Paul de Kock
Der Mann mit drei Hosen
Paul de Kock

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Erstes Kapitel.

Paris im Jahr II. der Republik

Es war im Monat Ventose im Jahr II. der französischen Republik, was vielen Leuten nicht so verständlich klang, als: es war der Monat März im Jahre 1794.

Die Witterung war düster, regnerisch und verdrießlich; es schlug in der kleinen, nach dem Hofe gehenden Parterrestube eines Hauses in der Straße Poissonnière eben vier auf einer hölzernen Uhr, und kaum sah man in diesem kleinen Gemache noch hell genug, um die nächsten Gegenstände zu unterscheiden.

Neben einem Kamin, worin ein schwaches Feuer brannte, saß eine etwa fünfzigjährige Frau, mit der Ausbesserung einer Mannsjacke beschäftigt. Der Anzug dieser Frau war einfach und beinahe armselig, allein die außerordentliche Reinlichkeit desselben hob ihn etwas hervor. Er bestand aus einem dunkeln Kattunkleide, einer schwarz und rothgestreiften Schürze und einer großen Haube mit Backenstreifen, wie sie zur Zeit der Republik beinahe alle Frauen trugen.

Das blasse, abgemagerte Angesicht dieser Frau schien eine kaum überstandene Krankheit anzudeuten, und ihr schwermüthiger Blick zeigte an, daß bei ihr die Leiden des Gemüths mit denen des Körpers sich vereinten. Zuweilen jedoch zwang sie sich zu einem Lächeln, und ihr Antlitz wurde ein wenig heiterer, wenn ihre Blicke auf einem jungen Manne ruhten, der auf der andern Seite des Kamins saß.

Derselbe war ein einundzwanzigjähriger großer, magerer aber wohlgestalteter Jüngling, dessen ganzes Wesen mehr bedeutete, als von seinem Alter zu erwarten gewesen wäre; die dunkelbraune Gesichtsfarbe, die pechschwarzen Haare und Augen verliehen seiner Physiognomie auf den ersten Anblick etwas Ernstes, sogar Hartes; allein bei längerer Betrachtung seines antikgeschnittenen Profils und aller seiner Züge, deren männlicher Ausdruck ihrer Schönheit keinen Eintrag that, konnte man nicht läugnen, daß dieser Mann einige Ähnlichkeit mit den auf uns gekommenen Abbildungen der römischen und atheniensischen Helden habe.

Der schone Jüngling hielt ein Buch in der Hand und las; er war mit einer weiten, grautuchenen Hose und einer Weste mit breiten Klappen bekleidet, trug blaue Strümpfe und plumpe Schuhe; zu seinem vollständigen Anzuge fehlte nichts als die Jacke, oder vielmehr die Carmagnole, die man neben ihm flickte.

Der junge Mann legte sein Buch auf die Kamineinfassung blickte die gute, ihm gegenübersitzende Frau an und sagte zu ihr:

»Sie sehen nicht mehr, Mutter. Sie verderben sich die Augen!«

»O! ich sehe noch genug, mein lieber Maximus, ich möchte die Jacke geschwind vollends fertig machen, denn Du hast keine andere und mußt frieren in Hemdärmeln.«

»Lassen Sie sich Zeit, es ist hier nicht kalt. Ich bin allerdings Willens, heute Abend auszugehen; aber ich habe noch eine andere Carmagnole ... die übrigens, glaub' ich, noch schlechter ist, als diese.«

»Wie, Maximus, Du willst diesen Abend ausgehen? ... ich hoffte, Du werdest bei mir bleiben.«

»Das kann nicht sein, Mutter, ich habe in der Druckerei zu thun, und der Bürger Hebert würde mich morgen zanken, wenn ich nicht dort gewesen wäre ... er verläßt sich ganz auf mich wegen der Korrektur seines Blattes!«

»Ach, ja! des Journals Le Père Duchesne!« entgegnete die Mutter des jungen Mannes mit Achselzucken; »das ist auch so ein sauberes Journal! das nur Mord, Blut und Metzelei predigt! ... «

»Um Gottes Willen, schweigen Sie Mutter ... Schweigen Sie! wenn man Sie hörte, wären Sie verloren! ...«

Mit diesen Worten war der junge Mann aufgestanden und schaute rings um sich her, ja, er öffnete sogar eines der auf den Hof hinausgehenden Fenster, um sich zu überzeugen, daß Niemand in der Nähe sei: denn vom Hof aus hätte man leicht verstehen können, was im Zimmer des Erdgeschosses gesprochen wurde.

Allein es regnete zu stark, es war zu schlechtes Wetter, als daß Jemand Lust gehabt hätte, sich außerhalb aufzuhalten. Maximus machte beruhigt das Fenster wieder zu und kehrte auf den Sitz neben seiner Mutter zurück, zu welcher er in sanfterem Tone sagte:

»Zudem wissen Sie, liebe Mutter, daß Sie nichts von der Politik verstehen ... auch hatten Sie mir versprochen, sich nicht mehr um diese Geschichten zu bekümmern ...«

»Gewiß, mein Freund, maße ich mir nicht an, etwas von den großen Interessen des Staates zu verstehen ... aber es gibt Dinge, zu deren richtiger Beurtheilung man nur sein Herz und sein Gewissen befragen darf! Wie kannst Du verlangen, man solle sich in unserer gegenwärtigen Zeit nicht um Politik bekümmern ... wo doch Jedermann davon spricht ... Jeder in unserer Umgebung nach seiner Weise eine Regierung träumt und bildet, wo man jeden Augenblick eine neue Verhaftung oder ein neues Todesurtheil erfährt, wo man für sich selbst und all' seine Lieben zittert, wo man nicht seine Wohnung zu verlassen wagt aus Furcht, irgend einem blutigen Karren, oder einigen blutdürstigen Menschen zu begegnen, die auf Piken die Köpfe ihrer Opfer einhertragen ...«

»Liebe Mutter! liebe Mutter! Sie übertreiben!«

»Ach! nein, mein Freund! ich spreche nur von dem, was wirklich ist ... was wir Alle gesehen haben. O! ich weiß wohl, daß Du ein Republikaner bist, Maximus, ich weiß wohl, daß Du Dein Blut für Dein Vaterland verspritzen würdest, um Frankreich frei, stolz und unabhängig zu sehen! Ich weiß wohl, daß Du im Jahre neunundachtzig vor Freude Thränen vergossen hast, und doch warst Du damals erst sechzehn Jahre alt, aber gleichviel, Du hast vor Freude über die schöne Antwort Mirabeau's geweint, als man die Versammlung der Generalstaaten auflösen wollte. Ach! wenn alle Republikaner Dir glichen, so würde Niemand erzittern als die Strafbaren, und der Schrecken würde nicht in Paris und ganz Frankreich herrschen! O! Du weißt es auch, denn seit einiger Zeit bist Du traurig und mißvergnügt, weil Du siehst, daß es nicht geht, wie Du und so viele Andere gehofft hatten.«

»Allerdings, Mutter, sah ich mit Betrübniß die Excesse, denen man sich hingab ... sah ich Rachegedanken und schmutzige Berechnungen die Stelle der Gerechtigkeit einnehmen ... rohe Menschen oder tolle Köpfe sich der Gewalt bemächtigen; allein was wollen Sie? eine Revolution kann nicht ohne Uebertreibung und Mißbrauch zu Stande kommen! Das war zu allen Zeiten so!«

»Das Beispiel Anderer hätte zu eurer Besserung dienen sollen. Die Engländer erröthen über den Mord ihres Königs ... und ihr habt den eurigen hingerichtet, als ob es euch darum zu thun gewesen wäre, die Hälfte ihrer Schande zu übernehmen!«

Stille! stille! o! schweigen Sie, ich bitte Sie ... und geben Sie mir meine Carmagnole, damit ich die Korrektur des Père Duchesne besorgen kann! Ach! Mutter, hätte ich nicht in Ihrer Nähe bleiben wollen, so fühle ich wohl, daß es mir mehr Vergnügen gemacht hätte, gegen die Fremden, die unsere Grenzen bedrohen, ins Feld zu ziehen, wie als Faktor in einer Druckerei zu sein! Alle Männer meines Alters sind zum Aufgebot abgegangen ... und ich ... durfte durch die Verwendung des Bürgers Hebert zurückbleiben ... Ach! ich schäme mich dessen zuweilen!«

»Was sprichst Du da? Du schämst Dich bei Deiner Mutter zurückgeblieben zu sein, um sie durch Deine Arbeit zu nähren ... denn ohne Dich äße ich nur trockenes Brod ... und das nicht alle Tage. Dein Vater, der gute Bertholin, hatte eine Stelle im Marineministerium, die zu unserem Unterhalte und Deiner Erziehung hinreichte; denn, Gott sei Dank, Du hast eine gute Erziehung genossen! Allein Dein Vater ist vor sechs Jahren gestorben, und die mir als seiner Wittwe ausbezahlte Pension seit der Revolution aufgehoben worden. Aber Du bist gelehrt! Du verstehst das Griechische, Lateinische und die Geschichte und hast ohne Schwierigkeiten einen Platz in einer Druckerei gefunden, wo man Dich liebt und sogar hochschätzt; denn man kennt die Reinheit Deiner Grundsätze ... Man weiß, daß Du ein Republikaner, aber kein Terrorist bist. O! was das anbetrifft, ist Dein Betragen tadellos. Und Du wolltest Dich von mir entfernen ... Deine Stelle und Deine arme Mutter verlassen, um in den Krieg zu gehen und Dich umbringen zu lassen? Ach! Maximus! das ist sehr unrecht, und ich kann nicht begreifen, daß man sich schämen könne, seiner Mutter Stütze und Schutz zu sein.«

Am Schlusse dieser Worte wendete Frau Bertholin ihr Gesicht ab, um einige aus ihren Augen fallende Thränen zu verbergen; aber Maximus stand eilig auf, küßte seine Mutter und sagte: »Nun denn ... ich hatte Unrecht ... verzeihen Sie mir ... verzeihen Sie mir ... und vergessen Sie es ...« – Du willst nicht mehr davon reden, mich zu verlassen und Soldat zu werden?« ... – »Nein ... nein, ich werde bei Ihnen bleiben ... aber geben Sie mir meine Carmagnole, damit ich in die Druckerei gehen kann.«

Maximus hatte die Jacke angezogen und schickte sich eben zum Weggehen an, als man mehrmals an die Thüre pochte, und sich von einer weiblichen Stimme folgende Worte dabei vernehmen ließen: »Bürgerin Bertholin ... ich bin's, Euphrasia Picotin-Horatius.« – Die Bürgerin Picotin steckt doch immer im Hause,« sagte Maximus kopfschüttelnd; »es kommt mir vor, als ob sie alle Tage da sei. – »Sie schwatzt gerne ... es scheint auch, sie habe daheim nicht viel zu thun ... und dann ...«

Mutter Bertholin vollendete ihren Satz nicht, sondern blickte lächelnd ihren Sohn an. Dieser öffnete die Thüre, und eine neunzehnjährige hübsche, runde, rosige Frau mit lebhaftem Blicke und heiterer Miene trat alsbald in's Zimmer. Ihre Kleidung war so elegant, als es die damalige Mode gestattete, aber sie verrieth einen schlechten Geschmack, es war eine Ueberladung mit allen Gegenständen, welche die Frauen anlegten um zu gleicher Zeit als Patriotinnen und Stutzerinnen zu glänzen. So hatte diese junge Dame an ihrer Haube mit Backenstreifen breite Spitzenschleifen und eine große, ziemlich kokett auf die Seite geheftete Kokarde; ihr Rock war sehr kurz und ließ ein hübsches rundes Bein und einen wohlgeformten Fuß wahrnehmen; dabei gestattete, ihr vorn und hinten weit ausgeschnittenes Kleid, ihren üppigen Rücken und ihre fleischigen Schultern zu bewundern, und die Augen zwischen zwei Alabasterkugeln zu versenken, die sich nicht scheuten, sich am hellen Tage sehen zu lassen.

Die junge Frau trat ganz ungezwungen in's Zimmer herein und rief aus: »Guten Tag, Bürgerin! befindest Du Dich besser? guten Tag, Bürger Maximus, ich hatte schon lange nicht mehr das Vergnügen, Dich zu treffen.«

Diese Worte waren von einem sehr anmuthigen, gegen den jungen Mann gerichteten Lächeln begleitet; dieser schien jedoch nicht darauf zu achten, sondern antwortete einfach: »Du hast mich doch meines Wissens vorgestern hier gesehen, Bürgerin ...« – Vorgestern ... glaubst Du? ... war's am Nonidi oder Octidi ... nein, ich glaube es war am Decadi ... bin ich am Decadi da gewesen, Bürgerin? – »Ich erinnere mich dessen nicht mehr ... Auch verwirren mich diese neuen Namen alle ... ich finde mich niemals zurecht.« – Wahrhaftig, Bürgerin, Dir geht's wie meinem Manne, dem armen Picotin-Horatius, ihn verwirrt Alles! glücklicherweise bring' ich ihn allemal wieder auf den rechten Weg ... ich habe zum Glücke Kopf für uns Beide! Ach! Picotin wurde nicht für Handelsgeschäfte geboren ... und ich besinne mich immer noch, wozu er eigentlich geboren wurde ... – »Sag ihm viel Schönes von mir, Bürgerin,« versetzte Maximus, im Begriffe, sich zu entfernen. – »Wie, Bürger Maximus, Du gehst fort?« sagte die junge Frau in etwas beleidigtem Tone; »bin ich vielleicht Schuld, daß Du so schnell durchgehst? ... – »O! nein, aber die Geschäfte der Druckerei ...« – Mein Mann wollte Dich sprechen ... er will Dich in Betreff seines Schildes, den er verändern will, um Etwas befragen und wünscht Deinen Rath zu hören ... Er weiß, daß dieser immer gut ist. Dann bin ich auch Deinem Freund Roger begegnet; er geht morgen zur Armee ab und will Dir vor seiner Abreise Lebewohl sagen ... – »So will ich mich beeilen, damit ich bald wieder zurückkehre ... Liebe Mutter, wenn Roger kommt, so heiße ihn warten; es würde mir sehr leid thun, wenn er ohne Kuß von mir abreisen würde. Auf Wiedersehen, Bürgerin!«

Mit diesen Worten nahm Maximus einen runden Hut, worauf die Nationalkokarde steckte, und entfernte sich, seiner Mutter zum Abschiede noch einmal zulächelnd.

Während die gute Frau Bertholin, um ihrem Sohne nachzusehen, in einem Nebenzimmer das Fenster öffnete, welches auf die Straße ging, betrachtete sich Madame wohlgefällig in einem auf dem Kamine befindlichen kleinen Spiegel und sagte, indem sie ihre Haube zurechtsetzte: »Weißt Du, Bürgerin Bertholin, daß Dein Sohn ein recht hübscher Junge ... ein schöner wohlgestalteter Mann ist? Schade, daß er immer eine so ernste, finstere Miene hat ... er lacht nie ... das ist bei einem jungen Manne auffallend.« – Wir leben in einer Zeit, die nicht zum Lachen stimmt,« entgegnete Maximus' Mutter, sich wieder auf ihren Platz setzend. – »Ach was! ... wenn man immer traurig wäre, würde man mager werden und seine frische Farbe verlieren ... Ich halte viel auf meine Farbe, um so mehr, als ich die Hoffnung hege, bei dem ersten Nationalfeste, welches zu Ehren des höchsten Wesens veranstaltet wird, die Göttin der Freiheit darzustellen. Picotin-Horatius muß deßhalb eine Eingabe bei unserer Section machen.« – Was? ... Du willst die Freiheit darstellen!« rief Frau Bertholin aus, indem sie die junge Frau mit Staunen anblickte. – »Warum nicht? ... Ich bin, meine ich, hübsch und frei genug dazu ... und werde keine solche Freiheit in Lumpen sein, wie man sie schon herumgetragen hat.« – Und das Kostüm, das man anziehen muß, schreckt Dich nicht ab? – »Das Kostüm im Gegentheil verführt mich ... Es ist ein griechisches Kostüm, eine leichte Tunika und ein Mantel darüber her ... Ah! ich weiß wohl, daß man die Formen hindurch sieht, aber sogar wenn man sich nackt zeigen müßte, würde ich es, wenn es für die Nation geschähe, im Augenblicke thun ... O! ich bin eine echte Sansculottin!« – Ich merke es! Und Dein Mann? ... billigt er es, daß Du die Freiheit darstellen willst? – »Das möchte ich einmal sehen, daß er es nicht billigte! ... Ist es nicht eine Ehre? O! und hat der arme Picotin einen andern Willen als den meinigen? Er wird entzückt sein, wenn er seine Frau mit der phrygischen Mütze auf dem Kopfe in einem Wagen gezogen werden sieht! O! ich wollte, es wäre schon so weit.«

Damit hüpfte die junge Frau im Zimmer umher und sang:

»So wird es gehen, so wird es gehen!
Man klatscht mir zu, wird man mich sehen!«

Während Madame Picotin tanzte, erschallte eine Stimme von der Straße her: es war die des öffentlichen Ausrufers, der die neuen am Vorabend vom Revolutionstribunale ausgesprochenen Todesurtheile, deren Vollziehung im Laufe des Tages stattgefunden hatte, bekannt machte.

Die Mutter des Maximus war wieder in das Zimmer hineingegangen, dessen Fenster Aussicht auf die Straße gewährte, und horchte mit banger Sorge, sank aber gleich, nachdem sie den Namen Franz Bremont vernommen hatte, auf einen Stuhl zurück und flüsterte: »Franz Bremont! armer Mann! er auch ... Ach, mein Gott! wessen konnte man den Sechsundsiebzigjährigen doch beschuldigen?«

Euphrasia Picotin blieb auf einem Beine stehen, blickte Maximus' Mutter an, eilte, als sie diese in Thränen sah, auf sie zu und sagte mit ziemlich bewegter Stimme zu ihr: »Ist ein Bekannter von Ihnen darunter?«

»Ja, ein Greis, ein so braver Mann; er war der Freund, der Beschützer meines Gatten, und man hat ihn verurtheilt ...«

»O! unstreitig gehen Dinge vor ... die ... aber was wollen Sie machen? ... man darf nicht einmal sein Bedauern mit den Verurtheilten merken lassen, sonst würde man selbst für verdächtig gehalten, und vom Verdächtigsein bis zum Guillotinirtwerden ist es nicht sehr weit ... deßhalb stellt sich auch Picotin so eingenommen für die Republik, setzt eine rothe Mütze auf und trägt eine Carmagnole, darum hat er seinem Namen noch Horatius beigefügt und tobt gegen die Aristokraten ... Er fürchtet sich so sehr, der arme Mann!«

»Ah, das lasse ich mir gefallen,« entgegnete Mutter Bertholin, der jungen Frau die Hand drückend: »gesteht mir, daß Ihr das Alles aus Furcht thut, dann werde ich Euch wenigstens nicht verabscheuen!«

In diesem Augenblick ließ sich ein verworrener Lärm von der Straße her vernehmen: Geschrei, Gesang, unzusammenhängende Ausrufungen; bald kamen die Stimmen näher, und einhundert Personen kamen heulend und Freudenrufe ausstoßend, die aber eher Wuthschreien glichen, an. Es waren meist Männer mit entblößter Brust, in Lumpen gekleidet, und mit rothen Mützen auf dem Kopfe, wovon die Einen Säbel, die Andern Piken, Flinten oder Pistolen trugen; aber in ihrer Mitte sah man Weiber mit starrem Blicke, leichenblassem oder weingeröthetem Antlitze, deren Haare furienartig um ihre Schultern herumflatterten, ebenfalls bloße Säbel in den Lüften schwingend und noch lauter als die Männer schreiend ...

»An die Laterne mit den Aristokraten! an die Laterne! ...«

Diese schreckliche Gruppe umringte einen kleinen Greis in blauem Fracke mit gepuderten und durch eine Bandschleife geknüpften Haaren, der blaß und zitternd denen, die ihn arretirt hatten, begreiflich zu machen suchte, daß er kein Aristokrat sei, obgleich er sich pudere und einen Sammetkragen auf seinem Frack trage, und daß man einen Mann deßhalb, weil er im Verdacht stehe, verdächtig zu sein, noch nicht aufhängen müsse.

Wo die Wüthenden vorüberkamen, zogen sich eilends die Kaufleute in ihre Buden zurück, und fast alle geöffneten Fenster wurden zugemacht; aber Euphrasia Picotin blieb an dem Fenster stehen, und während Maximus' Mutter in das vordere Zimmer entfloh, um das sie angreifende Geschrei nicht zu hören, neigte sich die junge Frau zum Fenster hinaus, klatschte in ihre Hände und schrie:

»Ja, nieder mit den Aristokraten! Alles an die Laterne!«

Dieser Ausruf, der hätte mißdeutet werden können, entzückte im Gegentheil einen der Herrn mit den Piken, und da das Erdgeschoß, worin sich Euphrasia befand, nur einen Schuh über der Straße erhaben war, so näherte sich der Sansculotte dem Fenster und sagte zu der jungen Frau:

»Du bist ein braves M ... sch! Wahrhaftig, Du verstehst das gemeine Wesen ... willst Du mich küssen?«

»Mit Vergnügen, Bürger!« entgegnete Euphrasia, indem sie sich aus dem Fenster beugte, während sich der Sansculotte auf die Zehen stellte, um die frischen und rosigen Wangen zu erreichen, die man ihm darbot. Dann wurde ein sehr hörbarer Kuß auf das Gesicht der jungen Frau gedrückt, ihr eine Hand gegeben, und der Mann eilte seinen Genossen nach. Als er sich entfernt hatte, machte die Bürgerin Picotin das Fenster wieder zu, wischte sich ihre Wangen ab, und setzte sich mit einer Miene, in der sich durchaus keine Zufriedenheit mit dem eben empfangenen Ritterkusse ausdrückte, neben Frau Bertholin nieder.


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