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Gagny ist ein hübsches Dorf, es liegt dicht bei Villemomble, von dem es beinahe die Fortsetzung zu bilden scheint, und etwas vor Montfermeil, wenn man des Weges von Paris kommt. Indem ich euch sage, Gagny sei hübsch, verstehe ich darunter nicht, daß es gerade und gut gepflasterte Straßen habe, daß alle Häuser dasselbe gleichartige bürgerliche, sogar elegante Ansehen haben; dann würde es einer kleinen Provinzialstadt gleichen, und hätte nicht mehr das malerische, originelle und ländliche Gepräge.
An einem Dorfe liebe ich just diese Verschiedenartigkeit der Wohnungen, diese Unregelmäßigkeit der Gebäude, deren Anblick uns eine angenehme Abwechslung mit der Einförmigkeit der Straßen einer Hauptstadt bietet. Ich will den Pachthof darin sehen mit all' seinem Zugehöre, die Pfütze, in der die Enten schnattern, den Düngerhaufen, auf dem die Hennen picken, dann das Häuschen des wohlhabenden Bauern, der seine Läden grün anstreichen ließ und Weinreben an seinen Fenstern hinauf zieht, das Strohdach eines Taglöhners nicht fern von dem schönen Landhause eines reichen Bürgers aus der Stadt, die reizende Villa einer unserer Celebritäten von Paris, die Wohnung des Gärtners, die Schule, die Kirche und ihren Glockenturm, und mitten unter all' diesem große Bäume, Fußpfade mit Holunder- oder wilden Fruchthecken, Hennen und Hahnen, die sorglos vor den Häusern auf- und abspazieren, frische, muntere, gesunde Kinder, die mitten auf den Straßen und Plätzen spielen, ohne die Equipagen und Omnibusse zu fürchten; sogar den Geruch des Stalles, wenn ich an dem Hause einer Milchfrau vorübergehe; denn all' dieses erinnert uns daran, daß wir wirklich auf dem Lande sind, und wenn wir dieses wahrhaft lieben, so empfinden wir ein Wohlbehagen, ein Glück, dessen Wirkungen sich augenblicklich fühlbar machen, und das wir, ohne nöthig zu haben, nach andern Ursachen zu forschen, der reinen Luft, die wir einathmen, den ländlichen Gemälden, woran sich unser Auge werdet, und der süßen Freiheit, worin wir leben, verdanken!
»Für wahre Freuden ist das Land der rechte Ort:
Man ehrt die Götter mehr, man liebt sich besser dort!«
Gagny bietet euch das Alles dar. Ganz nahe bei Raincy, dem Wald von Bondy und den köstlichen Gehölzen von Montfermeil gelegen, in geringer Entfernung von der Marne, deren Ufer besonders bei Rogent und Gournay reizend sind, könnet ihr vom Dorfe aus die Schritte nach jeder beliebigen Seite hinlenken, ihr werdet überall entzückende Spaziergänge, bewundernswürdige Aussichten finden. Die Umgegend ist durch herrliche Besitzungen verschönert: das rothe Haus, das weiße Haus und das kleine mit Thürmen und Zinnen bedeckte Schloß Horloge, welches euch in Miniatur, aber in sehr geschmeichelter Miniatur die Wohnungen der alten Burgherrn vergegenwärtigt, gehören dazu. So beschaffen ist das Dorf Gagny, das jeden Tag in seiner Nähe irgend eine neue, elegante, gut eingerichtete Wohnung erstehen sieht, wo während der schönen Jahreszeit hübsche Pariserinnen, Künstler, Gelehrte oder Handelsleute sich vom ewigen Lärm und Geräusche der Hauptstadt zu erholen suchen.
Ich bemerke, daß ich euch Gagny zeichnete, wie es heut zu Tage ist, während man schon im Jahre 1819 den kleinen Cherubin, Sohn des Herrn Marquis von Grandvilain, dorthin brachte. Im Ganzen war die Lage des Dorfes immer dieselbe, einige hübsche Besitzungen ausgenommen, die damals noch nicht existirten und heut zu Tage bewundert werden.
Vor allen Dingen wollen wir die Dorfbewohner kennen lernen, unter welche man unsern Helden versetzte.
Man weiß, daß die Amme, die Cherubin mitnahm, eine dicke, frisch und vergnügt aussehende Bäuerin ist, die eine kräftige und volle Gestalt hat und in ihrem Mieder Reize verheißt, womit leicht drei oder vier Marquis und ebenso viel Bürgerliche ernährt werden könnten; aber man weiß noch nicht, daß dieses Weib Nicolle Frimousset heißt, achtundzwanzig Jahre alt ist, drei Knaben und einen Mann hat, der sie zur Verzweiflung bringt, obgleich er ein Muster von Gehorsam und Ergebung in ihren Willen ist.
Jakob Frimousset stand in gleichem Alter wie seine Frau; er war ein starker, gut gebauter, schön gewachsener, breitschulteriger, entschlossener junger Kerl, sein rothes, vollkommenes Angesicht, seine starken Augenbrauen, seine schwarzen, glänzenden Augen, seine weißen, regelmäßigen Zähne würden einem Herrn in der Stadt Ehre gemacht haben. Frimousset war ein hübscher Bursche und schien im Voraus einen Mann zu versprechen, der alle im Ehestände auferlegten Pflichten zu erfüllen fähig war. Die Bäuerinnen sind nicht unempfindlich gegen körperliche Vorzüge; man versichert sogar, daß es Damen gibt ... sehr große Damen, die Werth auf solche Kleinigkeiten legen.
Nicollen, die einige Güter und eine ziemlich hübsche Mitgift hatte, konnte es nicht an Freiern fehlen; sie wählte Jakob Frimousset, und alle Bäuerinnen im Dorfe ließen sich darüber aus, daß Nicolle keinen schlechten Geschmack habe! Was ohne Zweifel heißen wollte, sie hätten Frimousset ebenso gerne geheirathet.
Aber ein altes Sprüchwort behauptet, daß oft der Schein trügt. Es gibt Leute, die nicht an Sprüchwörter glauben wollen! Diese Leute haben höchst Unrecht! Erasmus sagt:
Von allen Wissenschaften ist die der Sprüchwörter die älteste; sie galten als die Symbola, woraus das Gesetzbuch der Philosophie der ersten Zeitalter gebildet wurde; sie sind das Compendium der menschlichen Wahrheiten.
Aristoteles theilt die Meinung des Erasmus; er hält die Sprüchwörter für Ueberbleibsel der ehemaligen, durch den Zahn der Zeit zerstörten Philosophie und glaubt, daß diese Reste, die nur ihrer Feinheit und Richtigkeit wegen erhalten worden, statt unsere Verachtung zu verdienen, sorgsam überdacht und gründlich studirt werden sollten.
Chrysippos und Cleanthes haben lange Abhandlungen zu Gunsten der Sprüchwörter geschrieben. Theophrast hat einen ganzen Band über diesen Gegenstand abgehandelt. Auch zählt man unter den berühmten Männern, welche dieselben vertheidigten, Aristides und Clearchos, Schüler des Aristoteles. Endlich hat Pythagoras Symbole gemacht, die Erasmus in den Rang der Sprüchwörter einreiht, und Plutarch in seinen Denksprüchen die Witzworte der Griechen gesammelt.
Wir könnten nun auch alle Schriftsteller der neuern Zeit nennen, die zu Gunsten der Sprüchwörter geschrieben haben; dies würde uns aber zu weit abführen; außerdem sind wir der Ansicht, daß es dem geneigten Leser lieber ist, wieder auf Cherubins Amme zu kommen.
Die Bäuerin Nicolle kannte weder Erasmus noch Aristoteles; es gibt auch viele Leute in der Stadt, die durchaus keinen Begriff von diesen Philosophen haben und deßhalb doch recht gut leben. Im Allgemeinen muß man das Studium der Alten nicht zu weit treiben; unsere Kenntniß von dem, was ehemals geschehen, verhindert uns oft, über die Gegenwart recht im Klaren zu sein.
Nicolle sah bald ein, daß sie mit Jakob kein Herz, was willst du mehr, erheirathet, sondern einen Mann nach dem Sprüchwort:
Ein Apfel, außen schön und fein.
Kann innen faul und wurmig sein.
bekommen habe, denn der schöne Bauer war zwar nicht wurmig, aber langsam, träge, gleichgültig, kurz – faul im vollsten Sinne des Wortes. Drei Tage nach der Hochzeit seufzte Nicolle schon, wenn man ihr zu ihrer Wahl gratulirte.
Aber Frimousset besaß jene Bosheit der Landleute, die ihre wahren Neigungen und ihre Fehler unter einer erheuchelten Miene von Gutmüthigkeit und Freimüthigkeit zu verbergen wissen und dadurch viele Menschen täuschen. Seine Frau war lebhaft, rasch, arbeitsam; er hatte nicht lange gebraucht, um ihren Charakter kennen zu lernen. Weit entfernt, sie in irgend etwas zu ärgern, schien Frimousset der fügsamste, gehorsamste Mann im Dorfe; allein er trieb seine Abhängigkeit so weit, daß sie Nicollen lästig zu werden anfing, und darauf hatte er gezählt.
So sagte Jakob eines Morgens, während seine Frau die Haushaltungsgeschäfte besorgte, nachdem er gehörig gefrühstückt hatte, zu seiner Ehehälfte:
»Was soll ich jetzt thun, Nicolle?« Und Nicolle erwiderte lebhaft:
»Ich glaube nicht, daß es uns an Geschäften fehlt! muß nicht unser Feld gepflügt, das Stück Land an der Straße umgebrochen ... die Wiese gemäht ... und der Garten eingesäet werden? ... gibt es da nichts, zu thun?«
»Ja, ja!« entgegnete Frimousset kopfschüttelnd, »ich weiß wohl, daß es nicht an Geschäft fehlt ... aber mit was soll ich anfangen ... mit dem Felde ... der Wiese ... dem Stück Land, oder dem Garten? ... Du sollst mir's sagen ... Du weißt wohl, daß ich nur Deinen Willen thun will.«
»Warum nicht gar! Das ist eine Dummheit ... hast Du nicht Verstand genug, um einzusehen, was am Nöthigsten ist?« ...
»Nein, ich sage Dir ja ... Du sollst mir befehlen, was ich thun soll ...ich will mich daran gewöhnen, Weibchen, Dir zu gehorchen.«
»Thu, was Du willst, und laß mich in Frieden.«
Mehr verlangte Frimousset nicht; wenn er mit seiner Sanftheit seine Frau genug gelangweilt hatte, so verfehlte diese nie, zu sagen: »thu, was Du willst, und laß mich in Frieden!« Deßhalb that Nicolle's Mann, gar nichts, sondern ging in die Kneipe, wo er seinen Tag zubrachte. Seine Frau suchte ihn vergebens auf der Wiese und im Garten, und wenn er Abends zum Nachtessen nach Hause kam, fragte sie ihn:
»Wo hast Du denn gearbeitet, ich habe Dich nirgends gefunden?«
Dann antwortete Jakob mit süßlichem Tone:
»Mein Herz« ... Du wolltest mir nicht sagen, mit welchem Geschäft ich den Anfang machen sollte ... ich fürchtete, irgend eine Dummheit zu begehen ... und wollte nichts thun ohne Deinen Auftrag.«
Mit einem hartnäckigen Schelme, von Herrn Frimoussets Schlag, wird es nicht lange anstehen, daß der Wohlstand, den man hat, der Dürftigkeit und dann dem Elend Platz machen muß; sowohl bei Niedern, als bei Großen gibt es kein Vermögen, das nicht durch Unordnung zu Grunde gerichtet werden könnte. Nach fünfjährigem Ehestande war Nicolle genöthigt, ihren Acker und ihre Wiese zu verkaufen, und zwar bloß deßhalb, weil Herr Jakob, wenn es zur Arbeit ging, niemals wußte, – wo er anfangen sollte.
Indessen hatte sich die Familie um drei kleine, gesunde, eßlustige Knaben vermehrt. Es scheint, daß die Hausfrau in gewissen Punkten nicht immer zu ihrem Gatten sagte: »laß mich in Frieden oder thu', was Du willst,« sondern daß sie ihm alsdann genau die Arbeit anzuweisen wußte, welche er vornehmen sollte; allein drei Kinder mehr und einige Stücke Land weniger waren nicht im Stande, das gute Auskommen in Frimoussets Wohnung zurückzuführen. Deßhalb kam Nicollen der Gedanke, sich als Amme zu verdingen, und da die Bäuerin eben so viel Lebhaftigkeit und Entschlossenheit besaß, als ihr Gatte Faulheit und Gleichgültigkeit, so war ihr Plan bald ausgeführt.
Darum hatte Jasmin, als er in der Sanct-Appolinenstraße aufs Ammenbüreau ging, dort die Bäuerin von Gagny gefunden, die er wegen ihres guten Aussehens erwählt und im Triumphe seinem Herrn, dem Marquis von Grandvilain, zugeführt hatte.
Nicolle war eine brave Frau, sie fühlte eine aufrichtige Zuneigung zu dem ihr anvertrauten Kinde; sie nahm es auf die Arme, sobald es weinte; sie wurde nicht müde, ihm ihre Brust zu reichen und es in ihren Armen zu wiegen; sie trug auch Sorge, daß es immer hübsch, rein und sauber gewaschen war; allein die Bäuerin war auch Mutter, sie hatte selbst drei Jungen, und trotz der Anhänglichkeit, die sie für ihren Säugling hegte, gab sie doch diesen Jungen die Bonbons, Confekte, Biskuits und Zuckerbrode, mit denen die Frau Marquisin von Grandvilain sie reichlich zu versehen nicht vergessen und ihr dabei den Auftrag ertheilt hatte, dieselben nicht zu sparen und Cherubin nie etwas zu verweigern, sondern wieder andere Süßigkeiten zu begehren, wenn diese aufgegessen wären.
Zum Glück für Cherubin befolgte Nicolle ihre Anweisungen nicht buchstäblich.
Da man Mutter ist, ehe man Amme wird, so mußte die Bäuerin natürlich ihren Kindern vor dem Kostkinde den Vorzug geben. Sie reichte diesem die Brust, während die andern sich mit Leckereien, Süßigkeiten und Zuckerbroden vollstopften, was in kurzer Zeit einen nachtheiligen Einfluß auf ihre Gesundheit ausübte, während im Gegentheile der kleine Grandvilain frisch, rosig, dick und gesund wurde.
Die Ankunft des Säuglings brachte wieder Wohlhabenheit in Frimoussets Haus. Nicolle hatte nur dreißig Franken monatlich verlangt; aber der Marquis sagte hierauf:
»Wenn mein Sohn gedeiht, und seine Gesundheit wieder erhält, so gebe ich Euch das Doppelte!«
Und die Marquisin fügte hinzu:
»Fordert von mir, was Ihr an Spezereien und Kleidern braucht, Alles, was mein Sohn nöthig hat; es soll Euch sogleich verabreicht werden?«
Und Jakob, der mehr als jemals Zeit zum Faullenzen und Wirthshauslaufen hatte, weil seine mit ihrem Säugling beschäftigte Frau ihren Mann nicht beaufsichtigen konnte, rief alle Tage aus:
»Meiner Treu, Nicolle, Du hast einen sehr guten Gedanken gehabt, Säugamme zu werden! Wenn Du noch drei oder vier solche Püppchen zu säugen hättest, dann hätten wir erst unser bequemes Auskommen!«
Und die kleinen Milchbrüder Cherubins, die nichts mehr thaten, als Leckerbissen und Zuckerbackwerk essen, schwammen auch im Entzücken, einen Säugling bei ihrer Mutter zu wissen, der ihnen so viele gute Sachen verschaffte (in Folge deren sie fortwährenden offenen Leib hatten).
Erst sechs Wochen waren es, seit Cherubin sich bei der Amme befand, als an einem schönen Herbsttage eine prächtige Equipaqe auf dem Markte des Dorfes Gagny, welches nicht gerade der schönste Platz ist, obgleich man dort die Hauptwache hin verlegt hatte, anhielt.
Ein Gefährt, das nicht vollkommen einem Karren gleicht, ist immer ein Ereigniß in einem Dorfe. Schon hatten sich fünf bis sechs alte Weiber, einige Greise, mehrere Bauern und eine Menge Kinder um die Equipage versammelt, die sie neugierig betrachteten, als der Kutschenschlag aufging und sich der Kopf eines Mannes zeigte.
Alsbald entstand ein dumpfes Gemurmel und anhaltendes Hohngelächter unter den Neugierigen, und folgende, eben nicht leise ausgesprochene Worte ließen sich vernehmen:
»Ach! wie häßlich er ist! ... – O! dieses Angesicht! ... – Darf man so abscheulich sein, wenn man eine Chaise hat? – Da will ich lieber noch zu Fuße gehen! ... – Der ist auch nicht geimpft worden! ...« und noch andere Bemerkungen ähnlicher Art, die leicht zu den Ohren dessen, dem sie galten, dringen konnten, artigerweise aber nur im Stillen hätten gemacht werden sollen; allein Höflichkeit ist nicht die Haupttugend der Bauern in der Umgegend von Paris.
Glücklicherweise war der, welcher den Kopf aus dem Kutschenschlag streckte, etwas harthörig und überdies kein Mann, der sich solcher Albernheiten wegen ärgerte, er richtete sogar im Gegentheil, mit freundlicher Miene die Gesellschaft begrüßend, folgende Worte an sie:
»Wer von euch, gute Leute, könnte mir die Wohnung der Nicolle Frimousset zeigen ... ich weiß zwar, daß sie in einer Straße ist, die auf den Marktplatz führt ... aber weiter weiß ich nicht.« »Nicolle Frimousset!« sagte ein halbbetrunkener Bauer, der eben aus einer Schenke kam und sich anschickte, in eine andere einzutreten. »Das ist mein Weib ... die Nicolle ... ich bin Jakob Frimousset, ihr Mann ... was wollt Ihr von meinem Weibe?«
»Was wir von ihr wollen? Potztausend, wir wollen den kleinen Knaben sehen, den wir ihr anvertraut haben, und uns erkundigen, wie sich das liebe Kind befindet.«
»Ach! das ist der Herr Marquis,« schrie Jakob, seinen Hut abnehmend und mehrere Kinder zu Boden werfend, um sich schneller dem Gefährte zu nähern. »Ach! entschuldigen Sie, Herr Marquis! ... ich kannte Sie nicht ... ich will Ihnen den Weg zeigen ... dort ist unsere Straße ... dort neben ... es geht bergauf ... aber Sie haben gute Pferde ...«
Und Jakob fängt an, vor der Chaise herzutaumeln und schreit, während er zu tanzen versucht, aus vollem Halse: »Da ist der Vater des kleinen Cherubin! ... Da ist der Marquis von Grandvilain, der uns besucht! ... ich werde seine Gesundheit trinken!«
Der in der Chaise entgegnete seinerseits:
»Nein, ich bin nicht der Marquis, ich bin Jasmin, sein erster Kammerdiener ... und das Frauenzimmer, das mich begleitet, ist nicht die Frau Marquisin ... sondern Turlurette ... ihre Kammerfrau ... das ist aber einerlei ... zwischen uns und unserer Herrschaft ist durchaus kein Unterschied.«
»Ihr sagt eine Dummheit, Jasmin,« wendete Turlurette ein, ihrem Reisegefährten einen Stoß gebend, »wie, zwischen unserer Herrschaft und uns sei kein Unterschied?«
»Ich verstehe das nur in Beziehung auf das Kind, das wir zu besuchen kommen ... Man schickt uns, um uns nach dem Zustand seiner Gesundheit zu erkundigen ... können wir das nicht eben so gut sehen, als unsere Herrschaft? ... und sogar noch besser, denn wir haben bessere Augen als sie! ...«
»Ihr sprecht mit sehr wenig Achtung von Eurer Herrschaft, Herr Jasmin.«
»Mamsell, ich achte und verehre dieselbe ... das hindert mich aber nicht an der Behauptung, daß sie beide in einem erbärmlichen Zustande sind ... welch' armselige Gerippe! ... sie dauern mich! ...«
»Nun, schweigen Sie, Herr Jasmin, wir sind an Ort und Stelle.«
Das Gefährt hielt vor Frimoussets Hause. Schon hatte Jakobs Geschrei Alles in Bewegung gesetzt ...
»Das sind Cherubins Eltern,« sagte man von allen Seiten; die kleinen Jungen sprangen der Chaise entgegen, Jakob ging in den Keller, um Wein zu holen, womit er der Gesellschaft aufwarten wollte, während Nicolle eiligst ihren Säugling wusch und schnäuzte, ihn auf ihre Arme nahm und ihn Jasmin und Turluretten im Augenblicke, als sie aus dem Wagen stiegen, mit dem Zuruf entgegenbrachte: »Da haben Sie ihn, gnädiger Herr und gnädige Frau ... küssen Sie ihn ... und sehen Sie, wie gesund er ist! ... Ach! ich schmeichle mir, daß er nicht so hübsch war, als Sie mir ihn übergaben! ...«
»Es ist wahr! ... er ist wunderhübsch!« sagte Jasmin, das Kind küssend.
»Es ist ihm so wohl wie einer Hagebuche!« sagte Turlurette, den kleinen Cherubin nach allen Seiten drehend und wendend.
Aber während man ihren Säugling bewunderte, hatte Nicolle Zeit, sich zu fassen, betrachtete Jasmin und Turlurette genauer und rief aus:.
»Ei! aber ... es kommt mir vor, wie wenn das nicht der gnädige Herr und die gnädige Frau, der Herr Vater und die Frau Mutter wären ... Wahrhaftig! ich erkenne diesen Herrn an seiner rothen Nase und seinem verhackten Gesichte ... er hat mich auf dem Büreau geholt und auserwählt.«
»Ja, Amme, Ihr irrt Euch nicht,« entgegnete Jasmin, »ich bin nicht mein Herr ... ich wollte sagen, ich bin nicht der Marquis, das habe ich auch Eurem Manne zugerufen, aber er wollte mich nicht anhören; das thut übrigens nichts, man hat uns geschickt, Turluretten und mich, um uns von der Gesundheit des jungen Grandvilain zu überzeugen, und dem Herrn Marquis und seiner Gemahlin Bericht darüber zu erstatten.«
»Ihr seid stets willkommen,« erwiderte Nicolle ...
»Dann werdet Ihr's nicht verschmähen, unsern Wein zu versuchen und Euch zu erfrischen!« rief Jakob aus, indem er einen großen, bis an den Rand gefüllten Topf mit Wein herbeischleppte.
»Ich habe niemals ein Glas Wein ausgeschlagen und erfrische mich allzeit gerne, auch wenn ich nicht heiß habe,« antwortete Jasmin; »aber zuerst will ich genau die Befehle meines theuern Gebieters vollziehen ... Amme, seit so gut, wickelt das Kind auf und zeigt es mir ganz nackt, damit ich mich überzeugen kann, daß es von oben bis unten, Alles inbegriffen, in gutem Zustande ist.«
»Ei, mein Gott! trinkt und laßt uns in Frieden, das ist mein Geschäft!« sagte Mamsell Turlurette, das Kind in ihren Armen behaltend.
»Mamsell, ich hindere Sie nicht daran, das Kind gleichfalls zu betrachten, aber ich weiß, was mein Herr mir befohlen hat, und ich will ihm gehorchen ... gebt mir den Cherubin, ich will einen nackten Amor aus ihm machen.«
»Ich gebe ihn Ihnen nicht ...«
»Dann werde ich ihn zu nehmen wissen!«
»Kommen Sie, wenn Sie Lust haben!«
Jasmin springt mit einem Satz auf das Kind zu, aber Turlurette läßt es nicht los, jedes reißt es zu sich her; Cherubin schreit; aber die Amme, welche dieser Nachahmung von Salomo 's Urtheil ein Ende machen will, ergreift geschickt das Kind, kleidet es in einem Augenblick aus, präsentirt es alsdann den beiden Dienstboten und läßt sie das kleine, runde, sammtene Hintertheil ihres Säuglings küssen mit dem Ausrufe:
»Nun? ... ist das nicht hübsch! ah! Ihr möchtet wohl auch ein solches haben! ... aber prosit die Mahlzeit!«
Die Handlung der Amme hat bei der Dienerschaft des Hauses Grandvilain die gute Stimmung wieder hergestellt und den Frieden geschlossen; Turlurette hört nicht auf, das Kind ihrer Herrschaft zu küssen. Jasmin nimmt eine große Prise Tabak, setzt sich dann an einen Tisch und spricht:
»Ja, ja. Alles ist in Ordnung ... wir haben da einen herrlichen Sprößling, nun wollen wir Euern Wein versuchen, Pflegvater!«
Jakob schenkt eifrig ein, stößt an und schenkt wieder ein, so daß Jasmin eben so zufrieden mit dem Pflegvater, als mit der Amme ist.
»Warum sind aber der Herr und die Frau Marquisin nicht selbst gekommen?« fragte Nicolle.
»Ach,« entgegnete Turlurette seufzend, »meine arme Gebieterin ist nicht wohl; seit sie säugen wollte, ging's schlimm ... und jetzt, seit sie nicht mehr säugt, geht's noch schlimmer! ...«
»Ich hatte mich doch angetragen, unseres Cherubins Stelle zu vertreten, um unserer Gebieterin Erleichterung zu verschaffen!« murmelte Jasmin, während er ein großes Glas Krätzer leerte.
»Mein Gott, Herr Jasmin, Sie fangen wieder an Dummheiten zu sagen,« entgegnete Turlurette, »das wäre nicht übel, wenn die gnädige Frau Sie gesäugt hätte ...«
»Nun! ... wenn es auf Befehl der Aerzte geschieht ... ich habe eine Dame gekannt, die mehrere Katzen und zwei Kaninchen säugte, weil sie zu viel Milch hatte ...«
»Verschonen Sie uns mit Ihren Geschichten! ... kurz, meine Gebieterin ist sehr schwach, sie kann das Zimmer nicht verlassen, oh! wäre das nicht der Fall, so wäre sie schon längst gekommen, ihren theuren Kleinen, von dem sie fortwährend spricht, zu umarmen.«
»Was den Herrn Marquis betrifft, der hat die Gicht in den Fersen, das hindert ihn ungemein am Gehen,« sagte Jasmin. »Ich habe ihm zwar ein Mittel vorgeschlagen, nämlich, sich auf den Zehenspitzen zu halten und die Fersen nicht auf den Boden zu bringen, er hat's probirt ... aber nachdem er einige Schritte gemacht ... plumps! gehorsamer Diener, da lag er der Länge nach auf dem Boden; seither hat er es nicht mehr versucht; darum hat man uns hierher geschickt; und seid nur zufrieden, wir werden treulich erzählen, was wir gesehen ... Ihr habt unserem Sohn das Leben wieder gegeben! Ihr seid wackere Leute! Auf Eure Gesundheit Pflegvater, Euer Wein kratzt in der Kehle ... ist aber sonst nicht unangenehm, er hat entfernte Aehnlichkeit mit dem Bordeaux.«
Während Jasmin trank und schwatzte, holte Turlurette Alles aus der Chaise, was ihre Gebieterin der Amme bestimmt hatte. Das waren Geschenke jeder Art, Zucker, Kaffee, Kleider und sogar Spielzeug für die Milchbrüder Cherubin's. Das niedere Zimmer, worin sich gewöhnlich die Landleute aufhalten, konnte kaum Alles, was aus dem Wagen herauskam, fassen. Die kleinen Frimoussets machten aber auch Bockssprünge, stießen Freudentöne aus und wälzten sich auf dem Boden beim Anblick dieser schönen Sachen, und Nicolle wiederholte jeden Augenblick:
»Die Frau Marquisin ist sehr gütig! ... sie kann sich aber auch darauf verlassen, daß ihr Sohn all' diese Leckerbissen verschlucken wird ... meine Jungen sollen sie nicht berühren! denen ist übrigens auch der Speck lieber.«
Jasmin fühlte sich sehr wohl bei Jakob; Turlurette sah sich genöthigt, ihn daran zu erinnern, daß ihre Herrschaft mit Ungeduld auf ihre Rückkehr harre. Beide Dienstboten verabschiedeten sich von den Landleuten, küßten den kleinen Cherubin noch einmal, diesmal aber ins Gesicht, und stiegen in den Wagen ihrer Herrschaft, der sie in kurzer Zeit nach Paris zurückführte.
Die Marquisin erwartete die Zurückkunft ihrer Leute mit jener Angst einer Mutter, die für die Tage des einzigen Kindes fürchtet, das der Himmel ihr gewährt hat. Und trotz der Gicht schleppte sich Herr von Grandvilain von Zeit zu Zeit an sein Fenster, um nachzusehen, ob er nicht in der Ferne seine rückkehrende Chaise bemerke.
Die jüngere und raschere Turlurette war Jasmin vorangeeilt, sie trat mit freudestrahlendem Antlitz ein; ihre Miene verkündete schon, daß sie gute Nachrichten zu überbringen habe.
»Prächtig, gnädige Frau! ... eine herrliche Gesundheit! ein herrliches Kind! o! man erkennt es gar nicht mehr ... es war so schmächtig, als es fortkam! jetzt ist es dick und stark wie ein Fels.«
»Wahrhaftig? Turlurette!« rief die Marquisin aus. »Du täuschest uns nicht?«
»O! gnädige Frau, fragen Sie nur Jasmin, der eben kommt.«
Jasmin kam gerade, schnaufend wie ein Ochse, denn er hatte es versuchen wollen, eben so schnell wie Turlurette die Treppe heraufzuspringen; er trat näher, begrüßte seine Herrschaft mit Würde und sprach:
»Unser junger Marquis ist in einem sehr blühenden Zustande, ich hatte die Ehre, ihm den Hintern zu küssen ... ich bitte um Entschuldigung, daß ich mir diese Freiheit genommen ... es ist aber ein so schönes ... so gut gehaltenes Kind ... daß ich behaupte, die Familie Frimousset ist unseres Zutrauens würdig, und man kann die Amme und ihren Mann nur loben.«
Diese Worte verbreiteten Freudigkeit in des Marquis Hause. Cherubins Mutter nahm sich vor, sobald ihre Gesundheit wieder hergestellt sei, nach Gagny zu reisen und ihren Sohn zu besuchen, und der Herr Marquis von Grandvilain schwur dasselbe, sobald die Gicht von seinen Fersen gewichen sei.