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Eines Tages, als sich Herr Alexandrin in der Nähe des Boulevards Saint Martin befand, erinnerte er sich, daß in diesem Quartiere auch ein Blumenmarkt sei; es war gerade an einem Montage. Seine Schritte nach der Richtung des Wasserschlosses lenkend, sah er bald Myrthen, Nelken und den ganzen Blumenstaat der Jahreszeit in der Nebenallee des Boulevards ausgestellt; die Liebhaber gingen mitten unter den Töpfen und Kübeln auf und ab, und die Händlerinnen luden die Vorübergehenden zum Kaufen ein.
Herr Alexandrin trat in den zwischen den Blumen freigelassenen Weg; er folgte der Menge, stand zuweilen stille, bewunderte und athmete mit Entzücken den köstlichen Wohlgeruch einer Pomeranzen- oder Jasmin-Blüthe ein.
Bald jedoch wieder zu seiner Hauptleidenschaft zurückkehrend, spähte sein Auge nach einem Veilchenstöckchen. Endlich entdeckte er eines, und sich der Verkäuferin nähernd, wollte er ihr eben einen Preis dafür bieten, als, einige Schritte von ihm entfernt, eine ziemlich kokett gekleidete Dame stille stand und nach dem Preise eines hübschen Rosenstockes fragte.
Die Stimme dieser Dame hat Herrn Alexandrin überrascht, er nähert sich ihr, streckt den Kopf vor und erkennt unter einem modernen Hute Fräulein Jenny's hübsches Gesichtchen. Ein Ausruf der Verwunderung entfährt dem kleinen Greise.
Fräulein Jenny dreht sich um, bemerkt ihn, erkennt ihn ebenfalls und spricht:
»Was! Sie sind es, mein lieber Lehrer? ach! wie sehr freut es mich, Sie wiederzusehen. Ich hielt Sie für todt.« – »Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich noch nie die mindeste Lust gehabt habe, zu sterben; aber ich preise den Zufall, der mich wieder da mit Ihnen zusammenführt, wo ich Sie das erste Mal sah, nämlich mitten unter Blumen! Wenn ich eigentlich besser darüber nachgedacht hätte, so hätte ich Sie auch nur an einem solchen Ort suchen sollen.« – »Immer galant, mein lieber Lehrer! Ich habe Ihnen übrigens viel zu erzählen ... wollen Sie mich nach Hause begleiten?« – »Recht gerne ... Sie wohnen aber nicht mehr in der Harfen-Straße im sechsten Stocke, denn ich habe Sie vergeblich dort gesucht.« – »Nein, nur zwei Schritte von hier, auf der andern Seite des Boulevards und bloß drei Treppen hoch.« – »Erlauben Sie mir dann, abermals Ihren Träger zu machen, denn Sie haben eben diesen Rosenstock gekauft«. – »Wie! Sie wollten ...« – »Es gereicht mir zum Vergnügen; ich mache immer noch Anspruch darauf, zu irgend Etwas gut zu sein.« – »Nun wohl! da Sie die Gefälligkeit haben wollen, so nehmen Sie den Rosenstock und kommen Sie mit mir.«
Herr Alexandrin nahm den Stock. Diesmal aber fiel die Gefälligkeit schwerer in's Gewicht; der kleine Greis fühlte es, während er neben seiner Schülerin einherging.
Der Rosenstock war schön und groß. Dem alten Schreiblehrer rannen von der Anstrengung des Tragens dicke Schweißtropfen über die Stirne herab und er konnte nicht umhin, folgende Betrachtungen bei sich selbst anzustellen:
»Der Teufel! sechs Monate haben, so viel ich sehe, eine bedeutende Veränderung herbeigeführt; vor allen Dingen hat man nicht mehr dieselbe Toilette. Fräulein Jenny war früher sehr einfach, nur wie eine gewöhnliche Arbeiterin gekleidet; jetzt trägt sie einen Hut, ein Kleid mit Garnirungen, einen schönen Shawl, logirt im dritten Stock und kauft ein Rosenbäumchen ... Hm! ... was ist denn seit sechs Monaten geschehen? Ich weiß zwar wohl, daß in Paris nicht so viel Zeit erforderlich ist, um große Veränderungen in der Lage einer Person herbeizuführen, besonders wenn diese Person ein junges, hübschgewachsenes Mädchen ist, schöne Augen hat, aber ...«
Fräulein Jenny hielt vor einem ansehnlichen Hause des Boulevards; sie geht hinein, Alexandrin folgt. Diesmal braucht man nicht lange im Finstern herumzutappen und ein Treppengeländer zu suchen, um den Weg zu finden; Alles ist hell und reinlich.
Man gelangt ohne Mühe in's dritte Stockwerk, und dort wird der alte Lehrer in ein recht artig möblirtes kleines Logis eingeführt.
»Stellen Sie den Rosenstock auf jenes Spiegeltischchen und setzen Sie sich in diesen Lehnstuhl,« sagte Jenny, Hut und Shawl ablegend. »Jetzt, lieber Lehrer, wollen wir miteinander plaudern. Sie werden sicher sehr erstaunt sein über die Veränderung, welche in meiner Lage vorgegangen ist! Sie werden sich aber noch mehr wundern, wenn ich Ihnen sage, daß ich Schauspielerin bei einem der benachbarten Theater bin.« – »Sie ... Schauspielerin? ... Wie, meine theure Freundin, Sie haben debutirt ... Sie sind engagirt ...« – »Ja, ja, ich bin engagirt und zwar zu naiven Rollen oder jungen Liebhaberinnen; ich darf selbst wählen.« – »Ach, mein Gott! ich kann mich von meinem Erstaunen gar nicht erholen!« – »Ich will Ihnen erzählen, wie all das gekommen ist. Wenige Tage, nachdem Sie Ihre Besuche bei mir eingestellt hatten ...« – »Ich litt an einem heftigen Rheumatismus.« – »Armer Mann! Da ich es nicht mehr aushalten konnte, theilte ich einer meiner Freundinnen mit, daß ich außerordentliche Lust hätte, auf dem Theater in der Chantereine-Straße zu debutiren. Ich wußte, daß sie einen Herrn kannte, der auch Schauspieler werden wollte und häufig einzelne Partieen in Scene setzte; sie sprach von mir, stellte mich vor, ich wurde angenommen, legte eine Probe ab, und man fand, daß ich bedeutende Anlagen habe.« – »Sie hatten also meinen Unterricht gut im Gedächtniß behalten?« – »Freilich! Endlich durfte ich auftreten, ich spielte in zwei Stücken und erntete ungeheuren Beifall. Noch am nämlichen Abend sprach ein Herr, ich glaube es war ein Zeitungsschreiber, von mir mit einem Direktor; man ersuchte mich, noch einmal zu spielen; er sah mich, kam dann zu mir und engagirte mich mit zweitausendfünfhundert Franken Gehalt ... zweitausendfünfhundert Franken! das ist hoffentlich ein hübscher Anfang, damit komme ich schon weiter als mit dem Illuminiren vom Blaubart und Kleinen Däumling ... Ach! wie wohl habe ich daran gethan, meiner Neigung zu folgen! Sie zu bitten, mir Deklamations-Unterricht zu geben ... und hauptsächlich die Hand des Herrn Fanfan Benoît auszuschlagen! Ich bin so glücklich, so zufrieden! Und wenn die Zänkereien hinter den Coulissen, die Eifersüchteleien der Colleginnen, die Bosheiten der Einen und die Verläumdungen der Andern nicht wären, so ... doch das bedeutet nichts, ich werde mich daran gewöhnen, und es bleibt dabei; die Schauspielkunst ist ein herrlicher Beruf.« – »Wohlan, meine theure Freundin, ich bin sehr erfreut, daß Sie Glück gemacht haben; aber ich gestehe Ihnen, daß es mir besonderes Vergnügen gewähren würde, Sie spielen zu sehen.« – »Ei schön! das können Sie heute Abend; ich spiele gerade in einem neuen Stücke. Sie müssen kommen ... ich werde freien Eintritt für Sie verlangen; Sie dürfen nur an der Thüre Ihren Namen nennen, und man wird Ihnen einen Platz anweisen. Sehen Sie, hier ist mein Theater, Sie können es vom Fenster aus sehen ...« – »O! ich danke Ihnen; ich werde nicht ermangeln, mich einzufinden.« – »Und morgen früh kommen Sie zum Frühstück zu mir. Dann sagen Sie mir, ob Sie zufrieden waren und erzählen mir, was man im Theater um Sie herum über mich geäußert hat ...« – »Es soll nicht fehlen. Heute Abend werde ich Sie spielen sehen, und morgen mit Ihnen frühstücken ...«
Alexandrin verließ Jenny, indem er sich vor Vergnügen die Hände rieb; er war entzückt, seine Schülerin wiedergefunden zu haben, und versprach sich eine besondere Freude davon, sie auf den Abend spielen zu sehen.
Der alte Lehrer gönnte sich kaum Zeit zum Mittagessen, er kam schon mit der Wache und den Spritzenmännern an's Theater; es war außer ihm noch Niemand an der Thüre; demungeachtet entschloß er sich nicht vom Flecke zu gehen, um der erste in der sich bildenden Reihe zu bleiben.
Endlich wurde die Thüre aufgemacht; er ging hinein, nannte sich, man wies ihm einen Platz beim Orchester an; er war die erste Person im Saale.
Nach und nach kamen Leute. Unter denen, welche sich um ihn herum setzten, glaubte der kleine Greis ein bekanntes Gesicht zu sehen; dieses Gesicht gehörte einem jungen Mann von linkischem Benehmen und verwunderter Miene, dessen Kleidung nichts Fashionables an sich hatte. Er langte von Zeit zu Zeit Etwas aus seinem Sacke, schob es in den Mund, zerbiß es mit den Zähnen und schluckte es gleichgültig, gleichsam zu seiner Zerstreuung hinunter.
Herr Alexandrin hatte den Sohn des Spezereihändlers, Jennys Liebhaber, kurz, Herrn Fanfan Benoît erkannt, und verließ seinen Platz, um sich neben ihn zu setzen, entzückt, daß er Jemand fand, mit dem er über seine Schülerin sprechen konnte.
»Ei! junger Mann, Sie wußten also, daß sie Schauspielerin an diesem Theater ist, und Sie kommen wahrscheinlich, um sie spielen zu sehen und ihrem Triumphe beizuwohnen?« redete der kleine Greis Fanfan Benoît an.
Der junge Mann starrte den, der diese Frage an ihn gerichtet, eine Weile an und rief dann aus: »Ach, jetzt erkenne ich Sie! Ich habe Sie eines Morgens bei Fräulein Jenny getroffen, wo Sie mit ihr unter einem Regenschirm Verstecken spielten.« – Ich bin es in der That; wir spielten damals allerdings, aber nicht Verstecken, sondern eine Scene. Ich bin ihr erster Lehrer; ich habe das heilige Feuer in ihr entdeckt ... und sie bestimmt, sich dem Theater zu widmen.« – »Ah! Sie haben ihr heiliges Feuer entdeckt? ...« – »Das heißt, ich habe eine wahre Neigung, ein angeborenes Talent, Alles, was zur Auszeichnung gehört, an ihr bemerkt ... Was essen Sie denn da, junger Mann?« – »O! es sind nur Mandeln und Rosinen ... um sich während des Zwischenaktes die Zeit zu vertreiben.« – »Richtig, damit kann man sich die Zeit ganz gut vertreiben. Das ist amüsant ... Wir werden das reizende Mädchen spielen sehen und uns an ihrem Triumphe weiden, denn sie spielt Allem nach sehr gut. Da man aber so lange nicht anfängt, so erlauben Sie mir vielleicht, auch Theil an Ihrem Zeitvertreib zu nehmen?« ... – »Recht gerne, mein Herr ... Hier, greifen Sie in meine linke Tasche, geniren Sie sich nicht.«
Der Schreiblehrer genirte sich auch durchaus nicht; er langte mit einer seiner Hände in Fanfans Tasche, zog sie voll zurück und setzte, während er Rosinen und Mandeln hinunterschlang, das Gespräch fort.
»Sie haben Fräulein Jenny geliebt, junger Mann?« – »Ja, mein Herr, ich glaube, ich liebe sie noch.« – »Sie glauben nur ... wissen Sie denn das nicht gewiß?« – »Mein Gott! lieber Herr ... ich suche es nicht gewiß zu wissen! ...« Diese Antwort wurde von einem tiefen Seufzer begleitet.
Herr Alexandrin fühlte sich gerührt, er schnäuzte sich aber nur und fragte weiter: »Sie wollten die hübsche Jenny heirathen? ... Ihre Rosinen sind vorzüglich ... Wären Sie glücklich gewesen, sie Ihre Frau zu nennen?« – Ja, mein Herr, ich glaubte dummer Weise, es wäre auch ein Glück für sie. – »Dummer Weise ist etwas zu hart; da Ihnen jedoch das Wort einmal entfahren ist, so erlauben Sie mir, Ihnen entgegen zu halten, daß es mindestens Egoismus von Ihnen gewesen wäre, dieses junge Mädchen von der glänzenden Carrière abzuhalten, die sich ihr eröffnet hat. Denken Sie, wie sich in kurzer Zeit ihre Lage geändert hat: sie hat ein ganz modernes Mobiliar.« – Ah! bah! ... schon! ... Und vom Theater aus hat sie das Mobiliar erhalten?«
Herr Alexandrin gab keine Antwort; er fand, daß der junge Fanfan für einen Spezereikrämer eine sehr verfängliche Frage gethan hatte; um daher dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, griff er noch einmal in dessen Vorrathstasche und rief aus: »Es war sehr vernünftig von Ihnen, von diesem Zeug in die Tasche zu stecken, denn man fängt sehr lange nicht an.« – Nun,« sagte Fanfan Benoît mit einem abermaligen tiefen Seufzer, »wenn es ein Glück für Fräulein Jenny ist, wenn sie in der That eine große Künstlerin werden und ihr Glück beim Theater machen wird ... so bin ich vollkommen der Ansicht, daß sie wohl daran gethan, mich nicht zum Manne zu nehmen ... aber im entgegengesetzten Falle ... – »Still, junger Mann! man hat dreimal geläutet ...«
Das Schauspiel begann. Aber Jenny spielte im ersten Stücke nicht; sie trat erst im zweiten auf; und dieses wurde zum ersten Male gegeben, und das Publikum, neugierig, das neue Stück kennen zu lernen, wegen dessen es gekommen war, schenkte aus diesem Grunde dem vorher aufgeführten sehr wenig Aufmerksamkeit.
Herr Alexandrin und sein Nachbar waren auch sehr ungeduldig, allein sie brannten nur vor Begierde, die Schauspielerin zu hören; sie konnten das Erscheinen von Jenny Desgrillon kaum erwarten.
Endlich fängt das zweite Stück an, und bald tritt Jenny auf; sie spielte die Rolle einer jungen Pächterin; ihr Kostüm war reizend, sie erschien noch weit hübscher darin.
Von allen Seiten hörte man flüstern:
»Diese Schauspielerin ist sehr hübsch ...«
»Das ist ein schönes Mädchen.«
»Sie hat einen schlechten Gang, eine schlechte Haltung,« sagten wieder Andere.
»O, das macht nichts; sie ist schön.«
Fanfan Benoît sprach kein Wort, er konnte sich aber an Jenny nicht satt sehen; was den alten Alexandrin betraf, so hüpfte dieser auf seiner Bank in die Höhe und konnte sich nicht bemeistern, bisweilen halblaut zu brummen:
»Biegen Sie doch den linken Arm besser ... halten Sie den Kopf mehr zurück ... Ach, mein Gott! sie denkt nicht an das, was ich ihr hundertmal gesagt habe: sie strecke den Hals zu weit vor und drehe sich schlecht um.«
Auf der Bühne wie im Leben gehört ein großes Talent dazu, sich gut drehen zu wissen.
Der erste Akt spielte sich ab und Jenny füllte ihre Rolle aus, aber das neue Stück war schlecht und die Schauspielerin nicht gut; öfters hatte sie nicht gehörig memorirt und wälschte zuweilen, wenn sie mit Glut und Begeisterung sprechen wollte, Alles durcheinander.
Man fing an zu murren; nach einiger Zeit pfiff man.
»Man pfeift nicht die Schauspielerin aus, sondern das Stück,« sagte der alte Alexandrin zu seinem Nachbar.
»Hm! ich weiß nicht,« entgegnete Fanfan Benoît, »aber ich meine, es sei Mamsell Jenny auch nicht recht wohl zu Muthe.«
Jenny, welche noch nicht daran gewöhnt war, die üble Laune des Publikums zu ertragen, gerieth in der That in Bestürzung, machte einen Fehler um den andern und verlor den Kopf zuletzt ganz und gar.
Es stand nicht lange an, so pfiff man an allen Enden des Saales, und der Vorhang fiel mitten unter einem ungeheuern Geschrei, wählend die Schauspielerin in Ohnmacht sinken zu wollen schien.
Herr Alexandrin sprach nichts mehr, aber Alles verließ das Schauspielhaus, und Fanfan Benoît, der mit dem alten Lehrer hinausgegangen war und neben ihm auf dem Boulevard herlief, sagte endlich zu diesem:
»Heißen Sie das Glück machen, mein Herr? Ich muß Ihnen gestehen, daß ich meines Theils Fräulein Jenny's Triumphen nicht mehr beiwohnen will; es thut zu weh! ... Wenn nur zwei oder drei Pfeifer da gewesen wären, so hätte ich sie geprügelt, um sie zum Schweigen zu bringen; allein es waren ihrer zu viele, ich hätte mich mit dem ganzen Saale herumschlagen müssen.« – Mein lieber Freund,« versetzte Alexandrin, »ich wiederhole Ihnen, daß man das Stück ausgepfiffen hat. Die arme Jenny ist nicht Schuld daran, daß sie eine abscheuliche Rolle spielen mußte! sie hat sie nicht selbst gemacht: der Verfasser des Stückes ist der Schuldige. – »O! das ist einerlei, mein Herr; ich verstehe mich nicht darauf, aber es scheint mir, daß es Mamsell Jenny sehr schwer ankam, ihre Rolle herzusagen; ich werde sicher nicht mehr ins Theater gehen, wenn sie spielt. Gute Nacht, mein Herr; es thut mir sehr leid, daß Sie das heilige Feuer in Mamsell Jenny entdeckt haben!«
Fanfan Benoît trennte sich von Herrn Alexandrin und dieser kehrte mit dem Gedanken nach Hause zurück:
»Es unterliegt keinem Zweifel, das junge Mädchen ist zu frühe aufgetreten; sie hätte wenigstens noch ein Jahr Unterricht bei mir nehmen sollen.«
Am folgenden Morgen versäumte der kleine Greis nicht, sich zu seiner Schülerin zu begeben. Er fand Jenny traurig, krank, verdrießlich; sie forderte ihn auf, sich an einen Tisch zu setzen, worauf ein Frühstück aufgetragen war, welches sie jedoch nicht berührte; während aber der alte Lehrer demselben alle Ehre anthat, überhäufte sie ihn mit Fragen.
»Was hat man gestern im Theater von mir gesprochen?« – »Man hat gesagt, das Stück tauge nichts.« – »Und von mir?« – »Man fand Ihr Kostüm allerliebst, besonders das Häubchen! Was für ein wundernettes Häubchen!« – »Aber über mein Spiel, mein Talent?« – »Man sagte: würde das Meiste darin gestrichen, so würde jedenfalls weniger gepfiffen.« – »Aber über mich? Herr Alexandrin; Sie antworten ja nie auf meine Frage.« – »Ach! meine liebe Freundin, was verlangen Sie, daß man von einer Schauspielerin sagen soll, die in einem Stück spielt, das durchfällt? Man bedauert sie, das ist Alles, was man thun kann, und man hat auch Sie sehr bedauert, besonders der arme Fanfan Benoit, Sie wissen, der junge Spezereihändler, der Sie heirathen wollte ... mit Zwetschen.« – »Wie, der war im Theater?« – »Ja, er saß neben mir. Er hatte große Lust, die Pfeifer zu prügeln, aber es waren ihrer zu viele.« – »Ach, Herr Alexandrin, welch' ein Abend! ich konnte es nicht mehr aushalten, es wurde mir dunkel vor den Augen, ich erstickte ... Ich, die bis dahin so günstig aufgenommen worden war. Ach, großer Gott! ich sehe es jetzt wohl ein, es ist nicht Alles rosig beim Theater!« – »Meine theure Freundin, wenn beim Theater Alles rosig wäre, so würde alle Welt Schauspieler werden wollen, so daß gar Niemand mehr zum Zusehen, beziehungsweise zum Auspfeifen da wäre; allein man muß Muth haben und einen Unfall ertragen können. Außerdem, glauben Sie mir, müssen Sie, im Vertrauen gesagt, noch mehr Stunden nehmen; o! das ist Ihnen unumgänglich nöthig. Manches verstehen und empfinden Sie zwar ganz gut, wissen es aber nicht darzustellen, und auf der Bühne ist es eine Hauptsache, sich deutlich und dem Charakter der Rolle gemäß auszudrücken.«
Fräulein Jenny biß sich in die Lippen, runzelte sogar die Stirne ein wenig; zuletzt entfuhren ihr einige Bewegungen der Ungeduld und sie hörte Herrn Alexandrin nur mit ganz zerstreuter Miene zu.
Nach einer Weile erhob sie sich mit den Worten:
»Entschuldigen Sie mich doch, mein lieber Herr Alexandrin, ich möchte Sie nicht gerade gehen heißen, aber ich habe diesen Morgen zu thun ... ich muß in die Probe.« – Ach! ich verstehe, man wird wahrscheinlich Veränderungen mit dem gestrigen Stücke vornehmen? – »Ja; wohl möglich.« – In diesem Fall Adieu, meine theure Schülerin; ich verlasse Sie. Wann wünschen Sie, daß ich wiederkomme, um die Stunden fortzusetzen? – »Ich weiß nicht genau. Uebrigens habe ich ja jetzt Ihre Adresse, und werde es Ihnen sagen lassen, sobald ich Zeit habe.« – Ganz gut. Auch werde ich selbst wieder einen Besuch bei Ihnen machen. Sie erlauben es doch? – »Ganz gewiß. Auf Wiedersehen, Herr Alexandrin.«
Damit entließ die junge Schauspielerin den Greis, der wieder vergnügt die Hände reibend, nach Hause zurückkehrte, weil er vortrefflich gefrühstückt hatte, und sich mit der Hoffnung schmeichelte, daß er, wenn er Jenny nun wieder unterrichte, öfters so frühstücken werde. Herr Alexandrin war ein wenig Gourmand; ein gewöhnlicher Fehler der Poeten.
Acht Tage verstrichen, der alte Lehrer erwartete täglich, daß Fräulein Jenny zu ihm schicken und ihn zum Unterrichtertheilen rufen lassen werde, da er aber nichts von seiner Schülerin erfuhr, entschloß er sich, sie aufzusuchen.
Er frug den Portier nach Fräulein Jenny Desgrillon, und dieser entgegnet ihm, nachdem er den kleinen Greis eine Zeit lang betrachtet hatte:
»Fräulein Jenny ist nicht zu Hause.« – Dann werde ich ein anderes Mal wiederkommen; wollen Sie aber so gut sein und ihr sagen, daß Herr Alexandrin da gewesen sei und mit Ungeduld auf Nachricht von ihr warte; verstehen Sie mich, mit größter Ungeduld.«
Der Portier gab kaum Antwort. Diese Leute sind nicht gewöhnt, gegen abgetragene Kleider höflich zu sein.
Herr Alexandrin entfernte sich mit dem Gedanken: »Ich bin überzeugt, daß sie mich morgen holen lassen wird.«
Aber der folgende Tag verging wie die früheren.
Der alte Schriftsteller kehrte noch mehrmals zu seiner ehemaligen Schülerin zurück, allein der Portier entgegnete ihm stets:
»Madame ist ausgegangen,« oder »Madame ist nicht zu sprechen.«
Der alte Alexandrin besaß Charakterstolz, und erwiderte dem Portier eines Tages mit Aerger:
»Fräulein Jenny sollte für mich, ihren Lehrer, für mich, der ihre ersten dramatischen Studien geleitet hat, und der aus dieser jungen Person, wenn sie seinem Rathe gefolgt, eine zweite Mars oder Georges gemacht hätte, stets zu sprechen sein. Sagen Sie Fräulein Jenny, Portier, daß ich von nun an nicht mehr bei ihr erscheinen werde; sie hat, wenn sie mich zu sprechen wünscht, meine Adresse, und kann zu mir kommen; man vergibt sich nichts, wenn man mich besucht.«
Statt aller Antwort warf der Portier sein Logenfenster dem kleinen Greise vor der Nase zu, und dieser kehrte, ohne sich diesmal die Hände zu reiben, mit folgendem Selbstgespräch heim:
»O die Weiber! die Weiber! Cato behauptete: Klugheit und Vernunft seien mit ihrem Geist unvereinbar, und Catullus ist der Ansicht, daß die Eide der Schönen in den Hauch der Winde und auf die Oberfläche der Wellen gegraben seien. Von nun an bin ich der Meinung Catulls und Catos. Ich hätte mich auch an jene Strophe Virgils erinnern sollen, die ich so oft wiederholt habe: Varium et mutabile semper femina! (Unbeständig und veränderlich ist stets das Weib.) Aber man lernt diese Sachen mechanisch auswendig, und das Herz denkt nichts dabei.«
Die Zeit verfloß; Herr Alexandrin hörte nicht mehr von Fräulein Jenny sprechen.
Dem Entschluß, den er gefaßt hatte, getreu, ging er nicht mehr zu ihr; da aber der kleine Greis in seinem Innern stets Interesse an dieser jungen Person nahm, so sah er jedesmal, so oft er ausging, auf allen angeschlagenen Theaterzetteln nach, zuerst natürlich auf dem des Theaters, an welchem Jenny engagirt war, ob er nicht den Namen derjenigen finde, die er noch seine Schülerin nannte.
Aber der Name der Jenny Desgrillon befand sich nie unter denen der andern Schauspielerinnen.
»Das ist doch sonderbar!« dachte Alexandrin; »sie spielt, wie es scheint, jetzt sehr selten, oder ist sie vielleicht bei einem andern Theater?«
Dann hatte der alte Lehrer Geduld genug, alle Namen auf den Theaterzetteln der übrigen vielen Bühnen durchzulesen, aber der Name Jenny's Desgrillon war auf keinem.
»Sie hat wahrscheinlich einen Theater-Namen angenommen,« sagte sich zuletzt Alexandrin; »sie wird den ihrigen zu einfach gefunden haben. Arme Kleine, nicht der Name macht das Talent, sondern das Talent verherrlicht den Namen. Sie hätte sich daran erinnern sollen, daß der Name Jenny Glück bringt auf dem Theater, und daß zwei Schauspielerinnen dieses Namens mit vollem Rechte den Beifall des Publikums erworben haben.«