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Sechstes Kapitel.

Der gelehrte Hund. – Kartenpartie. – Endlich kommt er.

Noch sitzt man beim Kaffee, als die Klingel gezogen wird. Diesmal bringt dies auf die Mehrzahl der Gäste wenig Eindruck hervor. Sie haben gegessen, was liegt ihnen jetzt daran, ob der junge Darville kommt oder nicht. Bei Madame Darville und Leonie ist dies nicht der Fall; bei der einen wirkt die mütterliche Zärtlichkeit, bei der andern eine lebhaft angeregte Neugierde.

Aber noch ehe die Thüre des Salons aufgeht, vernimmt man Hundegebell. Da schwindet die freudige Erwartung, welche das Gesicht der Mama belebte, wieder; sie weiß, ihr Sohn hat keinen Hund und würde sich nicht auf diese Art ankündigen. Wirklich stellt sich auch ein alter hagerer Herr in Begleitung eines großen Pudels, vor dessen heftigem Bellen man die Complimente seines Herrn nicht hört, der Gesellschaft vor.

»Ei! Herr Clinette!« ruft Madame Darville, »ah! wie unartig, wie böse sind Sie, warum nicht früher gekommen? Sie hätten mit uns speisen sollen.«

Der Herr hätte antworten können: warum haben Sie mich nicht eingeladen, vielleicht wäre ich gekommen; wer aber Lebensart besitzt, sagt nicht, was er denkt. Herr Clinette erschöpft sich in Verbeugungen.

»Sie sind zu gütig, Madame, wäre mir nicht möglich gewesen (in diesem Fall muß man anderswo zu Gast geladen worden sein). Ich speiste mit einem alten Freund ... Medor, schweig! ... als er ins Theater ging, verließ ich ihn ... Still doch, Medor! ... Die Freude, das Vergnügen, Sie zu sehen, machen ihn so laut. Medor, küsse der Madame Darville die Hand, augenblicklich.«

Medor kommt herbei, statt aber die dargebotene Hand zu lecken, springt er nach dem Kleid der Mama und schnappt nach ihrem Knie.

»Ha! der Schurke! er ist in seinen Tollheiten; doch gleichviel, er soll Ihnen die Hand küssen. Allons, Medor, hier!«

Mit gesenktem Kopf kommt der Hund zurück und leckt endlich die Hand der Dame; mit triumphirender Miene blickt sein Gebieter um sich her, während Herr Dupré seiner Frau zuflüstert: »Wir werden genöthigt werden, abermals alle Kunststücke des Hundes anzusehen, wie lustig! so oft Herr Clinette irgend wohin kommt, muß man, wie's scheint, eine Vorstellung von Medor's Exercitien aushalten.«

»In der That,« ruft Clinette, nachdem er die Benjoin begrüßt hat: »Medor, geschwind hierher, küsse Madame Benjoin die Hand; du erkennst Madame Benjoin gewiß, denn sie hat dir Zucker gegeben, und das liebst du sehr.«

Zum Beweis, wahrscheinlich, daß er die Dame wieder erkennt, nähert sich Medor derselben, riecht an ihrem Kleide, hebt dann den Fuß auf. Madame Benjoin stößt einen Schrei aus, die ganze Gesellschaft fängt an zu lachen, Herr Clinette aber packt seinen Pudel beim Ohr.

»He! Hallunke! Schlingel! was wolltest du da machen? O! fürchten Sie nichts, Madame, Medor ist gewiß unfähig, sich in Gesellschaft zu vergessen; er wollte Ihnen nur einen kleinen Spaß machen; doch, er soll Ihnen die Hand küssen.«

»Ich bestehe nicht darauf!« entgegnet Madame Benjoin; »bitte, zwingen Sie ihn zu nichts. – O! er thut's gutwillig. Hieher, Schurke, oder ich prügle dich!«

Knurrend und zähnefletschend gehorcht der Pudel; allein sein Herr gibt ihm einen leichten Puff und die Hand der Madame Benjoin wird endlich geleckt; sicherlich etwas sehr Unangenehmes.

Man darf nicht glauben, Herr Clinette werde dabei stehen bleiben. Nachdem er noch zwei Hände der Gesellschaft mit vieler Mühe hatte lecken lassen, ruft er: »Das ist nicht Alles, wir wissen wohl etwas Anderes zu thun! Allons, Medor, zeige der Gesellschaft Deine Talente! mach' auf der Stelle den Todten!«

Der Hund legt sich mitten im Salon auf den Rücken, was einen sonderbaren Anblick gewährt; er reibt sich auf dem Teppich, wie die Esel im Sande, und der alte Herr perorirt wie ein Ausrufer:

»Sie sehen, meine Damen, der arme Medor ist todt, o! es ist aus; er rührt sich nicht mehr ... ach, mein Gott! was fangen wir mit ihm an? wahrlich! wir werfen ihn in's Wasser ... holla! einen Commissionär, um den Todten fortzuschaffen.«

Herr Clinette patscht in die Hand, alsbald steht der Hund auf und geht durch. Große Freude seines Herrn, allgemeine Beifallsbezeugung der Gesellschaft, welche hofft, damit werde es aus sein.

»Wird man diesen Abend nichts treiben, als die Kunststücke des Hundes ansehen?« fragt Boudinette, auf Dupré zutretend. – Sprechen Sie nicht davon, das ist wenigstens das fünfzehnte Mal, daß ich dieser Geschichte beiwohne; so oft Herr Clinette kommt, soll sein Hund die Gesellschaft unterhalten, mich unterhält er gar nicht.«

»Ach!« bemerkte Madame Bringuet, »wir hatten einen sehr artigen Pudel beim Regiment; er kam auf die Parade, zum Exerciren, zum ...«

»Exerciren!« unterbrach Herr Clinette das redselige Regimentsweib; »o! Madame, Sie sollten diesen hier exerciren sehen, wie einen alten Grenadier, es ist außerordentlich; komm, Medor! aufrecht! man halte das Gewehr!«

Die alte Stechpalme des Herrn Clinette stellt das Gewehr vor, und nachdem sich der Pudel an der Wand aufgerichtet, steht er wirklich auf den Hinterfüßen und hält den Stock mit den vorderen Pfoten. Der Herr des Thieres, in der Meinung, die Gesellschaft könne nicht müde werden, Medors schöne Haltung zu bewundern, bleibt mit aufgehobenem Arm, drohender Miene neben dem Hund stehen, damit sich derselbe nicht rührt.

Wenigstens drei Minuten währt dies. Boudinette hat es genug, er ruft daher der Madame Darville zu: »werden wir diesen Abend nicht eine kleine Partie Ecarté machen? – Um Vergebung ... man stellt eben die Spieltische zurecht.«

Mißvergnügt, daß man vom Kartenspiel spricht, wenn man sehen kann, wie sein Pudel Schildwache steht, läßt Clinette seinen Arm sinken, und in demselben Augenblicke läßt Medor den Stock fallen und schlüpft unter ein Sopha, wahrscheinlich, damit er nicht mehr exerciren darf.

»Er hat die Waffen gestreckt! Sie sehen, wie er das Commando vollzieht.«

»Wer will mit mir das Ecarté beginnen?« fragt Boudinette. – »Ah! Sie haben zu viel Glück, Sie gewinnen immer; gleichviel, ich will's wagen.«

Mit diesen Worten nimmt Madame Benjoin dem Herrn Boudinette gegenüber Platz; ein großer Theil der Gesellschaft reiht sich um das Spiel her, wobei bis zu fünf Sous parirt wird. Leonie allein blieb entfernter auf einem Stuhle sitzen. Der alte Clinette will seinen Hund durchaus unter dem Sopha hervortreiben.

Diesen Augenblick der Beschäftigung ihrer Gäste benützt Madame Darville, um sich neben Leonien zu setzen und mit ihr zu plaudern.

»Nun denn, mein liebes Kind, haben sie sich ein wenig bei mir unterhalten? – Ja, Madame, sehr. – O! bei Tafel waren wir indeß nicht heiter. Ich gestehe Ihnen, ich war ärgerlich über meines Sohnes Abwesenheit und darum konnte ich nicht so vergnügt sein, als ich mir's versprach. – Das finde ich begreiflich, Madame. – Mein Sohn ist nicht gewohnt, seine Schuldigkeit zu versäumen. Er ist ein guter, aufrichtiger und gefühlvoller Junge, und sein einziger Fehler vielleicht, daß er zu gut und zu gefällig gegen seine Freunde ist. Er thut Alles, was sie wollen, abschlagen kann er nichts. Doch einmal verheirathet, wird er thun, was seine Frau will, sich von ihr leiten lassen.«

Leonie sagt hierauf nichts; sie begnügt sich, gegen Madame Darville, welche des Mädchens Hand ergriff und liebkoste, zu lächeln.

»Zwei Sous fehlen noch; wer will zwei Sous auf unsere Seite halten?« ruft Boudinette dazwischen.– »Hier,« sagt Herr Bringuet. – »Aber Du hattest ja schon zwei gesetzt,« bemerkt Madame Bringuet ihrem Ehemann. – »Nun, das macht vier. – Ach, mein Freund, bitte, werde nicht hitzig; ich liebe so hohes Spiel nicht!«

»Sie haben Karl früher gesehen,« fährt Madame Darville fort, noch immer Leoniens Hand in der ihrigen haltend. – »Ach! Madame, vielleicht ehe ich in die Pension kam, das ist aber schon sehr lange her; ich erinnere mich Ihres Herrn Sohnes nicht mehr. – Ein hübscher Junge ... sehr gut gewachsen ... sanfte Miene ...«

»Ha! Kerl! Schlingel! ich will dich lehren, dich unter dem Sopha verstecken! – Ai, ai, ai! – O! schrei nur! zur Strafe stehst du da unten in die Ecke, ich will dir eine Pfeife ins Maul stecken und du mußt rauchen.«

Dadurch hofft Herr Clinette die Aufmerksamkeit wieder auf Medor zu lenken, den er aufs Neue auf die Hinterfüße stellt, indem er ihm ein zusammengerolltes Papier in Form einer Pfeife in das Maul steckt; allein die Gesellschaft ist vom Spiel völlig in Anspruch genommen, man würdigt den rauchenden Medor keines Blicks; Herr Clinette gibt sich vergebliche Mühe.

»Da, jetzt verliere ich,« sagt Herr Boudinette, sein Geld zählend; »so eben gewann ich, aber man läßt mich mein Spiel forciren. Wie dumm ist's, wenn man sich hinreißen läßt, mehr zu setzen, als man im Sinn hat ... ich verliere ... meine Schuld ... warum habe ich das Spiel forcirt!«

Während sich Herr Boudinette bittere Vorwürfe, macht, weil er fünfzehn Sous verliert, kommt Madame Bringuet in Zug und gewinnt Allen ab.

»Nicht möglich, sich gegen Madame zu halten,« sagt Herr Dupré aufstehend, »da paßt sie nun zum fünften Mal.«

»Wahrhaftig! als ich in Givet in Garnison lag, habe ich an einem Abend neunzehnmal hinter einander gepaßt. – Sie sind also noch nicht zu Ende? schön! ein guter Trost! – Mein Gott! wie dumm ist's, sein Spiel forciren!« beginnt Herr Boudinette aufs Neue, wobei er mit verzweiflungsvoller Miene um den Spieltisch rennt.

»Wie viel Uhr ist's, Benjoin? – La, la, si, si, so; ich will Dir's sagen, Liebe, ... mi, mi ... halb zehn Uhr. – Ach! mein Gott! hören Sie doch mit Ihren Noten auf! Sie würden weit besser daran thun, wenn Sie mir riethen, wie ich Madame Bringuet aus dem Sattel zu heben versuchen soll. – Ai, ai! – Ha! Schurke, du willst deine Pfeife fahren lassen! du behältst sie und bleibst eine Stunde so, wenn's mir beliebt. – Könnten Sie Ihren Hund nicht zum Schweigen bringen, Herr Clinette; man hört ja nichts beim Spiel. – Er raucht in diesem Augenblicke, Madame, und ist übellaunisch; man muß ihn entschuldigen, wenn Sie's aber wünschen, soll er sagen: Meine gute Mama! – Nein, nein, danke schön, er soll lieber still sein. – Abermals verloren ... Madame bleibt den ganzen Abend am Spiel. – Das mag mir eine Warnung sein, mein Spiel zu forciren!« seufzt Boudinette wieder heraus.

Herr Formerey geht vom Spieltisch und tritt zu seiner Nichte. Der Negociant sieht nach der Uhr.

»Sie werden doch nicht ans Fortgehen denken?« redet ihn die Herrin des Hauses an. – »Ja, es ist drei Viertel auf zehn Uhr, und wir werden bald aufbrechen müssen. – Haben Sie gute Geschäfte gemacht? – Ich gewinne zehn Sous ... Ei nun! der Abend ist verstrichen und Ihr Herr Sohn nicht erschienen ... ich hielt ihn ... für pünktlicher in seinem Vorhaben, und da ... ein junger Mensch, der sein Wort nicht hält ... hm! das ist nicht gut. – Ich wollte wetten, es ist Karl irgend etwas zugestoßen; ich werde bald den Portier zu ihm schicken.«

Die Klingel ertönt wieder; Madame Darville hört auf zu sprechen, sie lauscht in gespannter Erwartung; übrigens schmeichelt sie sich nicht mehr, ihr Sohn werde es sein; wenn die Hoffnung so oft getäuscht wurde, mag man sich derselben gar nicht mehr überlassen, und gerade da werden unsere Wünsche beinahe immer befriedigt.

Diesmal tritt Karl in den Salon; überrascht durch die große Gesellschaft, bleibt er stehen; in Folge der Vorfälle des Abends und des genossenen Punsches war er etwas in Unordnung; hiezu noch sein aufgeritztes, wundes Gesicht, was seinem Eintritt etwas Theatralisches verlieh.

»Ah, da sind Sie, mein Herr!« begann die Mama, indem sie eine strenge Miene annahm, obgleich sie im Grund ihres Herzens sehr zufrieden war, daß sich ihre Besorgnisse als ungegründet herausstellten. »Sie kommen zu einer schönen Stunde ... Oder kommen Sie zufällig zum Mittagessen, mein Herr; das wäre noch drolliger! seine Mutter warten lassen ... und eine ganze Gesellschaft!«

»Meine Mutter ... Verzeihung ... allein ich wußte nicht ... – Treten Sie doch vor, mein Herr, daß man Sie wenigstens sieht. Ach! Himmel! was hat er im Gesicht? Was ist Dir zugestoßen, mein Freund? Du bist verletzt! ach! ich war gewiß, daß Dir ein Unglück begegnet wäre!«

Schon trat der Ton der Zärtlichkeit an die Stelle des Tons der Strenge; Madame Darville umfängt ihren Sohn mit den Armen, läßt ihn sitzen, fragt ihn aus und gibt ihm keine Zeit zum antworten. Leonie betrachtet den jungen Mann; seine Verletzungen sind leicht; weit entfernt, ihn zu entstellen, geben sie ihm etwas Interessanteres, und das junge Mädchen fühlt sich bereits durch seinen Unfall bewegt. Die Nichtspielenden umstehen den Sohn des Hauses und erkundigen sich gleichfalls nach dem, was ihm widerfahren. Herr Clinette allein bleibt bei seinem Medor, zu welchem er sagt: »Küsse sogleich Herrn Karl die Hand, zum Beweis, daß Du wohlgezogen bist.«

Endlich findet Karl Zeit zum antworten, was er mit einer gewissen Verlegenheit thut, da er in seiner Geschichte nicht ganz fest ist.

»Ich war auf dem Wege hieher, meine Mutter, zum Mittagsmahl ... es war noch nicht vier Uhr ... ich ging schnell ... es war glatt ... Sie wissen, es fing gerade an zu regnen ... Vor mir sehe ich einen Omnibus ... will ihm nachlaufen ... und da ich immer nach dem Conducteur starrte, bemerkte ich einen Stein am Wege nicht ... gleite aus, falle ... und richte mir das Gesicht so zu, wie Sie es sehen.«

»Ach! mein Gott! armer Junge! Hast Du vielen Schaden genommen? – O nein, nur die Nase hat etwas gelitten!«

»Und ist es an den Kopf gegangen?« fragt Herr Benjoin, mit dummer Miene näher tretend.

»Ich glaube, die Nase ist am Kopf,« erwidert Karl lächelnd, »Ah! so! richtig! ... ich wollte sagen ... la, la, si ... si ... sol, so, so!«

»Warum bist Du aber nach dem Unfall nicht sogleich gekommen?« fragt Madame Darville weiter.

»Ach! ich war ganz mit Koth bedeckt, das Gesicht schmutzig. Ich dachte mir, Sie hätten Gesellschaft, und mich auf diese Art vorzustellen durfte ich nicht wagen; darum kehrte ich nach Hause zurück, und erst jetzt entschloß ich mich, Ihnen mein Abenteuer zu erzählen. – Armer Junge! ... er ist nicht Schuld! ... Was sagte ich Ihnen so eben, Herr Formerey?«

Seit Karls Erzählung verloren sich die Wolken auf der Stirne des Negocianten; er nähert sich ihm, schüttelt ihm die Hand und sagt: »Nun bin ich Ihnen nicht mehr böse; ich war es, weil mir die Pünktlichkeit über Alles geht.«

»Sie würden, glaube ich, wohl daran thun, einen Trank gegen das Wundfieber zu nehmen,« sagte Herr Dupré. – »O nein! mein Herr, nein,« entgegnete Herr Bringuet, »das nützt nicht das Geringste! im Norden haben sie ein vortreffliches Kraut für Quetschungen ... es heißt ... warten Sie doch ...«

»Nanziger Wasser vielleicht?« bemerkt Benjoin summend. – »Nein, mein Herr, ich spreche ja von einer Pflanze.«

»Ich sehe wohl, es wird nicht gefährlich sein,« sagt Dupré, auf Karls Schulter klopfend; hierauf tritt der Nachbar wieder zu seiner Frau und flüstert dieser zu: »Der junge Mensch riecht entsetzlich nach Punsch! – Vielleicht hat er zu viel getrunken und ist deßwegen gefallen. – Etwas hat er sicherlich gehabt.«

»Medor, komm hieher und springe zu Herrn Karl Darville. – Ah! guten Abend, Herr Clinette. – Guten Abend, bester Freund; er wird zu Ihnen springen, eins ... zwei! ... vorwärts doch! so ist's recht! ... Ach! es thut mir leid, daß Sie nicht früher kamen; Medor machte alle seine Kunststücke ganz vollkommen. – O! ich kenne seine Talente.«

»Hier, mein Freund, ist Fräulein Leonie, Herrn Formerey's Nichte, die Du seit vielen Jahren nicht gesehen hast ... sie war erst zehn Jahre alt, als sie in eine Pension trat.«

Karl verbeugt sich etwas linkisch, Leonie antwortet durch einen schüchternen Knix, und die beiden jungen Leute wissen nicht, was sie sich sagen sollen.

»Ihr erkennt einander nicht mehr; ich glaub' es wohl. Leonie besonders ist sehr verändert; sie war nur ein kleines Mädchen, und jetzt ist sie ein großes schönes Frauenzimmer.«

»Fünf Sous sind noch offen auf Seite der Verlierenden,« schreit Madame Bringuet, »ist kein Liebhaber dazu da. Setzen Sie hoch die fünf Sous, Herr Boudinette! – Nein, Madame, ich habe mein Spiel nur zu sehr schon forcirt ... und bin durch meine Schuld im Verlust.«

»Ich halte die fünf Sous,« sagt Herr Formerey, wieder zum Spieltisch tretend. Erfreut, daß es den Negocianten nicht mehr zum Fortgehen drängt, zieht Madame Darville daraus eine günstige Vorbedeutung; sie läßt ihren Sohn mit Leonien allein, damit sie schneller Bekanntschaft machen.

Wenn die Eltern dazu auffordern, geht das jedoch nicht so leicht, als wenn der Zufall uns einander nahe bringt. Karl gehört indeß nicht zu den schüchternen jungen Leuten, welche nach einem Mädchen nicht einmal die Augen aufzuschlagen wagen; gewiß, er ist gewohnt, ihnen frei ins Gesicht zu sehen. Verlegenheit in diesem Fall ist kein Beweis, höchstens nur davon, daß die Person uns gefällt, denn bei einer Person, die uns nicht gefällt, ist man nie in Verlegenheit, man kümmert sich wenig um deren Urtheil über uns; mag es gut oder schlecht sein, darauf legt man keinen Werth; gefällt sie uns aber, so ist's ein ganz Anderes, dann wünscht man selbst zu gefallen und man weiß nicht, wie man's beginnen und angreifen soll.

Karl findet Leonie sehr hübsch und alsbald denkt er an den sehnlichen Wunsch seiner Mutter, ihn zu verheirathen. Gleich bei Karls Eintritt ins Zimmer fühlte Leonie ein Interesse für ihn, erstlich weil man ihn zanken wollte, und dann seines Unfalls wegen. So waren sie gegenseitig sehr günstig für einander gestimmt. Nach einigen unbedeutenden Worten, einigen nichtssagenden Fragen, verstehen sie sich endlich, und ihr Gespräch wird interessanter. Karl bedauert, daß er so spät gekommen, und verwünscht sein Zusammentreffen mit Mongerand; als sich die Gesellschaft zum Aufbrechen rüstet, ruft er aus: »Mein Gott! wie bös bin ich mir, daß ich das Mittagessen versäumte! – Warum böse auf sich sein,« entgegnet das Mädchen sanft, »da die Schuld nicht an Ihnen liegt? – O! gewiß ... doch meines Falls ungeachtet wäre ich gekommen, wenn ich gedacht ... wenn ich geahnt hätte ...«

Mit seinen auf das Mädchen gehefteten Augen vollendet er den Satz. Diese Art zu endigen, was man nicht recht zu sagen weiß, ist immer gut, sie gilt für Verstand und wirkt oft mehr.

Die Gesellschaft verläßt das Spiel und denkt ans Fortgehen. »Madame Bringuet hatte außerordentlich Glück,« sagt Herr Dupré, »sie hat zwölfmal gepaßt! – Ganz gut, mein Herr, bei alldem gewinne ich nur sechzehn Sous. – Ah! das ist ein wenig stark! – Ja, Herr, nicht weiter, denn Anfangs verlor ich viel. – Höchst sonderbar, Jedermann verliert und Sie gewinnen nur sechzehn Sous. – Ich weiß, was ich in der Tasche hatte, mein Herr! ... Gib mir meinen Shawl, Bringuet!«

»Es gibt Leute, welche nie sagen wollen, was sie gewinnen,« murmelte Herr Dupré, sich gegen Boudinette wendend, »das ist eine seltsame Manier, und verlieren Sie zwanzig Sous, so sagen sie: »Ich verliere drei Franken.«

»Ich weiß, was ich verliere,« antwortet Boudinette ärgerlich, »und das ist meine Schuld; auch soll man mich nicht wieder d'ran kriegen, daß ich mein Spiel forcire!«

Die Damen werfen ihre Shawls um, die Männer greifen nach Hut und Stock. Herr Benjoin schlingt seiner Frau einen Boa um den Hals, wobei er etwas vor sich hinsummt. Leonie steht auf, verabschiedet sich von Madame Darville, welche sie küßt und sagt: »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder ... aber mein Sohn geht denselben Weg wie Sie ... er wird Sie begleiten.«

»Ich habe die Ehre, dem Fräulein meinen Arm anzubieten,« sagt Karl, »wenn Herr Formerey es erlaubt. – Gerne, mein lieber Freund: wo wohnen Sie? – Straße Montmartre. – Und wir beim Platz de la Victoire, wir können zusammengehen.«

»Haben Sie Ihren Regenschirm, Herr Benjoin? – Ja, Frau! – Gewöhnlich vergessen Sie ihn überall. Gute Nacht, Madame Darville! – Gute Nacht, meine Damen! – Medor, sag' der Madame Darville gute Nacht ... geh' ... auf der Stelle!«

Statt zu der Herrin des Hauses zu gehen, macht sich Medor zur Thüre hinaus, er ist schon auf der Treppe, Herr Clinette läuft ihm nach und will ihn zurückbringen; zum Glück für die Gesellschaft ist der Hund eigensinnig, und so geht die Geschichte zu Ende.

Auch Karl nahm von seiner Mutter mit dem Versprechen Abschied, am andern Tage wiederzukommen; Fräulein Leonie am Arm, geht er mit des Oheims Erlaubniß mit ihr die Treppe hinab.

Herr und Madame Benjoin sind die letzten, da Madame aus Furcht, sich zu beschmutzen, sehr langsam geht. Der alte Soldat und seine Ehehälfte marschiren die Vorstadt du Roule hinauf und Herr Boudinette grüßt und entfernt sich allein, damit er die ganze Länge seines Weges frei und ungehindert brummen und sich über das Forciren seines Spiels auszanken kann.

Karl bleibt mit der Familie Formerey allein, auf den Platz de la Victoire zusteuernd. Die Unterhaltung dreht sich um unbedeutende Dinge, da aber der Regen das Pflaster schlecht gemacht, so ist Leonie öfters genöthigt, sich, um nicht auszugleiten, auf den Arm ihres Cavaliers zu lehnen, und Karl empfindet stets ein süßes Vergnügen dabei; er wünschte, sie möchte bei jedem Schritte ausgleiten, um sie öfters halten zu können; er wünschte vielleicht, sie möchte fallen, um mit ihr zu fallen, denn das Drücken des Arms einer hübschen Dame ... bringt strafbare Gedanken hervor.

Um nach Herrn Formerey's Wohnung zu gelangen, folgt man am Ende der Vorstadt Saint-Honoré der gegenüber beginnenden Straße. Karl wagt nicht, einen andern Weg in Vorschlag zu bringen, da dies der nächste ist; doch nur mit geheimem Widerstreben bedenkt er, daß man an dem Café vorüber müsse, worin er einen Theil des Abends Billard gespielt hatte.

Noch ist man etwa zweihundert Schritte vom Café; Karl fand einen Vorwand, quer über die Straße zu gehen, um mindestens die andere Seite derselben zu halten. Es ist nicht weiter als halb elf Uhr, das Café steht offen. Man kommt näher; Karl ist nicht ruhig; aber wie wird ihm erst, als er Mongérands Stimme erkennt und ihn selbst unter der Thüre mit Jemand im Gespräche sieht.

Ihm schwindelt; erblickt Mongérand ihn, so ist kein Zweifel, daß er angeredet wird; alsdann kommt sein ganzes Lügengewebe vom heutigen Abend an den Tag, und wie steht er dann in den Augen Leoniens und ihres Oheims da. Der arme Tropf überschaut in einem Augenblicke Alles, was aus diesem Zusammentreffen hervorgehen kann, und doch muß er vorwärts, Rückschreiten oder Stehenbleiben sind gleich unmöglich.

Wahrscheinlich bemerkt Leonie, daß sie ihr Cavalier nicht mehr so gut stützt, denn sie sagt zu ihm: »Was haben Sie denn, Herr Karl! ... habe ich Ihnen so eben beim Ausgleiten auf den Fuß getreten?« – Nein, mein Fräulein, das ist's nicht ... sondern mein Fuß drehte sich! ... es ist so glatt ... und das thut mir ein wenig weh.«

»So will ich Ihnen den Arm geben, lieber Freund,« fiel Herr Formerey ein, »fürchten Sie nichts, stützen Sie sich auf mich, ho! ich bin fest ... ich gleite nicht.«

Der Vorschlag ist Karl nicht unangenehm; er faßt Herrn Formerey's Arm und befindet sich so zwischen Oheim und Nichte. Schon ist man nahe am Café; da Mongérand nicht leise zu sprechen pflegt, versteht man jedes seiner Worte.«

»Was Donnerwetter! nur so lief er weg. – Ja, mein Herr, Ihr Freund ging hinter Ihnen drein, Sie aufzusuchen. – Ei! diese kleinen Ladenschwengel haben mich, der Teufel weiß, wie weit fortgelockt ... und er kam nicht wieder? – Nein, mein Herr.« –

»Sicherlich sucht er mich überall ... allein ich muß ihn finden, morgen schlage ich mich und er muß mit von der Partie sein ... Ho, he! Karl!«

»Karl, ruft man?« sagt Leonie. – »O! ich bin's nicht gemeint,« erwidert der junge Mann, schneller gehend; glücklicherweise war man am Café vorüber.

»Daß Sie es nicht sind, glaube ich wohl,« bemerkte Herr Formerey, »denn der Rufende sprach von einem Duell ... einem Streit ... er scheint mir einer von den liederlichen Kerls, welche ihr Leben in den Caféhäusern zubringen.«

Karl erwidert nichts, aber er athmet freier, weil das Café ins Dunkel zurücksinkt und die »Hoho, Karl!« immer schwächer in der Ferne verhallen.

Vor Formerey's Wohnung verabschiedet sich der junge Mann, Leoniens Oheim ladet ihn jedoch auf die freundschaftlichste Weise zum Besuche ein; Karl versichert, daß er die Erlaubniß benützen werde.

Allein geblieben, sinnt der junge Mann wieder nach. Soll er nach Hause gehen oder ins Café, wo ihn Mongérand erwartet, zurückkehren; seine Unschlüssigkeit erreicht bald ihr Ende. Leoniens Bild ist zu frisch, die Hoffnung des Wiedersehens zu süß für Karl, als daß er Lust hätte, sich am andern Tage zu schlagen; und für was sich schlagen?

Der junge Darville kam in seine Wohnung in der Straße Montmartre, indem er bei sich selbst sprach: »Es thut mir übrigens leid, daß ich den armen Mongérand vergeblich nach mir rufen lassen muß ... was geht mich aber im Ganzen diese Geschichte an? ... holt er mich ab, ist es immer noch Zeit, mit ihm zu gehen.«

Mit Gedanken an Leonie, an die Heirathspläne seiner Mutter, die freundschaftliche Miene des Onkel Formerey legt er sich zu Bette, und er schläft ein, indem er bei sich spricht: »Das ist, glaube ich, die Frau, wie ich sie brauche ... noch habe ich keine getroffen, welche mir so sehr gefallen hätte, und wenn ich ihr ebenfalls gefiele ...«

Ein unbekanntes Etwas sagt Karl, es sei dies der Fall; dieses Etwas sieht man bei einer jungen noch unerfahrenen Person sogleich, und es trügt selten, während man bei koketten Damen einem Blick, einem Lächeln, das häufig nichts beweist und doch viel sagen zu wollen scheint, nicht trauen darf.

Frühzeitig erwacht Karl wieder; ist man sehr von einem Gegenstande eingenommen, so schläft man wenig. Seine Gedanken sind bei Herrn Formerey's reizender Nichte und so versinkt er in folgendes Selbstgespräch: »Ja ... ich werde wohl daran thun, wenn ich mich verheirathe ... das Junggesellenleben ist nicht so köstlich, als man sagt ... und dann muß man doch auch einmal etwas treiben ... sich etabliren ... Mein Vater hinterließ mir so ein sechzigtausend Franken ... zum Herumschlendern ist's schon genug ... mit einer Frau aber ... mit Kindern braucht man mehr ... Zwar habe ich keine besonders große Freude am Handel ... doch was macht das? ich gewöhne mich wieder daran ... wenn nur Mongérand meine Adresse nicht aufgefunden hat, ist Alles recht ... sehen wir, wie viel Uhr ist es ... noch nicht sieben ... o! ich glaube, er wäre doch schon gekommen ... Beim Duelliren muß man früh auf sein.«

Demungeachtet ist Karl beständig auf der Lauer; beim geringsten Laut von der Treppe her meint er, sein Freund, der Husar, hole ihn; allein es schlägt sieben, es schlägt acht Uhr und Karl gewinnt wieder etwas Ruhe.

Um zehn Uhr war noch Niemand erschienen, er denkt daher, er könne ausgehen. Er läuft schnurstracks zu seiner Mutter, wohl ahnend, sie werde mit ihm von Fräulein Formerey sprechen.

Erfreut durch den Eifer ihres Sohnes, lenkt Madame Darville bald das Gespräch auf Leonie.

»Wie find'st Du sie, Karl? – Sehr schön und liebenswürdig! – Das ist noch nicht Alles, mein Sohn, hiemit verbindet sie vortreffliche Eigenschaften. Sie ist sanft, gut, sparsam, nicht gefallsüchtig; kurz, sie wird eine vollkommene Familienmutter geben. – Spielt sie Klavier? – Nein, sie ist nicht musikalisch. – Schade! da ich nicht übel Violin spiele, hätten wir zusammen Musik gemacht. – Wenn Du Leonie heirathest, mein Sohn, so bedenke wohl, daß es nicht geschieht, um Musik zu machen, Geld verdienen ist weit besser. – Mein Gott, liebe Mutter, das weiß ich, allein man arbeitet nicht immer, man bleibt nicht beständig vor seinem Schreibtisch. – O! ich weiß wohl, Karl, Du hast keine große Lust zur Arbeit; wenn Du indeß Leoniens Gatte wirst, mußt Du anders denken. So viel mir bekannt ist, hat Herr Formerey die Absicht, sich nach Leoniens Vermählung vom Geschäft zurückzuziehen; als Heirathsgut gibt er seiner Nichte sein vortreffliches Handlungshaus nebst Waarenlager. Allein man muß sich an die Spitze des Etablissements stellen und Herrn Formerey, einen tüchtigen Arbeiter, ersetzen. – Seien Sie überzeugt, liebe Mutter, wenn ich einmal an der Spitze eines Hauses stehe, werde ich es zu leiten wissen, jetzt thue ich nichts ... nun, weil ich nichts zu thun habe. Aber einmal in den Geschäften ... bin ich mit Leib und Seele darin. – Sehr gut, mein Sohn, und Leonie gefällt Dir? – O sehr. – Desto besser. So geh denn zu Herrn Formerey ... ohne Zweifel hat er Dir's erlaubt ... mache Leonien den Hof, und gefällst Du ihr gleichfalls, so wird die Sache hoffentlich bald im Reinen sein. Aber wahrhaftig, ich zitterte, als ich sah, daß Du nicht zum Essen kamst, denn ich kenne Herrn Formerey; dieser Mangel an Pünktlichkeit hatte ihn bereits ziemlich ungünstig für Dich gestimmt! Glücklicherweise hast Du Deine Unschuld bewiesen.«

Karl wendet die Augen ab, und fährt dann nach einer Weile fort: Ah! diesen Morgen habe ich einen alten Jugendfreund getroffen, Mongérand ... Erinnern Sie sich, liebe Mutter, Mongérand, den ich zuweilen zu Ihnen gebracht. – War er nicht groß, braun, schwarz, ziemlich häßlich? – Häßlich ... o nein. – Händelsüchtig, streitig? kurz, Derjenige, welcher stets Katze und Hund hintereinander hetzte und einmal den Pförtner prügeln wollte? ... – Ach ja ... aus Scherz. – Ein sehr liederlicher Geselle, so viel ich mich entsinne, und was treibt dieser Mongérand jetzt? – Er ist Soldat. – Das Beste, was er thun konnte. Sieh, Karl, folge mir und erneuere Deine ehemalige Verbindung mit diesem jungen Manne nicht; meiner Meinung nach kann er Dir weder gutes Beispiel, noch guten Rath geben. – Aber, Mutter, ein Schulkamerad ... – Was beweist das? Ach, mein Sohn, in der Pension muß man der Freund aller seiner Kameraden sein, man ist da noch zu jung, um in den Charakteren eine andere Sympathie zu suchen, als die gleiche Liebe zum Spiel, dasselbe Verlangen, seine Erholungsstunden gut anzuwenden. Männer aber werden nicht mehr von so nichtigen Beweggründen geleitet, wenn sie die Schülerbank verlassen haben; die Studienfreundschaften, welche man uns in den Lustspielen so rühmt, verschwinden und vergehen, wie alle Träume der Jünglingsjahre, wenn man ins reifere Alter tritt. Kurz, ich hoffe von Dir, daß Du Deinen Herrn Mongérand nicht zu mir führst.«

Karl besteht nicht darauf und bald verläßt er seine Mutter, um sich zu Herrn Formerey zu begeben. Der Negociant arbeitet an seinem Hauptbuch und Leonie schreibt Wechsel in das Notizbuch ein.

Einem Frauenzimmer, welches Bücher führt und als erster Commis dient, den Hof zu machen, ist ziemlich schwer. Der Oheim drückte dem jungen Mann die Hand und setzte sich dann wieder zu seinem Hauptbuch; Leonie spricht mit Karl, ohne ihre Feder wegzulegen, wodurch das Gespräch manche Unterbrechung erleidet;, allein Leonie weiß, daß ihr Oheim böse würde, wenn sie ihr Geschäft auf die Seite legte. Karl bietet sich daher zum Summiren an; durch dieses Mittel macht er sich dem Oheim angenehm und bleibt bei der Nichte. Herr Formerey nimmt den Vorschlag an und setzt den jungen Mann vor eine Strazza. Häufig läßt er die Augen über die Zahlen weg zu Leonie laufen und addirt falsch. Diese lächelt Karl zu, während sie ihre Feder zu schneiden scheint; diese Art, den Hof zu machen, ist nicht sehr mittheilend, aber die wahre Liebe ist mit Wenigem zufrieden, besonders, wenn Hoffnung da ist, später völlig beglückt zu werden.

Herr Formerey ist mit Karl, dessen Additionen er noch nicht nachgesehen hat, sehr zufrieden. Der junge Mann macht sich's zur Gewohnheit, täglich an den Büchern des Negocianten zu arbeiten; er setzt auf die Rechnungen vier und vier macht zwölf, weil er jeden Augenblick nach Leonien hinüberschielt, und diese macht Dintenkleckse auf ihre Schreibereien, weil sie beim Eintauchen der Feder die Augen auf den jungen Mann wirft.

Endlich geht Herr Formerey Karls Berechnungen durch; er findet sie alle falsch; seine Stirne zieht sich zusammen und er sagt zu demselben: »Sie haben guten Willen, sind aber nicht sehr stark im Addiren.«

Karl wird roth, sieht indeß die Nothwendigkeit zur Verstellung nicht ein; er gesteht, Leoniens Gegenwart lasse ihm das Vermögen, gut zu rechnen, nicht mehr. Herr Formerey lächelt; er war auch jung, und meint, sei Karl erst einmal verheirathet, so werde er sich im Addiren nicht mehr irren. Nun geht er zu Madame Darville; der Mama waren die häufigen Besuche ihres Sohnes beim Negocianten nicht unbekannt.

»Ihr Sohn hat sein Einmaleins vergessen und meine Nichte macht nichts mehr als Dintenkleckse,« lautete Herrn Formerey's Anrede. – »Drum sind sie verliebt und es ist Zeit, sie zu verheirathen. – Ich bin auch dieser Meinung; zwar ist Karl nicht stark in der Schreiberei, hat aber guten Willen; seine Frau wird ihn anleiten und so geht's. Verheirathen wir sie!«

Bei übereinstimmenden Gesinnungen ist man bald im Reinen: man bestimmt, die Hochzeit solle in vierzehn Tagen vor sich gehen. Dies kündigt Herr Formerey den jungen Liebenden bei seiner Nachhausekunft an. In seiner Freude wirft Karl das Dintenfaß über die Bücher um; Leonie schneidet sich in die Finger, statt in die Feder, und Herr Formerey wiederholt: »Ja, gewiß, es ist Zeit, sie zu verheirathen, sonst sehe ich nicht mehr klar in meinen Büchern.«

Karl kehrte unter Gedanken an Leonie, an sein bevorstehendes Glück, und mit Plänen, wie man deren vor der Hochzeit macht, nach Hause zurück; Pläne macht man freilich auch nachher noch: denn hier auf Erden bringen wir einen großen Theil unseres Lebens damit zu. Ach! was sollte aus uns werden, wenn wir keine Pläne mehr zu machen, keine Wünsche für morgen, keine Hoffnung für die Zukunft mehr hätten?«

Plötzlich bleibt Karl stehen; er bemerkt, daß er sich vor Herrn Rozats Hause befindet, bei welchem er vor vierzehn Tagen gegessen hat. Er besinnt sich, daß er seitdem nicht mehr hier war, was nicht sehr artig ist; er denkt, seine bevorstehende Heirath dürfe ihn nicht unhöflich machen, und er entschließt sich, seinem Jugendfreund, bei dem er gegessen, einen Besuch abzustatten.

Man läßt ihn in den Salon treten, wo Madame arbeitet, ihren Knaben an der Seite; höflich, aber kalt ist der Empfang, und Karl hat bereits Lust, fortzugehen, als der große Blondin im Schlafrock, mit Papieren in der Hand, anrückt.

»Ei! Herr Darville ... freut mich, Sie wieder zu sehen ... Verzeihung, wenn ich Sie warten ließ; allein ich las Verse ... ein kleines Gedicht, das man mir zur Kritik unterstellte ... O! wahrhaftig, es ist erbärmlich ... bejammernswert, weder Geist, noch Erfindung, noch Gedanken ... Ich will zum Verfasser sagen: Werden Sie lieber Maurer! ... Wie liebenswürdig, daß Sie uns besuchten ... noch gestern sprach ich von Ihnen mit meiner Frau ... – Und ich entschuldige mich, daß ich nicht bälder meinen Besuch abstattete ... wenn man jedoch im Begriff ist, sich zu etabliren ... sich zu verheirathen, so hat man, wie Sie wissen, wenig Zeit für sich. – Ach! Sie wollen sich also wirklich verheirathen? ... sehr gut! ... Sie haben Recht ... Gibt's ein größeres Glück, als das am eigenen Herde? ... bei einer angebeteten Frau ... die uns liebt ... nicht wahr, liebe Freundin, das ist Glück?«

Herr Rozat küßt seine Frau auf die Stirne, geht dann im Zimmer auf und ab, vor sich hin murmelnd:

»Ein schwaches Blümlein ist das Weib, bedarf der Stütze;
Wen hat es. als den Mann, der liebend es beschütze?«

»Diese Verse habe ich für meine Frau zu ihrem Geburtstag gemacht; so wie ich Zeit habe, werde ich sie in einer Sammlung erscheinen lassen. Und mit wem vermählen Sie sich denn?«

Karl geht etwas ins Nähere über seine Zukünftige und das ihm bestimmte Handlungshaus ein. Bei der Nachricht, daß sein Collegienfreund eine gute Heirath abschließt, wird Herr Rozat freundschaftlicher; sogar Madame scheint etwas weniger kalt. »Hoffentlich werden wir mit Ihrer Frau Gemahlin Bekanntschaft machen,« fährt Rozat fort; »Sie werden so gütig sein, sie zu uns zu führen. – Ja gewiß, wir müssen einander besuchen. – Hast Du meinem alten Kameraden etwas angeboten, mein Täubchen? – Zu gütig, ich bedarf nichts. – Ohne Umstände ... ich hoffe, Sie werden thun wie bei Freunden. – Ja und ich danke Ihnen. Da gerade von Freunden die Rede ist, geben Sie mir doch gefälligst Nachricht über Mongérand, den ich, seit ich mit ihm bei Ihnen speiste, nicht mehr gesehen habe. – Wie, Sie haben ihn noch nicht besucht? – Ich weiß nicht einmal seine Adresse. – Beim Teufel, er wäre beinahe getödtet worden ... er hat sich, wie es scheint, geschlagen ... – Ja, wegen des Streits im Café ... Sie wissen wohl ...– Meiner Treu, nein, ich war mit meinem Sohn, der unwohl war, beschäftigt, und habe diesen nach Hause gebracht ...«

»In einem sauberen Zustand,« fällt Madame Rozat ein; »er hatte eine entsetzliche Indigestion! ... war betrunken! ... ein Kind von drei Jahren betrunken machen! – Nun, liebe Freundin, was ist da zu thun? und da es geschah ... ohne daß wir's bemerkten ... Kurz, Mongérand schlug sich: er erhielt eine Kugel in den Unterleib, man wird ihn retten, doch kann er mindestens vor drei Wochen nicht ausgehen! – Armer Junge! Ha, ich werde ihn besuchen ... gewiß, ich thu's. Wo wohnt er? – Hier ist seine Adresse. Es wird ihm Vergnügen machen, Sie zu sehen; ich ging einmal zu ihm ... und werde, wenn ich Zeit habe, meinen Besuch wiederholen.«

Karl verabschiedet sich bald von Herrn und Madame Rozat; man begleitet ihn bis zur Thüre und erst nach wiederholten Freundschaftsversicherungen verläßt ihn sein alter Kamerad.

»Beinahe wäre der arme Mongérand getödtet worden,« spricht Karl im Nachhausegehen bei sich selbst. »Es ist mir eben so lieb, daß er mich nicht abholte ... vielleicht wäre ich todt oder verwundet und könnte in vierzehn Tagen Leonie nicht heirathen!«

Doch bald verjagen der Gedanke an seine Ehe, die Erinnerung an die Geliebte jedes andere Gefühl von ihm, und am andern Tage denkt er nicht mehr an einen Besuch bei dem Verwundeten, weil es ihn mehr drängt, sich zu Leonien zu begeben; so vergaß Karl stets über dem Glück des Augenblicks alles Uebrige; es gibt viele derartige Leute.


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