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Siebentes Kapitel

Die Zeit verging, denn die Zeit bleibt nie stille stehen; sie entflieht dem Reichen wie dem Armen; die Zeit ist das wahre Perpetuum mobile.

Der kleine Greis huldigte fortwährend den Musen, deren Cultus ihm wenig eintrug; aber er hatte Niemand, mit dem er über das Theater sprechen, dem er seine Pläne auseinandersetzen und seine Bearbeitungen vorlesen konnte; oft dachte er an Jenny, welche ihm so gefällig zuhörte, als sie noch im sechsten Stocke wohnte.

»Ich bin überzeugt, sie würde mir noch mit Vergnügen zuhören,« sprach er manchmal in seinem Sinne; »denn ich muß gestehen, daß sie sich sehr freundschaftlich gegen mich benommen, und das Glück in Bezug auf mich keine Veränderung bei ihr hervorgebracht hat, aber ich will nicht mehr zu ihr gehen ... ich habe mir es vorgenommen; der Umgang mit ihr paßt nicht für mich!«

Allein trotz dieses Vorsatzes erinnerte sich der alte Lehrer stets an seine frühere Schülerin, in Alexandrins Jahren sind die Neigungen beständig, es stellt sich nicht plötzlich ein neues Gefühl ein, um ein altes zu verdrängen. Der kleine Greis that sein Möglichstes, um fest in seinem Entschlusse zu bleiben, nicht mehr zu Jenny zurückzukehren; aber dieser Entschluß wurde mit jedem Tage schwächer, und er fing bereits an, ihn mit Scheingründen zu bekämpfen. So warf er sich vor:

»Ich muß doch zugeben, daß ich mich ein wenig hart gegen dieses Mädchen benehme ... sie hat sich bei unserem letzten Zusammentreffen so gar freundschaftlich gegen mich gezeigt; auf dem Magdalenen-Blumenmarkt hat sie mich zu sich in den Wagen sitzen lassen ... und dann ihre Fehler so freimüthig eingestanden!

»Das ist wirklich eine seltene Sache, man trifft nicht leicht Jemand, der sein Unrecht offen bekennt.

»Und habe ich mir denn nichts vorzuwerfen? ... Ist es nicht auch theilweise meine Schuld, daß das junge Mädchen auf unrechte Wege gerathen ist und ihr Gewerbe als Coloristin aufgegeben hat? habe ich nicht zuerst ihre Neigung für's Theater erweckt und genährt? Ach! ja, ich hatte damals sehr Unrecht ... und jetzt sollte ich sie vergessen und mich nicht mehr um sie bekümmern? nein, nein!

»Ich will keinen nähern Umgang mit Frau von Saint-Eugène pflegen, das ist ganz in der Ordnung; aber nicht ein einziges Mal hinzugehen und mich nach dem Befinden der guten Jenny zu erkundigen, wäre doch auch nicht recht und zeugte von einem schlechten Herzen ... um so mehr, als ich sie bei unserer letzten Zusammenkunft sehr verändert, sehr abgemagert fand; es bleibt dabei, ich mache ihr einen Besuch, um zu hören, wie es mit ihrer Gesundheit steht, das kann gewiß nicht nachtheilig für mich sein.«

Und Herr Alexandrin machte sich eines Morgens, nachdem er seinen alten Rock so gut als möglich ausgebürstet und seinen schlechten Hut abgerieben hatte, auf den Weg, um sich in die Straße d'Antin zu begeben; es waren ungefähr sechs Monate verflossen, seit er Jenny nicht mehr gesehen hatte.

Der kleine Greis langte in der Straße d'Antin an, er wußte die Nummer von Frau von Saint-Eugène's Hause nicht, aber er war überzeugt, daß er es wieder erkennen werde; er ging also langsam vorwärts und betrachtete aufmerksam jedes Hofthor.

In der Gegend, wo seiner Ansicht nach die gesuchte Wohnung sein mußte, sah er vor einem schönen Hause einen Leichenwagen stehen.

Herr Alexandrin geht, ehrfurchtsvoll seinen Hut abnehmend, an diesem Trauerapparate vorbei; er geht immer weiter, Jenny's Wohnung zu suchen, aber er kann das Haus nicht finden; er muß schon an ihm vorbeigegangen sein, ohne es erkannt zu haben; er kehrt um und sieht das traurige Fuhrwerk wieder.

Der Anblick dieses Leichenwagens macht einen peinlichen Eindruck auf ihn; er geht hastig vorüber und sucht immer die Wohnung seiner Schülerin, ohne sie finden zu können.

Als der alte Lehrer abermals zurückkommt, bleibt er in der Nähe des schwarzbehängten Hauses stehen; er ist fest überzeugt, daß hier herum Jenny's Wohnung sein muß. Mehrmals drängt sich ihm der Gedanke auf, ob nicht vielleicht dieses Haus, dessen Thüre schwarz behängt ist, dasjenige sei, welches er nicht erkennen könne; dieser Gedanke thut im weh, er will ihn nicht aufkommen lassen; und doch, je länger er die nebenstehenden Häuser betrachtet, je klarer wird es ihm, daß er schon einmal in dieser Gegend der Straße gewesen sei. Er lenkt also seine Schritte auf das schwarze Behänge zu und denkt:

»Was ist Auffallendes daran, daß Jemand in dem Hause gestorben ist, wo meine ehemalige Schülerin wohnt? ... In Paris wohnen so vielerlei Leute unter einem Dache; der Eine stirbt im zweiten Stock, während der Andere sich im ersten verheirathet, und ein Kind im dritten geboren wird; das kann man alle Tage sehen.«

Herr Alexandrin geht in den Hof hinein: der Sarg mit der Leiche der abgeschiedenen Person stand noch dort.

Der Greis verneigt sich und geht mit beklommenem Herzen weiter; der Anblick dieses Sarges thut ihm wehe, er sucht die Pförtnerin, findet sie endlich und fragt mit ergriffener Stimme:

»Nicht wahr, Madame, ich täusche mich nicht, es wohnt eine junge Dame in diesem Hause ... die man Frau von Saint-Eugène nennt?«

Die Portière betrachtet den Greis einen Augenblick ehe sie ihm antwortet, und sagt ihm dann mit Zögern: »Ja, mein Herr, ja, diese Dame hat in diesem Hause gewohnt.« – »Hat sie diese Wohnung verlassen, ist sie ausgezogen? dann werden Sie ihre jetzige Adresse wissen.«

Die Portière scheint sich zu fürchten, eine Antwort zu geben; nachdem sie übrigens den kleinen Greis abermals betrachtet hat, sagt sie zu ihm:

»Ist der Herr vielleicht ein Anverwandter von Frau von Saint-Eugène ... Sind Sie vielleicht gar ...« – Ich bin nur ihr Freund, aber ich interessire mich sehr für sie; wozu diese Frage, Madame?« – »Ach, mein Herr! weil ich Ihnen dann die ganze Wahrheit sagen kann; die Person, nach welcher Sie fragen, wohnt jetzt nicht mehr im ersten Stocke. .. sie ist ... sie ist dort! ...«

Damit deutete die Portière mit der Hand auf den im Hofe stehenden Sarg.

»Wäre es möglich!« ruft der arme Lehrer, seine Augen mit dem Taschentuch bedeckend, aus; »wie diese gute Jenny, die so hübsch und noch so jung war...« – Ach! mein Herr, sie ist gestern gestorben ... Sie war schon einige Zeit leidend; sie hatte sich während eines Katarrhs nicht gehalten, berücksichtigte ihre Gesundheit so gar nicht, und blieb Nächte lang auf Bällen, denn daheim war es ihr langweilig; sie wollte immer ausgehen. Allein vor einem Monat ungefähr mußte sie sich zu Bette legen ... und sie ist nicht mehr davon aufgestanden!« - »Arme Jenny! ... armes junges Mädchen! ...« murmelt der Greis weinend ... »ach! ich ahnte es, der Anblick dieses Wagens that mir so wehe! Doch ich kann ihr wenigstens noch die letzte Ehre erweisen, und von all' denen, die sie auf die Bälle geführt haben, auf denen sie ihre Gesundheit eingebüßt hat, werden wohl wenige kommen, ihr diesen letzten Beweis von Theilnahme zu geben!«

Der Wagen führte die Verstorbene fort, Herr Alexandrin folgte ihm und blickte um sich, sich nach den Begleitern zur letzten Ruhestätte umsehend, aber Niemand erschien!

Niemand als er folgte dem Leichenwagen von Jenny Desgrillon und der Greis allein beweinte dieses junge Mädchen, welches eine Masse Anbeter gehabt hatte.

Man kam zur Kirche; eine Hochzeit wurde in einer Seitenkapelle in der Nähe derjenigen gefeiert, wo man das letzte Gebet für Jenny verrichtete. Herr Fanfan Benoît, der Spezereihändler, war es, der sich mit einem jungen Mädchen vermählte, welcher sein Stand nicht mißfallen hatte.

Herr Alexandrin sah das Brautpaar, welches beim Heraustreten aus der Kapelle an ihm vorbeiging; der alte Lehrer kniete nieder und barg sein Gesicht in seinem Hute, aus Furcht, Fanfan Benoît möchte ihn erkennen und dann errathen, wer die Person sei, deren Leichenbegängniß gefeiert werde. Der Greis wollte nicht, daß der junge Spezereihändler die Nachricht von Jenny's Tode an seinem Hochzeitstage erfahre, denn er konnte sich wohl denken, daß das störend auf sein Glück eingewirkt hätte.

Herr Alexandrin folgte Jenny bis zu ihrem letzten Wohnort. Es war ein Platz auf dem Gottesacker für sie gekauft worden; ein kleines Gitter umschloß das Grab, und es blieb noch einiger Raum zur Anpflanzung von Blumen übrig.

Der Greis kam am folgenden Tage mit einem bescheidenen Veilchenstöckchen, welches er auf das Grab des jungen Mädchens niedersetzte und dabei sprach:

»Arme Jenny! Diese Blume gab Veranlassung zu unserer Bekanntschaft! So oft ich von nun an eine solche kaufen werde, soll es nur geschehen, um sie hierher zu bringen!«


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