei der Schürze, schaute sie mit zärtlichem Blicke an und fragte mit flehender Stimme:

»Mutter Nicolle ... werden wir nicht bald wieder nach Hause gehen?«

Eines Tages machte der Marquis eine ernste Miene, ließ seinen Sohn neben seinen Lehnstuhl kommen und sprach zu ihm:

»Aber Cherubin, Du bist hier zu Hause ... auf dem Dorfe bist Du bei Deiner Amme ... hier aber bei Deinem Vater ... und folglich zu Hause.«

Das Kind schüttelte den Kopf und erwiederte:

»O nein, hier bin ich nicht zu Hause.«

»Cherubin, Du bist ein kleiner Eigensinn, Du glaubst Dich hier nicht zu Hause, weil Du nicht gewöhnt bist, hier zu sein ... aber, wenn Du vierzehn Tage hier bliebest, hättest Du das Dorf ganz vergessen; denn hier ist es, will ich hoffen, doch weit schöner, als bei Deiner Amme.«

»O nein! bei uns zu Hause ist es schöner!«

»Zu Hause! Zu Hause! Du wirst langweilig! ... Nun, weil es denn so ist ... weil es Dir bei Deinem Vater nicht gefällt, so bleibst Du gerade hier, Du darfst nicht mehr zu Deiner Amme zurück; ich behalte Dich bei mir ...«

Das Kind wagte keine Erwiederung mehr; der strenge Ton, den sein Vater zum ersten Male gegen dasselbe annahm, ergriff es dergestalt, daß es stumm und unbeweglich blieb, nach wenigen Augenblicken jedoch verfinsterten sich seine Züge, seine Augen zerflossen in Thränen und es brach in ein lautes Schluchzen aus.

Auf dieses eilte Jasmin, der in einem anstoßenden Zimmer das ganze Gespräch mitangehört hatte, wie ein Wüthender herbei und schrie:

»Nun! was soll das heißen? Sie bringen unser Kind bereits zum Weinen! ... Das ist hübsch! ... Wollen Sie jetzt ein Tyrann werden? ...«

»Geht, Jasmin, schweigt ...«

»Nein, gnädiger Herr, ich dulde es nicht, daß Sie unserem Kleinen Kummer machen! Da kämen Sie mir recht! ... ich widersetze mich feierlich ... sehen Sie, das arme Kind schwimmt in Thränen ... aber was haben Sie denn heute, ist Ihnen die Gicht ins Herz gezogen?«

»Jasmin ...«

»Gnädiger Herr, es ist mir einerlei! ... schlagen Sie mich, jagen Sie mich aus dem Hause ... sperren Sie mich in den Stall ... lassen Sie mich bei den Pferden liegen ... thun Sie, was Sie wollen, nur bringen Sie dieses Kind nicht zum Weinen ... denn dann, sehen Sie ... werde ich ...«

Jasmin hielt inne, er konnte nicht mehr weiter reden: denn er weinte auch.

Als Herr von Grandvilain seinen getreuen Diener sich die Augen mit dem Taschentuch bedecken sah, reichte er ihm, statt zu schmähen, die Hand und sprach:

»Nun, sei nicht böse ... ich hatte Unrecht ... ja, ich hatte Unrecht, dieses theure Kind zu betrüben. Alles wohl erwogen, ist meine Gesellschaft eben nicht heiter, die Gicht macht mich oft mürrisch. Was würde auch der arme Kleine hier im Hause anfangen? Er ist noch zu jung zum Lernen! ... und da er keine Mutter mehr hat, wollen wir ihm so lang als möglich seine Amme lassen. Ueberdies ist die Luft in Paris nicht so gesund, als die auf dem Lande. – Nehmt Euern Zögling wieder zurück, Amme, da er Euch so sehr liebt; Ihr macht sein Glück aus. Komm, küsse mich, Cherubin, und weine nicht mehr, Du wirst mit Deinen Freunden zurückkehren; sie lieben Dich zwar nicht mehr als wir, Du aber liebst sie mehr als uns. Ich will mich in Geduld zu fassen suchen, vielleicht wird später die Reihe auch noch an mich kommen.«

»Bravo! ... Bravo!« rief Jasmin aus, während sein Herr seinen Sohn umarmte. »Ach! das heiß ich gut gesprochen ... jetzt erkenne ich Sie wieder, gnädiger Herr! Ei! freilich wird Sie Ihr Cherubin einst lieben, sogar wertschätzen ... aber später ... das kommt nicht sogleich ... lassen Sie ihn erst ein wenig größer werden ... und wenn er Sie dann nicht liebt, dann will ich ihm schon den Leviten lesen!«

Die Amme nahm also das Kind wieder mit sich fort und war froh, es behalten zu dürfen, da sie große Vortheile durch dasselbe genoß; zuvor aber hatte sie dem alten Marquis versprechen müssen, Cherubin in der künftigen Woche wiederzubringen, denn der alte Herr schien ungewöhnlich traurig, als er sich von ihm verabschiedete.

Man sagt, es gebe Ahnungen, geheime Vorgefühle, die uns ein nahendes Unglück zum Voraus verkünden, und daß unser Herz heftiger schlage, wenn wir uns von einer geliebten Person trennen, die wir niemals wiedersehen sollen: warum sollten wir nicht an Ahnungen glauben? Die Alten glaubten an Vorbedeutungen. Geistreiche Leute sind oft sehr abergläubisch; es ist unendlich besser, an viele Dinge als an gar nichts zu glauben; die starken Geister sind nicht immer große Geister. Hatte nun der Marquis von Grandvilain eine Ahnung, als er nur mit Bedauern seinen Sohn entließ, das ist unbekannt; Thatsache aber ist, daß er ihn nicht mehr sehen sollte; drei Tage nach der eben berichteten Scene raffte ein Gichtanfall den edeln Greis in wenigen Stunden dahin, er hatte nur noch Zeit, Jasmin den Namen seines Notars zuzustammeln, und sein letzter Seufzer war nach seinem Sohn.

Der Schmerz des Kammerdieners war lebhafter, rührender, aufrichtiger, als er von gar manchen Verwandten und Freunden gewesen wäre. Wenn uns unsere Dienstboten lieben, so lieben sie uns sehr, denn sie kennen unsere Fehler so gut als unsere Tugenden, und vergeben uns die einen um der andern willen, was unsere Freunde und sonstigen Bekannten niemals thun.

Jasmin war besonders trostlos, seinen Herrn darüber gezankt zu haben, daß er seinen Sohn bei sich behalten wollte.

»Ich bin Schuld,« dachte er, »daß er ihn vor seinem Tode nicht mehr umarmen konnte ... mein armer Herr, er ahnte seinen nahen Tod, als er sein Kind nicht mehr ins Dorf zurück lassen wollte ... und ich habe mir erlaubt, mit ihm zu zanken ... Narr, der ich war! ... und er schlug mich nicht nieder, wie ich es verdient hätte! ... im Gegentheil, er reichte mir die Hand! ... Ach! welch' einen Herrn habe ich an ihm verloren, ich stürbe vor Verdruß, wenn ich nicht über den kleinen Cherubin wachen müßte.«

Jasmin erinnerte sich dann, daß sein Herr, bevor er die Augen geschlossen, den Namen seines Notars gestammelt habe, und da er vermuthete, daß dieser mit der letzten Willensvollstreckung seines Herrn beauftragt sei, so benachrichtigte er ihn schleunig von dessen Tode.

Der Notar des Herrn von Grandvilain war ein noch junger Mann, aber von ernstem, sogar etwas strengem Aeußern; er hatte in der That des Marquis Testament in Händen und war mit der Vollziehung seines letzten Willens beauftragt. Er beeilte sich, das Aktenstück zu öffnen und las wie folgt:

»Ich habe dreißigtausend Franken Renten. Mein ganzes Vermögen fällt meinem Sohne und einzigen Erben zu. Ich will, daß er im fünfzehnten Jahre in den Besitz seines Vermögens eingesetzt werde. Bis dahin übertrage ich meinem Notar die Verwaltung desselben. Ich will nicht, daß irgend etwas im Innern meines Hauses geändert, noch einer meiner Dienstboten entlassen werde. Jasmin, meinen getreuen Kammerdiener, ernenne ich zum Intendanten meines Hauses. Jeden Monat soll ihm mein Notar die für das Hauswesen von ihm geforderten und die zur Erziehung meines Sohnes nöthigen Gelder behändigen. – Sigismund Wenzeslaus, Marquis von Grandvilain

Der Notar konnte sich nach Durchlesung dieses Testaments eines Lächelns nicht erwehren, und Jasmin, der mit beiden Ohren zugehört hatte, betrachtete ihn staunend und stotterte:

»Aus all diesem, Herr Notar, habe ich nicht ersehen, wer der Vormund des Kleinen sein soll.«

»Es ist keiner da, Jasmin! sein Vater hat keinen für ihn ernannt; er hat sich auf mich und auf Sie verlassen; auf mich, hinsichtlich der Verwaltung seines Vermögens; auf Sie, zur Überwachung seines Betragens. Es scheint, daß Herr von Grandvilain ein großes Vertrauen in Sie setzte ... daß Sie es verdienen, bezweifle ich nicht ... aber ich fordere Sie auf, Ihren Eifer für den jungen Marquis zu verdoppeln ... bedenken Sie, daß Sie jetzt für ihn Sorge tragen müssen. In Rücksicht seines Vermögens wünscht sein Vater, daß er im fünfzehnten Jahre Herr darüber sei ... das heißt sehr früh reich werden! ... weil aber der Wille seines Vaters so lautet, Jasmin, so tragen Sie das Ihrige dazu bei, daß der junge Marquis in seinem fünfzehnten Jahre an Charakterstärke und Kenntnissen schon ein Mann sei!«

Jasmin hörte diese Worte mit gerührter Miene an; er begann eine Antwort, verwickelte sich aber in einem Satze, den er nicht vollenden konnte, und verließ endlich den Notar, nachdem er von diesem eine Summe Geldes zur Bestreitung des Hauswesens erhalten hatte.

Als Jasmin ins Hôtel zurückkehrte, war er um drei Zoll größer geworden und aufgeschwollen, wie ein Ballon; die Eitelkeit nistet sich überall ein, bei den Großen, wie bei den Kleinen, sie muß sogar bei den letztern noch stärker sein, da sie nicht an die Größe gewöhnt sind.

Die ganze Dienerschaft, neugierig, den Inhalt des Testamentes zu erfahren, schaarte sich um den Kammerdiener. Jasmin machte eine wichtig einfältige Miene, sprach durch die Nase und entgegnete ihnen:

»Seid ruhig, meine Freunde, es wird nichts im Hause verändert; ich behalte euch Alle in meinen Diensten ...«

»Sie, Herr Jasmin ... sind Sie der Erbe unseres Herrn?«

»Nein, ich erbe nicht ... aber ich stelle den Erben vor, kurz, ich bin der Intendant des Hauses ... ich behalte Alles bei, den Koch, den Kutscher (den Keller besorge ich wie bisher selbst) ... die Haushälterin ... weil es der Herr Marquis so haben wollte ... widrigenfalls ich euch Alle fortgeschickt hätte ... denn es ist sehr überflüssig, Dienstboten zu halten, wo keine Herrschaft ist ... Ach! ich irre mich doch, der junge Marquis ist jetzt unsere Herrschaft ... und wenn er in Zukunft sein Haus bewohnen will, so soll er es ganz eingerichtet finden; denn das war ohne Zweifel die Absicht seines hochseligen Vaters, der wir uns unterwerfen müssen.«

Die ganze Dienerschaft verneigte sich vor Jasmin, der nun ein eminenter Mann geworden war, und er selbst zog sich, nachdem er die Glückwünsche seiner nunmehrigen Untergebenen entgegen genommen hatte, in sein Zimmer zurück, sann über Alles nach, was ihm der Notar gesagt, und zerbrach sich den Kopf darüber, was er mit Cherubin anfangen sollte, damit er die Absichten seines Herrn würdiger Weise erfülle.

Als er sich mehre Stunden erfolglos den Kopf zerarbeitet hatte, rief er aus:

»Meiner Treu, das Beste ist, glaub' ich, man läßt den kleinen Cherubin bei der Amme.«


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